La Traviata - Staatstheater Darmstadt

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La Traviata
Giuseppe Verdi
„Die Musik, die selbst das
Grässlichste niemals ganz ohne
Schönheit darstellen kann,
durchdringt idealisierend alle
Poren selbst der Verwesung und
löst die entsetzliche Wirklichkeit
des Dramas in einen schwermütigen Traum.“
Eduard Hanslick über Verdis „La Traviata“
La Traviata
Giuseppe Verdi
Melodramma in drei Akten
Libretto von Francesco Maria Piave nach dem Drama
„La Dame aux camélias“ (1852)
von Alexandre Dumas d. J. nach dem gleichnamigen Roman
(1848) von Dumas
In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Premiere: 07. Dezember 2013, 19.30 Uhr
Staatstheater Darmstadt, Großes Haus
Uraufführung: 6. März 1853, Teatro La Fenice, Venedig
1. Akt
In einem Salon feiert die kränkelnde Violetta Valéry, die begehrteste
Kurtisane von Paris, eines ihrer rauschenden Feste: Hier amüsiert sich
die demi-monde, die Pariser Halbwelt: Es wird ausgelassen gefeiert,
getanzt und getrunken. Gastone stellt Violetta den jungen Studenten
Alfredo Germont vor: Obwohl sie im Brindisi auf Ungebundenheit und
freie Liebe anstößt, kann sie seiner Anziehung nicht ganz widerstehen.
Als Alfredo ihr bald darauf eine glühende Liebeserklärung macht, beginnt
Violetta, die an echte Gefühle und die wahre Liebe nicht mehr zu glauben
wagte, an ihrer Ansicht zu zweifeln. Sie überreicht Alfredo als Abschiedsgeschenk eine Kamelienblüte: Wenn diese verblüht sei, dürfe er wieder zu
ihr kommen. Nachdem die letzten Gäste im Morgengrauen das Fest
verlassen haben, bleibt Violetta alleine zurück. Sie muß sich eingestehen,
dass sie sich in Alfredo verliebt hat.
2. Akt
Liana Aleksanyan, Peter Koppelmann, Opernchor
Wenige Monate später sind Violetta und Alfredo ein Liebespaar geworden.
Violetta hat ihr altes Leben hinter sich gelassen, Paris und seiner
schillernden demi-monde den Rücken gekehrt und ist mit Alfredo aufs
Land gezogen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Alfredos große
Freude über ihr gemeinsames Glück wird ein wenig getrübt, als er erfährt,
dass Violetta nach Paris zurückgekehrt ist, um all ihren Besitz zu
verkaufen, damit sie sich das idyllische Leben auf dem Land leisten
können. Zutiefst beschämt über seine Naivität und in seiner Ehre schwer
gekränkt bricht er nach Paris auf, um die Angelegenheit zu regeln.
Während seiner Abwesenheit besucht Giorgio Germont, Alfredos Vater,
Violetta und fordert sie auf, die Beziehung zu seinem Sohn sofort zu
beenden: Nichts weniger als der tadellose Ruf und die Ehre seiner Familie
stünden auf dem Spiel, wenn sein Sohn einen solch fragwürdigen
Umgang pflege. Als Germont ihr erzählt, dass seine Tochter nicht heiraten
könne, weil ihr Bruder mit einer Frau ohne Moral zusammenlebe, gibt
Violetta nach: Aus Liebe zu Alfredo opfert sie sich für das Glück seiner
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Schwester und willigt ein, die Beziehung zu ihm unverzüglich zu
beenden. Einzig eine Bedingung bittet sie sich aus: Nach ihrem Tod möge
Germont seinem Sohn von ihrem selbstlosen Opfer berichten. In einem
Abschiedsbrief erklärt sie Alfredo, dass sie nach Paris zurückkehre, um
ihr altes Leben weiterzuführen. Giorgio vermag es nicht, die tiefe Trauer
seines Sohnes zu besänftigen. Die Aussicht, in die heimatliche Provence
zurückzukehren und Trost im Schoße seiner Familie zu finden, kann ihn
nicht beruhigen: Völlig aufgebracht fährt er nach Paris, um für sein
gebrochenes Herz Rache zu nehmen.
Die demi-monde hat sich auf einem Fest bei Flora versammelt:
Die Nachricht, dass Violetta Alfredo verlassen habe und nun mit Baron
Douphol verkehre, sorgt für einige Überraschung. Auch Alfredo ist auf
dem Fest zugegen: Getreu der Devise „Pech in der Liebe, Glück im Spiel“
gewinnt er eine große Menge Geld beim Kartenspiel. Als Violetta in
Begleitung des Barons erscheint, geraten die beiden schnell in einen
heftigen Streit. Ein Missverständnis folgt dem anderen, schließlich wirft
Alfredo ihr sein gewonnenes Geld begleitet von zynischen Worten vor
allen Gästen vor die Füße, um sie für ihre Liebesdienste zu bezahlen. Die
Reaktionen der Anwesenden könnten unterschiedlicher kaum ausfallen:
Der große Schmerz Violettas, der Tadel Germonts gegenüber seinem
unbeherrschten Sohn, Alfredos Selbstvorwürfe und die Betroffenheit der
Gäste setzen dem Fest ein jähes Ende.
Liana Aleksanyan, Anthoula Papadakis
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3. Akt
Einen Monat später: Während Violetta deutlich von ihrer Krankheit gezeichnet in einem ärmlichen Zimmer liegt, tobt auf den Straßen von Paris
der Karneval und weckt Erinnerungen an die Freuden ihres alten Lebens.
Allein Doktor Douphol hält ihr von all ihren früheren Bewunderern die
Treue und kümmert sich um ihre Gesundheit. Obwohl er weiß, dass sie
nur noch wenige Stunden zu leben hat, macht er ihr Hoffnung auf eine
baldige Genesung. Ein letztes Mal liest sie einen Brief Germonts: Er habe
sein Versprechen gehalten und seinem Sohn von ihrem selbstlosen Opfer
berichtet, woraufhin Alfredo sich sofort auf den Weg gemacht habe, um
sie um Entschuldigung zu bitten. Violetta ahnt bereits, dass es zu spät sein
könnte. Das unerwartete Wiedersehen mit Alfredo beschert ihr glückliche
Augenblicke: Ein letztes Mal bäumt sie sich gegen den Tod auf und träumt
von einer gemeinsamen Zukunft. Doch schon bald verlassen sie endgültig
die Kräfte, sie verabschiedet sich von Alfredo und bricht zusammen.
