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Ethisches Lernen im Religionsunterricht der Grundschule
(aus: Neuhold/Pendl/Zisler: Freude am Glauben 4, Linz 1997)
Angesichts des in unserer Gesellschaft sich rasch vollziehenden Wertewandels, „der insbesondere
die Generation unserer Kinder in eine Sinn- (und Glaubens- ) Krise stürzt“1, in der sie auf
Begleitung besonders angewiesen sind, wird wieder deutlich von verschiedensten Seiten eine
ethische Erziehung in der Schule und auch speziell vom Religionsunterricht als wesentlich
gefordert. Dazu gehört auch die Diskussion um einen Ethikunterricht für Kinder, die an keinem
Religionsunterricht teilnehmen. Was darunter näherhin verstanden wird, welche Werte und
Gewichtungen getroffen werden sollen, bleibt trotz eines Minimalkonenses über demokratische
Grundwerte etwas diffus. Die Diskussion entzündet sich m. E. besonders an der Frage, ob ethische
Erziehung „primär auf die Verbindlichkeit bestimmter Werte und Normen abzielt oder auf die
Urteils- und Handlungs-, auch Innovationsfähigkeit der jungen Menschen.“2 Dies ist also die Frage
nach der Bildungsaufgabe, nach den Lern- und Erziehungszielen. Jedoch verbirgt sich darin auch
die Frage nach der Didaktik und der möglichen Wege ethischen Lernens: inhaltsorientiert oder
prozeßorientiert.
Ethisches Lernen ist integrierender Bestandteil jeglicher Erziehung, und darf nicht isoliert vom
allgemeinen Erziehungsgeschehen betrachtet werden. Insofern kann es auch nicht als eine eigene
Aufgabe im Religionsunterricht gesehen werden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der
Grundschule zu erfolgen hat, sondern sie gehört zur allgemeinen Bildungs- und Lehraufgabe des
Religionsunterrichts: „Zu einem Leben aus dem Glauben und zu einem verantwortlichen Handeln
ermutigen (Gewissensbildung, Werteerziehung)“.3 Da ethische Erziehung eine so umfassende
Zielsetzung hat, darf sie nicht auf rein „ethische Themen im Religionsunterricht begrenzt werden,
sondern alle Inhaltsbereiche dieses Unterrichts, also auch heilsgeschichtliche Themen“4 müssen
umfaßt werden.
Theologischer Ausgangspunkt ist die bergende Liebe Gottes, die jedem menschlichen Handeln
zuvorgeht. Das menschliche Handeln ist die Konsequenz der erfahrenen Liebe. Das konkrete
Zusammenleben wird in dieser Altersstufe der bevorzugte Ort ethischen Lernens sein: die
gelingenden und mißlingenden Beziehungen in der Familie und in der Klasse. Langsam wird aber
auch das Bewußtwerden größerer bis hin zu „weltweiter“ Zusammenhänge zu fördern sein. In der
kleinen und in der großen Welt dem Ruf und dem Willen Gottes nachzuspüren und selbst hellhörig
zu werden, sind die großen Aufgaben ethischen Lernens auf Seiten der Kinder wie auch der
ReligionslehrerInnen. Heute in unserer postmodernen Welt wird auch besonders auf die
Verantwortung in weltweiter Perspektive wert zu legen sein.5
Getragen wird aber ethisches Lernen, will es seine christliche Hoffnungskraft bewahren, von jener
Grundüberzeugung, dass Gott das Gelingen, das Glück und die Freiheit des Menschen und der
ganzen Schöpfung will, dass ethische Richtlinien und Gebote im biblisch-jüdischen Sinn als
Wegweisung zu einem glückenden Leben zu verstehen sind.
1. Anliegen und Ziele
Ethisches Lernen darf sich nicht im Ethik-Lernen erschöpfen. Die Kinder sollen „nicht nur wissen,
was gut und was nicht gut ist. Sie sollen auch nicht nur beurteilen können, wann und warum eine
Handlung gut ist. Sie sollen lernen, so zu handeln, dass das Gute gefördert wird.“6 Ethische
Grewel, Hans: Zur Diskussion um die „ethische Erziehung“ im Religionsunterricht. In: Religionspädagogische Beiträge. Zeitschrift der
Arbeitsgemeinschaft Katholischer Katechetik-Dozenten (AKK) 26/1990, 40.
2
Ebda: 41.
3
Lehrplan für den katholischen Religionsunterricht an der Volksschule, 1991, 6.
4
Grewel, Hans: A. a. O., 61.
5
Vgl.: Roebben, Bert: Moralerziehung in postmoderner Zeit. In: Kat. Bl. 10/95, 715ff.
6
Grewel, Hans: A. a. O., 59. Dazu ist besonders auch der von Günther Stachel entworfene Regelkreis zu beachten. In: Stachel, Günther/Mieth,
Dietmar: ethisch handeln lernen, Zürich 1978, 130ff.
1
1
Erziehung ist Erziehung zu humaner Lebensgestaltung in Gemeinschaft und Solidarität. Sie hat
christlich verstanden universalen Charakter.
