Sechs Gründe gegen Gehirndoping

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Sechs Gründe gegen Gehirndoping
Sechs Gründe gegen Gehirndoping*
von Stephan Schleim
In jüngster Zeit erfährt die Diskussion um die Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit mithilfe
neuer Verfahren sowohl international als auch im deutschsprachigen Raum große Beachtung.
Insbesondere neue pharmakologische Substanzen scheinen die Hoffnung auf mehr Intelligenz,
Aufmerksamkeit oder Wachheit zu schüren. In meinem Beitrag möchte ich zeigen, warum diese
Hoffnung unbegründet ist. Dafür entwickle ich sechs Argumente, die sich mit der Sicherheit der
Substanzen, der Verteilungsgerechtigkeit, der Fairness, dem Schutz der Individuen, dem
Menschenbild und der Rationalität dieser Praxis in Wettbewerbssituationen auseinandersetzen.
Zuvor stelle ich einige Überlegungen zum Begriff des „Cognitive Enhancement“ an und reflektiere
die Art und Weise, wie darüber im Fachdiskurs und in den Medien berichtet wird. Es hat sich
nämlich herausgestellt, dass insbesondere über das Ausmaß des Konsums von Medikamenten zur
geistigen Leistungssteigerung einige Fehldarstellungen kursieren, in denen der Konsum
ausnahmslos übertrieben und suggestiv dargestellt wird. Woran es fehlt, ist eine fundierte
Aufklärung über die Risiken und Wirkungsweisen der Substanzen.
Angesichts dieser Überlegungen lautet mein vorläufiges Fazit: Wir sollten die Bemühungen zur
Entwicklung neuer Verfahren zur geistigen Leistungssteigerung gesunder Menschen aus
moralischen Gründen ablehnen – und zwar so lange, bis die erheblichen Zweifel an ihrem
gesellschaftlichen Nutzen ausgeräumt sind. Der Wunsch nach immer mehr geistiger Leistung
scheint mir überdies auf einer Fehleinschätzung über die Bedeutung der Arbeit und das gute Leben
zu beruhen. Ich schließe meinen Beitrag mit zwei konkreten Forderungen: Erstens, die seit Jahren
überfällige Aufklärung über Wirkungen und Nebenwirkungen der Substanzen sowie das Ausmaß
ihres Konsums in der Öffentlichkeit nachzuholen; und zweitens rufe ich Institutionen und
Unternehmen, in denen geistige Leistungsfähigkeit von zentraler Bedeutung ist, dazu auf, einen
expliziten normativen Standard für zulässige und unzulässige Mittel im intellektuellen Wettbewerb
zu definieren. Auch dort sollte es einen Katalog für erlaubte und verbotene Substanzen zur
Leistungssteigerung geben, nicht nur im Sport.
Vorbemerkungen
Cognitive Enhancement – so bezeichnet man im englischen Sprachraum das Verbessern seiner
geistigen (kognitiven) Leistungskraft. Das kann zunächst ganz allgemein verstanden werden, sodass
* Veröffentlicht in ähnlicher Form z.B. als Schleim, S. (2010) Cognitive Enhancement: Sechs Gründe dagegen. In: H.
Fink & R. Rosenzweig (eds.) Künstliche Sinne – Gedoptes Gehirn. Neurotechnik und Neuroethik. mentis,
Paderborn, S. 179-207.
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auch alltägliche Praktiken wie gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, Lesen und Studieren
darunter fallen; auch sprechen klinische Forscher oft davon, wenn sie etwa in einem Experiment mit
geistig erkrankten Menschen oder Versuchstieren durch eine bestimmte Intervention eine
Verbesserung feststellen.
Was ich in der Überschrift salopp „Gehirndoping“ genannt habe, wird in einem Fachdiskurs von
Ärzten, Juristen und Philosophen auch als „Cognitive Enhancement“ bezeichnet. Hier verwendet
man den Begriff meist in einem eingeschränkten Sinn, der Enhancement als Verbesserung der
Leistung gesunder Menschen vom Treatment als Behandlung eines Erkrankten unterscheidet; das
rührt daher, dass der Unterschied zwischen Verbesserung und Behandlung für viele von moralischer
Relevanz ist.1 Außerdem hat man in diesem Diskurs nicht so sehr die etablierten Möglichkeiten im
Sinn, mit denen sich die geistige Leistungsfähigkeit steigern lässt, sondern Verfahren der neueren
wissenschaftlichen Forschung. Das sind vor allem Psychopharmaka zur Behandlung geistiger
Erkrankungen, aber auch Magnetstimulation oder die Implantation von Elektroden und
Computerchips zur Beeinflussung bestimmter Hirnareale.
Wenn ich im Folgenden vom „Cognitive Enhancement“ spreche, dann verwende ich es im Sinn
dieses Fachdiskurses. Ich will aber ein Illusionstheater vermeiden und hier gleich erwähnen, dass
die bisherige Forschung keinen Kandidaten vorzuweisen hat, dessen Wirkung eindeutig erwiesen
und dessen Sicherheit hinreichend belegt ist – mehr dazu weiter unten.
Selbst mit dieser begrifflichen Einschränkung birgt die Rede vom Cognitive Enhancement noch ihre
Tücken. Nimmt das Wort „Enhancement“ – also Verbesserung – nicht bereits eine Wertung vorweg?
Ist eine Verbesserung nicht per se etwas Gutes, etwas Gewolltes? Dieser Einwand ist berechtigt. An
anderer Stelle habe ich es daher mit Begriffen wie Mind Doping oder auch Psycho-Enhancement
versucht. Jener sollte die Vorwegnahme einer positiven Wertung vermeiden, birgt dafür aber das
gegenteilige Problem, weil „Doping“ in der Regel negativ besetzt ist; dieser sollte das in der
außerwissenschaftlichen Sprache eher ungebräuchliche Adjektiv „kognitiv“ mit etwas mehr Leben
füllen. Da die Psyche aber sicherlich nicht nur das Geistige, Kognitive, sondern auch das
Emotionale umfasst und über die Beeinflussung der Gefühlswelt an anderer Stelle diskutiert wird 2,
scheint mir der Begriff „Psycho-Enhancement“ auch keine bessere Alternative zu sein.
Am klarsten wäre es, neutral von einer „Beeinflussung oder Intervention zur Steigerung der
geistigen Leistungsfähigkeit“ zu sprechen; weil das aber etwas unhandlich ist, würde ich es gern
beim „Cognitive Enhancement“ belassen, wohl wissend, dass dies nicht die optimale Lösung ist.
1 Ein einfaches Beispiel hierfür ist, dass die Toleranz gegenüber Nebenwirkungen bei der Behandlung von
Erkrankungen höher ist; geht es gar um erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen, können im Einzelfall als
ultima ratio therapeutische Maßnahmen ergriffen werden, die ein erhöhtes Sterberisiko mit sich bringen. Insoweit,
als wir die Abwägung von Risiken gegenüber ihrem Nutzen (geht es um Heilung oder Wunscherfüllung?) in die
moralische Bewertung einer Maßnahme einfließen lassen, ist der Unterschied zwischen Verbesserung und
Behandlung also moralisch relevant.
2 Siehe z.B. Elliott, Better Than Well. Elliott u. Chambers (Hg.), Prozac as a Way of Life.
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Außerdem habe ich im Titel dieses Buchkapitels bereits angekündigt, dass ich hier hauptsächlich
dagegen argumentieren werde. Daher wird man mir nicht den Vorwurf machen, durch die Rede von
einer „geistigen Verbesserung“ eine subtile Wertung übermitteln zu wollen. Nach dieser
Begriffsklärung möchte ich die gesellschaftliche Diskussion über das Enhancement etwas genauer
untersuchen.
Eine Bestandsaufnahme
Der Diskussion um das Cognitive Enhancement wurde in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit
gewidmet; das gilt nicht nur für den akademischen Fachdiskurs, sondern auch für die populären
Medien. Auffällig ist hier wie dort, dass die Zahlen zur Verbreitung des Cognitive Enhancement
häufig übertrieben, suggestiv und falsch dargestellt werden.
