Schmusekatzen und Streuner

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Schmusekatzen und Streuner
Wie Tiere "Persönlichkeit" entwickeln
Von Martin Hubert
Sendung: Mittwoch, 25. November 2015, 08.30 Uhr
Wiederholung: Mittwoch, 9. August 2017, 08.30 Uhr
Redaktion: Sonja Striegl
Regie: Sonja Striegl
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Online-Teaser:
Introvertiert oder abenteuerlustig? Nicht nur Menschen haben Persönlichkeit. Sondern auch
Mäuse, Meerschweinchen, Katzen, Hunde und selbst Kohlmeisen.
MANUSKRIPT
ATMO 1: Quieken und Pfeifen Meerschweinchen, kurz frei, dann unterlegen.
Sprecher:
Ein großes Gehege im Institut für Verhaltensbiologie der Universität Bielefeld. Die
Biologin Anja Günther stellt ihre Forschungsobjekte vor: ein gutes Dutzend
quiekender und pfeifender Meerschweinchen.
ATMO 1: kurz hoch, dann wieder unterlegen.
O-Ton 1 (Günther, Anja)
Meerschweinchen haben so im Schnitt zwei bis drei Jungtiere und diese Jungtiere ähnlich wie beim Menschen – unterscheiden sich in ihrer Persönlichkeit total
voneinander, obwohl sie eben von der gleichen Mutter in dem gleichen Wurf geboren
wurden, die gleichen Umweltbedingungen erlebt haben. Und das hat uns eben sehr
überrascht.
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ATMO 1: kurz hoch, dann wieder unterlegen.
O-Ton 2 (Günther, Anja)
Und der Kleinste im Wurf, der ist das absolute Gegenteil von seinen größten
Wurfgeschwistern. Wenn der Größte im Wurf sehr mutig ist, dann ist er eben sehr
schüchtern, sehr zurückhaltend, man könnte sagen, er ist so ein kleines
Mamasöhnchen.
ATMO 1: kurz hoch,
Titelansage:
„Schmusekatzen und Streuner – Wie Tiere ‚Persönlichkeit‘ entwickeln“. Eine
Sendung von Martin Hubert.
ATMO 1: kurz hoch, dann unterlegen und allmählich weg
Sprecher:
Immer mehr Forscher interessieren sich für die Frage, ob Tiere eine Persönlichkeit
haben – nicht nur in Bielefeld, sondern auch in Seewiesen, Münster und Berlin. Sie
untersuchen natürlich nicht nur Meerschweinchen.
O-TON 3 (Günther, Anja)
Die gängigste Definition von „Tierpersönlichkeit” ist ja, dass es eben
Verhaltensweisen sind, wo sich Tiere unterscheiden, die über die Zeit stabil bleiben.
Und das hat man tatsächlich schon bei so einfachen Tieren wie Muscheln
nachgewiesen, wo es darum geht, wenn man die anbläst, mit einem kleinen
Luftschlauch anbläst, dass die sich eben öffnen und dass diese Öffnungszeit oder
Schließzeit tatsächlich von Muschel zu Muschel unterschiedlich ist. Da gibt es
scheinbar keine wirklichen Grenzen.
Sprecher:
Hunde, Katzen, Schweine, Schimpansen oder Gorillas, Vögel und Fische. Kaum ein
Tier, bei dem nicht inzwischen nach persönlichen Eigenschaften gefahndet wird.
Tierbesitzer wundert das nicht. Sie wussten schon immer, dass ihre Katze Susi
frecher ist als Kater Rudolf, ihr Hund Robby mutiger als Bello. Die Wissenschaftler
hingegen erforschen erst seit kurzem das individuelle Tier. Lange Zeit dominierten
andere Fragen, erinnert sich der Verhaltensbiologe Prof. Norbert Sachser von der
Universität Münster.
O-Ton 4 (Sachser, Norbert)
Uns hat, man könnte sagen, mehr der Mittelwert interessiert. Was unterscheidet eine
bestimmte Tierart von einer anderen Tierart? Warum ist die Graugans anders als die
Kanadagans? Warum ist das Wildmeerschweinchen anders als das
Wieselmeerschweinchen?
Sprecher:
Charaktereigenschaften fielen höchstens auf, wenn es um den Unterschied zwischen
Wildtieren und Haustieren ging.