Ethisches Lernen richtet sich in unseren Religionsbüchern vor allem nach den Texten der Bibel,
nach Jesu ethischer Botschaft. Drei Aspekte scheinen mir dabei besonders bedeutsam zu sein:
1) die vorbehaltslose Liebe und Barmherzigkeit Gottes, die dem menschlichen Handeln vorausgeht,
2) die nüchterne und realistische Einschätzung des Menschen und der Welt
und 3) die Motivation, die aus Jesu Vision vom Reich Gottes kommt und sich mit der tiefsten
Sehnsucht des Menschen nach einer neuen Welt trifft.
Von dieser biblischen Ausgangslage her formuliert Adolf Exeler als Ziel ethischen Lehrens und
Lernens: „nicht sündenloses, sondern gestaltetes Leben“.
So wird zur Grundfrage in diesem Zusammenhang: Wie kann ich die SchülerInnen ermuntern ihr
Leben mehr und mehr selbst aus christlicher Motivation heraus zu gestalten? Wie kann zu
glückender und humaner Lebensgestaltung angestiftet werden?
Will ethisches Lernen nicht im Appellativen, das meist nicht zum angestrebten Ziel führt,
hängenbleiben, so wird es nach Anknüpfungspunkten suchen müssen, die im Leben der Kinder
verankert sind und in ihrer inneren Motivation Entsprechungen finden.
Ausgangspunkt und Ziel zugleich wird demnach die Annahme des eigenen Menschseins, so wie es
eben ist (der Mensch als Ebenbild Gottes - der Mensch in seiner Sündenverstricktheit) sein, die
Unterstützung beim Aufbau eines gesunden Selbstwertes, der um die eigenen Möglichkeiten, aber
auch um die eigenen Grenzen und Schwierigkeiten weiß: annehmen, was ist, und nicht was sein
sollte. Von dieser Basis ist zunächst auszugehen.
Das Wahrnehmen, Akzeptieren des eigenen - auch begrenzten - Menschseins ist aber als eine
lebenslange Aufgabe zu sehen, so dass das eigentliche Ziel ethischen Lernens ein Prozess ist, ein
lebenslanger Prozess. Auf diesem Weg spielt das Wahrnehmen, Annehmen und Integrieren der
dunklen Seiten des Menschseins bis hin zur Schuld und Sünde eine wesentliche Rolle. Hier ist die
biblische Botschaft von der den Menschen suchenden Liebe Gottes von zentraler Bedeutung. Die
dunklen Seiten annehmen lernt der Mensch, in dem er sich von einem anderen in diesen Seiten
angenommen erfährt.
Pestalozzi formuliert in diesem Zusammenhang sein Verständnis ethischen Lehrens bei Kindern
ganz ähnlich: „Suche deine Kinder zuerst weitherzig zu machen und Liebe und Wohltätigkeit ihnen
durch die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse nahezulegen, sie dadurch in ihrem inneren zu
gründen und zu sichern, dann ihnen viele Fertigkeiten anzugewöhnen, um dieses Wohlwollen in
ihrem Kreise sicher und ausgebreitet ausüben zu können.“7
Christlich verstandene ethische Erziehung könnte in unserem heutigen gesellschaftlichen Umfeld,
in der Leistung, Perfektion, Machbarkeit, Gesundheit, etc. Eine so wesentliche Rolle spielen, eine
Erziehung zu Fehlerfreundlichkeit und Schuldbewältigung sein. Kinder könnten lernen, ihren
Fehlern und Schwächen, ihren eigenen Unzulänglichkeiten, ihrer Schuld sinnvoll zu begenen, um
so zu einem eigenständigen Weg, zu einem glückenden Leben in Solidarität zu finden. Ethische
Erziehung ist im christlichen Horizont nicht eine Erziehung zu einer unmenschlichen
Fehlerlosigkeit und idealer Perfektion, sondern Wegweisung zu einem fehlerfreundlichen Leben in
Solidarität (Kultur der Fehlerfreundlichkeit8). Das Christentum ermöglicht einen Weg aus der
Leistungsorientierung und aus den Perfektionsansprüchen zum Menschsein in Mitmenschlichkeit
und Barmherzigkeit. Das Christentum ist keine Religionsgemeinschaft der Perfekten, sondern eine
Religion der Schon-Erlösten. Gerade das ermöglicht es, den Weg zu einem glückenden und
sinnvollem Leben zu wagen. So geht der Indikativ, der Zuspruch, jedem ethischen Imperativ
voraus; weil ich mich als Mensch als von Gott und den Menschen geliebt erfahre und erlebe, kann
ich das Gute tun. So ist im Religionsunterricht in erster Linie von Verheißungen zu reden, „von den
großen Hoffnungsbildern des Alten und Neuen Testaments, von der Bedeutung des Symbols des
7
Pestalozzi, Johann Heinrich: Ausgewählte Schriften, Düsseldorf 1961, 227.
Vgl.: Schmitt, Karl Heinz: Kultur der Fehlerfreundlichkeit in einer Gesellschaft riskanter Freiheiten. In: Kat. Bl. 2/95, 130ff.
