Blinde sehen, Taube hören

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V A R I A
TECHNIK FÜR DEN ARZT
ikrochips, die, in Gehörgang oder Netzhaut
implantiert, Funktionen des Gehirns oder der Sinnesorgane übernehmen, galten vor Jahren noch als reine
Utopie. Doch die Neurotechnologie hat enorme Fortschritte gemacht. Ein Überblick über den aktuellen
Stand der Forschung war auf
der Hannover-Messe 1996 zu
sehen. 20 Aussteller präsentierten am Gemeinschaftsstand „Neurovisionen“ ihre
Entwicklungen.
Highlight war der Prototyp eines Mikrochips für die
Netzhaut des menschlichen
Auges. Er enthält einige tausend Solarzellen. Fällt Licht
darauf, erzeugen sie Strom
und reizen die Nerven auf der
Unterseite der Netzhaut. Der
Chip soll so die natürlichen
Photorezeptoren in der Retina ersetzen. Die Wissenschaftler des Stuttgarter Instituts für Mikroelektronik haben die Konstruktion so angelegt, daß nicht nur starre
Chips implantiert werden,
sondern sogar einzelne Photodioden gezielt in die Netzhaut injiziert werden können.
Patienten, die an Retinitis
pigmentosa leiden, soll damit
in gar nicht so ferner Zukunft
zumindest schemenhaftes Se-
M
Medizintechnik auf der Hannover-Messe 1996
Blinde sehen, Taube hören
hen möglich sein. Die größte
Hürde auf dem Weg zum Retina-Implantat ist momentan
noch seine Bioverträglichkeit.
Man weiß nicht, ob solche Mikrochips in der Lage sein werden, eine dauerhafte Verbindung mit gesunden Neuronen
einzugehen. Forscher des
Fraunhofer-Instituts für biomedizinische Technik präsentierten eine neurotechnologische, intelligente Schnittstelle. Dabei wird zwischen den
getrennten Enden eines Nervenstrangs ein Silicium-Chip
mit siebartiger Membran implantiert, deren Löcher mit
Mikroelektroden versehen
sind. Die Nervenstränge können durch diese hindurch
wachsen und werden in einem
Polyurethan-Schlauch fixiert.
„Im Tierversuch haben wir
bereits festgestellt, daß Nerven in ausreichender Anzahl
durch die Siebstruktur gewachsen sind“, erläutert Thomas Stieglitz vom Fraunhofer-Institut. Aktuell experimentiert man in St. Ingbert
mit nichttoxischen Materialien, wie Polyimid, um die Ver-
träglichkeit der Implantate zu
verbessern. Noch ist das Retina-Implantat eine Zukunftsvision. Auf der HannoverMesse konnte man jedoch sehen, daß die gezielte Förderung solcher Projekte durch
das Programm Neurotechnologie der Bundesregierung
bereits erste Früchte zeigt.
Volldigitales
Hörgerät
Eine weitere Innovation
präsentierten Wissenschaftler
der Universität Oldenburg.
Sie entwickelten das erste
volldigitale Hörgerät der
Welt. Es basiert auf einer binauralen (zweiohrigen) Signalverarbeitung. In der klassischen „Cocktail-Party-Situation“ ist es den meisten
Schwerhörigen nicht möglich,
einzelne Töne zu isolieren
und sich darauf zu konzentrieren. Hinzu kommt, daß
viele Schwerhörige den Schall
entweder als zu laut oder als
zu leise empfinden. Sie müs-
sen die Lautstärke ihres Hörgeräts ständig nachregeln.
Die Forscher des Oldenburger Hörzentrums messen mit
Hilfe ausgeklügelter Verfahren das individuelle Hörvermögen des Patienten. Die von
Mikrofonen an beiden Ohren
aufgenommenen Signale werden dann digitalisiert und frequenzanalysiert. „Mit Hilfe
spezieller von uns entwickelter Algorithmen ist das Hörgerät dann in der Lage, die
Signale so miteinander zu
verrechnen, daß Schall, der
nicht von vorne kommt, gezielt unterdrückt wird“, erläutert der Geschäftsführer des
Hörzentrums, Stephan Albani. Bis zu 80 Prozent der normalen Hörleistung können so
wiederhergestellt
werden.
Ein Nachteil: Das Gerät ist so
groß wie ein Walkman und
wiegt runde 800 Gramm.
„Wenn es uns erst gelingt, die
Akkus des Gerätes weiter zu
miniaturisieren, dann werden
wir es auch auf eine handliche
Größe bringen können“, gibt
sich Stephan Albani optimistisch.
Kay Müllges
Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 23, 7. Juni 1996 (73) A-1551
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