XIII. ›Gender Studies‹ - Literaturwissenschaft Online

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Einführung in die Literaturwissenschaft
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XIII. ›Gender Studies‹
XIII. ›Gender Studies‹
Die Gender Studies (engl. ›gender‹ = ›Geschlechtsidentität‹) widmen sich der Erforschung der
Geschlechterrollen und des Geschlechterverhältnisses. Sie sind interdisziplinär (berühren
etwa die Gebiete der Soziologie, Psychologie und Pädagogik) und international ausgerichtet
(insbesondere in den USA und in Frankreich entwickelt).
Obgleich man auch von ›Feministischer Literaturwissenschaft‹ spricht, handelt es sich bei den
Gender Studies um keine weitere literaturwissenschaftliche Methode, die von anderen
Ansätzen präzis zu unterscheiden wäre. Sie definieren sich hauptsächlich über ihren
Gegenstand (Frauen, Weiblichkeit, Geschlechterdifferenz) und können selbst unterschiedliche
Analysemethoden verwenden (z.B. sozialgeschichtlich, textimmanent, strukturalistisch,
diskursanalytisch oder dekonstruktivistisch vorgehen).
Die historischen Wurzeln der Gender Studies liegen in der politisch motivierten Frauenbewegung, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts formiert und für die Rechte von Frauen
(Wahlrecht, freie Berufswahl etc.) eingesetzt hat. In den 60er und 70er Jahren des
20. Jahrhunderts hat diese Emanzipationsbewegung einen weiteren bedeutenden Schub
erhalten. Im kulturellen Bereich rückten weibliche Autoren und ein weibliches Publikum in
den Blickpunkt; unter anderem entstanden Frauenbuchläden und auf Frauen konzentrierte
Buchreihen.
Einen ›Meilenstein‹ der Frauenforschung bildet der Essay A Room of One’s Own (1929) von
Virginia Woolf. In einem fiktiven Gedankenmodell fragt sie, ob William Shakespeare nicht
eine Schwester namens Judith Shakespeare gehabt haben könnte, und richtet den Blick auf
aus dem literaturgeschichtlichen Kanon ausgeschlossene Autorinnen. Laut Woolf sind Frauen
zwar Gegenstand der Literatur (als literarische Figuren), nehmen aber nicht aktiv am
Literaturbetrieb teil bzw. werden von diesem ignoriert.
Gegenstand der so genannten Women’s Studies ist demzufolge zunächst eine Revision der
›männlichen‹ Literaturgeschichtsschreibung. In einem – mit Woolf – ›archivwissenschaftlichen‹ Ansatz konzentrieren sie sich auf die Aufarbeitung der Geschichte weiblicher
Autoren. Dabei machen sie vor allem auf den als minderwertig empfundenen sozialen und
kulturellen Status von Frauen aufmerksam, etwa auf die Tatsache, dass Autorinnen oftmals
gezwungen waren, unter männlichem Pseudonym zu publizieren.
Die so entstandenen ›Frauenliteraturgeschichten‹ orientieren sich teilweise an etablierten
Modellen (etwa einer nationalliterarischen Darstellung), gehen aber häufig explizit
international und interdisziplinär vor (vgl. Gnüg/Möhrmann), indem sie beispielsweise die
sozialen und kulturellen Kontexte berücksichtigen, unter denen die Autorinnen geschrieben
haben.
Zuweilen ergibt sich durch diesen veränderten Fokus auch eine andere Epocheneinteilung als
in der – bislang an männlichen Autoren orientierten – tradierten Literaturgeschichtsschreibung (vgl. etwa die fünfbändige gesamtskandinavische Frauenliteraturgeschichte
Nordisk kvindelitteraturhistorie. Herausgegeben von Elisabeth Møller Jensen [u.a.].
København 1993-1998).
Bevorzugter Forschungsgegenstand der Women’s Studies sind diejenigen literarischen
Ausdrucks- und Repräsentationsformen, die oft von Frauen verwendet worden sind bzw. die
als weiblich angesehen werden, etwa die Briefwechsel zwischen Frauen, Memoiren,
Tagebücher und literarische Salons. Auch die Betrachtung der Literatur als Medium
spezifisch weiblicher Lebensumstände und -erfahrungen gehört in diesen Kontext.
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Darüber hinaus wird eine Neulektüre der von Männern verfassten literarischen Werke
vorgenommen und das darin transportierte Frauenbild untersucht. Oftmals findet sich darin
das stereotype Bild der Frau als Muse oder Opfer; demgegenüber akzentuieren die Women’s
Studies andere Frauen-Modelle, etwa kämpferische Frauen wie die im Alten Testament
geschilderte Judith, die den feindlichen Belagerer Holofernes enthauptet, nachdem sie mit ihm
geschlafen hat.
Die Women’s Studies unterliegen einem methodischen Problem: Indem sie die Gleichstellung
der Geschlechter und eine veränderte Wahrnehmung der festgeschriebenen Rollenmuster
fordern, intendieren sie zwar eine Aufhebung der Differenz zwischen Mann und Frau; indem
sie aber die ›weibliche‹ Seite der Literatur(geschichte) hervorheben, schreiben sie den
Unterschied in gewisser Weise fort (dies hat Niklas Luhmann kritisch angemerkt).