Liana Aleksanyan
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La Traviata
John Dew
Die Opern von Giuseppe Verdi sind so beliebt, dass man leicht vergisst,
in welchem historischen Umfeld sie entstanden sind und welchen Stellenwert die Werke im zeitgenössischen Kontext gehabt haben. Es wird
gerne über Verdis frühe Werke gespottet: Man hat sich beinahe daran
gewöhnt, auf Giuseppe Verdis Schaffen mit leicht verächtlichem Blick
herabzuschauen, und es scheint so, je mehr das Publikum Verdi ins Herz
geschlossen hat, umso mehr schauen Kritiker auf sein Schaffen herab.
Zum besseren Verständnis von Giuseppe Verdi und seiner Leistung auf
dem Gebiet der Oper muss man sich die Situation Italiens in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen. Dieser Aspekt ist leider
innerhalb der Musikgeschichtsschreibung etwas vernachlässigt worden.
Italien war in musikalischer Hinsicht sehr erfolgsverwöhnt: Spätestens
seit Claudio Monteverdi, also seit der Zeit um 1600, war italienische
Musik allbeherrschend in Europa. Aber wie immer gehen Politik und
Kunst Hand in Hand. Schon bald nach der Französischen Revolution
verlor Italien die Führung und schottete sich sozusagen von modernen
Einflüssen ab. Man muss sich vorstellen, dass es in Verdis „Galeerenjahren“ als Komponist auf der ganzen italienischen Halbinsel weder eine
sinfonische Gesellschaft noch die Kultur des Streichquartetts gab. Die
Kunst des Liedgesanges war auf ein primitives Niveau herab gesunken,
Kirchenmusik war im Chaos begriffen, und das Opernleben war ein ausschließlich merkantil geprägtes System, indem Städte waghalsige
Impresarios engagierten, die dann eine Spielzeit auf eigenes Risiko auf die
Beine stellten. Es ist deswegen nicht überraschend, dass man sich scheute,
große Risiken einzugehen: Erfolgsformeln wurden zum ehernen Gesetz.
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Aus diesem Grund waren die Librettisten darauf bedacht, dass ihre Texte
die erprobten Formeln von Rossini und Mercadante erfüllten. Unter
diesen Umständen ist es nicht überraschend, dass Verdi sozusagen von
Null auf einen neuen italienischen Theatertypus schaffen musste. Es ist
von unserem heutigen Standpunkt aus erstaunlich, dass man nicht auf die
Errungenschaften von Wolfgang Amadeus Mozart und seines Librettisten
Lorenzo Da Ponte gebaut hat. Aber soweit ich recherchiert habe, scheint
es mir, als ob Giuseppe Verdi und seine Librettisten überhaupt keine
Kenntnisse vom Wirken Mozarts und Da Pontes hatten. Vielmehr müssen
wir den Kanon an Werken der frühen und mittleren Schaffensperiode
Verdis aus dem Blickpunkt der Opera seria des 18. Jahrhunderts betrachten.
Italien kannte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine romantischen
Bewegungen. Man kannte dort weder den Sturm und Drang, noch hatte
man ein eigene Sprechtheatertradition. So ist es nicht überraschend,
dass sich Verdi und andere zeitgenössische Komponisten der Zeit nach
Spanien, Frankreich und Deutschland orientierten, um geeignete Stoffe
zu finden. Giuseppe Verdi hat fast von Anfang an versucht, die Grenzen
der Möglichkeiten der italienischen Oper zu erweitern. „La Traviata“ stellt
seinen bis dahin gewagtesten Versuch dar, etwas Neues zu schaffen.
„La Traviata“ basiert auf Alexandre Dumas Schauspiel „Die Kameliendame“,
das wiederum ein romantisiertes Bild der Kurtisane Marie Duplessis darstellt. Das Wort „Kurtisane“ ist letztendlich irreführend: Darunter haben
wir eine sehr gut bezahlte „Nutte“ zu verstehen! Giuseppe Verdi beabsichtigte, dass das Stück „heute“ spielt, also in den gleichen Kostümen, die
das Publikum zur Aufführung getragen hätte. In diesem Sinne wollte er
als getreuer Shakespeare-Liebhaber dem Gedanken entsprechen, dass das
Theater ein Spiegel der Welt sei.
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Wegen der damals allgegenwärtig strengen Zensur wählte Verdi Venedig
für die Uraufführung aus, die italienische Stadt, in der die Zensur noch
am mildesten ausfiel. Denn Verdi beklagte sich nicht ohne Grund über
die „Pfaffen“, die sich lauthals darüber empörten, was sie auf der Bühne
sahen, obwohl sie es nachts hinter verschlossenen Türen nicht weniger
zügellos trieben. Obwohl die „Kameliendame“ als Schauspiel in Venedig
zeitgleich aufgeführt wurde wie „La Traviata“, sah sich die Intendanz in
Venedig außerstande, Verdis Verlangen nach zeitgenössischen Kostümen
zu erfüllen. (Das wird eigentlich immer anders erzählt, aber das ist die
Wahrheit.) So wurde das Stück nicht in einer Ausstattung von 1850 dargestellt, wie Verdi es wollte, sondern die Handlung wurde in die Zeit um
1700, an den Hof von Versailles von Louis XIV verlegt. Diese Verlegung
blieb für ein weiteres Vierteljahrhundert die Regel, bis genügend Zeit
vergangen war, um die Aufführungen in Kostümen der 1850er Jahre
spielen zu können, ohne dass man Gefahr lief, das Publikum gegen sich
aufzubringen.
Diese Verlegung in das Barocke war allerdings ein Frontalangriff auf die
Intentionen von „La Traviata“, insofern als Verdi die bürgerliche Moral
des 19. Jahrhunderts direkt attackierte – Moralvorstellungen, die am Hofe
überhaupt nicht vorhanden oder dort zumindest von vollkommen anderen
Grundsätzen geprägt waren.
Dazu kommen autobiographische Züge, ein völlig neues Element in der
Oper überhaupt. Bei einem Aufenthalt in der Nähe von Paris bekam Verdi
einen Beschwerdebrief von seinem Schwiegervater Antonio Barezzi, der
ihn anklagte, in wilder Ehe mit einer Künstlerin zu leben. Die Künstlerin
war keine Geringere als seine spätere Ehefrau Giuseppina Strepponi, die
in seinem Leben eine ungeheuer wichtige Rolle spielte. Ohne Strepponi
hätten wir weder „Don Carlos“ noch „Aida“ und schon gar nicht „Otello“
und „Falstaff “. Sie galt aber als eine „gefallene Frau“, eine Künstlerin.
