La Traviata Giuseppe Verdi „Die Musik, die selbst das Grässlichste niemals ganz ohne Schönheit darstellen kann, durchdringt idealisierend alle Poren selbst der Verwesung und löst die entsetzliche Wirklichkeit des Dramas in einen schwermütigen Traum.“ Eduard Hanslick über Verdis „La Traviata“ La Traviata Giuseppe Verdi Melodramma in drei Akten Libretto von Francesco Maria Piave nach dem Drama „La Dame aux camélias“ (1852) von Alexandre Dumas d. J. nach dem gleichnamigen Roman (1848) von Dumas In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln Premiere: 07. Dezember 2013, 19.30 Uhr Staatstheater Darmstadt, Großes Haus Uraufführung: 6. März 1853, Teatro La Fenice, Venedig 1. Akt In einem Salon feiert die kränkelnde Violetta Valéry, die begehrteste Kurtisane von Paris, eines ihrer rauschenden Feste: Hier amüsiert sich die demi-monde, die Pariser Halbwelt: Es wird ausgelassen gefeiert, getanzt und getrunken. Gastone stellt Violetta den jungen Studenten Alfredo Germont vor: Obwohl sie im Brindisi auf Ungebundenheit und freie Liebe anstößt, kann sie seiner Anziehung nicht ganz widerstehen. Als Alfredo ihr bald darauf eine glühende Liebeserklärung macht, beginnt Violetta, die an echte Gefühle und die wahre Liebe nicht mehr zu glauben wagte, an ihrer Ansicht zu zweifeln. Sie überreicht Alfredo als Abschiedsgeschenk eine Kamelienblüte: Wenn diese verblüht sei, dürfe er wieder zu ihr kommen. Nachdem die letzten Gäste im Morgengrauen das Fest verlassen haben, bleibt Violetta alleine zurück. Sie muß sich eingestehen, dass sie sich in Alfredo verliebt hat. 2. Akt Liana Aleksanyan, Peter Koppelmann, Opernchor Wenige Monate später sind Violetta und Alfredo ein Liebespaar geworden. Violetta hat ihr altes Leben hinter sich gelassen, Paris und seiner schillernden demi-monde den Rücken gekehrt und ist mit Alfredo aufs Land gezogen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Alfredos große Freude über ihr gemeinsames Glück wird ein wenig getrübt, als er erfährt, dass Violetta nach Paris zurückgekehrt ist, um all ihren Besitz zu verkaufen, damit sie sich das idyllische Leben auf dem Land leisten können. Zutiefst beschämt über seine Naivität und in seiner Ehre schwer gekränkt bricht er nach Paris auf, um die Angelegenheit zu regeln. Während seiner Abwesenheit besucht Giorgio Germont, Alfredos Vater, Violetta und fordert sie auf, die Beziehung zu seinem Sohn sofort zu beenden: Nichts weniger als der tadellose Ruf und die Ehre seiner Familie stünden auf dem Spiel, wenn sein Sohn einen solch fragwürdigen Umgang pflege. Als Germont ihr erzählt, dass seine Tochter nicht heiraten könne, weil ihr Bruder mit einer Frau ohne Moral zusammenlebe, gibt Violetta nach: Aus Liebe zu Alfredo opfert sie sich für das Glück seiner I N H A LT 3 I N H A LT 4 5 Schwester und willigt ein, die Beziehung zu ihm unverzüglich zu beenden. Einzig eine Bedingung bittet sie sich aus: Nach ihrem Tod möge Germont seinem Sohn von ihrem selbstlosen Opfer berichten. In einem Abschiedsbrief erklärt sie Alfredo, dass sie nach Paris zurückkehre, um ihr altes Leben weiterzuführen. Giorgio vermag es nicht, die tiefe Trauer seines Sohnes zu besänftigen. Die Aussicht, in die heimatliche Provence zurückzukehren und Trost im Schoße seiner Familie zu finden, kann ihn nicht beruhigen: Völlig aufgebracht fährt er nach Paris, um für sein gebrochenes Herz Rache zu nehmen. Die demi-monde hat sich auf einem Fest bei Flora versammelt: Die Nachricht, dass Violetta Alfredo verlassen habe und nun mit Baron Douphol verkehre, sorgt für einige Überraschung. Auch Alfredo ist auf dem Fest zugegen: Getreu der Devise „Pech in der Liebe, Glück im Spiel“ gewinnt er eine große Menge Geld beim Kartenspiel. Als Violetta in Begleitung des Barons erscheint, geraten die beiden schnell in einen heftigen Streit. Ein Missverständnis folgt dem anderen, schließlich wirft Alfredo ihr sein gewonnenes Geld begleitet von zynischen Worten vor allen Gästen vor die Füße, um sie für ihre Liebesdienste zu bezahlen. Die Reaktionen der Anwesenden könnten unterschiedlicher kaum ausfallen: Der große Schmerz Violettas, der Tadel Germonts gegenüber seinem unbeherrschten Sohn, Alfredos Selbstvorwürfe und die Betroffenheit der Gäste setzen dem Fest ein jähes Ende. Liana Aleksanyan, Anthoula Papadakis 7 3. Akt Einen Monat später: Während Violetta deutlich von ihrer Krankheit gezeichnet in einem ärmlichen Zimmer liegt, tobt auf den Straßen von Paris der Karneval und weckt Erinnerungen an die Freuden ihres alten Lebens. Allein Doktor Douphol hält ihr von all ihren früheren Bewunderern die Treue und kümmert sich um ihre Gesundheit. Obwohl er weiß, dass sie nur noch wenige Stunden zu leben hat, macht er ihr Hoffnung auf eine baldige Genesung. Ein letztes Mal liest sie einen Brief Germonts: Er habe sein Versprechen gehalten und seinem Sohn von ihrem selbstlosen Opfer berichtet, woraufhin Alfredo sich sofort auf den Weg gemacht habe, um sie um Entschuldigung zu bitten. Violetta ahnt bereits, dass es zu spät sein könnte. Das unerwartete Wiedersehen mit Alfredo beschert ihr glückliche Augenblicke: Ein letztes Mal bäumt sie sich gegen den Tod auf und träumt von einer gemeinsamen Zukunft. Doch schon bald verlassen sie endgültig die Kräfte, sie verabschiedet sich von Alfredo und bricht zusammen. Liana Aleksanyan I N H A LT 6 8 La Traviata John Dew Die Opern von Giuseppe Verdi sind so beliebt, dass man leicht vergisst, in welchem historischen Umfeld sie entstanden sind und welchen Stellenwert