8
2
`Paradieses´, vom `gelobten Land´, vom großen `Festmahl´, zu dem alle eingeladen sind, von den
`Seligpreisungen´und von der leuchtenden `Gottesstadt´“.9
All jenen, die beim Lesen dieser Zeilen Angst davor haben, dass diese Anregungen zu einer
harmlosen egoistischen Nabelbeschau führen könnten, die Sünde und Schuld nicht mehr ernst
genug nehmen, möchte ich auf den folgenden Text von Peter Handke10 verweisen:
„ ... Deswegen ist die Bibel für den Leser ein entsetzliches, gefährliches Buch:
er ist gezwungen, zu sehen, wie es, in der Tiefe, mit ihm steht, dem Sterblichen ...
Du, der heutigen Tages die Bibel liest:
Achtung, Todesgefahr! Oder Lebensgefahr? Beseelende Gefahr? Begeisternde Gefahr, seit jener
Nacht der Zeiten? Heilsame Gefahr? Heilsgefahr?“
1.1. Hinkehr zu mir selbst - Ichfähigkeit
Ethisches Lernen möchte helfen, dass das Kind lernt auf sich selber zu schauen, eine positive
Beziehung zu sich selbst aufzubauen, seinen hohen Wert zu erkennen und anzunehmen, aus der
Erfahrung heraus, dass jeder Mensch Gottes Ebenbild und Lieblingsgedanke ist. Diese Erfahrung
kann aber nur spürbar werden, wenn sich das Kind von anderen angenommen und geliebt erfährt.
So ist als wesentlicher Weg ethischen Lernens die Sensibilität für sich selbst anzusehen: Wie erlebe
ich mich? Wie gestalte ich mein Leben? Meine Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Träume... meine
Möglichkeiten und Grenzen. Das persönliche Wachsen und Reifen, das Entwickeln der je eigenen
Identität und Persönlichkeit im Rahmen einer lebendigen und beziehungsreichen Gemeinschaft
rücken so in den Mittelpunkt. Dies entspricht auch den Bedürfnissen der Kinder dieser Altersstufe.
Dies verlangt allerdings nach einem beziehungsreichen und kommunikativen Religionsunterricht.
H. Schmidt formuliert als Aufgabenfeld ethischen Lernens in diesem Zusammenhang: „personale
Identität im Rahmen individuell erlebter intersubjektiver Interaktionsprozesse“.11
1.2. Hinkehr zum anderen - Dufähigkeit
Das Kind erfährt sich als Individuum eingebunden in die kleine und große Gemeinschaft der
Menschen. Kinder sehnen sich nach Freundschaft und Gemeinschaft. Dies ist zunächst der
bevorzugte Ort des sozialen Lernens. Das Wahrnehmen und Umgehenlernen mit dem
Beziehungsgeflecht in der Familie und in der Klasse. Hier kann die Sensibilität für andere und die
Solidarität ansatzhaft eingeübt werden. Einfühlen lernen in den anderen, Ehrfurcht vor dem anderen
als Voraussetzungen für Gerechtigkeit und Friede, Konfliktfähigkeit und Rücksichtnahme können
hier wesentliche Zielsetzungen sein, damit das Leben des einzelnen und der ganzen Gruppen
gelingt. Der Blick öffnet sich auf den anderen und auf die Welt hin und ermöglicht Erweiterung des
eigenen Lebens und Teilnahme am Leben der Welt. Der andere wird so als Bereicherung und nicht
als Einschränkung erfahren. Dies verlangt aber nach einer angstfreien Beziehungsfähigkeit auf
Seiten des Kindes.
1.3. Hinkehr zur Welt - Weltfähigkeit
Kinder dieser Altersstufe erleben sich großteils stärker eingebettet in die Welt als Schöpfung als
Erwachsene. Sie haben einen ursprünglicheren Zugang zur Welt als Schöpfung Gottes. Diese
Chance gilt es zu nutzen und zu einer Sensibilität für die Mitwelt, zur Ehrfurcht vor allem Leben
und zum rechten Haushalten mit den Ressourcen dieser Erde anzustiften. Das Mitgefühl - vor allem
mit den Tieren - soll zum konkreten Handeln führen. Gleichzeitig gilt es aber auch den Blick zu
öffnen für die großen ökologischen Zusammenhänge und Entwicklungen. Hier haben durchaus auch
das Wissen und die Reflexion einen wichtigen Platz im Rahmen des ethischen Lernens. Hans
9
Nipkow, Karl Ernst: Ziele ethischer Erziehung heute. In: Adam, Gottfried/Schweitzer, Friedrich (HG.): Ethisch erzeihen in der Schule, Göttingen
1996, 58f.
10
Aus: Handke, Peter: Langsam im Schatten, Frankfurt/M. 1992, 123f.
11
Schmidt, H.: Religionsdidaktik I, Stuttgart 1982, 165.
3
Schmidt nennt als Anliegen hier: „reflektierte Partizipation an den sozialstrukturierten
Entwicklungen einschließlich der ökologischen Perspektive“12.