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O-Ton 5 (Sachser, Norbert)
Da kann man sehr klare Effekte sehen. Und das ist nicht nur „WildmeerschweinchenHausmeerschweinchen“. Sie kriegen sehr ähnliche Effekte, wenn Sie den Wolf mit
dem Hund vergleichen oder die Wildkatze mit der Hauskatze. D. h. wenn man die
Haustiere vergleicht mit den Wildtieren, dann sind sie in aller Regel friedlicher, sind
netter miteinander, die Haustiere, sie sind weniger aggressiv, sie vokalisieren mehr,
sie sind stimmfreudiger. Das Wildtier ist allerdings immer auch unter den gleichen
Bedingungen stärker auf die Umwelt hin gerichtet und stärker auf alle möglichen
Umweltreize hin fokussiert und nimmt die wahr. Aber dieses Muster: verstärktes
Sexualverhalten, verstärktes soziopositives Verhalten, verminderte Aggression,
verstärkte Vokalisation, das ist aber ein allgemeines Muster, was wir nur bei den
Haustieren finden, worauf sie im Lauf der Domestikation hin gezüchtet worden sind.
Sprecher:
Noch ein weiterer Grund verhinderte lange Zeit, dass Biologen die Persönlichkeit
erforschen: die Angst vor der so genannten „Anthropomorphisierung“, der
vorschnellen Vermenschlichung der Tiere. Wenn man Tiere als mutig, ängstlich oder
schüchtern bezeichnet, so fürchteten die Forscher, würden menschliche
Eigenschaften direkt aufs Tierreich übertragen. Allerdings könne man Tiere nicht
befragen, sondern nur ihr äußeres Verhalten beobachten. Daher wisse man nie, was
in ihrem Inneren genau vorgeht. Wissenschaftlerinnen wie Anja Günther in Bielefeld
sehen das heute gelassener:
O-Ton 6 (Günther, Anja)
Da muss man natürlich immer ein bisschen aufpassen, aber eigentlich ist es nicht so
schwer, wenn man sich immer wieder deutlich macht: interpretiere ich gerade oder
beschreibe ich gerade etwas?
Sprecher:
Der emeritierte Professor für Verhaltensbiologie an der Universität Bielefeld, Fritz
Trillmich, geht noch einen Schritt weiter. Er plädiert dafür, auch intuitiv die
Verbindung zu den Tieren zu suchen.
O-Ton 7 (Trillmich, Fritz)
Das lohnt sich mitunter, weil die uns ja doch sehr ähnlich sind, und weil wir natürlich
zumindest auf der emotionalen Ebene ganz ganz vieles, was wir haben, natürlich
auch bei Tieren wiederfinden. Also die Evolution läuft eben daraufhin hinaus, dass
viele Mechanismen, die bei den Tieren da sind, auch bei uns noch da sind in ganz
ähnlicher Weise, die dann vielleicht überformt werden, weil unser Großhirn massiv
größer geworden ist. Aber man sollte nicht unterschätzen, dass wir, wenn wir zum
Beispiel entscheiden, wir ja ganz häufig auch Bauchentscheidungen machen, die
ganz stark über die emotionale und nicht die rationale Schiene laufen. Und wenn wir
so etwas ähnliches bei Tieren gelegentlich mal wenigstens suchen, dann ist das
wahrscheinlich ein ganz vernünftiger Weg, auch da heranzukommen und sich
Eigenschaften von Tieren zunächst mal vorstellen zu können und dann zu sehen,
können wir die wirklich zeigen?
Sprecher:
Also denken sich die Biologen immer neue Experimente aus, um die persönlichen
Eigenschaften der Tiere zu erfassen. Norbert Sachser in Münster wollte wissen, ob
die Gene und die Umwelt dabei die allein entscheidende Rolle spielen.
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ATMO 2: Mäusepiepen, kurz frei, dann unterlegen.
Sprecher:
Als Mitglied eines größeren Forscherteams brachte Norbert Sachser circa 40
genetisch identische Mäuse in ein gemeinsames Gehege. Dort konnten sie ihren
Aktionsradius selbst bestimmen. Sie konnten selbst entscheiden, ob, wann und wo
sie Nahrung zu sich nehmen, herum klettern oder einfach nur faulenzen wollten.
O-Ton 8 (Sachser, Norbert)
Und da stellt man fest, wenn man das nur über einige Wochen laufen lässt, dass sich
auch da sehr stabile Individualitäten herausbilden.