Dieses Element des Realismus, der Bezogenheit auf die eigene Zeit ist
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etwas völlig Neues in der Oper. Verdis Technik, Alltagssprache in das
Libretto einfließen zu lassen, ist eigentlich eine vergessene Errungenschaft Lorenzo Da Pontes und kann in ihrer Wirkung nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Da italienische Opernlibretti des 19. Jahrhunderts in
ihrer seltsamen und gespreizten Kunstsprache den schlimmsten Exzessen
Wagners in nichts nachstehen, wirken Szenen in „La Traviata“ wie plötzlich eintretende frische Luft.
An der formalen Struktur von „La Traviata“ wurde über die Zeit viel
verändert. Verdi selbst hat bei der zweiten Inszenierung die Partie des
Vater Germont umkomponiert und in die uns heute vertraute Baritonlage
versetzt. Allerdings veränderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts der
Geschmack des Opernpublikums: Es wurden Striche angebracht sowie
Wiederholungen entfernt, mit dem Ziel, „La Traviata“ moderner
erscheinen zu lassen. Selbst ein treuer Bewahrer des Verdi-Kanons wie
der Dirigent Arturo Toscanini hat 10 bis 15 Minuten aus „La Traviata“
herausgestrichen. So drängt sich die Vermutung auf, dass es vielleicht
überhaupt keine endgültige Fassung von „La Traviata“ gibt. In unserer
Darmstädter Inszenierung werden wir Musik aufführen, die heutzutage
selten gespielt wird. Auf der anderen Seite haben wir ein paar andere
kurze Stücke eliminiert. Die Italiener nannten „La Traviata“ eine
Kammeroper. Nicht weil es im Sinne von Kammermusik zu verstehen
wäre, sondern weil es ein äußerst intimes Stück ist. Ich hoffe, dass es
unsere Aufführung vermag, ein wenig den Eindruck dieser Intimität
des Stückes zu vermitteln.
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Violetta Valéry –
Leidensweg einer Kurtisane
Attila Csampai
In der Literatur zu „La Traviata“ hat stets weniger die Frage die Gemüter
erhitzt, worum es geht in dieser populärsten Oper Verdis. Vielmehr fragte
man nach den möglichen Beweggründen, die Verdi, „mitten in seiner
Opernkarriere“ und nach achtzehn „mehr oder minder kriegerischen
Opern“, veranlaßt haben mochten, nun plötzlich zu diesem bürgerlichen
Gegenwartsstoff zu greifen und zu einem Sujet, das in jeder nur denkbaren Beziehung, also sowohl gattungsmäßig, konzeptionell, dramaturgisch wie ästhetisch aus dem bis dahin von ihm bevorzugten Genre des
historisierenden romantischen Melodrams herausfiel. „La Traviata“ ist
zwar nicht Verdis erster bürgerlicher Stoff überhaupt, wie immer wieder
behauptet wird, aber doch seine erste und einzige Oper, die in der realen
historischen Gegenwart an einem konkreten Ort spielt.
Zwar stützt sich auch „La Traviata“ – der herrschenden Opernkonvention
folgend – auf ein bereits vorhandenes Sprechtheaterstück, erfüllt somit
als Literaturoper auch den Bildungsanspruch des bürgerlichen Opernpulikums, aber die Vorlage „La Dame aux camelias“, der Roman Alexandre
Dumas’ des Jüngeren bzw. dessen gleichnamige Theaterfassung spielt in
der Gegenwart, im Jahre 1848, und die Fabel trägt sogar autobiographische
Züge. Dumas machte darin das Schicksal der am 3. Februar 1847 im Alter
von 23 Jahren an Tuberkulose gestorbenen Pariser Edelkurtisane
Marie Duplessis, mit der er selbst im Jahre 1845 einige Monate lang ein
Verhältnis hatte, zum Thema einer durchaus sozialkritischen Studie über
die sogenannte demi-monde, also die Pariser Halbwelt – eine Wortschöpfung, die Dumas selber erfand. Verdi hatte Dumas’ Roman gleich nach
dessen Erscheinen im Jahre 1850 gelesen, jedoch erst eine Aufführung der
vom Autor selbst besorgten, stark gerafften und abgemilderten Theaterversion, die Verdi mit seiner Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi im
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Frühjahr 1852 im Pariser Theâtre du Vaudeville miterlebte, brachte ihn
einige Monate später auf den Gedanken, daraus eine Oper zu machen.
Gewiß hat Verdi durch seine spärlichen Äußerungen zu „La Traviata“ die
Kontroversen um das Für und Wider eines solchen Sujets, das tatsächlich
„einen Umsturz in der Librettogeschichte der Opera seria“ (C. Dahlhaus)
bedeutete, nicht gerade klärend beeinflußt; sein einziger Kommentar, den
er zur Wahl des Traviata-Stoffs abgab, läßt eher den Eindruck aufkommen, er hätte Dumas’ Schauspiel nur um des Überraschungseffekts willen,
also nur wegen seiner Andersartigkeit, seiner provozierenden Aktualität, komponiert: „Ich sehne mich nach neuen, großartigen, schönen,
abwechslungsreichen, kühnen Stoffen“, schreibt Verdi am Neujahrstag
1853, also kurz bevor er die Arbeit an „La Traviata“ aufnimmt, an seinen
Freund Cesare de Sanctis, „grenzenlos kühn, mit neuen Formen usw.
usw., und gleichzeitig gut komponierbar ... Wenn mir jemand sagt: ich
habe das so gemacht, weil Romani, Cammarano usw. es so gemacht
haben, verstehen wir uns nicht mehr: gerade weil diese großen Männer es
so gemacht haben, möchte ich, daß es anders gemacht wird. In Venedig
arbeite ich gerade an der ‚Dame aux camelias‘, die möglicherweise den
Titel ‚La Traviata‘ bekommen wird. Ein Stoff unserer Zeit. Ein anderer
hätte es vielleicht nicht gemacht wegen der Sitten, der Zeit oder wegen
tausend anderer törichter Skrupel ... Mir bereitet die Arbeit sehr viel
Vergnügen. Alle haben geschrien, als ich vorschlug, einen Buckligen auf
die Bühne zu stellen. Trotzdem war ich glücklich, den ‚Rigoletto‘ zu
komponieren, und ebenso war es bei ‚Macbeth‘ und so weiter ...“
Und die Publikumsreaktionen der ersten Stunde – die Premiere der Oper
am 6. März 1853 im Teatro La Fenice in Venedig war ein böser Reinfall –
gaben Verdi ja auch recht und bestätigten vollends, daß selbst das relativ
aufgeschlossene venezianische Opernpublikum auf Anhieb nicht bereit
war, in der Oper Dinge hinzunehmen, die auf dem Französischen Theater
schon längst akzeptiert waren: nämlich einen echten bürgerlichen Stoff
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aus ihrer eigenen Lebenswelt, der natürlich „ihr Bedürfnis nach stilisierter Vergangenheitsträumerei gründlich enttäuschte“, und dann auch noch
ein derart anrüchiges und sentimentales Hurendrama!