die Werke im zeitgenössischen Kontext gehabt haben. Es wird gerne über Verdis frühe Werke gespottet: Man hat sich beinahe daran gewöhnt, auf Giuseppe Verdis Schaffen mit leicht verächtlichem Blick herabzuschauen, und es scheint so, je mehr das Publikum Verdi ins Herz geschlossen hat, umso mehr schauen Kritiker auf sein Schaffen herab. Zum besseren Verständnis von Giuseppe Verdi und seiner Leistung auf dem Gebiet der Oper muss man sich die Situation Italiens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen. Dieser Aspekt ist leider innerhalb der Musikgeschichtsschreibung etwas vernachlässigt worden. Italien war in musikalischer Hinsicht sehr erfolgsverwöhnt: Spätestens seit Claudio Monteverdi, also seit der Zeit um 1600, war italienische Musik allbeherrschend in Europa. Aber wie immer gehen Politik und Kunst Hand in Hand. Schon bald nach der Französischen Revolution verlor Italien die Führung und schottete sich sozusagen von modernen Einflüssen ab. Man muss sich vorstellen, dass es in Verdis „Galeerenjahren“ als Komponist auf der ganzen italienischen Halbinsel weder eine sinfonische Gesellschaft noch die Kultur des Streichquartetts gab. Die Kunst des Liedgesanges war auf ein primitives Niveau herab gesunken, Kirchenmusik war im Chaos begriffen, und das Opernleben war ein ausschließlich merkantil geprägtes System, indem Städte waghalsige Impresarios engagierten, die dann eine Spielzeit auf eigenes Risiko auf die Beine stellten. Es ist deswegen nicht überraschend, dass man sich scheute, große Risiken einzugehen: Erfolgsformeln wurden zum ehernen Gesetz. 9 Aus diesem Grund waren die Librettisten darauf bedacht, dass ihre Texte die erprobten Formeln von Rossini und Mercadante erfüllten. Unter diesen Umständen ist es nicht überraschend, dass Verdi sozusagen von Null auf einen neuen italienischen Theatertypus schaffen musste. Es ist von unserem heutigen Standpunkt aus erstaunlich, dass man nicht auf die Errungenschaften von Wolfgang Amadeus Mozart und seines Librettisten Lorenzo Da Ponte gebaut hat. Aber soweit ich recherchiert habe, scheint es mir, als ob Giuseppe Verdi und seine Librettisten überhaupt keine Kenntnisse vom Wirken Mozarts und Da Pontes hatten. Vielmehr müssen wir den Kanon an Werken der frühen und mittleren Schaffensperiode Verdis aus dem Blickpunkt der Opera seria des 18. Jahrhunderts betrachten. Italien kannte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine romantischen Bewegungen. Man kannte dort weder den Sturm und Drang, noch hatte man ein eigene Sprechtheatertradition. So ist es nicht überraschend, dass sich Verdi und andere zeitgenössische Komponisten der Zeit nach Spanien, Frankreich und Deutschland orientierten, um geeignete Stoffe zu finden. Giuseppe Verdi hat fast von Anfang an versucht, die Grenzen der Möglichkeiten der italienischen Oper zu erweitern. „La Traviata“ stellt seinen bis dahin gewagtesten Versuch dar, etwas Neues zu schaffen. „La Traviata“ basiert auf Alexandre Dumas Schauspiel „Die Kameliendame“, das wiederum ein romantisiertes Bild der Kurtisane Marie Duplessis darstellt. Das Wort „Kurtisane“ ist letztendlich irreführend: Darunter haben wir eine sehr gut bezahlte „Nutte“ zu verstehen! Giuseppe Verdi beabsichtigte, dass das Stück „heute“ spielt, also in den gleichen Kostümen, die das Publikum zur Aufführung getragen hätte. In diesem Sinne wollte er als getreuer Shakespeare-Liebhaber dem Gedanken entsprechen, dass das Theater ein Spiegel der Welt sei. 10 Wegen der damals allgegenwärtig strengen Zensur wählte Verdi Venedig für die Uraufführung aus, die italienische Stadt, in der die Zensur noch am mildesten ausfiel. Denn Verdi beklagte sich nicht ohne Grund über die „Pfaffen“, die sich lauthals darüber empörten, was sie auf der Bühne sahen, obwohl sie es nachts hinter verschlossenen Türen nicht weniger zügellos trieben. Obwohl die „Kameliendame“ als Schauspiel in Venedig zeitgleich aufgeführt wurde wie „La Traviata“, sah sich die Intendanz in Venedig außerstande, Verdis Verlangen nach zeitgenössischen Kostümen zu erfüllen. (Das wird eigentlich immer anders erzählt, aber das ist die Wahrheit.) So wurde das Stück nicht in einer Ausstattung von 1850 dargestellt, wie Verdi es wollte, sondern die Handlung wurde in die Zeit um 1700, an den Hof von Versailles von Louis XIV verlegt. Diese Verlegung blieb für ein weiteres Vierteljahrhundert die Regel, bis genügend Zeit vergangen war, um die Aufführungen in Kostümen der 1850er Jahre spielen zu können, ohne dass man Gefahr lief, das Publikum gegen sich aufzubringen. Diese Verlegung in das Barocke war allerdings ein Frontalangriff auf die Intentionen von „La Traviata“, insofern als Verdi die bürgerliche Moral des 19. Jahrhunderts direkt attackierte – Moralvorstellungen, die am Hofe überhaupt nicht vorhanden oder dort zumindest von vollkommen anderen Grundsätzen geprägt waren. Dazu kommen autobiographische Züge, ein völlig neues Element in der Oper überhaupt. Bei einem Aufenthalt in der Nähe von Paris bekam Verdi einen Beschwerdebrief von seinem Schwiegervater Antonio Barezzi, der ihn anklagte, in wilder Ehe mit einer Künstlerin zu leben. Die Künstlerin war keine Geringere als seine spätere Ehefrau Giuseppina Strepponi, die in seinem Leben eine ungeheuer wichtige Rolle spielte. Ohne Strepponi hätten wir weder „Don Carlos“ noch „Aida“ und schon gar nicht „Otello“ und „Falstaff “. Sie galt aber als eine „gefallene Frau“, eine Künstlerin. Dieses Element des Realismus, der Bezogenheit auf die eigene