Beispielsweise beziehen sich Martha Farah und Paul Wolpe auf eine Studie, in der die illegale
Nutzung eines Medikaments untersucht wurde.3 Damit wollen sie belegen, dass immer mehr junge
Menschen ihre geistige Leistungsfähigkeit mit Hilfe von Psychopharmaka steigern. 4 Die Autoren
der zitierten Studie, Quinton Babcock und Tom Byrne, haben jedoch gar nicht Cognitive
Enhancement untersucht, sondern Studierende ihrer Universität nach dem Konsum von
Amphetamin, Methylphenidat und Kokain „zum Spaß“ befragt. Methylphenidat ist der Wirkstoff
des Medikaments Ritalin®, das aus der Debatte um die Aufmerksamkeitsdefizit- /
Hyperaktivitätsstörung bekannt ist; 16,6 Prozent der Befragten gaben an, diese Substanz schon
einmal „zum Spaß“ konsumiert zu haben – bei Kokain waren es 21,9, bei Amphetamin 24,0
Prozent.5 Von einer Leistungssteigerung kann aufgrund dieser Daten keine Rede sein.
Der selbe Fehler findet sich in einem wichtigen Positionspapier, das Farah und Wolpe zusammen
mit anderen namhaften Wissenschaftlern in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht haben. Dort
heißt es, an manchen Colleges würden bis zu 16 Prozent der Studierenden solche Medikamente „als
Studierhilfe“ verwenden.6 Wieder handelt es sich um einen Verweis auf die Studie von Babcock und
Byrne. Auch der Neurologe Anjan Chatterjee bezieht sich auf diese Studie, um damit die weite
Verbreitung des Cognitive Enhancement zu belegen.7 Davon abgesehen, dass die Studie dies aus
den genannten Gründen überhaupt nicht belegen kann, suggerieren Wendungen wie diejenige, die
Substanz „als Studierhilfe“ zu verwenden, dass ein Konsum regelmäßig geschehe und nicht
mindestens einmal im Leben, wie es Babcock und Byrne gefragt hatten.
Selbst in dem neuesten Positionspapier, das kürzlich wieder in Nature veröffentlicht wurde und auf
3
4
5
6
7
Babcock u. Byrne, Student Perceptions.
Farah u. Wolpe, Monitoring and Manipulating.
Babcock u. Byrne, Student Perceptions, S. 144.
Farah et al., Neurocognitive enhancement, S. 421.
Chatterjee, Cosmetic neurology, S. 969. Chatterjee, Promise and predicament, S. 110.
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das ich noch detaillierter eingehen werde, wird wieder falsch zitiert. Zwar beziehen sich Henry
Greely und Kollegen8 (darunter wieder Martha Farah und andere Autoren des ersten
Positionspapiers) jetzt auf eine andere Studie, welche die Verbreitung des illegalen Konsums von
Stimulanzien an über 100 Colleges in den USA untersucht und an einem davon herausgefunden hat,
dass 25 Prozent der Studierenden mindestens einmal im letzten Jahr ein solches Mittel genommen
hatten.9 Die Forscher hatten aber nicht speziell die Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit im
Blick, sondern den allgemeinen Konsum. Diese Unterscheidung ist deshalb relevant, weil solche
Substanzen auch aus anderen Gründen genommen werden, beispielsweise um einen Rausch zu
erleben, um Spaß zu haben oder den Appetit zu zügeln.10 Unter dieser Perspektive ist der Konsum
nicht mehr so überraschend, denn wir wissen bereits, dass junge Menschen gerne mit Drogen
experimentieren. Diese Fehler, einmal in die Welt gesetzt, vermehren sich von alleine. So schreibt
auch Bernwart Gesang unter Berufung auf das erste Positionspapier: „[...] Ritalin wird von mehr als
sechzehn Prozent der Studenten in den USA benutzt.“ 11 In Zack Lynchs neuester Abhandlung über
die „Neurogesellschaft“ heißt es, an manchen Colleges hätten „mehr als 25 Prozent der
Studierenden die Pillen benutzt.“12 Wir wissen nun, dass dies sowohl wissenschaftlich falsch als
auch sehr suggestiv ist.
Diese falschen Zitate sind in mehrerlei Hinsicht unerfreulich. Erstens: Die genannten Autoren
spielen eine führende Rolle in der Diskussion um das Cognitive Enhancement, ihre Ansichten aber
beruhen zumindest zum Teil auf einem Irrtum; ihre Meinung inspiriert viele und zwar nicht nur im
englischen Sprachraum, sondern im gesamten Wirkungskreis dieser zum Teil höchstrangigen
Fachzeitschriften. Zweitens: Diese übertriebenen Zahlen vermitteln ein falsches Bild und
suggerieren, dass die Mittel offenbar wirksam und ungefährlich seien, wenn bereits so viele von
ihnen Gebrauch machen. Damit könnte der Irrtum zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung
werden, indem er einen verstärkten Konsum motiviert. Drittens wird durch diese falsche Zitierweise
Aufmerksamkeit geschürt; es könnte eine gesellschaftliche Hysterie entstehen oder der Eindruck,
das Cognitive Enhancement sei bereits so weit verbreitet, dass man nichts mehr dagegen tun könne;
eine gesamtgesellschaftliche Entscheidung würde damit vorweggenommen.
Freilich wäre der umgekehrte Fehler ebenfalls unerfreulich. Eine Untertreibung des Konsums
könnte den Eindruck erwecken, es gebe kein Interesse am Enhancement und damit auch kein
gesellschaftliches Problem. Mir ist allerdings nicht bekannt, dass schon einmal jemand in der
8 Greely et al., Towards responsible use, S. 702.
9 McCabe et al., Prescription stimulants. Der Mittelwert betrug für diese Zeitspanne 4,1 Prozent.
10 Z.B. Barrett et al., Characteristics of Methylphenidate Misuse. Teter et al., Prevalence and Motives. In der ersten
Studie gaben 30 Prozent der Befragten Konsumenten von Methylphenidat an, die Substanz ausschließlich zu
Lernzwecken zu verwenden; in der zweiten gaben 58 Prozent eine Konzentrationssteigerung, 43 Prozent das
Erleben eines „High“ als Motiv für den illegalen Gebrauch von Stimulanzien an.
11 Gesang, Perfektionierung des Menschen, S. 3.
12 Lynche, The Neuro Revolution, S. 184; Übersetzung durch den Autor.
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Fachliteratur oder den Medien diesen Fehler begangen hat. Idealerweise stellt man die Zahlen
korrekt dar und spricht von einem illegalen Konsum von Stimulanzien im Laufe des vergangenen
Jahres, der bei Studierenden in den USA bei ca. vier bis sechs Prozent liegt 13 – aber auch hier sollte
man noch genauer auf die Motivation schauen. Ein leichtfertiger Umgang mit den empirischen
Daten ist der Ernsthaftigkeit der Sache völlig unangemessen. Denn hier geht es nicht nur um die
körperliche
und
geistige
Gesundheit
Einzelner,
sondern
um
die
Zukunft
unserer
Leistungsgesellschaft. Die falsche, suggestive und einseitige Darstellung hat sich leider bis in die
deutschen Medien fortgesetzt und dürfte damit auch hierzulande zu falschen Überzeugungen
geführt haben.14
Mir liegt jedoch daran, das Cognitive Enhancement in seinen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen
und moralischen Aspekten möglichst nüchtern und klar zu betrachten und dabei Fakten und Mythen
auseinander zu halten. Dass die wissenschaftliche Lage zur Wirksamkeit der Substanzen
keineswegs eindeutig ist, habe ich an anderer Stelle zu belegen versucht. 15 Ich will hier keine
Details wiederholen, sondern nur darauf hinweisen, dass manche der Mittel auch dann die
Selbsteinschätzung oder die Stimmung einer Versuchsperson veränderten, wenn keine Verbesserung
der Leistung gemessen werden konnte16, oder gar zu einer Verschlechterung der Leistung führten.
Letzteres wurde so interpretiert, dass eine gesteigerte Impulsivität zu vorschnellen Antworten der
Kandidaten führen könnte.17 Wenn solche Substanzen aber die Selbsteinschätzung beeinträchtigen,
dann unterstreicht dies die Bedeutung kontrollierter wissenschaftlicher Studien.
Die Frage ist aber, ob eine Suche nach Substanzen zum Cognitive Enhancement überhaupt
erwünscht ist. Kämen wir im gesellschaftlichen Diskurs zu einem negativen Ergebnis, dann wäre es
absurd, die Forschung gesellschaftlich zu unterstützen. Wenn wir bereits wüssten, dass Cognitive
Enhancement etwas Schlechtes ist, dann gäbe es keine gesellschaftliche Notwendigkeit mehr für
wissenschaftliche Studien zur Klärung von Fragen zur Wirksamkeit und Sicherheit der Substanzen.
Im Gegenteil, man könnte dann sogar den Standpunkt vertreten, dass diese Forschung im
Widerspruch zu den Wünschen der Gesellschaft ist.
Auf internationalen Konferenzen und im Fachdiskurs begegnet man manchmal der Ansicht, geistige
Leistungsfähigkeit sei etwas Gutes und damit seien auch Mittel zu ihrer Steigerung etwas Gutes.