1.4. Hinkehr zu Gott
Diese drei oben genannten Anliegen und Zielbereiche stehen im engen Zusammenhang mit der
Hinkehr zu Gott. Im Religionsunterricht streben wir eine Ethik an, die ihre tiefste Motivation aus
dem Glauben bezieht. Ethisches Handeln ist insofern nicht nur vernünftig zu begründen, sondern
auch als Anliegen Gottes, damit das Leben aller Menschen dieser Erde glücken kann und Zukunft
hat. Es geht um die Offenheit für den Anruf Gottes, der im christlichen Verständnis das Leben der
Menschen will und ihnen Leben in Fülle schenken will. Wenn alles Leben, die ganze Schöpfung als
Geschenk Gottes und Abglanz seiner Herrlichkeit betrachtet wird, gilt es Ehrfurcht vor dem
Heiligen zu entwickeln, die sich auf verschiedene Weise zeigen kann. Die ganze Schöpfung hat
demnach Aufforderungscharakter. Sie lädt ein, dem Willen Gottes nachzuspüren und die Welt und
mein Leben von Gott her sinnstiftend zu deuten. Schmidt macht aufmerksam, dass es dabei um eine
„kommunikative Interpretation transpersonaler Deutungs- und Handlungszusammenhänge“13 geht.
Die vier genannten Anliegen, die sich an Jürgen Werbick14 orientieren, sind nicht als ein
Hintereinander zu betrachten, sondern als ein ständiges Ineinander, wobei in der Praxis einmal der
eine Aspekt im Vordergrund stehen wird und dann ein anderer. Wesentlich aber ist, dass alle
Aspekte immer mitschwingen.
2. Biblische Modelle ethischen Lernens
Die biblischen Modelle ethischen Lernens sind als Verlockungsmodelle zu verstehen. Sowohl der
altestamentliche Dekalog, wie auch das Handeln und die ethische Botschaft Jesu wollen zu einem
glückenden Leben aus dem bergenden Vertrauen in die befreiende Liebe Gottes verlocken. Der
Dekalog ist eingebettet in die Erfahrung der Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens. Jahwe, der Gott
der Befreiung, lockt sein so oft murrendes Volk durch die Wüste ins Gelobte Land, ins Land, wo
Milch und Honig fließen.
Jesus lockt die Menschen mit seiner Rede vom Reich Gottes und zeigt in seinem Tun und Handeln,
dass dieses im Hier und Jetzt anbricht.
Beides sind Verlockungsmodelle, die uns Heutigen zeigen, was für ein Leben möglich wäre.
Diese Botschaft trifft letztlich auf die tiefen Sehnsüchte der Menschen nach einem gelingenden
Leben damals und heute. Gerade die Kinder der Grundschule sind oft für diese befreiende und
heilende Botschaft sehr offen. Auch wenn sie dies nach Kohlberg nicht unbedingt auf der höchsten
Stufe des moralischen Urteils (eher Stufe 2: Gut ist, was mir nützt) zu tun imstande sind und eher
nach ihrem persönlichen Gewinn fragen, so bleibt doch die richtige Entwicklungsperspektive offen.
2.1. Der Dekalog als Wegweisung
Der Dekalog gehört wie selbstverständlich zu den Grundthemen ethischer Botschaft und
Unterweisung im Religionsunterricht. Und doch ist er nicht unumstritten auf Grund seiner nicht
unproblematischen Wirkungsgeschichte vor allem in der Beichtpraxis. Vielfach ist im Laufe der
Geschichte der Befreiungsaspekt des Dekalogs als Wegweisung zu einem glückenden Leben in
Freiheit und Solidarität verloren gegangen. So wurde er von manchen Menschen als
Unterdrückungsinstrument erfahren, was einer Pervertierung gleichkommt.
Es gilt den aus Knechtschaft und Sklaverei befreienden Gott in den Mittelpunkt des Unterrichts zu
stellen, der den Menschen herausfordert an der Wahrung seiner Freiheit verantwortet - das heißt
solidarisch für alle Menschen und die ganze Schöpfung - mitzuarbeiten. Der Schlüssel liegt in einer
solchen Deutung des Dekalogs in der Präambel, die in der Schule möglichst konkret erfahrbar
12
Schmidt, Hans: a. a. O.
Ebda.
14
Vgl.: Werbick, Jürgen: Schulderfahrung und Bußsakrament, Mainz 1985, 167f.
13
4
werden soll: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat, aus dem
Sklavenhaus.“ Die einzelnen Gebote werden so zur Wegweisung in die Zukunft: „Wenn du erfahren
und begriffen hast, wer ich, dein Gott, bin, dann wirst du...“ Aus den Sollensforderungen werden
somit logische Lebens-Konsequenzen der Erfahrung der Befreiungs- und Liebeshandlung Gottes an
uns Menschen.
„Dabei liegen die didaktisch und methodischen Schlüsselstellen gegenwartsrelevanter
Dekalogdeutung im Vor-Satz der Selbstbekundung Gottes, der befreiungs-analoge
Neuformulierungen heutiger Glaubenserfahrungen und - hoffnungen nicht nur zuläßt, sondern
geradezu einfordert, und - daraus folgend - zu Neubuchstabierungen einzelner oder aller
Dekaloggebote ermutigt.“15
Im Religionsbuch 4 „Miteinander unsere Welt gestalten“ wurde dies bei jedem Gebot versucht mit
der altersgemäßen Zusage: „Ich habe dir das Leben geschenkt. Ich habe dich gern und meine es gut
mit dir.“ Praktische Beispiele zur Umsetzung im Religionsunterricht finden sich in diesem
Lehrerhandbuch im Kapitel „Wege zum Leben“.