Zweifelsohne fühlte sich Verdi durch das neuartige Genre angeregt,
nach neuen adäquaten musikalischen Ausdrucksformen zu suchen, und
so schuf er eine Musik, die der Innerlichkeit, der Sensibilität und der
Alltagsnähe des Geschehens mehr gerecht wurde, als seine bisherige, dem
puren Affekt verpflichtete, und dieses neuen musikalischen Tons bedurfte
es um so mehr, als Verdi die sozial relativ breitangelegte Vorlage Dumas’ zu einem intimen Dreipersonenstück umarbeitete. In „La Traviata“
beherrscht statt buntbewegter Riesenszenerie kammerspielartige Intimität
das Bühnengeschehen; der „historische“ Schauplatz muß hier einmal dem
bürgerlichen Salon, dem Wohnzimmer, dem „Innenraum“ weichen, und
die Aktionen aller Figuren vollziehen sich zumeist im Gespräch, beruhen
auf „Konversation“, in zum Teil lang ausgesponnenen, dem Sprechtheater
ähnlichen Dialogen. Der Musik fällt hier die neue Aufgabe zu, den nicht
weniger dramatisch-bewegten Verlauf der „inneren“ Bewegungen der
Figuren in ihrer kleingliedrigen Vielfalt und in ihren diskontinuierlichsprunghaften Bahnen differenziert nachzuzeichnen, anstatt wie bisher,
den Menschen stets nur von außen, über seine drastische emotionale
Äußerung, über seine leidenschaftlich ausbrechenden (darum aber meist
unbewegt „stehenden“) Affekte musikalisch zu fassen. Damit beginnt
Verdi hier zum ersten Mal – wenn auch sehr behutsam – sich von der
Ästhetik der alten opera seria zu lösen, wenngleich in den musikalischen
Nummern von „La Traviata“ – wie Carl Dahlhaus unlängst nachwies –
„das Gerüst von Cantabile und Cabaletta, wenn auch verdoppelt und
differenziert, allenthalben durchscheint“. Gewiß hat Verdi in dieser Oper
„die Topoi der Nummernoper vermenschlicht“, aber er hat sie dennoch
nicht abgeschafft. Und ebenso hat Verdi hier auch dramaturgisch-konzeptio- nell eine konventionelle Oper geschaffen und ein Werk, das als
Ausnahme Verdis alte Regel bestätigt.
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Das ewige Dreieck
„The eternal triangle“, also das ewige Dreieck, so bezeichnete Julian
Budden das dramaturgische Grundmodell Verdis. Und in der Tat stellt
sich das thematisch so vielfältige Gesamtwerk Verdis von insgesamt 28
Opern, von den Shakespeare-Stücken „Falstaff “ und „Macbeth“ einmal
abgesehen, als eine Variationenfolge derselben tragischen Konfiguration
von drei Personen dar, als dramaturgisch und rollentypisch weitgehend
festgelegter Dreieckskonflikt. Dabei geht es in der Regel um einen
doppelten, nämlich den persönlichen und politischen Konflikt zweier
rivalisierender Männer um die soziale Macht und um die Gunst einer,
von beiden Kontrahenten gleichermaßen begehrten, Frau. Für den
Bariton (bzw. den Baß) ist in dieser Konstellation der Rollentypus der
realitätsgeprüften, lebenserfahrenen, aber glücklos liebenden
Herrscherfigur (oder auch Vaterfigur) vorgesehen, die im Kampf
um die politische Macht zwar die Oberhand behält, im persönlichen
Duell um das weibliche Liebesobjekt aber dem naiveren, jugendlich
auftrumpfenden, rebellischen Tenor (der meist auf der Seite des
unterdrückten Volkes steht) den Vortritt lassen muß.
Dabei hat Verdi keineswegs nur solche Stoffe vertont, die diese
archetypische Konfiguration schon von sich aus in den Mittelpunkt
stellen, sondern er hat nicht selten sein Dreiecks-Grundschema
auch nachträglich Sujets gewaltsam aufgepfropft, die ein weitaus
komplizierteres und ganz anders geknüpftes Figurengewebe aufwiesen.
Man kann also sagen, daß das Opernschaffen Verdis sich als
kontinuierlicher, stark vermittelter und beziehungsreicher Entwicklungsprozeß darstellt, in dessen Verlauf Verdi nicht nur ein ganzes
Arsenal immer wieder variabel einsetzbarer musikalischer Typen,
Charaktere, Formen und szenischer Muster herausgebildet hat, sondern
auch sein musikalisch-dramaturgisches Grundmodell des „Dreieckskonflikts“ immer mehr verfeinert und differenziert hat.
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Und da macht auch das scheinbar so aus dem Rahmen fallende
„Traviata“-Libretto keine Ausnahme: Verdi und sein getreuer
Textdichter Francesco Maria Piave haben auch bei diesem aktuellen
Gesellschaftsstück sich nicht gescheut, ihm ihre Drei-PersonenDramaturgie aufzuzwingen. Während in Dumas’ Schauspiel die
Hauptfiguren in ein dichtes Netz von Beziehungen zu einer Reihe von
anderen Personen eingesponnen sind, die auch alle selber ausführlich zu
Wort kommen, so daß das soziale Milieu der demimonde transparent
gemacht wird, eliminierten Verdi und Piave alles an Text und Personen,
was nicht unmittelbar mit dem simplen Dreiecks-Handlungsrahmen
der Hauptakteure zusammenhing. Eine Vielzahl von Szenen und
Passagen, in denen Dumas die verhängnisvolle Liebesbeziehung zwischen
Armand und Marguerite von verschiedenen Seiten beleuchtet, um
die tieferliegenden sozialen und psychologischen Ursachen für deren
Scheitern herauszuarbeiten, wurden in der Oper entweder darauf
reduziert, was Verdis Musik zugänglich war, oder ganz gestrichen, wenn
sie die anvisierte Drei- Personen-Dramaturgie zu durchbrechen drohten.