Sprecher:
Persönlichkeitsunterschiede. Doch wie entstanden sie? Keine einfach zu
beantwortende Frage, meint Sachser.
O-Ton 9 (Sachser, Norbert)
Es können dann ja nicht die Gene sein, weil die sind alle gleich. Es ist auch nicht so
trivial zu sagen, na ja es ist die Umwelt, weil auch erst mal ist die Umwelt ja auch für
alle gleich, die sind in der gleichen Umwelt. Und trotzdem sieht man, wie mit
fortschreitendem Alter ein Tier, was immer aktiv war, auch immer aktiv bleibt und es
gibt welche, die sind eher sehr inaktiv. Mittlerweile haben wir Untersuchungen
gemacht, wo man zeigen kann: die, die aktiv sind und alles explorieren, spielen zum
Beispiel wenig. Die anderen, die eher in einem beschränkten Umfeld waren, zeigen
relativ viel Spielverhalten.
ATMO 2: Mäusepiepen, kurz hoch
Sprecher:
Es klingt fast so, als hätten sich hier mal abenteuerlustige und mal introvertiertere
Mäuse entwickelt. Norbert Sachsers Erklärungsversuch:
O-Ton 10 (Sachser, Norbert)
Man kann sich schon vorstellen, die Tiere interagieren miteinander, darüber
entstehen Beziehungen, Dominanzbeziehungen, aber auch, was wir oft vergessen
bei Tieren, soziopositive Beziehungen: Manche Tiere mögen sich mehr als andere,
manche setzen eher auf Dominanz. Es wird bei 40 Tieren ein ziemliches
Beziehungsgeflecht geben, was sich auch räumlich aufspalten wird in dem Ganzen.
Diese Prozesse haben wahrscheinlich, was wir neu gelernt haben in den letzten
Jahren, wieder Rückwirkungen auf das Genom der Tiere. Die haben zwar alle das
gleiche Genom. Aber es kann über die unterschiedlichen Erfahrungen zu einer
sogenannten epigenetischen Modifizierung des Genoms kommen. Was dann aber
wieder zurück wirkt auf das Verhalten auch. Und diese Prozesse sind in dem
Moment extrem spannend, wir verstehen da überhaupt noch nicht viel von.
Sprecher:
Die künstliche Situation, die das Forscherteam um Norbert Sachser für die Mäuse
geschaffen hat, belegt, dass weitere Faktoren neben den Genen und der Umwelt
Tierpersönlichkeiten beeinflussen: Wichtig sind auch die sozialen Beziehungen
zwischen den Tieren, ihr zufällig voneinander abweichender Aktionsraum in der
gemeinsamen Umwelt und die Rückwirkung der dabei gemachten Erfahrungen auf
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ihre Gene. Ein komplexer Zusammenhang mit vielen Facetten und unterschiedlichen
Stellschrauben. Um ihn Schritt für Schritt besser zu verstehen, picken sich Forscher
einzelne Aspekte heraus: Welche Bedingungen und Erfahrungen führen zu welchen
persönlichen Eigenschaften – und dient das immer dem biologischen
Fortpflanzungszweck?
ATMO 3: Wald- und Experimental-Atmo Seewiesen. Kurz frei, dann unterlegen
Sprecher:
Im dichten Waldgebiet von Seewiesen nahe am Starnberger See führt der
Niederländer Niels Dingemanse (Aussprache wie im Deutschen) ein mehrjähriges
Forschungsprojekt über Kohlmeisen durch, die größte europäische Meisenart.
ATMO 3: Wald- und Experimentalatmo kurz hoch.
Sprecher.
Tag für Tag vermessen seine Mitarbeiter ihre Forschungsobjekte neu. Sie
interessieren sich für die Körpergröße und das Gewicht der Kohlmeisen. Sie
registrieren ihre Atemfrequenz und nehmen ihnen Blut ab. Sie tragen die Ergebnisse
in eine Datenbank ein und vergleichen sie ständig mit den Daten der anderen
Kohlmeisen im Projekt. Notwendige Basisarbeit, meint Niels Dingemanse. Denn es
könne viele Ursachen dafür geben, warum Tiere eigene Wege gehen.
O-Ton 11 ( Dingemanse, Niels)
The first most basic idea is...its also a bit plastic.