2.2. Die ethische Botschaft Jesu und sein Handeln
Wir Christen orientieren uns in unserer Lebensgestaltung in erster Linie an der Botschaft und am
Beispiel Jesu Christi. Offensichtlich haben Menschen - so erzählt die Bibel - durch die Begegnung
mit Jesus ihr Leben radikal geändert. Damals und heute bleibt also die Begegnung mit ihm der
Angelpunkt christlichen Lebens. Demnach ist die Begegnung - nicht in erster Linie die Botschaft das Verändernde. Dies gilt es auch religionspädagogisch und religionsdidaktisch sehr ernst zu
nehmen.16 Es setzt allerdings den Glauben und das Vertrauen voraus, dass Jesus auch heute wirkt.
Jesu Zusage des neuen Lebens der Kinder Gottes in ihrer Not oder in ihrer Sehnsucht eröffnet den
Menschen - ich denke auch den Kindern heute - Möglichkeiten sinnvoller und glückender
Lebensgestaltung.
So ist didaktisch und methodisch eine Begegnung mit Jesus, dem Christus, zu ermöglichen; in der
Grundschule in erster Linie auch durch das lebendige Erzählen über ihn. Weiters scheint mir die
Identifikation mit biblischen Personen von besonderer Bedeutung, da die Kinder dadurch selbst in
die lebensstiftende Nähe Jesu kommen.
Seine ethische Botschaft möchte ich in drei Punkten zusammenfassen:
+ Der konkrete Mensch im Mittelpunkt:
Jesus orientiert sein Handeln immer an konkreten Menschen, an ihrer Not. Er hält kaum große
Reden darüber, wie der Mensch handeln sollte, sondern er handelt.
+ Barmherzigkeit als oberster Maßstab:
Die Barmherzigkeit ist sein oberster Maßstab. Sie verlangt auch über Gebote bzw. ihre rigorose und
menschenverachtende Interpretation hinwegzusehen bzw. ihren eigentlichen Sinn zum Heil der
Menschen wieder aufzuschließen (z.B.: Sabbatheiligung).
+ Umkehr zur Fülle des Lebens:
Sein Auftrag ist die Ankündigung des Gottesreiches und der Aufruf zur Umkehr zur Fülle des
Lebens: Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!(Mk 1, 15). Demnach
ist die Fülle des Lebens als Frucht des Glaubens an die Frohe Botschaft das Ziel ethischer
Erziehung. Die Frohe Botschaft vom Kommen des Gottesreiches führt zur Umkehr. Die Bibel zeigt
uns ein Verlockungsmodell.
3. Wege ethischen Lernens
3.1. Die Einstellung der Religionslehrerin/des Religionslehrers
Ich beschreibe ethisches Lehren und Lernen gerne als „Erziehung zur Kunst des Lebens und des
Liebens“. Kunst hängt mit Können zusammen und ist bis zu einem gewissen Grad erlernbar;
15
Lachmann, Rainer: Der Dekalog. In: Adam, Gottfried/Schweitzer, Friedrich: A. a. O., 160.
Vgl.: Grewel, Hans: A. a. O., 54f.
16
5
Theorie und Praxis sind dazu notwendig. Wenn Erich Fromm in seinem Buch „Die Kunst des
Liebens“ für diesen Lernprozess aber feststellt „Die Meisterschaft in der Kunst muß dem
Betreffenden wichtiger sein als alles andere“17, dann zeigt sich darin bereits eine
Hauptschwierigkeit: Welche Rolle spielt Leben und Lieben in unserer Gesellschaft? Welche Rolle
spielt es in meinem eigenen Leben? Für wie wesentlich erachte ich persönlich diese Kunst?
Zu dieser Kunst anstiften zu können, setzt aber voraus, dass ich mich als LehrerIn selbst darum
bemühe, dass ich selbst ein Stück weit Modell dafür bin. Wer also zum guten gelingenden Leben
anstiften will, wird zunächst auch gut auf sich selber schauen, damit er/sie ein verlockendes Modell
sein kann für die Kinder. Sind LehrerInnen damit nicht überfordert?
Während Vorbilder - unhinterfragt wahrgenommen werden bzw. ihre ethische Botschaft ohne
Rechtfertigung und Begründung auf Seite des Vorbildes bleiben kann, ist ein Modell des Handelns
jemand, der als ein problematisches Vorbild zu denken gibt und nicht einfach unhinterfragt
übernommen werden kann. Insofern ist der Lehrer/die Lehrerin als Modell zu betrachten, das zu
denken gibt. Dies schützt den Lehrer/die Lehrerin auch vor Überforderung. „Lehrer können nicht
mehr als `problematische Vorbilder´sein, und sie sollen auch nicht mehr sein wollen. Denn auch in
mißlungenen oder nicht gut gelungenen Situationen wird gelernt. Gerade die Art, wie Lehrer und
Schüler lernen, mit (gemeinsamen) Erfahrungen des Mißlingens und Verschuldens fertigzuwerden,
ist für ethisches Lernen als Erlernen und Einüben von Menschlichkeit von hoher Bedeutung - und
steht manchmal in krassem Gegensatz zu dem verbal (als Unterrichtsinhalt) Erschlossenen.“18 So ist
mir in solchen Schulsituationen ein Satz der Familientherapeutin Virginia Satir sehr wesentlich und
lieb geworden: „Machst du einen Fehler, dann feiere ein Fest!“
Der Religionslehrer/die Religionslehrerin kann gerade durch die Art wie er/sie mit Mißlingen
umgeht zum nachahmenswerten Modell ethischen Handelns und zum Modell der
Mitmenschlichkeit werden. Einige Voraussetzungen, damit dies gelingen kann, seien als nächstes
angeführt.