Würden denn nicht Eltern viel dafür tun, ihren Kindern die besten Möglichkeit zur Entwicklung
13 McCabe et al., Prescription stimulants. Teter et al., Prevalence and Motives.
14 In meinem Blog Menschen-Bilder habe ich zwei Faktenfehler im deutschen Fernsehen dokumentiert. Auf der
Homepage zur Sendung nano (3sat) vom 16. April 2008 ist gleich am Anfang davon die Rede, „ein Viertel aller
Studenten in den USA puscht sich bereits mit Medikamenten auf.“ In der Sendung panorama (ARD) vom 17. April
2008 heißt es: „Für 25 Prozent der amerikanischen Studenten gehören Mittel wie Ritalin zur Prüfungsvorbereitung.“
Obwohl die Redaktionen auf die Faktenfehler aufmerksam gemacht wurden, sind sie bis heute nicht behoben.
Weitere Informationen und die entsprechenden Links finden sich online unter http://www.cognitive-enhancement.de
(28. August 2009).
15 Schleim u. Walter, Fakten und Mythen.
16 Z.B. Randall et al.: Modafinil affects mood. Turner et al.: Relative lack.
17 Elliott et al.: Effects of methylphenidate.
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geistiger Leistung zu bieten? Oder bestünde nicht sogar ein gesellschaftlicher Zwang zur Teilnahme
an Maßnahmen zur Entwicklung dieser Leistung? Man brauche doch nur an unser Bildungssystem
zu denken. Manchmal begegnet man auch einer indifferenten Haltung oder einem Achselzucken,
das sagen will: Warum eigentlich nicht? Auch wenn ich selbst noch keine endgültige Meinung zur
moralischen Einschätzung des Cognitive Enhancement habe, möchte ich doch auf diese Frage mit
den sechs folgenden Argumenten eine Antwort geben.
Sichere Medikamente sind unwahrscheinlich
In kaum einem Artikel über das Cognitive Enhancement fehlt ein Verweis auf das Thema
Sicherheit. Oft bleibt es aber bei der Feststellung, dass Verfahren mangelnder Sicherheit ethisch
nicht vertretbar seien; und damit wird zum nächsten Punkt übergegangen. Das klingt so
überzeugend wie trivial – aber was bedeutet das denn, dass ein Medikament oder eine andere
Intervention sicher genug ist, um für die geistige Leistungssteigerung Gesunder in Frage zu
kommen?
Wir können uns leicht Situationen vorstellen, in denen die Frage einfach zu beantworten ist: Ist der
Konsum einer Substanz mit ernsthaften gesundheitlichen Risiken verbunden, dann ist sie nicht
sicher genug; sind hingegen keinerlei Nebenwirkungen zu befürchten, dann gilt sie als sicher. In
den Fällen dazwischen ist es schon schwieriger, denn wie sicher ist sicher genug? Ich denke, dass
nicht nur körperliche Beeinträchtigungen, etwa des Herz-Kreislaufsystems oder der Leber- und
Nierenfunktion, sondern auch psychische eine Rolle spielen.
Wenn eine Substanz etwa die Selbsteinschätzung beeinträchtigt – einer der Gründe, warum
beispielsweise Alkohol schon in geringen Mengen zu riskantem Verhalten im Straßenverkehr führen
kann –, dann ist sie meiner Meinung nach für den alltäglichen Einsatz zur geistigen
Leistungssteigerung nicht sicher genug. Gleiches gilt, wenn sie abhängig macht oder zu negativen
Persönlichkeitsveränderungen führt. Letztere könnten sich an ganz deutlichen Merkmalen wie etwa
Gewaltausbrüchen festmachen lassen aber auch subtiler in der Form von Veränderungen im
Wertesystem oder der Gefühlswelt einer Person äußern. Dabei sollte beachtet werden, dass nicht
jede Persönlichkeitsveränderung etwas Schlechtes sein muss; es übersteigt aber den Rahmen dieses
Aufsatzes, zunächst eine Begriffsklärung für „Persönlichkeit“ und „Veränderung“ zu liefern und
dann gute von schlechten Veränderungen zu unterscheiden.
Wichtiger ist hier, dass es bei der nicht nur die unmittelbaren Nebenwirkungen, sondern vor allem
auch langfristige Effekte geht. Beim Cognitive Enhancement denken wir nämlich nicht nur an den
einmaligen oder seltenen Konsum beispielsweise direkt vor Prüfungen oder Präsentationen, sondern
auch an ein gesteigertes Gedächtnis beim Lernen oder an eine gesteigerte Aufmerksamkeit und
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verlängerte Wachheit für die geistige Arbeit. Das heißt, dass Personen, die ihre geistige
Leistungsfähigkeit nicht nur vor besonderen Belastungssituationen pharmakologisch steigern
möchten,18 die Substanzen regelmäßig und über einen längeren Zeitraum einnehmen würden. Das
stellt aber ganz andere Ansprüche an Studien zur Untersuchung der Nebenwirkungen und rückt
belastbare Ergebnisse in die ferne Zukunft.
Langzeitfolgen können etwa dann auftreten, wenn es beim Eingriff in Neurotransmittersysteme des
Gehirns zu einer Toleranzentwicklung kommt. Bestimmte Botenstoffe, deren Konzentration durch
die Substanz verändert wird, werden dabei vom Körper in geringerem Maß produziert. Es ergibt
sich eine Annäherung an den Ausgangszustand vor dem Enhancement; der leistungssteigernde
Effekt wird schwächer und es könnte der Wunsch aufkommen, die Dosis oder Häufigkeit der
Einnahme zu erhöhen. Dieses Dilemma ist vielen Drogensüchtigen bekannt.
Neben der Toleranzentwicklung könnte es auch zum Problem werden, dass die körpereigenen
Funktionen zur Kompensation bestimmter Nebenwirkungen auf Dauer nachlassen. Was am Anfang
ein kaum spürbarer Kopfschmerz oder eine kaum bemerkbare Nervosität wäre, könnte sich nach
einiger Zeit zu einer ernsthaften Migräne oder zu Panikattacken entwickeln. Es gibt eine Vielzahl
von Neurotransmittersystemen im Gehirn, die in sich schon sehr komplex sind und auf vielfältige
Weise mit anderen Systemen in Verbindung stehen. Daher ist gar nicht davon auszugehen, dass sich
alle Wirkungen einer Substanz auf Anhieb manifestieren. Manche Nebenwirkungen könnten auch
erst durch eine Interaktion mit psychosozialen Faktoren entstehen, etwa wenn eine Person eine
Lebenskrise durchmacht. Überhaupt macht es diese Komplexität unwahrscheinlich, dass sich eine
leistungssteigernde Wirkung ohne Nebenwirkungen erzielen lässt. Bildlich gesprochen: Wer
pharmakologisch an einer Schraube im Gehirn dreht, der verstellt damit auch viele andere
Schrauben.
Diesen Überlegungen zum Trotz schätzen die Pharmakologinnen Danielle Turner und Barbara
Sahakian die Lage zur Sicherheit optimistisch ein. Die uns bereits bekannte Substanz
Methylphenidat sowie Modafinil, das als Medikament zur Behandlung von Schlafstörungen
zugelassen ist, hätten sich als sicher genug für den „weit verbreiteten Einsatz“ herausgestellt. 19 Hier
muss man wieder fragen: Wie sicher ist sicher genug? Sicher genug, dass eine Ethikkommission die
Erlaubnis erteilt, jungen, gesunden und risikobereiten Versuchspersonen im Experiment für eine
18 Aus meinem eigenen Umfeld sind mir Fälle bekannt, in denen Personen vor einer wichtigen Prüfung ein
Beruhigungsmittel nahmen, um ihre Angst und ihre Nervosität zu verringern. Eine derartige Intervention halte ich
eher für eine Behandlung, die dazu dient, die Leistung zu erbringen, wie man sie ohne die Angst oder Nervosität
erbringen kann; es geht nicht darum, seine Leistung zu verbessern, sondern einen störenden Einfluss zu beseitigen.
Anders als beim Enhancement täuscht die Person auch nicht vor, eine Leistung erbringen zu können, die sie sonst
nicht erbringen könnte. Die Anwesenheit des Prüfers ist für sie sozusagen eine Störvariable, die ihre geistige
Leistungsfähigkeit verringert. Eine derartige Intervention halte ich eher für vertretbar; allerdings sollte man diesen
Personen davon abraten, sich einen Beruf zu suchen, in dem sie ständig mit solchen Situationen konfrontiert werden,
die sie nur mithilfe von Beruhigungsmitteln überstehen können.