Übrig blieben vier große in sich abgeschlossene Bilder, die die Akte
I, III, IV und V des Schauspiels in nur zehn musikalische Nummern
zusammenfassen. Auf Dumas’ gesamten zweiten Akt – die erste noch
positiv ausgehende Erschütterung der Liebesbeziehung – verzichtete
Verdi ganz bis auf eine kleine monologische Szene Violettas (II, 5), die er
in die große zweiteilige Arie am Ende des ersten Opernaktes (Nr. 3: Szene
und Arie der Violetta) einarbeitete. So besehen fügt sich auch
„La Traviata“ in das zu jener Zeit schon fest ausgeprägte dramaturgische
Grundmuster der Opern Verdis ein und verkörpert trotz ihrer stofflichen
Ausnahmestellung den Idealtypus eines Verdischen Librettos:
das ewige Dreieck.
Anthoula Papadakis,
Liana Aleksanyan,
Oleksandr Prytolyuk
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Verdis Leben und Werk
im Spiegel seiner Zeit
Von Le Roncole nach Paris: Verdi macht Karriere
Silke Leopold
Der Siegeszug von „La Traviata“ kam nicht von ungefähr. Bei ihrer
Uraufführung 1853 durchgefallen, ein Jahr später mit grandiosem Erfolg
in leicht veränderter Gestalt erneut aufgeführt, erlebte die Oper bis 1860
nahezu 200 Produktionen im In- und Ausland. Wie keine andere Oper
traf sie den Nerv einer Gesellschaft, die im Umbruch war und sich zwischen Industrialisierung und Romantik, zwischen Adelsherrschaft und
Bürgerlichkeit, zwischen männlicher Dominanz und weiblicher Selbstbestimmung, zwischen Ehrenkodex und Libertinage zurechtzufinden suchte
– eine Welt, in der die politischen Karten nach dem Zusammenbruch des
napoleonischen Reiches in Zeiten von Restauration und Revolution neu
gemischt wurden. „La Traviata“ spiegelt die gesellschaftlichen Entwicklungen und Verwerfungen des 19. Jahrhunderts in einer Weise wieder,
dass diese Oper, fiktiv wie sie war, sogar autobiografisch gelesen werden
konnte. Dabei lag Verdi nichts ferner, als seine eigene Existenz auf der
Opernbühne zu reflektieren. Es ging ihm eher darum, mit seiner Musik
zum emotionalen Kern einer Geschichte vorzudringen, die in dieser auf
das Allgemeingültige zielenden Weise, nicht aber durch eindimensionale
Verortung Aktualität gewann. Gleichwohl repräsentierte Verdi selbst
wie kein anderer Komponist mit seiner klassischen Aufsteigerbiografie
die alten Strukturen, aber auch die neuen Möglichkeiten, die dieses
19. Jahrhundert offerierte.
Giuseppe Verdi, das Kind aus ärmlichsten Verhältnissen, hatte das Glück,
dass seine herausragende Begabung früh erkannt und gefördert wurde.
Das war nicht selbstverständlich in einem Land, das von Kriegen erschüttert, von wechselnden Fremdherrschaften seit Jahrhunderten gepeinigt,
von einem gesellschaftlich schier undurchlässigen feudalen System
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geprägt war und sozialen Aufstieg nur durch die Entscheidung für den
geistlichen Stand ermöglichte. Unzählige begabte Kinder aus Familien
der Unterschicht – darunter so berühmte wie der kaiserliche Hofdichter
Pietro Metastasio – hatten diesen Weg gewählt, um sich ein Auskommen
und einen Platz in der Gesellschaft zu sichern. Le Roncole, ein kleiner
Flecken am Rande der Kleinstadt Busseto im Herzogtum Parma, war im
Jahre 1813, als Verdi dort geboren wurde, nicht der Ort, der eine friedvolle
Kindheit erwarten ließ. Die Kämpfe zwischen napoleonischen Truppen
und den Habsburgern um das Herzogtum Parma tobten auch hier; erst
der Wiener Kongress 1815 und die Übernahme Parmas durch Napoleons
Gemahlin, die habsburgische Erzherzogin Marie Louise, sollten Stabilität
über mehr als drei Jahrzehnte hinweg garantieren.
Eine geistliche Laufbahn hätte auch Verdi bevorstehen können. Der erste,
der seine musikalische Begabung erkannte, war ein Priester des Ortes,
und Verdi sollte in den kommenden Jahren seine frühen musikalischen
Erfahrungen als Organist in der Kirche machen. Verdis Eltern nahmen
die Herausforderung eines so außergewöhnlichen Kindes an, verzichteten auf seine Mitarbeit in ihrem eigenen Gewerbe, wie es üblich gewesen
wäre, und engagierten sich in durchaus unüblicher Weise für seine weitere
Ausbildung. Hätte Verdi sein Leben als Organist in den Kirchen seiner
Heimat verbracht – schon dies hätte gegenüber seiner Herkunft einen
sozialen Aufstieg bedeutet. Busseto, die kleine, aber kulturell lebendige
Stadt, bedeutete die entscheidende Weiche in Verdis Laufbahn; denn
hier lernte er den wohlhabenden und musikliebenden Kaufmann
Antonio Barezzi kennen, der zu seinem wichtigsten Förderer und schließlich sogar zu seinem Schwiegervater wurde.
Mit einem Stipendium der Herzogin Marie Louise gelangte Verdi 1832,
mit 19 Jahren, nach Mailand, eine der bedeutendsten Musikmetropolen
Italiens und die Stadt, in der seine Karriere als Opernkomponist nach
einem eher stolpernden Beginn zu einem Triumph werden sollte. Zwar
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kehrte er danach zunächst nach Busseto zurück, heiratete Margherita, die
Tochter Barezzis, bekam zwei Kinder und schien als Musikdirektor der
Stadt im bürgerlichen Milieu Bussetos angekommen zu sein. Doch es zog
ihn zurück nach Mailand und zur Oper; und auch wenn die ersten Jahre
dort die Zeit der schlimmsten Schicksalsschläge werden sollten, weil beide
Kinder und seine Frau im Abstand von nicht einmal zwei Jahren starben,
so hielt diese Stadt doch auch all jene intellektuellen und kulturellen
Anregungen für ihn bereit, ohne die er nicht mehr auskommen mochte.
Der überwältigende Erfolg von „Nabucco“ im Jahre 1842 wurde zu einem
Wendepunkt in Verdis Biografie – nicht nur, weil diese Oper den internationalen Durchbruch bedeutete, sondern auch, weil Verdi in der Darstellerin der Abigaille, der Primadonna Giuseppina Strepponi, jene Frau traf,
die seinen Lebensweg bis zu ihrem Tod im Jahre 1897 begleiten sollte.