Zeit ist 11 etwas völlig Neues in der Oper. Verdis Technik, Alltagssprache in das Libretto einfließen zu lassen, ist eigentlich eine vergessene Errungenschaft Lorenzo Da Pontes und kann in ihrer Wirkung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Da italienische Opernlibretti des 19. Jahrhunderts in ihrer seltsamen und gespreizten Kunstsprache den schlimmsten Exzessen Wagners in nichts nachstehen, wirken Szenen in „La Traviata“ wie plötzlich eintretende frische Luft. An der formalen Struktur von „La Traviata“ wurde über die Zeit viel verändert. Verdi selbst hat bei der zweiten Inszenierung die Partie des Vater Germont umkomponiert und in die uns heute vertraute Baritonlage versetzt. Allerdings veränderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts der Geschmack des Opernpublikums: Es wurden Striche angebracht sowie Wiederholungen entfernt, mit dem Ziel, „La Traviata“ moderner erscheinen zu lassen. Selbst ein treuer Bewahrer des Verdi-Kanons wie der Dirigent Arturo Toscanini hat 10 bis 15 Minuten aus „La Traviata“ herausgestrichen. So drängt sich die Vermutung auf, dass es vielleicht überhaupt keine endgültige Fassung von „La Traviata“ gibt. In unserer Darmstädter Inszenierung werden wir Musik aufführen, die heutzutage selten gespielt wird. Auf der anderen Seite haben wir ein paar andere kurze Stücke eliminiert. Die Italiener nannten „La Traviata“ eine Kammeroper. Nicht weil es im Sinne von Kammermusik zu verstehen wäre, sondern weil es ein äußerst intimes Stück ist. Ich hoffe, dass es unsere Aufführung vermag, ein wenig den Eindruck dieser Intimität des Stückes zu vermitteln. 12 Violetta Valéry – Leidensweg einer Kurtisane Attila Csampai In der Literatur zu „La Traviata“ hat stets weniger die Frage die Gemüter erhitzt, worum es geht in dieser populärsten Oper Verdis. Vielmehr fragte man nach den möglichen Beweggründen, die Verdi, „mitten in seiner Opernkarriere“ und nach achtzehn „mehr oder minder kriegerischen Opern“, veranlaßt haben mochten, nun plötzlich zu diesem bürgerlichen Gegenwartsstoff zu greifen und zu einem Sujet, das in jeder nur denkbaren Beziehung, also sowohl gattungsmäßig, konzeptionell, dramaturgisch wie ästhetisch aus dem bis dahin von ihm bevorzugten Genre des historisierenden romantischen Melodrams herausfiel. „La Traviata“ ist zwar nicht Verdis erster bürgerlicher Stoff überhaupt, wie immer wieder behauptet wird, aber doch seine erste und einzige Oper, die in der realen historischen Gegenwart an einem konkreten Ort spielt. Zwar stützt sich auch „La Traviata“ – der herrschenden Opernkonvention folgend – auf ein bereits vorhandenes Sprechtheaterstück, erfüllt somit als Literaturoper auch den Bildungsanspruch des bürgerlichen Opernpulikums, aber die Vorlage „La Dame aux camelias“, der Roman Alexandre Dumas’ des Jüngeren bzw. dessen gleichnamige Theaterfassung spielt in der Gegenwart, im Jahre 1848, und die Fabel trägt sogar autobiographische Züge. Dumas machte darin das Schicksal der am 3. Februar 1847 im Alter von 23 Jahren an Tuberkulose gestorbenen Pariser Edelkurtisane Marie Duplessis, mit der er selbst im Jahre 1845 einige Monate lang ein Verhältnis hatte, zum Thema einer durchaus sozialkritischen Studie über die sogenannte demi-monde, also die Pariser Halbwelt – eine Wortschöpfung, die Dumas selber erfand. Verdi hatte Dumas’ Roman gleich nach dessen Erscheinen im Jahre 1850 gelesen, jedoch erst eine Aufführung der vom Autor selbst besorgten, stark gerafften und abgemilderten Theaterversion, die Verdi mit seiner Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi im 13 Frühjahr 1852 im Pariser Theâtre du Vaudeville miterlebte, brachte ihn einige Monate später auf den Gedanken, daraus eine Oper zu machen. Gewiß hat Verdi durch seine spärlichen Äußerungen zu „La Traviata“ die Kontroversen um das Für und Wider eines solchen Sujets, das tatsächlich „einen Umsturz in der Librettogeschichte der Opera seria“ (C. Dahlhaus) bedeutete, nicht gerade klärend beeinflußt; sein einziger Kommentar, den er zur Wahl des Traviata-Stoffs abgab, läßt eher den Eindruck aufkommen, er hätte Dumas’ Schauspiel nur um des Überraschungseffekts willen, also nur wegen seiner Andersartigkeit, seiner provozierenden Aktualität, komponiert: „Ich sehne mich nach neuen, großartigen, schönen, abwechslungsreichen, kühnen Stoffen“, schreibt Verdi am Neujahrstag 1853, also kurz bevor er die Arbeit an „La Traviata“ aufnimmt, an seinen Freund Cesare de Sanctis, „grenzenlos kühn, mit neuen Formen usw. usw., und gleichzeitig gut komponierbar ... Wenn mir jemand sagt: ich habe das so gemacht, weil Romani, Cammarano usw. es so gemacht haben, verstehen wir uns nicht mehr: gerade weil diese großen Männer es so gemacht haben, möchte ich, daß es anders gemacht wird. In Venedig arbeite ich gerade an der ‚Dame aux camelias‘, die möglicherweise den Titel ‚La Traviata‘ bekommen wird. Ein Stoff unserer Zeit. Ein anderer hätte es vielleicht nicht gemacht wegen der Sitten, der Zeit oder wegen tausend anderer törichter Skrupel ... Mir bereitet die Arbeit sehr viel Vergnügen. Alle haben geschrien, als ich vorschlug, einen Buckligen auf die Bühne zu stellen. Trotzdem war ich glücklich, den ‚Rigoletto‘ zu komponieren, und ebenso war es bei ‚Macbeth‘ und so weiter ...