19 Turner u. Sahakian, Enhanced classroom, S. 80.
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finanzielle Kompensation ein oder zweimal eine Tagesdosis zu verabreichen? Sicher genug, um
einem Schüler, dessen Versetzung gefährdet ist, empfohlen zu werden? Sicher genug, um dem
gestressten Manager Mitte vierzig mit Bluthochdruck und der Neigung zu Wutausbrüchen bei der
Arbeit unter die Arme zu greifen?
Modafinil wird gerne als ein Paradebeispiel für eine sichere Substanz angeführt, die sich als
Cognitive Enhancer eigne. Daher erstaunt es, wenn man einen Blick in die Information für
Fachkreise wirft, in der die Risiken und Nebenwirkungen aufgeführt sind: Zum Beispiel treten sehr
häufig (d.h. bei mehr als zehn Prozent) Kopfschmerzen auf, häufig (d.h. bei einem bis zehn Prozent)
Kraftlosigkeit, Herzjagen, Gefäßerweiterung, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Durchfall, Nervosität,
Schlaflosigkeit, Depression oder verschwommenes Sehen.20 Das ist nur eine kleine Auswahl. Auch
gibt es noch keine Studien zur Beeinflussung der Fahrtüchtigkeit oder der Steuerung von
Maschinen. In der klinischen Literatur sind Fälle bekannt, in denen Versuchspersonen bei sehr guter
Gesundheit durch die Einnahme von Modafinil nach drei Wochen des Konsums eine Psychose, die
eine psychiatrisch Behandlung erforderte, oder nach zweieinhalb Monaten Herzrhythmusstörungen
entwickelten.21
Für Methylphenidat hat die FDA, die oberste Gesundheitsbehörde der USA, erst vor kurzem neue
Warnungen vorgeschrieben. Zu den „wichtigsten Informationen“ zählt die Behörde dabei, das
Medikament könne bei Patienten mit Herzproblemen zum plötzlichen Tod führen, bei Erwachsenen
zum Schlaganfall oder Herzinfarkt. Auch psychische Probleme werden dort genannt, beispielsweise
manisch-depressive Erkrankungen, aggressives Verhalten und Feindseligkeit. Bei Kindern und
Teenagern könnten psychotische Symptome wie das Hören von Stimmen auftreten. 22
Barbara Sahakian räumt mit ihren Kollegen an anderer Stelle ein, dass vieles über die Kurz- und
Langzeitwirkung der Substanzen zum Cognitive Enhancement unbekannt ist 23; überhaupt muss man
feststellen, dass Pharmakologen zwar Modelle für die Erforschung der verschiedenen
Neurotransmittersysteme haben, aber beim heutigen Kenntnisstand ungewiss ist, wie die
Substanzen genau wirken. Selbst für Amphetamin, das seit über 100 Jahren pharmakologisch
erforscht wird, sind noch viele Fragen offen. Mit den Worten von David Sulzer und Kollegen in
einer Übersichtsarbeit: Mit jeder Frage, die durch die Forschung beantwortet wird, ergeben sich
eine Reihe neuer.24 Das ist das Bild der Hydra, die für jeden Kopf, den man ihr abschlägt, zahlreiche
neue bekommt. Angesichts dieser Entwicklung reicht kein einfacher Verweis auf die Notwendigkeit
weiterer Forschung, um einen Optimismus zu begründen.
Selbst wenn das Problem der Sicherheit von vielen Ethikern mit einem Satz abgehandelt wird,
20
21
22
23
24
Cephalon, Fachinfo „Vigil“, Stand vom Juni 2005.
Siehe dazu die Briefe an die Redaktion im American Journal of Psychiatry 162, 2005, S. 1983f.
Entnommen aus dem Medication Guide für Ritalin LA®, Stand vom April 2007, http://www.fda.gov (29.01.2009).
Greely et al., Towards responsible use, S. 704.
Sulzer et al., Amphetamines, S. 428.
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erweist es sich bei näherer Betrachtung als äußert komplex und vielschichtig. Zugegeben ist es vor
allem eine empirische Frage, welche Substanzen entwickelt werden und wie sicher sie sind. Die Art
und Weise, wie die Frage der Sicherheit gestellt wird, übersteigt jedoch die rein empirische
Forschung und betrifft eine Reihe gesellschaftlicher Werturteile und begrifflicher Analysen: Wie
sicher ist sicher genug? Welche Veränderungen werden über welchen Zeitraum als Nebenwirkungen
untersucht? Wie trennt man im psychischen Bereich überhaupt Wirkung und Nebenwirkung?
Höhere Impulsivität mag sich in einem Multiple-Choice-Test, in dem es auf schnellen
Informationsabruf ankommt, anders auswirken als auf einen kreativen Essay, für den
Assoziationsreichtum wichtig ist.25 Über diese Fragen hinweg zu gehen, täuscht ein vereinfachtes
Bild vor, das dem Thema nicht angemessen ist und schürt außerdem die Hoffnung, geeignete
Substanzen zum Cognitive Enhancement seien in Reichweite. Diese Hoffnung ist aber, soweit ich
die Forschungsliteratur überblicke, zurzeit unbegründet.
Das Problem der Verteilungsgerechtigkeit
Verteilungsgerechtigkeit wird regelmäßig in Artikeln über das Cognitive Enhancement thematisiert.
Viele haben die Intuition, dass der Zugang zu bestimmten Gütern allen Menschen – zumindest in
einem Mindestmaß – ermöglicht werden sollte. Wir haben historisch die Erfahrung gemacht, dass
eine Ausgrenzung anhand von Rasse, Stand, Religion oder Geschlecht zu großer gesellschaftlicher
Unzufriedenheit führen kann. Ich bin der Ansicht, dass dies auch für eine Ausgrenzung anhand von
finanziellen Mitteln gilt. Für den Bereich der Bildung ist dies in Deutschland ein großes Problem,
da hier Bildungsstand und Wohlstand der Eltern in hohem Maße auf den Bildungsstand und
Wohlstand der Kinder durchschlagen; Kinder schlechter ausgebildeter und ärmerer Eltern werden
wiederum schlechter ausgebildet und ärmer. 26
Anjan Chatterjee verweist darauf, dass im Bereich Bildung und Gesundheit in den Vereinigten
Staaten bereits ernsthafte Unterschiede zwischen dem Zugang für Arme und Reiche in Kauf
genommen würden.27 Farah und Kollegen behaupten im ersten Positionspapier in Nature, ein
ungleicher Zugang zu Cognitive Enhancement stelle in keinem stärkeren Maß einen Grund zum
Eingreifen dar als der ungleiche Zugang zu Privatunterricht oder kosmetischer Chirurgie.28
Normativ gesehen führt das natürlich an der relevanten Frage vorbei; denn es könnte ja genauso
25 Ähnliche Überlegungen gelten im militärischen Bereich, in dem die Stimulanzien seit Jahrzehnten eingesetzt
werden: Der Frontsoldat im Nahkampf mag über Impulsivität anders denken als der Sprengstoffexperte.
26 Die 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks hat ergeben, dass von 1982 bis 2006 der Anteil Studierender
mit hoher sozialer Herkunft von 17 auf 38 Prozent gestiegen, der aus mittlerer und niedriger sozialer Herkunft von
67 auf 38 Prozent gefallen ist (S. 12). Als Ursache für den anhaltenden Rückgang von Studierenden, deren Eltern
nur einen Hauptschulabschluss haben, werden beispielsweise „soziale Selektionsprozesse“ (S. 11) genannt. Der
Kurzbericht ist online Verfügbar unter http://www.studentenwerke.de/pdf/Kurzfassung18SE.pdf (21. Januar 2009).
27 Chatterjee, Promise and predicament, S. 111.
28 Farah et al., Neurocognitive enhancement, S. 423.
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sein, dass die bereits vorhandenen Verfahren schon ethisch problematisch sind.
Außerdem haben es normative Diskurse und Entscheidungen oft an sich, dass sie erst dann geführt
oder getroffen werden, wenn die Praxis bereits Anwendung findet. Schließlich gilt in unseren
liberalen Gesellschaften alles als erlaubt, was nicht verboten ist. Daraus, dass etwas toleriert wird,
lässt sich also nicht ableiten, dass es normativ unproblematisch ist; wäre es so, dann hätte es keinen
normativen Grund für die Überwindung von Diskriminierung wegen Rasse, Stand, Religion oder
Geschlecht gegeben. In der Wendung, man könne vom Sein nicht auf das Sollen schließen, war sich
bereits der schottische Philosoph David Hume (1711-1776) dieses Fehlschlusses bewusst. Die
Reflexion des Cognitive Enhancement birgt nun allerdings die Chance, auch die tolerierten
Praktiken im Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit zu untersuchen.