Geboren 1815, hatte sie mit ihren 27 Jahren bereits ein bewegtes Leben
und eine große Karriere hinter sich. Sie hatte sich mit Partien von
Rossini, Bellini und Donizetti einen Namen gemacht, daneben drei
uneheliche Kinder von verschiedenen Männern geboren und fortgegeben.
Zwei Jahre nach „Nabucco“ hob sie auch die weibliche Hauptrolle von
Verdis Oper Ernani in Venedig aus der Taufe. Bald danach musste sie ihre
Karriere als Sängerin aber wegen stimmlicher Probleme beenden;
sie ließ sich in Paris nieder und eröffnete dort eine Gesangsschule.
Als Verdi 1847 nach Paris kam, um dort seine Oper „I lombardi alla prima
crociata“ umzuarbeiten, wurden die beiden ein Paar und bezogen eine
gemeinsame Wohnung; erst zwölf Jahre später sollten sie in aller Stille
heiraten und somit legalisieren, was zu diesem Zeitpunkt schon
Normalität geworden war.
Was aber in Paris kaum jemanden interessierte, erregte in Busseto großes
Aufsehen. Als Verdi 1848 gemeinsam mit Giuseppina in der Nähe von
Busseto das Landgut Sant’Agata erwarb, um sich irgendwann dort niederzulassen, war das Getuschel groß, und Antonio Barezzi, Verdis Schwie-
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gervater, fühlte sich bemüßigt, seinen ehemaligen Schützling darauf
hinzuweisen. Nicht minder groß war freilich Verdis Empörung über diese
Einmischung in seine privaten Angelegenheiten. Von Paris aus schrieb er
Barezzi im Januar 1852 einen Brief, der vor allem deshalb Berühmtheit
erlang hat, weil Verdi hier seine Beziehung zu Giuseppina öffentlich macht
und gleichzeitig das Recht fordert, ein Leben außerhalb der gängigen
Moralvorstellungen zu führen.
Der Zufall will es, dass die ersten Jahre der Beziehung mit
Giuseppina Strepponi zeitlich mit der Veröffentlichung von Dumas’
Roman „La Dame aux camélias“, der Umarbeitung dieses Bestsellers erst
zu einem Schauspiel, dann zu dem Libretto für Verdis „La Traviata“
zusammenfallen. Diese Koinzidenz blieb nicht unbemerkt und verleitete
Alessandro Luzio, den Journalisten und Herausgeber von Verdis Briefen,
1935 dazu, in „La Traviata“ einen autobiografischen Bezug zu erkennen
– demnach wäre Violetta Valery ein Portrait Giuseppina Strepponis,
Verdi selbst Alfredo und Antonio Barezzi Alfredos Vater Germont. Diese
Behauptung entbehrt jedoch jeder Grundlage. Niemals hätte Verdi, der in
seinem Brief ja gerade auf Giuseppinas Ehrbarkeit bestand, zugelassen, sie
mit einer Kurtisane zu vergleichen, die ihren Körper für Geld verkaufte.
Ob aber die Beziehung zu Giuseppina ein Nachdenken über die Rolle der
Frau in der Gesell- schaft bewirkte, ob seine Überzeugungen hinsichtlich
eines weiblichen Anspruchs auf Selbstbestimmung den Boden für eine
derart unkonventionelle Beziehung mit einer unverheirateten Frau bereiteten, oder ob das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat, lässt
sich nicht sagen. Es gibt in Verdis Briefen keinen Beleg für irgendeine
Bezugnahme der Oper auf sein eigenes Leben.
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Das Politische und das Private: Höhepunkte in Verdis Schaffen
Zum Zeitpunkt der Entstehung von „La Traviata“ war Verdi bereits
eine europäische Berühmtheit. Rastlos hatte er seit dem Erfolg von
„Nabucco“ Oper um Oper geschrieben, einstudiert, dirigiert und
bisweilen sogar Regie geführt. Er hatte die Metropolen des Kontinents
bereist, aus Paris und sogar aus London Aufträge erhalten. Und er hatte
sich zu einer Symbolfigur der „Risorgimento“ genannten italienischen
Einigungsbestrebungen entwickelt, zunächst durch „Va, pensiero, sull’ali
dorate“, den berühmten Gefangenenchor aus „Nabucco“, der in Italien
als eine Metapher für die eigene politische Situation verstanden und
in seiner hymnusartigen Eingängigkeit leicht memoriert und überall
gesungen werden konnte. Vor allem mit seiner Oper „La battaglia di
Legnano“ (1849) aber schrieb sich Verdi in das kollektive Gedächtnis des
Risorgimento ein – eine Oper über jene Schlacht, in der sich im Jahre
1176 Kaiser Barbarossa den lombardischen Städten hatte geschlagen
geben müssen. „Legnano“ wurde zur Parole des Risorgimento, und
in Verdis Oper mischte sich historische Erzählung mit aktuellen
Bezugnahmen. Dass diese patriotische Oper in Rom nur wenige Tage
vor der Proklamation einer wenn auch kurzlebigen Republik in der
Papststadt uraufgeführt wurde und die revoltierenden Römer in einen
Begeisterungstaumel versetzte, mag ein historischer Zufall sein; er trug
aber wesentlich zu dem Bild Verdis als Komponist am Puls der Zeit bei.
Es wäre Verdi ein Leichtes gewesen, auf dieser patriotischen Erfolgswelle
weiter zu schwimmen. Doch er machte eine radikale Kehrtwende und
wandte sich Stoffen zu, die zwar nicht ohne gesellschaftspolitische Brisanz
waren, den patriotischen Aspekt jedoch nicht weiter verfolgten.
Mit „Luisa Miller“ (1849), einer Umarbeitung von Friedrich Schillers
„Kabale und Liebe“, und mit „Stiffelio“ (1850), einer Ehebruchsgeschichte
im bürgerlich-protestantischen Milieu Deutschlands, widmete sich Verdi
den privaten eher als den öffentlichen Konflikten.
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Dieses neue, auf zeitgenössische Sujets gerichtete Interesse gipfelte
dann in „La Traviata“, einem nicht nur aktuellen, sondern auch noch
„unmoralischen“ Stoff.
„La Traviata“ ist der Höhepunkt jener „trilogia popolare“ genannten
Serie dreier Opern, die kurz hintereinander entstanden und eine neue
Konzeption des musikalischen Dramas in Verdis Schaffen bedeuteten.