Wertschätzung und uneingeschränktes Akzeptieren der Kinder
Die Grunderfahrung „Ich bin unbedingt geliebt, ich kann vertrauen“ ist wesentliche Voraussetzung
für die Entwicklung menschlichen Lebens und einer positiven ethischen Haltung. Dies den Kindern
zu vermitteln, ist oft schon schwer genug und vielleicht die wichtigste tägliche Vorbereitung auf
Seiten der LehrerInnen. Aber darin zeigt sich der Grundzug biblischen Glaubens, „daß die ethische
Forderung immer erst ein zweiter Schritt ist. Am Anfang steht das Geschenk Gottes ...“19. Ethische
Forderungen sind insofern lediglich die Konsequenz, die aus dem Geschenk Gottes erwächst.
Grenzziehungen, die in der ethischen Erziehung immer auch eine wichtige Rolle spielen, müssen
demnach aus spürbarer Wertschätzung und echter Sorge geschehen, aus der Sorge, daß das Kind an
der Fülle des Lebens vorbeigeht, die Gott dem Menschen eröffnen will. Dies ist nach Adolf Exeler
auch die Sünde, die Verweigerung, „das zu tun, was ihm als Mensch gemäß ist. Sie besteht in der
Absonderung, in der Verweigerung gegenüber der Fülle des Lebens.“20
Wecken und Verstärken der positiven und konstruktiven Kräfte
In LehrerInnenkreisen werden häufig die Störungen und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder - zum
Teil auch zurecht - beklagt, in kirchlichen Kreisen die Verdunstung kirchlich geprägter Religiosität
und Ethik. Aber häufig wird dadurch das Gegenteil übersehen bzw. die menschliche
Grundbefindlichkeit nicht genug wahrgenommen, denn es ist sowohl das eine wie auch das andere
zu beobachten. Die positiven Kräfte, die auf ein gelingendes Leben in Freiheit und Solidarität
hinzielen, sind in den Kindern genauso grundgelegt. Gott hat wohl nicht einen „bösen“ Menschen
geschaffen und ihm dann Gebote und Verbote nachgereicht, damit er lerne, gut zu werden.
17
Fromm, Erich: Die Kunst des Liebens, Frankfurt 1973, 21 (TB).
Grewel, Hans: A. a. O., 48.
19
Exeler, Adolf: Dem Glauben neue Bahnen brechen, Freiburg 1982, 120.
20
Ebda.: 109.
18
6
„Vielmehr hat Gott den Menschen so geschaffen, dass dieser sein Gesetz in sich selbst hat.“21
Dieses ins Herz geschriebene Gesetz ermöglicht es dem Menschen, sein Menschsein gemäß dem
Willen Gottes zu entfalten. Das „gute“ Leben - und sei es nur die Sehnsucht danach - ist genauso in
den Kindern grundgelegt, auch wenn nach außen hin oft nur das Destruktive sichtbar zu werden
scheint.
So gilt es im Religionsunterricht die Sehnsucht nach einem „ganz anderen“ Leben, nach
gelingendem und glückendem Leben zu wecken, das von Gott in die Herzen der Kinder
eingezeichnete „Gesetz des Lebens“ zu eröffnen. „Wecken“ meint aber nicht vorschreiben und
vorzeichnen, sondern eröffnen, Arrangements schaffen, wo die Liebe zum Leben aufleuchten kann,
Erfahrungen ermöglichen, die zum rechten Weg motivieren und das eigene innere Gespür für das
Gute locken und bestätigen. „Jesus aber war ganz offensichtlich weniger an Forderungen als
vielmehr am Ermutigen interessiert... die Begründung und Begrenzung von Forderungen durch den
Gesichtspunkt der Ermutigung müsste demnach in einer christlichen Religionsdidaktik breiten
Raum einnehmen.“22
Ethische Erziehung im christlichen Sinn rechnet mit Ostern
Im Brennpunkt des christlichen Glaubens steht das Kreuz als Schandpfahl aber auch als Zeichen der
Erlösung. Hinter dem Kreuz des Karfreitags leuchtet die Freude von Ostern auf. Als Religionslehrer
hat dieses Bild für mich und meinen eigenen Unterricht immer wieder zentrale Bedeutung: Gelingt
es mir hinter dem „Kreuz“, des konkreten Kindes, der konkreten Unterrichtsstunde, meines eigenen
Lebens, ... das Licht der Auferstehung und Erlösung zu sehen bzw. zumindest zu suchen? Gelingt es
mir mit Zukunft zu rechnen? Gelingt es mir ein hoffender Mensch zu bleiben? Erich Fromm meint
dazu: „Sobald der Mensch alle Hoffnung aufgegeben hat, ist er durchs Tor der Hölle getreten...“23
Konkret geht es darum, bei den Kindern ihre noch brachliegenden Entwicklungsmöglichkeiten zu
sehen, an ihre Möglichkeiten glauben. Zu häufig wird resignativ in Konferenzzimmern unserer
Schulen geurteilt: „Da ist Hopfen und Malz verloren“. Es ist erschreckend, wieviele LehrerInnen
resignieren. Die ständig neue Motivation, die letztlich aus einer tiefen Gottesbeziehung erwächst,
läßt vertrauend und hoffnungsvoll auch in die Zukunft der Kinder blicken. Sie sieht ihre
Möglichkeiten und rechnet wider aller Verlockung zur Resignation mit einer positiven Zukunft.