Vielleicht
nehmen
die
Autoren
des
neueren
Positionspapiers
das
Problem
der
Verteilungsgerechtigkeit ernster und sprechen daher den Gedanken an, den Betroffenen einen
kostenlosen Zugang zu den Mitteln zu ermöglichen.29 Dies würde tatsächlich eine weitere
Verschärfung der Unterschiede zwischen Armen und Reichen durch das Cognitive Enhancement
verhindern. Wie realistisch die Umsetzung dieser Idee ist, möge jeder für sich selbst beurteilen.
Zwar habe ich denselben Gedanken wie Greely und Kollegen bei einer früheren Gelegenheit selbst
vertreten, da sich Pillen billig herstellen ließen 30; jedoch würde das einen weit reichenden Einschnitt
in die Rechte der Pharmafirmen bedeuten, die sich die Entwicklung geeigneter Substanzen
Millionen kosten lassen und mit Medikamenten zur Unterstützung bestimmter Lebensgewohnheiten
– so genannten Lifestyle Drugs – bereits heute einen Milliardenmarkt erschlossen haben. 31
Überhaupt werden Verstrickungen von Forschung und Wirtschaft in der Diskussion um das
Cognitive Enhancement kaum thematisiert. Dabei haben manche Autoren, wie beispielsweise
Barbara Sahakian oder Ronald Kessler, Beraterverträge mit Pharmafirmen oder besitzen sogar
Firmenanteile. Jedenfalls werden Pharmaunternehmen mit Sicherheit nicht aus Philantropie auf ihre
Rechte an den Substanzen verzichten, deren Entwicklung sie finanzieren.
Fairness
In Wettbewerbssituationen ist Fairness ein wichtiger Aspekt. Wir kennen den Vorwurf der
Unfairness aus dem Sport, wenn ein Foul, ein Regelverstoß, nicht geahndet wird und demjenigen,
der ihn begeht, daraus ein Vorteil entsteht. Wir sprechen ebenfalls von einer Verletzung der
Fairness, wenn sich ein Sportler durch unzulässige Dopingmittel einen Vorteil verschafft. Stellt sich
ein derartiger Verstoß erst hinterher heraus, werden Preise und Preisgelder aberkannt, um die
29 Greely et al., Towards responsible use, S. 704.
30 Schleim, Dragee zum Glück?
31 Flower, Lifestyle drugs.
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Fairness des Wettkampfs wiederherzustellen.
Ist die Situation im intellektuellen Bereich grundlegend anders? Auch hier finden wir Regeln, die
den Rahmen für eine faire Teilnahme definieren. Wer sich beispielsweise über sein Mobiltelefon
von jemand anderem helfen lässt oder Spickzettel verwendet, der verhält sich unfair. Ebenso verhält
sich unfair, wer einen Aufsatz oder Teile davon bei jemand anderem abschreibt und als seine eigene
Leistung ausgibt. In den intellektuellen Prüfungs- und Leistungssituationen geht es darum, die
Leistung einer bestimmten Person zu bewerten. Wer derartige Regelverstöße begeht, der täuscht
eine Leistung vor, die er gar nicht oder nicht unter diesen Umständen erbringen kann. Selbst wenn
man über einen Spickzettel beim Vokabeltest noch lächeln mag, finden sich auch im intellektuellen
Bereich Prüfungen, bei denen es um wichtige Lebensentscheidungen geht.
Im intellektuellen Wettbewerb gibt es daher ebenso wie im Sport Regeln, die ein faires Vorgehen
definieren; wer dagegen verstößt, verhält sich unfair. Anders als im Sport gibt es dort aber (bisher)
keinen speziellen Doping-Katalog, der die Einnahme bestimmter Substanzen verbietet. Ist die Frage
der Fairness mit Blick auf das Cognitive Enhancement also verfehlt? Das ist sie deshalb nicht, weil
es gesamtgesellschaftliche Regeln für den Umgang mit Drogen und Medikamenten gibt.
Deshalb kann man auch bei der heutigen normativen Lage durchaus davon sprechen, dass sich
diejenigen Personen unfair verhalten, die illegal Drogen oder verschreibungspflichtige
Medikamente zur geistigen Leistungssteigerung beziehen; sie beziehen auf illegale Art und Weise
Mittel, die anderen nicht zur Verfügung stehen. Damit wollen sie eine Leistung erbringen, die sie
ohne diese Mittel nicht erreichen würden. Das gilt nicht nur für akademische Prüfungen und
Wettbewerbe, sondern auch für die Arbeitswelt, die gleichfalls ein Teil der Gesellschaft ist.
Abgesehen von den Gesetzen zum Umgang mit Drogen und Medikamenten würde es aber helfen,
einen expliziten normativen Standard für die Frage des Cognitive Enhancement zu haben. Dieser
würde sich direkt auf den intellektuellen Wettbewerb beziehen und nicht auf Umwegen über das
Betäubungsmittelgesetz, Medizin- und Strafrecht. Das muss nicht heißen, dass alle Substanzen, die
sich zur geistigen Leistungssteigerung eignen, verboten werden sollen; das muss auch nicht heißen,
dass Verbote in der Form von Gesetzen verabschiedet werden sollen. Vielmehr könnten
Institutionen oder Firmen – etwa in Form einer Unternehmensethik oder -politik – selbst dafür
Standards definieren, was als faires und was als unfaires Verhalten angesehen wird.
Man könnte es beispielsweise ächten, Drogen oder illegal verschreibungspflichtige Stimulanzien zu
verwenden, um Arbeitsziele zu erreichen. Das würde den Angestellten eine Sicherheit darüber
verschaffen, was von ihnen verlangt wird. Kollegen, die dagegen verstießen, würden sich den
anderen gegenüber ganz ausdrücklich unfair verhalten. Gleichzeitig könnte der indirekte Zwang
verringert werden, dass eine Person befürchtet, andere würden bereits Cognitive Enhancement
betreiben und sie könne deshalb nicht mehr mithalten. Firmen könnten dadurch auch einen
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Sechs Gründe gegen Gehirndoping
öffentlichen Imageschaden vermeiden. Welchen Eindruck würde es denn erwecken, dass ein
Großteil der Belegschaft zur Bewältigung der Arbeit auf Drogen und Medikamente angewiesen ist?
Die Situation an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen stellt sich ganz ähnlich dar. Würden
sich dennoch Anhaltspunkte dafür ergeben, dass gegen diese Regeln verstoßen wird, könnte das für
eine strengere Überprüfung ihrer Einhaltung sprechen.
Mein Kernargument im Hinblick auf die Fairness ist aber nicht, dass Cognitive Enhancement
unbedingt verboten gehört, sondern dass es einen expliziten normativen Standard geben soll, an
dem sich die Einzelnen orientieren können. Dieser Standard könnte mehr oder weniger streng
ausfallen, alle, manche oder keine Interventionen verbieten; er würde allerdings eine Klarheit
schaffen, die derzeit – zumindest im intellektuellen Wettbewerb – nicht gegeben ist. Ein solcher
Standard scheint mir allein schon notwendig zu sein, um Individuen vor den Nebenwirkungen der
Substanzen zu schützen. Diesem Aspekt möchte ich mich im folgenden Abschnitt kurz zuwenden.
Schutz der Individuen
Wie ich weiter oben belegt habe, gibt es weder zu den Wirkungen, noch zu den Nebenwirkungen
der Substanzen ausreichendes Wissen; es ist noch nicht einmal klar, wie man Wirkung und
Nebenwirkung so untersuchen kann, dass die Ergebnisse für das gesellschaftliche Interesse am
Cognitive Enhancement verwertbar wären. Angesichts dieser Situation wird deutlich, dass
Personen, die bereits heute Medikamente zur geistigen Leistungssteigerung verwenden, ein
bedeutendes Risiko eingehen; sie riskieren nicht nur gesundheitliche Schäden, sondern auch
Veränderungen ihrer Persönlichkeit. Dabei ist noch nicht einmal klar, ob die Mittel das leisten, was
man sich von ihnen verspricht, oder ob sie in erster Linie nur die Selbsteinschätzung verbessern und
womöglich zur Abhängigkeit führen.