Mit „Rigoletto“ (März 1851), „Il Trovatore“ (Januar 1853) und
„­­­La Traviata“ (März 1853) betrat Verdi inhaltlich wie musikalisch
Neuland. Er selbst hatte Anfang Januar 1853, mitten in den Arbeiten
für „Il Trovatore“ und wohl auch schon in Gedanken an „La Traviata“,
in einem Brief geschrieben: „Ich wünsche mir neue Sujets, großartig,
schön, abwechslungsreich, gewagt – gewagt bis an die Grenzen, mit
neuen Formen und gleichzeitig komponierbar!“ Ein buckliger Hofnarr
und seine Tochter wie in „Rigoletto“, eine Zigeunerin und ihr Sohn wie
in „Il Trovatore“, eine Kurtisane und ihr Liebhaber wie in „La Traviata“
– das hatte es im Opernrepertoire der Zeit, das die Bühnen ansonsten
mit Herrschern und hochgestellten Personen bevölkerte, tatsächlich
noch nicht gegeben, und die Art, wie Verdi in diesen drei Opern die
musikalischen Formen an die dramatische Entwicklung anpasste und
nicht mehr umgekehrt, bedeutete einen wichtigen Schritt hin zu einem
musikalischen Realismus.
Reiche Ernte: Die Vermarktung der Traviata
Mit „La Traviata“ endete auch die gedrängte Serie von Neukompositionen
– in den elf Jahren zwischen „Nabucco“ und „La Traviata“ komponierte
Verdi nicht weniger als siebzehn Opern. Danach ließ er es etwas ruhiger
angehen; in den vierzig Jahren seiner zweiten Lebenshälfte, bis zu seiner
letzten Oper „Falstaff “ (1893), entstanden nur noch neun weitere Opern.
Die größte Lücke klafft dabei zwischen „Aida“ (1871) und „Otello“ (1887).
Verdi hatte es nicht mehr nötig, sich beim Komponieren von immer neuen
Opern wie ein Galeerensklave zu fühlen, um so seinen Lebensunterhalt
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zu verdienen. Dass er ein reicher Mann geworden war, verdankte er auch
seinem kompromisslosen Kampf für das Urheberrecht. Er war berühmt
genug, um Theatern und Verlagshäusern seine Bedingungen diktieren zu
können, und er führte zahlreiche Prozesse um seine Rechte als Autor.
„La Traviata“ spielt in dieser Geschichte des Urheberrechts eine
wichtige Rolle. Keine andere Oper ist so häufig wiederaufgeführt und
bearbeitet worden. Und bei keiner anderen zeigt sich die für beide
Seiten gewinnbringende Aufteilung zwischen Urheber und Verwerter
so deutlich. Bereits im Mai 1852 hatte Verdi mit dem Teatro La Fenice in
Venedig einen Vertrag für die Eröffnungsoper der Karnevalssaison 1853
unterschrieben. Die Theaterdirektoren erhofften sich eine Wiederholung
des grandiosen Erfolgs von „Rigoletto“ im März 1851. Bevor sich Verdi auf
die Suche nach einem geeigneten Stoff machte, widmete er sich freilich
einem anderen Projekt: der Komposition von „Il Trovatore“, die im
Januar 1853, nur zwei Monate vor „La Traviata“, in Rom eine triumphale
Uraufführung erleben sollte. Erst im Oktober 1852 entschloss er sich,
Dumas’ Schauspiel zu einer Oper umzuarbeiten. Und obwohl diese noch
nicht einmal einen Titel trug, gab Verdis Verleger Tito Ricordi schon im
Dezember 1852 seine umfassenden Rechte an dieser neuen Oper bekannt.
In der Gazzetta musicale di Milano reklamierte er das alleinige und
für alle Länder geltende Eigentum an den Aufführungspartituren, den
gedruckten Klavierauszügen sowie allen Bearbeitungen wie zum Beispiel
Fantasien oder Potpourris für seinen Verlag.
An all diesen Zweitverwertungen war Verdi finanziell ebenso beteiligt
wie an den Aufführungen in den Opernhäusern. Seinen Reichtum
steckte er nicht nur in diverse Stadtwohnungen, sondern vor allem in
seinen Landbesitz; bis in seine späten Jahre hinein kaufte er in seiner
Heimat immer mehr Land und machte Sant’Agata zu einem Gut von
latifundienhafter Ausdehnung. Seine unternehmerische Begabung
erstreckte sich zunehmend auch auf die Landwirtschaft; mit Wonne
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vermarktete er nun nicht nur seine Opern, sondern auch die auf seinen
Gütern produzierten Fleischwaren. Nachdem er 1861 zum Deputierten
im neugegründeten italienischen Parlament gewählt worden war,
erlahmte sein Interesse an der Politik in dem Maße, in dem er tatsächliche
Gestaltungsmöglichkeiten vermisste. Stattdessen widmete er sich im
Alter neben der Landwirtschaft zunehmend der Pflege seiner Gesundheit
auf Badekuren und dem Bau eines Altersheims für Musiker, der Casa di
riposo in Mailand. Mehr und mehr zog er sich aus der Welt, die er selbst
ein gutes halbes Jahrhundert lang mitgeprägt hatte, zurück.
Die politischen Ereignisse gingen an Sant’Agata vorbei, und Verdi verweigerte sich immer wieder jeglicher Vereinnahmung durch die
italienische Öffentlichkeit.
Ende 1897 starb Giuseppina, und im Januar 1901, mit 87 Jahren, Verdi
selbst. Vier Wochen nach seiner Beisetzung auf dem Mailänder Friedhof
wurde seinem Wunsch entsprochen, in der Casa di riposo seine letzte
Ruhestätte zu finden. Die Särge des Ehepaars Verdi wurden exhumiert
und in der Kapelle der Casa di riposo zu den Klängen des „Miserere“
aus „Il Trovatore“ beigesetzt. Beim Verlassen des Friedhofs sangen mehr
als 800 Sänger unter Leitung von Arturo Toscanini „Va, pensiero, sull’ali
dorate“ aus „Nabucco“, das inzwischen zu so etwas wie einer heimlichen
National- hymne geworden war.
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Anthoula Papadakis,
Liana Aleksanyan
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Verdis Brief an Antonio Barezzi
Liebster Schwiegervater,
Paris, 21. Januar 1852
nachdem ich so lange gewartet hatte, glaubte ich nicht, daß ich von Ihnen
einen so kühlen Brief bekommen würde, in dem es auch noch eine, wenn
ich mich nicht täusche, recht kränkende Stelle gibt. Trüge dieser Brief
nicht die Unterschrift Antonio Barezzi, das ist die meines Wohltäters, so
hätte ich sehr heftig geantwortet oder ich hätte überhaupt nicht geantwortet; da er aber diesen Namen trägt, den zu achten mir immer Pflicht
sein wird, will ich Sie nach Möglichkeit zu überzeugen versuchen, daß
ich solchen Tadel nicht verdiene. Um das tun zu können, muß ich auf
Vergangenes zurückgehen, muß von anderem sprechen, von unserem
Land, der Brief wird lang, vielleicht langweilig werden, aber ich versuche,
so kurz zu sein, wie ich nur kann.