“ Und die Publikumsreaktionen der ersten Stunde – die Premiere der Oper am 6. März 1853 im Teatro La Fenice in Venedig war ein böser Reinfall – gaben Verdi ja auch recht und bestätigten vollends, daß selbst das relativ aufgeschlossene venezianische Opernpublikum auf Anhieb nicht bereit war, in der Oper Dinge hinzunehmen, die auf dem Französischen Theater schon längst akzeptiert waren: nämlich einen echten bürgerlichen Stoff 14 aus ihrer eigenen Lebenswelt, der natürlich „ihr Bedürfnis nach stilisierter Vergangenheitsträumerei gründlich enttäuschte“, und dann auch noch ein derart anrüchiges und sentimentales Hurendrama! Zweifelsohne fühlte sich Verdi durch das neuartige Genre angeregt, nach neuen adäquaten musikalischen Ausdrucksformen zu suchen, und so schuf er eine Musik, die der Innerlichkeit, der Sensibilität und der Alltagsnähe des Geschehens mehr gerecht wurde, als seine bisherige, dem puren Affekt verpflichtete, und dieses neuen musikalischen Tons bedurfte es um so mehr, als Verdi die sozial relativ breitangelegte Vorlage Dumas’ zu einem intimen Dreipersonenstück umarbeitete. In „La Traviata“ beherrscht statt buntbewegter Riesenszenerie kammerspielartige Intimität das Bühnengeschehen; der „historische“ Schauplatz muß hier einmal dem bürgerlichen Salon, dem Wohnzimmer, dem „Innenraum“ weichen, und die Aktionen aller Figuren vollziehen sich zumeist im Gespräch, beruhen auf „Konversation“, in zum Teil lang ausgesponnenen, dem Sprechtheater ähnlichen Dialogen. Der Musik fällt hier die neue Aufgabe zu, den nicht weniger dramatisch-bewegten Verlauf der „inneren“ Bewegungen der Figuren in ihrer kleingliedrigen Vielfalt und in ihren diskontinuierlichsprunghaften Bahnen differenziert nachzuzeichnen, anstatt wie bisher, den Menschen stets nur von außen, über seine drastische emotionale Äußerung, über seine leidenschaftlich ausbrechenden (darum aber meist unbewegt „stehenden“) Affekte musikalisch zu fassen. Damit beginnt Verdi hier zum ersten Mal – wenn auch sehr behutsam – sich von der Ästhetik der alten opera seria zu lösen, wenngleich in den musikalischen Nummern von „La Traviata“ – wie Carl Dahlhaus unlängst nachwies – „das Gerüst von Cantabile und Cabaletta, wenn auch verdoppelt und differenziert, allenthalben durchscheint“. Gewiß hat Verdi in dieser Oper „die Topoi der Nummernoper vermenschlicht“, aber er hat sie dennoch nicht abgeschafft. Und ebenso hat Verdi hier auch dramaturgisch-konzeptio- nell eine konventionelle Oper geschaffen und ein Werk, das als Ausnahme Verdis alte Regel bestätigt. 15 Das ewige Dreieck „The eternal triangle“, also das ewige Dreieck, so bezeichnete Julian Budden das dramaturgische Grundmodell Verdis. Und in der Tat stellt sich das thematisch so vielfältige Gesamtwerk Verdis von insgesamt 28 Opern, von den Shakespeare-Stücken „Falstaff “ und „Macbeth“ einmal abgesehen, als eine Variationenfolge derselben tragischen Konfiguration von drei Personen dar, als dramaturgisch und rollentypisch weitgehend festgelegter Dreieckskonflikt. Dabei geht es in der Regel um einen doppelten, nämlich den persönlichen und politischen Konflikt zweier rivalisierender Männer um die soziale Macht und um die Gunst einer, von beiden Kontrahenten gleichermaßen begehrten, Frau. Für den Bariton (bzw. den Baß) ist in dieser Konstellation der Rollentypus der realitätsgeprüften, lebenserfahrenen, aber glücklos liebenden Herrscherfigur (oder auch Vaterfigur) vorgesehen, die im Kampf um die politische Macht zwar die Oberhand behält, im persönlichen Duell um das weibliche Liebesobjekt aber dem naiveren, jugendlich auftrumpfenden, rebellischen Tenor (der meist auf der Seite des unterdrückten Volkes steht) den Vortritt lassen muß. Dabei hat Verdi keineswegs nur solche Stoffe vertont, die diese archetypische Konfiguration schon von sich aus in den Mittelpunkt stellen, sondern er hat nicht selten sein Dreiecks-Grundschema auch nachträglich Sujets gewaltsam aufgepfropft, die ein weitaus komplizierteres und ganz anders geknüpftes Figurengewebe aufwiesen. Man kann also sagen, daß das Opernschaffen Verdis sich als kontinuierlicher, stark vermittelter und beziehungsreicher Entwicklungsprozeß darstellt, in dessen Verlauf Verdi nicht nur ein ganzes Arsenal immer wieder variabel einsetzbarer musikalischer Typen, Charaktere, Formen und szenischer Muster herausgebildet hat, sondern auch sein musikalisch-dramaturgisches Grundmodell des „Dreieckskonflikts“ immer mehr verfeinert und differenziert hat. 16 17 Und da macht auch das scheinbar so aus dem Rahmen fallende „Traviata“-Libretto keine Ausnahme: Verdi und sein getreuer Textdichter Francesco Maria Piave haben auch bei diesem aktuellen Gesellschaftsstück sich nicht gescheut, ihm ihre Drei-PersonenDramaturgie aufzuzwingen. Während in Dumas’ Schauspiel die Hauptfiguren in ein dichtes Netz von Beziehungen zu einer Reihe von anderen Personen eingesponnen sind, die auch alle selber ausführlich zu Wort kommen, so daß das soziale Milieu der demimonde transparent gemacht wird, eliminierten Verdi und Piave alles an Text und Personen, was nicht unmittelbar mit dem simplen Dreiecks-Handlungsrahmen der Hauptakteure zusammenhing. Eine Vielzahl von Szenen und Passagen, in denen Dumas die verhängnisvolle Liebesbeziehung zwischen Armand und Marguerite von verschiedenen Seiten beleuchtet, um die tieferliegenden sozialen und psychologischen Ursachen für deren Scheitern herauszuarbeiten, wurden in der Oper entweder darauf reduziert, was Verdis Musik zugänglich war, oder ganz gestrichen, wenn sie die anvisierte Drei- Personen-Dramaturgie zu durchbrechen drohten. Übrig blieben vier große in sich abgeschlossene Bilder, die die Akte I, III, IV und V des Schauspiels in nur zehn musikalische Nummern