„Glaube ist wie die Hoffnung, keine Voraussage der Zukunft; aber er erblickt im Gegenwärtigen
den Zustand der Trächtigkeit.“ 24
3.2. Die kleine und die große Welt
Die Klasse ist als der bevorzugte Ort des Lernens und der Erfahrung von Gerechtigkeit und Liebe,
von Schuld und Vergebung, der Bearbeitung von Konflikten, des Erlernens von Empathie und
Solidarität anzusehen. Nicht das Reden darüber darf im Mittelpunkt stehen, sondern das konkrete
Erleben, nicht das große - oft unerreichbare - Ideal, sondern die oft mühsam erarbeitete und immer
wieder scheiternde Gerechtigkeit, die Suche nach Frieden und das Lebenlernen mit Konflikten. Das
konkrete Leben in der kleinen Welt ist das Feld des ethischen Lernens. Dies ist aber auch der
Ausgangspunkt für den Blick auf große Welt (Gerechtigkeit, Friede, Ökologie). Die Erfahrungen
der kleinen Welt ermöglichen ein Verständnis für die große Welt. Diese wiederum läßt die kleine
Welt im richtigen Blickwinkel erscheinen und relativiert, kritisiert oder motiviert. Eines darf nicht
gegen das andere ausgespielt werden. Die großen weltweiten Zusammenhang dürfen auch im Sinne
des vernetzten Denkens nicht übersehen werden, um nicht in sanfter Nabelbeschau nur um sich
selbst zu kreisen und eine individualistische Ethik zu fördern. Es gilt, leben zu lernen in dieser einen
Welt. So ruft Hélder Cámara schon 1972 die jungen Menschen auf: „Wie auch immer eure
Lebensbedingungen sein mögen, denkt an euch und die euren, aber verweigert es, euch in den
engen Kreis eurer Kleinfamilie einschließen zu lassen. Entscheidet euch ein für allemal für die
21
Auer, Alfons: Autonome Moral und christlicher Glaube. In: Kat. Bl. 1/77, 61.
Grewel, Hans: A. a. O., 55.
23
Fromm, Erich: Revolution der Hoffnung, Reinbek (TB) 1974, 53.
24
Ebda.: 20.
22
7
menschliche Familie: Lebt im Maßstab der Erde oder - besser noch - des Universums.“25 Hier bietet
gerade das Religionsbuch 4 „Miteinander unsere Welt gestalten“ eine Fülle von
Ansatzmöglichkeiten.
3.3. Schulung der Wahrnehmung, Sensibilität und Empathie
Wenn Erfahrung entscheidende Grundlage allen Lernens - vor allem auch des ethischen Lernens ist, so muß näherhin gefragt werden, wie Kinder Erfahrungen machen, wie ihr Leben für
Erfahrungen offen wird. „Ausgangspunkt aller Erfahrung ist die Wahrnehmung“26, die Vielzahl von
Eindrücken, die das Leben bietet. Damit wir Menschen etwas bewußt wahrnehmen und verarbeiten,
bedarf es aber der Betroffenheit. „Erst die Betroffenheit nämlich eröffnet den Bezug zu der Person,
die die aufgenommenen Eindrücke einem Sinndeutungshorizont zuordnet.“27 Dies scheint einer der
entscheidenden Punkte für ethisches Lernen zu sein. Ethik verlangt nach Erfahrungen. Situationen,
die betroffen machen, ermöglichen ethisches Bewußtsein, das dann zum ethischen Handeln führen
kann. Dies kann durch Erlebnisse in der Schulklasse geschehen, aber auch durch Spiele und
Übungen, wie auch durch Geschichten des Alltags und der Bibel. Solche Erlebnisse bedürfen der
sensiblen ganzheitlichen Wahrnehmung: Was ist hier geschehen? Wie geht es mir, wie geht es den
anderen in einer solchen Situation? Welche Folgen haben bestimmte Handlungen?
Erfahrung verbindet persönliche Betroffenheit mit Einsicht. Die Fähigkeit zur Einfühlung in die
eigene Person und in den anderen sind allerdings wesentlich, damit in solchen Situationen ethisches
Lernen möglich wird. Kommunikative Kompetenz sind auf Seiten der Unterrichtenden dabei
unerläßlich.