Angesichts dieser Situation finde ich es merkwürdig, dass die Studierenden, die sich schon heute
diese Mittel illegal besorgen, in dem Positionspapier von Greely und Kollegen als Vorreiter, beinahe
Helden der Bewegung zur Selbstoptimierung dargestellt werden; als Menschen, die sich für ein Gut
einsetzen, das ihnen die gesellschaftlichen Normen verbieten und dafür sogar Gefängnisstrafen
riskieren. Mir stellen sich diese Vorreiter nicht als Vorbilder, sondern als Beispiele der Dummheit
dar. Selbst wenn Cognitive Enhancement ethisch gesehen etwas Gutes wäre – der naive Konsum
von Substanzen, für die noch so viele wichtigen Fragen ungeklärt sind, ist es nicht. Das Verhalten
dieser „Helden“ ist allein schon deswegen
ethisch abzulehnen, weil es einerseits die
gesellschaftliche Hysterie verstärkt und die Kommilitonen zu ähnlichen Dummheiten verleitet und
andererseits die Konsequenzen in Form gesundheitlicher und psychischer Schäden über das
Gesundheitssystem der Gesellschaft aufbürdet.
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Sechs Gründe gegen Gehirndoping
Deshalb halte ich es ebenso wie beim Doping im Sport nicht nur aus Gründen der Fairness für
geboten,
klare
Regeln
für
den
Umgang
mit
bestimmten
Substanzen
zur
geistigen
Leistungssteigerung zu vereinbaren, sondern auch zum Schutz der Individuen vor sich selbst. Die
Abschnitte zur Verbreitung des Enhancement sowie den offenen Fragen zur Wirkung und Sicherheit
machen deutlich, dass ein signifikanter Teil der Gesellschaft nicht vernünftig mit den
verschreibungspflichtigen Stimulanzien umgehen kann. Diejenigen Zielgruppen, für die sich die
geistige
Leistungssteigerung
am
attraktivsten
darstellt,
also
alle,
die
in
geistigen
Wettbewerbssituationen arbeiten, sollten daher über den Stand der Forschung, sowie die offenen
empirischen und gesellschaftlichen Fragen aufgeklärt werden. Entsprechende institutionelle
Stellungnahmen für den Umgang mit Cognitive Enhancement würden die Ernsthaftigkeit dieser
Angelegenheit unterstreichen.
Das Argument vom Menschenbild; oder: soziale Lösungen für soziale Probleme
Der amerikanische Psychiater Peter Kramer hat in den USA eine große Diskussion über die
Verwendung von Antidepressiva bei gesunden Menschen ausgelöst. In einem Buch beschreibt er
seine Erfahrungen, diese Mittel zu verschreiben, damit sich seine Kunden noch besser als gut fühlen
können. Darin thematisiert er auch die Praxis in den USA der 1950er Jahre, unzufriedenen
Hausfrauen Beruhigungsmittel zu verschreiben.32 Diese Frauen befanden sich in einem starren
gesellschaftlichen System, das ihnen kaum Platz für die Verwirklichung eigener Ziele ließ und sie
stattdessen an die Familie und den Haushalt band. Das Verschreiben der Pillen war so verbreitet,
dass es die Rolling Stones in ihrem Song „Mother’s Little Helpers“ besangen. Mutters kleine
Helfer, das waren Schlaf- und Beruhigungsmittel wie Valium oder Librium. Wichtig ist hierbei, dass
sich diese Hausfrauen nicht bloß unglücklich fühlten, sondern sich tatsächlich in einer
unbefriedigenden Situation befanden.
Vielleicht befinden wir uns heutzutage in unserer Leistungsgesellschaft in einer ganz ähnlichen
Situation. Gemessen an den Rollenvorstellungen der 1950er Jahre könnten Mittel zum Cognitive
Enhancement Vaters kleine Helfer sein – nämlich Mittel für die Bewältigung des hohen
Leistungsdrucks. Greely und Kollegen bemerken am Schluss ihres Positionspapiers, die Substanzen
könnten die Lebensqualität der Menschen erhöhen.33 Vielleicht gilt das aber nur, wenn die
Lebensqualität zunächst durch den hohen Leistungsdruck und Konkurrenzkampf verringert wurde.
Das heißt, hinter dem Wunsch nach mehr Leistung könnte sich ein soziales Problem verbergen,
nämlich dieses, dass der Leistungsdruck tatsächlich zu hoch ist. Eine verbreitete Unzufriedenheit
mit den Anforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit sowie die Zunahme von Stress- und
32 Kramer, Listening to Prozac, S. 38f.
33 Greely et al., Towards responsible use, S. 705.
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Sechs Gründe gegen Gehirndoping
Überlastungsreaktionen wären Indikatoren hierfür. Die Verfügbarkeit von Cognitive Enhancement
würde dann das Risiko bergen, für dieses soziale Problem eine pharmakologische Lösung zu
wählen und sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen abzufinden, die eigentlich unbefriedigend
sind. Dabei beinhalten soziale Probleme auch Chancen für sozialen Wandel und Fortschritt; das
setzt aber kritische Reflexion voraus und den Willen, eine Veränderung auch gegen Widerstände
durchzusetzen. Das ist das Bild eines Menschen, der sich selbst die Umwelt schafft, in der er zu
leben wünscht.
Demgegenüber steht das Bild eines Menschen, der seine natürlichen (Leistungs-) Grenzen als
persönliches Manko begreift und die Ursache für die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen
Umständen nicht dort sieht, sondern in sich selbst. Indem er sich selbst pharmakologisch an diese
äußeren Anforderungen anpasst, versteht er sich als ein System von Regelkreisen, in die nur an der
entsprechenden Stelle eingegriffen werden muss, um die Leistung an die externen Erwartungen
anzugleichen. Das ist das Bild einer Maschine, die repariert oder überholt werden muss, wenn sie
ihren vorgegebenen Zweck nicht wie gewünscht erfüllt.
Aus diesem Grund halte ich auch das Argument für das Cognitive Enhancement, das sich auf die
Autonomie des Menschen beruft, für wenig überzeugend. Dieses Argument geht davon aus, dass
jeder für sich selbst wisse, was am besten sei. Indem man den Menschen die Freiheit gebe, für sich
selbst zu entscheiden, könnten sie dies auch am besten verwirklichen. Der Autonomiegedanke
entspricht dem Menschenbild der Aufklärung und des Humanismus. Dieser Mensch benutzt seine
Vernunft und sein Gefühl, um Einsicht und Erkenntnis zu erlangen und danach zu entscheiden; er
gebraucht seine Fähigkeiten dazu, sich selbst und anderen gegenüber verantwortungsvoll zu
handeln. Er lässt sich gerade nicht von einer äußeren Autorität bestimmen, lässt sich nicht ohne
eigene, kritische Prüfung vorgeben, was er für gut und richtig zu halten hat.
Natürlich kann man im Fall einer unreflektierten Ablehnung ebenso wenig von einer autonomen
Entscheidung sprechen wie im Fall einer unreflektierten Übernahme des externen Maßstabs. Diese
Frage lässt sich aber nicht allgemein lösen; vielmehr müssen die Motivationen im Einzelfall genau
und kritisch geprüft werden. Weil der Leistungsdruck in unserer Gesellschaft aber so hoch ist,
scheint es mir auf den ersten Blick plausibler zu sein, dass die Entscheidung gegen das Cognitive
Enhancement sich auf den Autonomiegedanken berufen kann.
Bei Süchtigen geht man allgemein davon aus, dass ihre Autonomie zumindest mit Blick auf den
Gegenstand ihrer Sucht stark eingeschränkt ist. Sie können dann gerade nicht mehr vernünftig für
sich selbst entscheiden. Ein besonderes Risiko dürfte Cognitive Enhancement daher für den
Personenkreis der Arbeitssüchtigen darstellen, die sich mit keinem Niveau ihrer geistigen
Leistungsfähigkeit zufrieden geben. Ihre Wertmaßstäbe sind völlig auf die Arbeitsfähigkeit
ausgerichtet und ganz gleich, wie viel sie bewältigen, sie brauchen immer noch mehr. Dieses
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Suchtverhalten führt in vielen Fällen zu einem Erschöpfungszustand und schließlich zu einem
psychischen Zusammenbruch, der das Vermögen geistiger Arbeit drastisch reduziert. 34
Der Arbeitssüchtige, der seine Lage durch Cognitive Enhancement verbessern will, versteht seine
prekäre Situation falsch. Da sich seine Einschätzung des hohen Werts geistiger Leistungsfähigkeit
durch die pharmakologische Intervention aber nicht ändert, wird er schließlich auch mit einem
gesteigerten Leistungsniveau unzufrieden sein. Das heißt, dass sich seine Lage langfristig nicht
verbessert, da er sich auch auf dem höheren Niveau zu viel Arbeit vornehmen wird. Bestenfalls
verschiebt sich durch das Enhancement nur der Zeitpunkt, an dem es zum Einbruch kommt;
schlimmstenfalls begibt er sich in eine gefährliche Spirale immer höherer Dosen oder wirksamerer
Mittel zur Leistungssteigerung, die eine ernsthafte Bedrohung der Gesundheit darstellen. Bei einer
Befürwortung des Cognitive Enhancement sollte daher auch an die Personenkreise gedacht werden,
die in ihrer Autonomie eingeschränkt sind. Das sind nicht nur Kinder, sondern auch Arbeitssüchtige.