zusammenfassen. Auf Dumas’ gesamten zweiten Akt – die erste noch positiv ausgehende Erschütterung der Liebesbeziehung – verzichtete Verdi ganz bis auf eine kleine monologische Szene Violettas (II, 5), die er in die große zweiteilige Arie am Ende des ersten Opernaktes (Nr. 3: Szene und Arie der Violetta) einarbeitete. So besehen fügt sich auch „La Traviata“ in das zu jener Zeit schon fest ausgeprägte dramaturgische Grundmuster der Opern Verdis ein und verkörpert trotz ihrer stofflichen Ausnahmestellung den Idealtypus eines Verdischen Librettos: das ewige Dreieck. Anthoula Papadakis, Liana Aleksanyan, Oleksandr Prytolyuk 18 Verdis Leben und Werk im Spiegel seiner Zeit Von Le Roncole nach Paris: Verdi macht Karriere Silke Leopold Der Siegeszug von „La Traviata“ kam nicht von ungefähr. Bei ihrer Uraufführung 1853 durchgefallen, ein Jahr später mit grandiosem Erfolg in leicht veränderter Gestalt erneut aufgeführt, erlebte die Oper bis 1860 nahezu 200 Produktionen im In- und Ausland. Wie keine andere Oper traf sie den Nerv einer Gesellschaft, die im Umbruch war und sich zwischen Industrialisierung und Romantik, zwischen Adelsherrschaft und Bürgerlichkeit, zwischen männlicher Dominanz und weiblicher Selbstbestimmung, zwischen Ehrenkodex und Libertinage zurechtzufinden suchte – eine Welt, in der die politischen Karten nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Reiches in Zeiten von Restauration und Revolution neu gemischt wurden. „La Traviata“ spiegelt die gesellschaftlichen Entwicklungen und Verwerfungen des 19. Jahrhunderts in einer Weise wieder, dass diese Oper, fiktiv wie sie war, sogar autobiografisch gelesen werden konnte. Dabei lag Verdi nichts ferner, als seine eigene Existenz auf der Opernbühne zu reflektieren. Es ging ihm eher darum, mit seiner Musik zum emotionalen Kern einer Geschichte vorzudringen, die in dieser auf das Allgemeingültige zielenden Weise, nicht aber durch eindimensionale Verortung Aktualität gewann. Gleichwohl repräsentierte Verdi selbst wie kein anderer Komponist mit seiner klassischen Aufsteigerbiografie die alten Strukturen, aber auch die neuen Möglichkeiten, die dieses 19. Jahrhundert offerierte. Giuseppe Verdi, das Kind aus ärmlichsten Verhältnissen, hatte das Glück, dass seine herausragende Begabung früh erkannt und gefördert wurde. Das war nicht selbstverständlich in einem Land, das von Kriegen erschüttert, von wechselnden Fremdherrschaften seit Jahrhunderten gepeinigt, von einem gesellschaftlich schier undurchlässigen feudalen System 19 geprägt war und sozialen Aufstieg nur durch die Entscheidung für den geistlichen Stand ermöglichte. Unzählige begabte Kinder aus Familien der Unterschicht – darunter so berühmte wie der kaiserliche Hofdichter Pietro Metastasio – hatten diesen Weg gewählt, um sich ein Auskommen und einen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Le Roncole, ein kleiner Flecken am Rande der Kleinstadt Busseto im Herzogtum Parma, war im Jahre 1813, als Verdi dort geboren wurde, nicht der Ort, der eine friedvolle Kindheit erwarten ließ. Die Kämpfe zwischen napoleonischen Truppen und den Habsburgern um das Herzogtum Parma tobten auch hier; erst der Wiener Kongress 1815 und die Übernahme Parmas durch Napoleons Gemahlin, die habsburgische Erzherzogin Marie Louise, sollten Stabilität über mehr als drei Jahrzehnte hinweg garantieren. Eine geistliche Laufbahn hätte auch Verdi bevorstehen können. Der erste, der seine musikalische Begabung erkannte, war ein Priester des Ortes, und Verdi sollte in den kommenden Jahren seine frühen musikalischen Erfahrungen als Organist in der Kirche machen. Verdis Eltern nahmen die Herausforderung eines so außergewöhnlichen Kindes an, verzichteten auf seine Mitarbeit in ihrem eigenen Gewerbe, wie es üblich gewesen wäre, und engagierten sich in durchaus unüblicher Weise für seine weitere Ausbildung. Hätte Verdi sein Leben als Organist in den Kirchen seiner Heimat verbracht – schon dies hätte gegenüber seiner Herkunft einen sozialen Aufstieg bedeutet. Busseto, die kleine, aber kulturell lebendige Stadt, bedeutete die entscheidende Weiche in Verdis Laufbahn; denn hier lernte er den wohlhabenden und musikliebenden Kaufmann Antonio Barezzi kennen, der zu seinem wichtigsten Förderer und schließlich sogar zu seinem Schwiegervater wurde. Mit einem Stipendium der Herzogin Marie Louise gelangte Verdi 1832, mit 19 Jahren, nach Mailand, eine der bedeutendsten Musikmetropolen Italiens und die Stadt, in der seine Karriere als Opernkomponist nach einem eher stolpernden Beginn zu einem Triumph werden sollte. Zwar 20 kehrte er danach zunächst nach Busseto zurück, heiratete Margherita, die Tochter Barezzis, bekam zwei Kinder und schien als Musikdirektor der Stadt im bürgerlichen Milieu Bussetos angekommen zu sein. Doch es zog ihn zurück nach Mailand und zur Oper; und auch wenn die ersten Jahre dort die Zeit der schlimmsten Schicksalsschläge werden sollten, weil beide Kinder und seine Frau im Abstand von nicht einmal zwei Jahren starben, so hielt diese Stadt doch auch all jene intellektuellen und kulturellen Anregungen für ihn bereit, ohne die er nicht mehr auskommen mochte. Der überwältigende Erfolg von „Nabucco“ im Jahre 1842 wurde zu einem Wendepunkt in Verdis Biografie – nicht nur, weil diese Oper den internationalen Durchbruch bedeutete, sondern auch, weil Verdi in der Darstellerin der Abigaille, der Primadonna Giuseppina Strepponi, jene Frau traf, die seinen Lebensweg bis zu ihrem Tod im Jahre 1897 begleiten