3.4. Erfahrung und Einsicht
Erfahrungen die konkret im Unterricht gemacht werden, bedürfen im Sinne ganzheitlichen Lernens
der Deutung und des kognitiven Einordnens in einen Sinndeutungshorizont, sonst verschwimmen
sie im Nebulosen und sind in gegebener Situation nicht mehr abrufbar. Gerade auch bei den 9/10Jährigen ist dieser Aufgabe ein besonderes Augenmerk zu widmen. Einsicht und Einordnenkönnen
von Erfahrungen sind Grundvoraussetzung für autonome Entscheidungen und für eine autonome
Moral, aber auch für die Kommunikabilität von Werten und Normen.
Nicht zu übersehen ist dabei aber, dass Einsicht vom Zeitwort „ein-sehen“ kommt und somit
zunächst mit einer Sinneswahrnehmung und mit Erleben zu tun hat. Häufig scheitert ethisches
Lernen meiner Beobachtung gerade auch daran, dass abstrakt von Situationen gesprochen wird, die
zuvor nicht „ein-ge-sehen“ wurden, wo also das Erleben und die Erfahrung und damit die
emotionale Beteiligung und Betroffenheit fehlen, damit es zu einem ganzheitlichen Lernen kommen
kann.
3.5. Vom Reden zum Handeln
Gerade im ethischen Lernen besteht im Religionsunterricht die Gefahr, dass - zum Teil künstlich
konstruierte - Situationen bearbeitet und besprochen werden, es aber nicht zur Erfahrung bzw. zum
Handeln kommt. Der schulische Rahmen ist dazu sowohl für die Kinder als auch für die
LehrerInnen oft wenig geeignet. So wird zwar über Gerechtigkeit, Liebe, Schuld und Vergebung
geredet, werden aber auch originäre Erfahrungen damit gemacht bzw. geteilt? Anzustreben aber ist,
dass der Religionsunterricht - das ist der entscheidende Punkt - zum Erfahrungsraum wird, „in dem
Schülern und Lehrern Gerechtigkeit, Liebe, Schuld und Vergebung und die Bearbeitung von
Konflikten wenigstens ansatzweise widerfahren und von ihnen eingeübt werden können.“28 Das
Zusammenleben in der Klasse wird so zum ethischen Handlungsraum. Hier gilt es auch die Chance
von Unterrichtsprojekten ernstzunehmen.
25
Càmara, Hèlder: Die Wüste ist fruchtbar, Graz 1972, 24f.
Grewel, Hans: A. a. O., 45.
27
Ebda.
28
Grewel, Hans: a. a. O., 47.
26
8
3.6. Die ethische Chance der Krise und des Konflikts nutzen
Schule ist wesentlich von Konflikten geprägt, da Kinder und LehrerInnen mit oft sehr
verschiedenen augenblicklichen Interessen zusammenkommen und eine relativ lange Zeit
miteinander leben. Die ständigen Auseinandersetzungen und Konflikte der Kinder untereinander
und mit den Lehrpersonen können diesen sehr zusetzen, wie viele Erfahrungsberichte zeigen. Aber
sie können für das ethische Lernen auch als besonders fruchtbringend angesehen werden. In Krisenund Konfliktsituationen ist die persönliche Beteiligung und Betroffenheit sehr groß und damit auch
die Erfahrungsmöglichkeit und Lernbereitschaft. Richtet sich der Blick auf die dem Konflikt oder
der Krise innewohnende Chance, dann wird plötzlich kreatives Lösungspotential wach, das hohen
ethischen Wert in sich trägt. Selbst das Scheitern in einem Konflikt kann dann ethisches Lernen
fördern. Ob sich eine Chance darin eröffnet, hängt nach Verena Kast wesentlich damit zusammen,
„ob wir die Krise als eine Lebenssituation zu sehen vermögen, in der sich für unser Leben
existentiell Wichtiges ereignet“29, oder ob die Krise bzw. ein Konflikt nur als lästige Aufgabe, die
es als LehrerIn auch noch zu lösen gilt, gesehen wird. Wenn Kast dies auch für den therapeutischen
Umgang mit Krisen schreibt, so gilt es m. E. auch für den pädagogischen Rahmen der Schule.
Konflikte und Krisen können einen kreativen Prozess in Gang setzen. „Wir werden dann kreativ,
wenn wir mit den uns bekannten Mitteln und Ideen ein Problem nicht mehr lösen können und wenn
uns zugleich sehr daran liegt, dieses Problem zu lösen.“30
Ein Mindestmaß an Verunsicherung muß prinzipiell gegeben sein, damit etwas gelernt wird, sonst
bleibt alles beim Alten. Allerdings verlangt das nach einer krisen- und konfliktfreundlichen
Einstellung31 auf Seite der Lehrenden.
29
Kast, Verena: Der schöpferische Sprung. Vom therapeutischen Umgang mit Krisen, München 1989, 11 (TB).
Ebda., 24.
31
Vgl.: Mette, Norbert: Welche Kompetenzen und Qualifikationen benötigt die Lehrerschaft? In: Adam, Gottfried/Schweitzer, Friedrich: A. a. O.,
370ff.
30
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