Die Geschlechterdifferenz selbst nehmen die so genannten Gender Studies in den Blick. Sie
unterscheiden zwischen (biologischem) sex und (kulturell/sozial bedingtem und daher
historisch wandelbarem) gender:
»On the whole, Western society is organised around the assumption that the differences
between the sexes are more important than any qualities they have in common. When
people try to justify this assumption in terms of ›natural‹ differences, two separate
processes become confused; the tendency to differentiate by sex, and the tendency to
differentiate in a particular way by sex. The first is genuinely a constant feature of human
society but the second is not, and its inconstancy marks the division between ›sex‹ and
›gender‹: sex differences may be ›natural‹, but gender differences have their source in
culture, not nature.«
(Ann Oakley: Sex, Gender and Society. Aldershot 1985 [London 1972], S. 189)
Waren die Women’s Studies von einer spezifischen Körperlichkeit von Frauen ausgegangen,
so verstehen die Gender Studies ›Weiblichkeit‹ nicht (nur) als biologischen Status, sondern
primär als soziales, psychologisches und kulturelles Konstrukt. Sie betonen also:
»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.«
(Simone de Beauvoir: Das zweite Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei
Hamburg 1990, S. 265 [Le Deuxième Sexe. Paris 1949])
Die Geschlechterrollen und das Geschlechterverhältnis unterliegen nach diesem Verständnis
historischen Veränderungen. Die Gender Studies nehmen die Gründe des jeweiligen
Geschlechterverhältnisses in den Blick und fragen nach darin virulenten Machtstrukturen
(nach Strategien etwa, Frauen aus dem kulturellen Bereich auszuschließen).
In vielen Kulturen ist die Hierarchie zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ schon auf der
sprachlichen/rhetorischen Ebene festgeschrieben (vgl. etwa im Französischen: ›l’homme‹ =
›Mann‹; ›Mensch‹), wie bereits der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel
beobachtet hat:
»Der schöne Gedanke einer menschlichen Kultur, die nicht nach Mann und Weib fragt,
ist historisch nicht realisiert, der Glaube daran entstammt dem gleichen Gefühl, das in so
vielen Sprachen für Mensch und Mann dasselbe Wort setzte.«
(Georg Simmel: Weibliche Kultur [1902]. In: Ders.: Schriften zur Philosophie und
Soziologie der Geschlechter. Herausgegeben und eingeleitet von Heinz-Jürgen Dahme
und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt/M. 1985 (edition suhrkamp; 1333, N.F. 333),
S. 159-176, hier: S. 161)
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Der französische Anthropologe und Strukturalist Claude Lévi-Strauss hat darauf hingewiesen,
dass in vielen Kulturen die Dichotomie Kultur/Natur mit der Dichotomie Mann/Frau
identifiziert wird und dass der Bereich der Kultur (und damit: des Mannes) als höherwertig
gilt; auch in unserem Kulturraum galt die Rolle der Frau im privaten Bereich (Stichwort:
›Hausfrau und Mutter‹) lange Zeit als minderwertig gegenüber der Rolle des Mannes im
öffentlichen Bereich (z.B. im Arbeitsleben).
In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine Diskussion darüber, ob sich die – kulturell
bedingte – Differenz zwischen den Geschlechtern in einer frauenspezifischen literarischen
Schreibweise, einer écriture féminine, niederschlägt.
Die in Frankreich lehrenden Literaturwissenschaftlerinnen Luce Irigaray und Hélène Cixous
betonen, dass sich die u.a. in der Rhetorik beobachteten Zuschreibungen von Geschlechtern
auch in der literarischen Sprache wieder finden lassen. Aufgrund der literarischen Traditionen
sowie der Wirkungsmacht der (kulturell) festgeschriebenen Differenzen schreiben Männer
und Frauen ihrer Ansicht nach anders (meistens wohl: unbewusst).
Die ebenfalls in Frankreich lehrende Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia
Kristeva hat in ihrer Studie zur Revolution der poetischen Sprache (La révolution du langage
poétique. Paris 1974) demgegenüber untersucht, inwiefern sich weibliche Schreibweisen auch
bei Männern nachweisen lassen.
Im daran anschließenden sog. Dekonstruktiven Feminismus geht es in der jüngeren Zeit
darum zu zeigen, wie die gewohnte Sprechweise verschiedene, auch einander
widersprechende Bedeutungen hervorbringt, die eine eindeutige Festlegung auf eine
›männliche‹ oder ›weibliche‹ Schreibweise unmöglich erscheinen lassen.
Einigkeit besteht aber darüber, dass die im kulturellen Gedächtnis und Bewusstsein
verankerten Geschlechter-Bilder nicht natürlich, sondern ›gemacht‹, also konstruiert sind:
»Weiblichkeit ist keine ›natürliche‹ Kategorie, sondern eine rhetorische.«
(Bettine Menke: Verstellt – der Ort der ›Frau‹. Ein Nachwort. In: Dekonstruktiver
Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Herausgegeben von Barbara Vinken.
Frankfurt/M. 1992 (edition suhrkamp; 1678, N.F. 678), S. 436-476, hier: S. 441)
Die Gender Studies reflektieren die spezifischen Verfahren der Ausgrenzung bestimmter
Gruppen. Daher wird gender oft im Zusammenhang mit ebenfalls hierarchisierenden und auf
Ausgrenzung beruhenden Kategorien wie class und race diskutiert. Dabei wird davon
ausgegangen, dass kulturelle Bedeutung über die Geschlechterdifferenz bestimmt wird.
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Literaturhinweise
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M. 1991 [Gender Trouble. New
York [u.a.] 1990].
Gnüg, Hiltrud/Möhrmann, Renate (Hgg.): Schreibende Frauen. Frauen – Literatur –
Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Stuttgart 1985.
Hechtfischer, Ute/Hof, Renate/Stephan, Inge/Veit-Wild, Flora (Hgg.): Metzler Autorinnen
Lexikon. Stuttgart – Weimar 1998.
Hof, Renate: Die Grammatik der Geschlechter. ›Gender‹ als Analysekategorie der
Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. – New York 1995.
Vinken, Barbara (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika.
Frankfurt/M. 1992.
Weigel, Sigrid: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur.
Reinbek bei Hamburg 1990.
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