sollte. Geboren 1815, hatte sie mit ihren 27 Jahren bereits ein bewegtes Leben und eine große Karriere hinter sich. Sie hatte sich mit Partien von Rossini, Bellini und Donizetti einen Namen gemacht, daneben drei uneheliche Kinder von verschiedenen Männern geboren und fortgegeben. Zwei Jahre nach „Nabucco“ hob sie auch die weibliche Hauptrolle von Verdis Oper Ernani in Venedig aus der Taufe. Bald danach musste sie ihre Karriere als Sängerin aber wegen stimmlicher Probleme beenden; sie ließ sich in Paris nieder und eröffnete dort eine Gesangsschule. Als Verdi 1847 nach Paris kam, um dort seine Oper „I lombardi alla prima crociata“ umzuarbeiten, wurden die beiden ein Paar und bezogen eine gemeinsame Wohnung; erst zwölf Jahre später sollten sie in aller Stille heiraten und somit legalisieren, was zu diesem Zeitpunkt schon Normalität geworden war. Was aber in Paris kaum jemanden interessierte, erregte in Busseto großes Aufsehen. Als Verdi 1848 gemeinsam mit Giuseppina in der Nähe von Busseto das Landgut Sant’Agata erwarb, um sich irgendwann dort niederzulassen, war das Getuschel groß, und Antonio Barezzi, Verdis Schwie- 21 gervater, fühlte sich bemüßigt, seinen ehemaligen Schützling darauf hinzuweisen. Nicht minder groß war freilich Verdis Empörung über diese Einmischung in seine privaten Angelegenheiten. Von Paris aus schrieb er Barezzi im Januar 1852 einen Brief, der vor allem deshalb Berühmtheit erlang hat, weil Verdi hier seine Beziehung zu Giuseppina öffentlich macht und gleichzeitig das Recht fordert, ein Leben außerhalb der gängigen Moralvorstellungen zu führen. Der Zufall will es, dass die ersten Jahre der Beziehung mit Giuseppina Strepponi zeitlich mit der Veröffentlichung von Dumas’ Roman „La Dame aux camélias“, der Umarbeitung dieses Bestsellers erst zu einem Schauspiel, dann zu dem Libretto für Verdis „La Traviata“ zusammenfallen. Diese Koinzidenz blieb nicht unbemerkt und verleitete Alessandro Luzio, den Journalisten und Herausgeber von Verdis Briefen, 1935 dazu, in „La Traviata“ einen autobiografischen Bezug zu erkennen – demnach wäre Violetta Valery ein Portrait Giuseppina Strepponis, Verdi selbst Alfredo und Antonio Barezzi Alfredos Vater Germont. Diese Behauptung entbehrt jedoch jeder Grundlage. Niemals hätte Verdi, der in seinem Brief ja gerade auf Giuseppinas Ehrbarkeit bestand, zugelassen, sie mit einer Kurtisane zu vergleichen, die ihren Körper für Geld verkaufte. Ob aber die Beziehung zu Giuseppina ein Nachdenken über die Rolle der Frau in der Gesell- schaft bewirkte, ob seine Überzeugungen hinsichtlich eines weiblichen Anspruchs auf Selbstbestimmung den Boden für eine derart unkonventionelle Beziehung mit einer unverheirateten Frau bereiteten, oder ob das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat, lässt sich nicht sagen. Es gibt in Verdis Briefen keinen Beleg für irgendeine Bezugnahme der Oper auf sein eigenes Leben. 22 Das Politische und das Private: Höhepunkte in Verdis Schaffen Zum Zeitpunkt der Entstehung von „La Traviata“ war Verdi bereits eine europäische Berühmtheit. Rastlos hatte er seit dem Erfolg von „Nabucco“ Oper um Oper geschrieben, einstudiert, dirigiert und bisweilen sogar Regie geführt. Er hatte die Metropolen des Kontinents bereist, aus Paris und sogar aus London Aufträge erhalten. Und er hatte sich zu einer Symbolfigur der „Risorgimento“ genannten italienischen Einigungsbestrebungen entwickelt, zunächst durch „Va, pensiero, sull’ali dorate“, den berühmten Gefangenenchor aus „Nabucco“, der in Italien als eine Metapher für die eigene politische Situation verstanden und in seiner hymnusartigen Eingängigkeit leicht memoriert und überall gesungen werden konnte. Vor allem mit seiner Oper „La battaglia di Legnano“ (1849) aber schrieb sich Verdi in das kollektive Gedächtnis des Risorgimento ein – eine Oper über jene Schlacht, in der sich im Jahre 1176 Kaiser Barbarossa den lombardischen Städten hatte geschlagen geben müssen. „Legnano“ wurde zur Parole des Risorgimento, und in Verdis Oper mischte sich historische Erzählung mit aktuellen Bezugnahmen. Dass diese patriotische Oper in Rom nur wenige Tage vor der Proklamation einer wenn auch kurzlebigen Republik in der Papststadt uraufgeführt wurde und die revoltierenden Römer in einen Begeisterungstaumel versetzte, mag ein historischer Zufall sein; er trug aber wesentlich zu dem Bild Verdis als Komponist am Puls der Zeit bei. Es wäre Verdi ein Leichtes gewesen, auf dieser patriotischen Erfolgswelle weiter zu schwimmen. Doch er machte eine radikale Kehrtwende und wandte sich Stoffen zu, die zwar nicht ohne gesellschaftspolitische Brisanz waren, den patriotischen Aspekt jedoch nicht weiter verfolgten. Mit „Luisa Miller“ (1849), einer Umarbeitung von Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“, und mit „Stiffelio“ (1850), einer Ehebruchsgeschichte im bürgerlich-protestantischen Milieu Deutschlands, widmete sich Verdi den privaten eher als den öffentlichen Konflikten. 23 Dieses neue, auf zeitgenössische Sujets gerichtete Interesse gipfelte dann in „La Traviata“, einem nicht nur aktuellen, sondern auch noch „unmoralischen“ Stoff. „La Traviata“ ist der Höhepunkt jener „trilogia popolare“ genannten Serie dreier Opern, die kurz hintereinander entstanden und eine neue Konzeption des musikalischen Dramas in Verdis Schaffen bedeuteten. Mit „Rigoletto“ (März 1851), „Il Trovatore“ (Januar 1853) und „­­­La Traviata“ (März 1853) betrat Verdi inhaltlich wie musikalisch Neuland. Er selbst hatte Anfang Januar 1853, mitten in den Arbeiten für „Il Trovatore“ und wohl auch schon in Gedanken an „La Traviata“, in einem Brief geschrieben: „Ich wünsche mir neue Sujets, großartig, schön, abwechslungsreich, gewagt – gewagt bis an die Grenzen, mit neuen Formen und gleichzeitig komponierbar!