Ich glaube, daß Sie nicht aus eigenem Antrieb mir einen Brief geschrieben
haben, von dem Sie wußten, daß er mir bloß Ärger bereiten könne; aber
Sie leben in einer Umgebung, die die schlimme Art hat, sich häufig in
die Angelegenheiten anderer einzudrängen und alles zu mißbilligen,
was mit den eigenen Anschauungen nicht übereinstimmt; ich dagegen
habe mirs zur Gewohnheit gemacht, mich in die Angelegenheiten
anderer nicht einzumischen, außer wenn man mich darum bittet, und
so verlange ich nun auch, daß sich niemand in die meinen einmenge.
Daher die Schwätzereien, das Gerede, die Mißbilligung. Diese Freiheit
des Handelns, wie man sie auch in minder gesitteten Ländern achtet, ich
verlange sie als mein gutes Recht auch in dem meinen. Seien Sie selber
Richter und seien Sie als Richter streng, aber kühl und ohne Leidenschaft:
was für ein Unglück ist es denn, wenn ich mich absondere, wenn ich es
für richtig halte, bei den Leuten auch dann keine Besuche zu machen,
wenn sie Titel haben? Wenn ich an den Festen, den Vergnügungen der
andern nicht teilnehme? Wenn ich meine Güter verwalte, weil mir das
so gefällt und mir Zerstreuung schafft? Ich wiederhole: was ist für ein
Unglück dabei? In keinem Fall hat irgendwer einen Schaden davon …
Damit habe ich Ihnen meine Ansichten, mein Tun, mein Wollen, mein
Leben, mein sozusagen öffentliches Leben aufgedeckt, und da wir schon
dabei sind, Enthüllungen zu machen, sehe ich nichts daran, wenn ich
den Vorhang aufziehe, der die Geheimnisse meiner vier Wände verdeckt;
wenn ich Ihnen von meinem häuslichen Leben spreche. Ich habe nichts
zu verbergen. In meinem Hause lebt eine freie, unabhängige Dame, die
wie ich die Einsamkeit liebt und ein Vermögen besitzt, das sie vor jeder Not
schützt. Weder ich noch sie sind irgendwem über unser Tun Rechenschaft
schuldig; andrerseits aber – wer weiß denn um die Beziehungen zwischen
uns, um unsre Geschäfte? Um unsre Verbindung? Oder um die Rechte,
die ich über sie habe und sie über mich, wer weiß, ob sie meine Frau ist
oder nicht? Und wer weiß, welches in diesem besonderen Fall die Gründe
sind, was der Gedankengang, daß wir davon nichts mitteilen wollen? Wer
weiß denn, ob das gut oder schlecht ist? Warum sollte daran nicht auch
Gutes sein können? Und wenn es auch etwas Schlechtes wäre, wer hat das
Recht, den Bannfluch gegen uns zu schleudern? Ich will sogar sagen, daß
sie in meinem Haus den gleichen und noch größeren Respekt finden muß
als ich und daß es daran niemand fehlen lassen darf, mit welcher Ausrede
immer; und daß sie schließlich darauf jeden Anspruch hat, sowohl wegen
ihrer Haltung wie wegen ihrer Geistigkeit und wegen ihres besonderen
Entgegenkommens allen gegenüber …
Mit dieser langen Auseinandersetzung habe ich nur sagen wollen, daß ich
meine Freiheit verlange, weil darauf alle Menschen ein Recht haben und
weil sich meine Natur dagegen empört, es anders zu halten. Sie aber, der
Sie im Grunde so gütig, so gerecht und so herzlich sind, lassen Sie sich
nicht beeinflussen, nehmen Sie nicht die Denkart einer Gemeinde an, die
mich, soweit ich in Frage komme – man muß das schon sagen! – noch vor
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kurzem nicht einmal als Organisten anzunehmen geruhte und jetzt nicht
genug über mein Tun und Lassen reden und absprechen kann. So kann es
nicht bleiben; sollte es das aber, wäre ich Manns genug, meine Entschlüsse
zu fassen. Die Welt ist groß – und wenn ich zwanzig- oder dreißigtausend
Francs verlieren müßte, es würde mich nicht hindern, mir anderswo eine
Heimat zu suchen. Ich kann in diesem Brief nichts gesagt haben, was Sie
beleidigen könnte. Sollte Ihnen aber irgend etwas darin mißfallen, so will
ich es nicht geschrieben haben: ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß
ich nicht die Absicht habe, Sie irgendwie zu kränken. Ich habe Sie immer
als meinen Wohltäter angesehen und Sie sind mir das noch, ich mache
mir eine Ehre daraus, ich rühme mich dessen!
Ein herzliches Lebewohl!
In alter Freundschaft
G. Verdi
Antonio Barezzi (1787-1867) war der Vater von Verdis 1840 verstorbener erster Frau
Margherita (geb. 1814) und in Verdis Jugendjahren sein größter Förderer. Barezzi stand
Verdis zweiter Lebensgefährtin Giuseppina Strepponi sehr mißtrauisch gegenüber, zumal
Verdi auch viele Jahre lang (bis 1859) unverheiratet mit ihr zusammenlebte.
Liana Aleksanyan, Arturo Martín, Oleksandr Prytolyuk,
Elisabeth Hornung, Thomas Mehnert
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Text- und Bildnachweise
Attila Csampai (Hrsg.): Giuseppe Verdi, La Traviata. Texte, Materialien, Kommentare,
Hamburg 1983 | Silke Leopold: Verdi. La Traviata, Kassel 2013 | Werner Otto (Hsrg.):
Giuseppe Verdi. Briefe, Kassel 1983 | Der Text von John Dew ist ein Originalbeitrag für
dieses Programmheft. || Alle für dieses Programmheft entstandenen Texte entsprechen
der aktuellen Rechtschreibung, alle übernommenen Texte folgen ihrer ursprünglichen
Orthographie. || Szenenfotos von Barbara Aumüller
I m press u m
Spielzeit 2014 |15, Programmheft Nr. 8
Herausgeber: Staatstheater Darmstadt
Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt,
Telefon 06 15 1 . 28 11-263
www.staatstheater-darmstadt.de
Intendant: Karsten Wiegand
Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz
Redaktion: Daniel Kunz
Grafik: sweetwater | holst, Darmstadt
Herstellung: Drach Print Media, Darmstadt
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