Ganz gleich, ob wir uns für oder gegen die Leistungssteigerung entscheiden, auf jeder Leitungsstufe
stellt sich erneut die Frage, wie viel geistige Leistung, wie viel Arbeit wir uns vornehmen, wie viel
davon genug ist, wie sehr wir unser Leben diesem Wertmaßstab unterordnen sollen. Auf diese
Frage, in der es auch darum geht, was wir für ein gutes und erfülltes Leben halten und was nicht,
gibt es keine pharmakologische Antwort; sie lässt sich nicht für alle Zeiten und auch nicht für alle
Menschen allgemein lösen. Ich halte es aber für wichtig, dass man sie sich selbst stellt.
Sich für das Cognitive Enhancement zu entscheiden, ist darauf keine Antwort, weil sich auch auf
der höheren Ebene wieder die Frage stellt, ob denn nicht noch mehr Leistung noch besser wäre und
man seine Geisteskraft nicht noch weiter steigern müsse. Dann scheint es mir besser zu sein, sich
auf ein vernünftiges Maß an geistiger Leistung zu bescheiden, bevor das Leistungs- und
Wettbewerbsdenken vom gesamten Leben Besitz ergriffen hat. Nach der Krise des Finanzsystems
sind Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie die Philosophie dazu aufgefordert, wieder
alternative Lebensentwürfe aufzuzeigen; Lebensentwürfe, die nicht wie im ökonomischen Denken
nur Preise, sondern vor allem auch Werte kennen.
Der britische Nobelpreisträger, Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (1872-1970) hat in
seiner Schrift „Lob des Müßiggangs“ dafür plädiert, diese Grenze lieber etwas niedriger anzusetzen.
Für Russell gehörte zu einem guten Leben auch, sich Zeit für andere Interessen, eigene Ideen, die
Politik, Kultur oder Kunst nehmen zu können. Im Beruf geht es aber oft nicht mehr um andere
Interessen, sondern die Interessen anderer. Im technologischen Fortschritt sah Russell eine
Möglichkeit, die Menschen von einem überhöhten Leistungsdruck befreien zu können. Denn je
34 Das Burnout-Syndrom ist nach dem Diagnosemanual der WHO diagnostizierbar (Z73). Eine der Hauptursachen ist
chronischer Stress. Im Burnout-Zustand besteht nicht nur eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit, sondern auch das
Risiko ernsthafter physischer und psychischer Erkrankungen. Dass das Burnout-Syndrom mit einer eingeschränkten
kognitiven Leistung einhergehen kann, steht damit im Widerspruch zum Ziel des Cognitive Enhancement, vgl.
Sandstrom et al.: Impaired cognitive performance.
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Sechs Gründe gegen Gehirndoping
mehr Arbeit die Maschinen übernähmen, desto weniger Arbeit müssten wir selbst leisten, um das
gleiche Niveau an Produktivität und Wohlstand zu halten. Gerade die neuen Informations- und
Kommunikationstechnologien scheinen aber zum gegenteiligen Ergebnis zu führen, dass immer
mehr Zeit, sei es zuhause, im Zug oder im Flugzeug, von Arbeit beherrscht wird. 35 Russell schrieb
schon 1932: „Ich denke, dass bei weitem zu viel Arbeit auf der Welt erledigt wird und dass
immenses Leid durch den Glauben erzeugt wird, Arbeit sei tugendhaft.“ 36
Davon abgesehen ignoriert die Fokussierung auf die geistige Leistungsfähigkeit, wie wir sie in der
Debatte um das Cognitive Enhancement beobachten können, psychologische Befunde der neueren
Zeit. Es ist nämlich nicht nur die kognitive, sondern auch die emotionale Intelligenz für beruflichen
Erfolg von großer Bedeutung.37 Diese Beobachtung ist ein weiteres Indiz dafür, dass in der Debatte
ein reduziertes Menschenbild im Vordergrund steht.
Ein Nullsummenspiel
Einige der vorangegangen Argumente machen zumindest in der von mir hier kurz dargestellten
Weise starken Gebrauch von Intuitionen. Den folgenden Einwand halte ich aber dafür geeignet, mit
relativ geringem Aufwand die Rationalität und den Sinn des Cognitive Enhancement generell zu
unterminieren – auch bei denjenigen, die meine Intuitionen nicht teilen.
Nehmen wir aus der Vielzahl der Akteure, die sich am gesellschaftlichen Konkurrenzkampf
beteiligen, die beiden fiktiven Charaktere Annette und Bernd heraus. Die beiden studieren
Psychologie und möchten sich bald auf einen weiterführenden Masterstudiengang bewerben. Die
Anzahl dieser Studienplätze ist aber begrenzt und in unserem Beispiel steht nur ein Studienplatz zur
Verfügung. Annette und Bernd wissen, dass die Anzahl der Plätze geringer ist und ein
Auswahlverfahren über die Annahme entscheiden wird. Sie haben kürzlich das Positionspapier von
Greely und Kollegen gelesen und gehen davon aus, durch verschreibungspflichtige Medikamente
ihre geistige Leistungsfähigkeit steigern und damit ihre Chancen auf den begehrten Studienplatz
verbessern zu können. Beide kennen einen Weg, sich eine dieser Substanzen zu besorgen und sie
stellen sich jetzt die Frage, ob sie ihre Chancen auf pharmakologische Weise verbessern sollen.
Nehmen wir für das Beispiel außerdem an, dass die Substanzen tatsächlich wirken.
Versuchen wir, diese Situation zu formalisieren: Die Einnahme der Mittel bringt Kosten und / oder
Risiken mit sich. Diese seien mit dem Wert -1 beziffert. Da die hypothetische Substanz aber für den
Zweck des Cognitive Enhancement geeignet sein soll, ist ihr Nutzen größer als ihr Preis; daher sei
35 Eine interessante soziologische Analyse darüber, wie sich die Arbeit mit technologischer Hilfe in alle
Lebensbereiche ausdehnt, hat kürzlich Jakob Schrenk geliefert, Kunst der Selbstausbeutung.
36 Russell, Idleness, S. 1; dt. Übers. S.S.
37 Goleman, Emotionale Intelligenz.
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Sechs Gründe gegen Gehirndoping
jener mit 2 beziffert. Jetzt kommt die jeweils zweite Person ins Spiel. Da es sich um eine
Wettbewerbssituation handelt, erfährt der Wettbewerber einen Schaden, wenn die geistige
Leistungsfähigkeit der anderen Person gesteigert wird. Im Vergleich erscheint seine Leistung
plötzlich als schlechter, als sie erschienen wäre, wenn der Konkurrent auf das Cognitive
Enhancement verzichtet hätte. Dieser Schaden sei so groß wie der Zugewinn an geistiger Leistung,
also mit -2 beziffert. Nehmen wir nun an, Annette würde sich für das Enhancement entscheiden,
Bernd dagegen; dann hätte Annette einen Nutzen von 2 - 1 = 1 und Bernd 0 - 2 = -2. Insgesamt
ergeben sich vier Möglichkeiten, wie die Entscheidungen verlaufen können, die in der folgenden
Matrix dargestellt sind; in jeder Zelle steht dabei links immer das Ergebnis für Annette, rechts das
für Bernd:
@@@ Abbildung hier einfügen @@@
Die Auswertung der Möglichkeiten ist ernüchternd: Wenn beide sich gleich verhalten, profitiert
niemand. Tatsächlich ist die Situation dann am schlimmsten, wenn beide sich für die geistige
Leistungssteigerung entscheiden. Dann bezahlen beide zwar den Preis in Form von Kosten und
Risiken, haben aber insgesamt keinen Nutzen mehr. Ihre Leistung wird schließlich relativ zu
derjenigen des anderen bewertet. Wenn nur einer von beiden diese Entscheidung trifft, stellt sich die
Situation anders dar: Nun hat beispielsweise Annette einen Vorteil von 1 und Bernd einen Nachteil
von -2. Die Situation ist genau umgekehrt, wenn Bernd, nicht aber Annette, die Substanz nimmt.
Das heißt, dass entweder keiner von beiden Profitiert (Fälle 1 und 2) oder einer zu Lasten des
anderen (Fälle 3 und 4).