“ Ein buckliger Hofnarr und seine Tochter wie in „Rigoletto“, eine Zigeunerin und ihr Sohn wie in „Il Trovatore“, eine Kurtisane und ihr Liebhaber wie in „La Traviata“ – das hatte es im Opernrepertoire der Zeit, das die Bühnen ansonsten mit Herrschern und hochgestellten Personen bevölkerte, tatsächlich noch nicht gegeben, und die Art, wie Verdi in diesen drei Opern die musikalischen Formen an die dramatische Entwicklung anpasste und nicht mehr umgekehrt, bedeutete einen wichtigen Schritt hin zu einem musikalischen Realismus. Reiche Ernte: Die Vermarktung der Traviata Mit „La Traviata“ endete auch die gedrängte Serie von Neukompositionen – in den elf Jahren zwischen „Nabucco“ und „La Traviata“ komponierte Verdi nicht weniger als siebzehn Opern. Danach ließ er es etwas ruhiger angehen; in den vierzig Jahren seiner zweiten Lebenshälfte, bis zu seiner letzten Oper „Falstaff “ (1893), entstanden nur noch neun weitere Opern. Die größte Lücke klafft dabei zwischen „Aida“ (1871) und „Otello“ (1887). Verdi hatte es nicht mehr nötig, sich beim Komponieren von immer neuen Opern wie ein Galeerensklave zu fühlen, um so seinen Lebensunterhalt 24 zu verdienen. Dass er ein reicher Mann geworden war, verdankte er auch seinem kompromisslosen Kampf für das Urheberrecht. Er war berühmt genug, um Theatern und Verlagshäusern seine Bedingungen diktieren zu können, und er führte zahlreiche Prozesse um seine Rechte als Autor. „La Traviata“ spielt in dieser Geschichte des Urheberrechts eine wichtige Rolle. Keine andere Oper ist so häufig wiederaufgeführt und bearbeitet worden. Und bei keiner anderen zeigt sich die für beide Seiten gewinnbringende Aufteilung zwischen Urheber und Verwerter so deutlich. Bereits im Mai 1852 hatte Verdi mit dem Teatro La Fenice in Venedig einen Vertrag für die Eröffnungsoper der Karnevalssaison 1853 unterschrieben. Die Theaterdirektoren erhofften sich eine Wiederholung des grandiosen Erfolgs von „Rigoletto“ im März 1851. Bevor sich Verdi auf die Suche nach einem geeigneten Stoff machte, widmete er sich freilich einem anderen Projekt: der Komposition von „Il Trovatore“, die im Januar 1853, nur zwei Monate vor „La Traviata“, in Rom eine triumphale Uraufführung erleben sollte. Erst im Oktober 1852 entschloss er sich, Dumas’ Schauspiel zu einer Oper umzuarbeiten. Und obwohl diese noch nicht einmal einen Titel trug, gab Verdis Verleger Tito Ricordi schon im Dezember 1852 seine umfassenden Rechte an dieser neuen Oper bekannt. In der Gazzetta musicale di Milano reklamierte er das alleinige und für alle Länder geltende Eigentum an den Aufführungspartituren, den gedruckten Klavierauszügen sowie allen Bearbeitungen wie zum Beispiel Fantasien oder Potpourris für seinen Verlag. An all diesen Zweitverwertungen war Verdi finanziell ebenso beteiligt wie an den Aufführungen in den Opernhäusern. Seinen Reichtum steckte er nicht nur in diverse Stadtwohnungen, sondern vor allem in seinen Landbesitz; bis in seine späten Jahre hinein kaufte er in seiner Heimat immer mehr Land und machte Sant’Agata zu einem Gut von latifundienhafter Ausdehnung. Seine unternehmerische Begabung erstreckte sich zunehmend auch auf die Landwirtschaft; mit Wonne 25 vermarktete er nun nicht nur seine Opern, sondern auch die auf seinen Gütern produzierten Fleischwaren. Nachdem er 1861 zum Deputierten im neugegründeten italienischen Parlament gewählt worden war, erlahmte sein Interesse an der Politik in dem Maße, in dem er tatsächliche Gestaltungsmöglichkeiten vermisste. Stattdessen widmete er sich im Alter neben der Landwirtschaft zunehmend der Pflege seiner Gesundheit auf Badekuren und dem Bau eines Altersheims für Musiker, der Casa di riposo in Mailand. Mehr und mehr zog er sich aus der Welt, die er selbst ein gutes halbes Jahrhundert lang mitgeprägt hatte, zurück. Die politischen Ereignisse gingen an Sant’Agata vorbei, und Verdi verweigerte sich immer wieder jeglicher Vereinnahmung durch die italienische Öffentlichkeit. Ende 1897 starb Giuseppina, und im Januar 1901, mit 87 Jahren, Verdi selbst. Vier Wochen nach seiner Beisetzung auf dem Mailänder Friedhof wurde seinem Wunsch entsprochen, in der Casa di riposo seine letzte Ruhestätte zu finden. Die Särge des Ehepaars Verdi wurden exhumiert und in der Kapelle der Casa di riposo zu den Klängen des „Miserere“ aus „Il Trovatore“ beigesetzt. Beim Verlassen des Friedhofs sangen mehr als 800 Sänger unter Leitung von Arturo Toscanini „Va, pensiero, sull’ali dorate“ aus „Nabucco“, das inzwischen zu so etwas wie einer heimlichen National- hymne geworden war. 26 Anthoula Papadakis, Liana Aleksanyan 27 28 29 Verdis Brief an Antonio Barezzi Liebster Schwiegervater, Paris, 21. Januar 1852 nachdem ich so lange gewartet hatte, glaubte ich nicht, daß ich von Ihnen einen so kühlen Brief bekommen würde, in dem es auch noch eine, wenn ich mich nicht täusche, recht kränkende Stelle gibt. Trüge dieser Brief nicht die Unterschrift Antonio Barezzi, das ist die meines Wohltäters, so hätte ich sehr heftig geantwortet oder ich hätte überhaupt nicht geantwortet; da er aber diesen Namen trägt, den zu achten mir immer Pflicht sein wird, will ich Sie nach Möglichkeit zu überzeugen versuchen, daß ich solchen Tadel nicht verdiene. Um