Die geheime Anthropologie in den empirischen Sozialwissenschaften – Eine psychoanalytische Kritik• Er bildet sich nach fremder Vernunft, aber das nachbildende Vermögen ist nicht das erzeugende, d.i. das Erkenntnis entsprang bei ihm nicht aus Vernunft, und, ob es gleich, objektiv ein Vernunfterkenntnis war, so ist es doch, subjektiv, bloß historisch. Er hat gut gefaßt und behalten, d.i. gelernt, und ist ein Gipsabdruck von einem lebenden Menschen Immanuel Kant 1781, S.751 A ls empirische Sozialwissenschaften gelten Wissenschaften wie etwa die Soziologie und Teile der Psychologie und Medizin, welche ihre Gegens- tände nicht in ihrer ahistorischen Naturgestalt – als solche gehören sie in den Bereich der Naturwissenschaften –, sondern in ihrer historisch-konkreten, d.h. gesellschaftlich hergestellten Form untersuchen. In ihren Bereich gehören der Mensch und sein Handeln als Einzelner und in Gruppen ebenso wie auch seine Funktionen (etwa Gedächtnis, Bewußtsein, Lernen). Weil nicht das Selbstverständnis einer Wissenschaft, sondern die wirkliche Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstandes über ihren Status entscheidet, werden im folgenden auch solche Wissenschaften als eine Sozialwissenschaft angesehen, welche ihre Gegenstände als naturhafte begreifen, obwohl es sich um soziale handelt. Wissenschaftliche Erkundungen zielen auf die Zusammenhänge, in denen ihre Untersuchungsgegenstände stehen, und die sie so erscheinen lassen, wie sie erscheinen, bzw. die sie zu dem machen, was sie sind. Wesentliche Zusammenhänge werden in einer Theorie auf den Begriff gebracht und die Methoden einer Wissenschaft sind die Wege, die von der Erscheinung zum We- • Erschienen in: Zepf S (1994) Die geheime Anthropologie in den empirischen Sozialwissenschaften – Eine psychoanalytische Kritik. In: Zepf S (ed) Abgründige Wahrheiten im Alltäglichen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 171–229.