Cognitive Enhancement führt in einer derartigen Konkurrenzsituation also entweder zu einer
Nullrunde, in der niemand profitiert, oder zu einem Ergebnis, in dem der Vorteil des einen zum
Nachteil des anderen gereicht. Anders formuliert setzt es voraus, dass jemand anderes einen Preis
dafür bezahlt, dass die eine Person besser gestellt ist. Wie sollte dieser Schaden, der Bernd zugefügt
wird, wenn Annette sich fürs Enhancement entscheidet, aber gerechtfertigt werden? Die Situation
verkehrt sich ins Absurde, wenn wir bedenken, dass Bernd sich dieses Ergebnis selbst ausmalen
kann: In der Antizipation, dass Annette sich zu seinem Nachteil besser stellt, wird sich der Druck
auf ihn vergrößern.
Demnach vergrößert bereits die Möglichkeit, dass der andere vom Cognitive Enhancement
gebraucht macht, die Wahrscheinlichkeit, dass der eine es auch tut; und wie wir gesehen haben,
führt das in eine Situation, in der keiner profitiert – außer den Pillenverkäufern, die wir aus dem
Beispiel heraus gelassen haben. Annette könnte also nur dann wirklich vom Enhancement
profitieren, wenn sie Bernd, ihrem Konkurrenten, den Zugang zu den Mitteln versperrt. Das würde
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jedoch die Gerechtigkeit des Wettbewerbs verringern, denn nun würden Faktoren in der Auswahl
eine Rolle spielen, die nicht beiden zur Verfügung stehen. 38
Wäre es aber nicht ein Gewinn für die Gesellschaft, wenn Cognitive Enhancement in großem Maße
angewandt würde? Selbst wenn sich die relativen Leistungen in unserem Beispiel nicht verschoben
haben (Fälle 1 und 2), lässt sich nicht von der Hand weisen, dass beide absolut gesehen mehr
geleistet haben. Dieser Einwand wird gerne von denjenigen gemacht, die in einer Steigerung der
geistigen Leistungsfähigkeit einen Weg zur Lösung der großen Probleme der Menschheit sehen. So
argumentieren beispielsweise die so genannten Transhumanisten, die mithilfe von Technik über das
Menschenmögliche hinausgehen möchten.39 Dieses Argument hat etwas Träumerisches. Es muss
nämlich davon ausgehen, dass die Menschen – zumindest überwiegend – die gesteigerte Leistung
zum Wohl der Menschheit einsetzen und nicht im Gegenteil zu ihrem Schaden.
Wir befinden uns aber doch gerade deshalb in dieser misslichen Lage mit großen Problemen der
Armut, der Umweltzerstörung, der Kriege und Klimakatastrophe, weil offensichtlich viele
Menschen ihre Fähigkeiten zum Schaden anderer einsetzen. Selbst wenn durch Cognitive
Enhancement die eine oder andere Lösung gefunden würde, ist es ebenso wahrscheinlich, dass
dadurch auch neue Probleme entstehen – denn schließlich würden dann ja auch diejenigen
Menschen eine gesteigerte Leistung haben, die mit ihrem Verhalten den anderen Schaden. Es ist
eine völlig unbegründete Hoffnung, Cognitive Enhancement würde die Menschen zu Engeln
machen.40
Ausblick
Ich habe eingangs die Frage aufgeworfen, ob man die Forderung nach mehr Ressourcen für die
Erforschung von Substanzen zum Cognitive Enhancement zurückweisen könne; beispielsweise
dadurch, dass man das angestrebte Ziel als gesellschaftlich nicht wünschenswert identifiziert. Meine
sechs Gegenargumente zielen darauf ab, der meines Erachtens oberflächlichen Euphorie um die
Verbesserung der geistigen Leistungskraft kritische Überlegungen zu erwidern. Natürlich sind diese
Argumente selbst nicht unstrittig, beweisen aber, dass man nicht mit den Achseln zucken muss bei
der Frage: Warum eigentlich nicht? Es wäre nur konsequent, die gesellschaftliche Förderung der
38 Natürlich ist mein Modell stark vereinfacht und wäre eine komplexere spieltheoretische Analyse zu begrüßen. Auch
mögen subjektive Effekte der Substanzen eine Rolle spielen, die ich in der Bewertung für kognitive
Wettbewerbssituationen außen vor gelassen habe. Diese müssten dann aber unter dem Begriff der
Bewusstseinserweiterung diskutiert werden, vgl. Schleim, Psychopharmakologie und Bewusstseinserweiterung.
39 In der Deklaration der World Transhumanist Association wird beispielsweise ein moralisches Recht zur Verwendung
neuer Technologien zur Steigerung der geistigen und physischen Kapazitäten gefordert (Abs. 4). In ihrem
Wertebekenntnis wird in neuen Technologien ein Weg zur Überwindung der menschlichen Gebrechen und Probleme
gesehen. Die Dokumente können online unter http://transhumanism.org eingesehen werden (21. Januar 2009).
40 Die moralische Richtigkeit eines „moralischen Enhancements“ zur Verbesserung des Moralvermögens verteidigt
etwa Thomas Douglas, Moral Enhancement.
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pharmakologischen Forschung zum Cognitive Enhancement so lange auszusetzen, bis diese Fragen
hinreichend geklärt sind.
Die wesentlichen Probleme sind dabei überwiegend nicht empirischer Natur; daher können sie auch
nicht durch die Förderung empirischer Projekte gelöst werden. Die Frage nach sicheren und
wirksamen Substanzen lenkt meiner Meinung nach von den wesentlichen gesellschaftlichen Fragen
ab, beispielsweise derjenigen, wie viel Leistungsdruck für unsere Gesellschaft gut ist sowie für die
Erwachsenen und Minderjährigen in ihr. Ich halte es für einen Fehlschluss, Mittel zur Steigerung
der geistigen Leistungsfähigkeit sowie jedes gesteigerte Niveau ihrer Ausprägung gutzuheißen, bloß
weil wir die geistige Leistung allgemein für etwas Gutes halten. Die Frage sollte vielmehr sein, wie
viel davon genug ist – genug für eine gute Gesellschaft und genug für ein glückliches, individuelles
Leben in ihr. Ich glaube, wer sich auf diese Fragen eine gute Antwort gibt, für den verschwindet der
Wunsch nach einer Steigerung der geistigen Leistungskraft weitgehend.
Ganz konkret fordere ich eine breite Aufklärung der Öffentlichkeit über die Risiken und
Nebenwirkungen der nachgefragten Substanzen – seien es stimulierende Drogen oder
Medikamente, die für die Behandlung bestimmter Erkrankungen zugelassen sind. Die Fachliteratur
und auch die Medien haben diese gesellschaftlich so wichtige Aufgabe bisher nicht geleistet,
sondern im Gegenteil eine falsche Vorstellung von der Verbreitung des Cognitive Enhancement
vermittelt. Es muss klargestellt werden, dass die verfügbaren Substanzen derzeit nicht zur geistigen
Leistungssteigerung empfohlen werden können. Die bestehenden Gesetze für den Umgang mit
Betäubungsmitteln und Medikamenten sind daher sinnvoll. Parallel zu dieser Aufklärungsarbeit
wäre es wichtig, in regelmäßigen Abständen Erhebungen zur Verbreitung des Cognitive
Enhancement durchzuführen, um die gesellschaftlichen Trends aufzuzeigen.
Meine zweite konkrete Forderung richtet sich an die Institutionen und Unternehmen, in denen es
auf geistige Leistungsfähigkeit ankommt. Es sollten Gespräche über normative Standards geführt
werden, die eine Stellungnahme zum Umgang mit Cognitive Enhancement enthalten. Dabei sollte
die Idealvorstellung herausgearbeitet werden, wie und unter welchen Bedingungen geistige
Leistung im gesellschaftlichen Wettbewerb erbracht werden soll. Dadurch würde jeder, der an einer
solchen Institution oder in einem solchen Unternehmen tätig ist, in die Lage versetzt werden, faires
von unfairem Verhalten zu unterscheiden. Außerdem könnte der explizite Umgang mit dem Thema
des Leistungs- und Konkurrenzdrucks und der Frage danach, wie viel geistige Leistung genug ist,
die Menschen zur Reflexion über das gute Leben anregen. Ich glaube, dass viele dadurch langfristig
profitieren würden – und das kostenlos und ganz ohne Pillen. 41
Literaturverzeichnis
41 Für hilfreiche Anmerkungen am Text bin ich Jens Johler zu Dank verpflichtet. Außerdem danke ich Gerhard
Christopher Bukow, Helmut Fink, Thorsten Galert und Markus Knappitsch für ihre kritischen Einwände.
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