das tun zu können, muß ich auf Vergangenes zurückgehen, muß von anderem sprechen, von unserem Land, der Brief wird lang, vielleicht langweilig werden, aber ich versuche, so kurz zu sein, wie ich nur kann. Ich glaube, daß Sie nicht aus eigenem Antrieb mir einen Brief geschrieben haben, von dem Sie wußten, daß er mir bloß Ärger bereiten könne; aber Sie leben in einer Umgebung, die die schlimme Art hat, sich häufig in die Angelegenheiten anderer einzudrängen und alles zu mißbilligen, was mit den eigenen Anschauungen nicht übereinstimmt; ich dagegen habe mirs zur Gewohnheit gemacht, mich in die Angelegenheiten anderer nicht einzumischen, außer wenn man mich darum bittet, und so verlange ich nun auch, daß sich niemand in die meinen einmenge. Daher die Schwätzereien, das Gerede, die Mißbilligung. Diese Freiheit des Handelns, wie man sie auch in minder gesitteten Ländern achtet, ich verlange sie als mein gutes Recht auch in dem meinen. Seien Sie selber Richter und seien Sie als Richter streng, aber kühl und ohne Leidenschaft: was für ein Unglück ist es denn, wenn ich mich absondere, wenn ich es für richtig halte, bei den Leuten auch dann keine Besuche zu machen, wenn sie Titel haben? Wenn ich an den Festen, den Vergnügungen der andern nicht teilnehme? Wenn ich meine Güter verwalte, weil mir das so gefällt und mir Zerstreuung schafft? Ich wiederhole: was ist für ein Unglück dabei? In keinem Fall hat irgendwer einen Schaden davon … Damit habe ich Ihnen meine Ansichten, mein Tun, mein Wollen, mein Leben, mein sozusagen öffentliches Leben aufgedeckt, und da wir schon dabei sind, Enthüllungen zu machen, sehe ich nichts daran, wenn ich den Vorhang aufziehe, der die Geheimnisse meiner vier Wände verdeckt; wenn ich Ihnen von meinem häuslichen Leben spreche. Ich habe nichts zu verbergen. In meinem Hause lebt eine freie, unabhängige Dame, die wie ich die Einsamkeit liebt und ein Vermögen besitzt, das sie vor jeder Not schützt. Weder ich noch sie sind irgendwem über unser Tun Rechenschaft schuldig; andrerseits aber – wer weiß denn um die Beziehungen zwischen uns, um unsre Geschäfte? Um unsre Verbindung? Oder um die Rechte, die ich über sie habe und sie über mich, wer weiß, ob sie meine Frau ist oder nicht? Und wer weiß, welches in diesem besonderen Fall die Gründe sind, was der Gedankengang, daß wir davon nichts mitteilen wollen? Wer weiß denn, ob das gut oder schlecht ist? Warum sollte daran nicht auch Gutes sein können? Und wenn es auch etwas Schlechtes wäre, wer hat das Recht, den Bannfluch gegen uns zu schleudern? Ich will sogar sagen, daß sie in meinem Haus den gleichen und noch größeren Respekt finden muß als ich und daß es daran niemand fehlen lassen darf, mit welcher Ausrede immer; und daß sie schließlich darauf jeden Anspruch hat, sowohl wegen ihrer Haltung wie wegen ihrer Geistigkeit und wegen ihres besonderen Entgegenkommens allen gegenüber … Mit dieser langen Auseinandersetzung habe ich nur sagen wollen, daß ich meine Freiheit verlange, weil darauf alle Menschen ein Recht haben und weil sich meine Natur dagegen empört, es anders zu halten. Sie aber, der Sie im Grunde so gütig, so gerecht und so herzlich sind, lassen Sie sich nicht beeinflussen, nehmen Sie nicht die Denkart einer Gemeinde an, die mich, soweit ich in Frage komme – man muß das schon sagen! – noch vor 30 31 kurzem nicht einmal als Organisten anzunehmen geruhte und jetzt nicht genug über mein Tun und Lassen reden und absprechen kann. So kann es nicht bleiben; sollte es das aber, wäre ich Manns genug, meine Entschlüsse zu fassen. Die Welt ist groß – und wenn ich zwanzig- oder dreißigtausend Francs verlieren müßte, es würde mich nicht hindern, mir anderswo eine Heimat zu suchen. Ich kann in diesem Brief nichts gesagt haben, was Sie beleidigen könnte. Sollte Ihnen aber irgend etwas darin mißfallen, so will ich es nicht geschrieben haben: ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß ich nicht die Absicht habe, Sie irgendwie zu kränken. Ich habe Sie immer als meinen Wohltäter angesehen und Sie sind mir das noch, ich mache mir eine Ehre daraus, ich rühme mich dessen! Ein herzliches Lebewohl! In alter Freundschaft G. Verdi Antonio Barezzi (1787-1867) war der Vater von Verdis 1840 verstorbener erster Frau Margherita (geb. 1814) und in Verdis Jugendjahren sein größter Förderer. Barezzi stand Verdis zweiter Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi sehr mißtrauisch gegenüber, zumal Verdi auch viele Jahre lang (bis 1859) unverheiratet mit ihr zusammenlebte. Liana Aleksanyan, Arturo Martín, Oleksandr Prytolyuk, Elisabeth Hornung, Thomas Mehnert 32 Text- und Bildnachweise Attila Csampai (Hrsg.): Giuseppe Verdi, La Traviata. Texte, Materialien, Kommentare, Hamburg 1983 | Silke Leopold: Verdi. La Traviata, Kassel 2013 | Werner Otto (Hsrg.): Giuseppe Verdi. Briefe, Kassel 1983 | Der Text von John Dew ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. || Alle für dieses Programmheft entstandenen Texte entsprechen der aktuellen Rechtschreibung, alle übernommenen Texte folgen ihrer ursprünglichen Orthographie. || Szenenfotos von Barbara Aumüller I m press u m Spielzeit 2014 |15, Programmheft Nr. 8 Herausgeber: Staatstheater Darmstadt Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06 15 1 . 28 11-263 www.staatstheater-darmstadt.de Intendant: Karsten Wiegand Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz Redaktion: Daniel Kunz Grafik: sweetwater | holst, Darmstadt Herstellung: Drach Print Media, Darmstadt