Übersetzer:
Die erste und einfachste Idee, der wir nachgehen, lautet, dass sich einzelne Tiere
einfach in elementaren Zuständen und Eigenschaften unterscheiden. Zum Beispiel in
ihrer Größe, ihrem Gewicht oder in ihrer Stoffwechselrate, wie schnell sie also
Energie verbrauchen. Einige dieser Zustände bleiben relativ konstant, andere
verändern sich immer wieder.
ATMO 3 wird abgelöst durch ATMO 2 Waldatmo, Gezwitscher und
Rumpelgeräusche, kurz frei, dann unterlegen.
Sprecher:
Die Seewiesener Forscher führen zusätzlich Tests mit den Kohlmeisen durch. Zum
Beispiel den Explorationstest: wie erkundungsfreudig und neugierig sind die Vögel?
ATMO 4: Waldatmo, Gezwitscher und Rumpelgeräusche, kurz hoch
Sprecher:
Sie sperren eine Kohlmeise für kurze Zeit in einen Käfig, in dem verschiedene
Gegenstände liegen. Sofort beginnt der Vogel aufgeregt hin und her zu hüpfen und
zu fliegen, um die unbekannte Gegend zu erkunden. Eine Videokamera nimmt das
auf. Anschließend werten die Wissenschaftler aus, wie lange sich die Tiere in
bestimmten Regionen des Käfigs aufgehalten und wie oft sie die Region gewechselt
haben. Niels Dingemanse will mit solchen Experimenten überprüfen, ob die Theorie
der „Fitnesserwartung“ stimmt:
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O-Ton 12 (Dingemanse, Niels)
What this means is that if you....into actual numbers of offspring.
Übersetzer:
Das bedeutet, dass Tiere sicherstellen sollten, ihre Ressourcen nicht zu vergeuden,
wenn sie viel davon haben. Stellen Sie sich einen Vogel vor, der viele Ressourcen
besitzt. Er ist zum Beispiel jung und hat noch lange zu leben und lebt in einem
hervorragenden Territorium mit üppigen Nahrungsquellen, die er nutzen kann, um
viele Nachkommen hervorzubringen. Nachwuchs zu zeugen und aufzuziehen ist
aufwändig, man muss hart dafür arbeiten. Die Idee ist nun, dass Tiere mit guten
Zukunftserwartungen sicherstellen sollten, lange genug zu leben, sodass sie ihre
Ressourcen in wirkliche Fitness umwandeln können, also in eine große Zahl von
Nachkommen.
Sprecher:
Allzu viel Entdeckungslust könnte Tiere leicht in risikoreiche Situationen bringen und
ihr Leben gefährden. Tiere mit hoher Fitnesserwartung, die in üppigen Umwelten mit
großen Futterressourcen leben, sollten also weniger neugierig und
erkundungsfreudig sein. Tiere, denen solche Ressourcen fehlen, sollten dagegen
entdeckungsfreudiger und risikobereiter handeln. Die bisherigen Tests in Seewiesen
bestätigen das bei den Kohlmeisen. Sie zeigen auch, dass die „Fitnesserwartung“
beeinflusst, wie aggressiv die Tiere sind. Dazu führt Niels Dingemanse verblüffende
Tests durch.
ATMO 5: Seewiesen Aggressionstest mit Vogelstimmen, Flüstern Dingemanse, kurz
frei stehen lassen, dann unterlegen
Sprecher:
Ein Nistkasten an einem Baum. Zusammen mit einer Mitarbeiterin hat sich Niels
Dingemanse in der Nähe versteckt und beobachtet den Baum gespannt. Denn vor
dem Nistkasten haben beide die lebensechte Attrappe einer besonders großen und
starken Kohlmeise aufgestellt, einen Konkurrenten für das Kohlmeisen-Männchen,
das den Nistkasten momentan benutzt. Zusätzlich spielen sie aus einem
Lautsprecher aggressive Gesänge des scheinbaren Konkurrenten ein.
ATMO 5: kurz hoch, dann wieder unterlegen
Sprecher:
Wird das Kohlmeisen-Männchen zu seinem Nistkasten kommen, um den Rivalen
anzugreifen und zu verjagen?
ATMO 5: wieder hoch / Mitarbeiterin flüsternd: Here in 15 meters, Vogelstimmen.
Kurz frei, dann wieder unterlegen
Sprecher
Tatsächlich erscheint das Männchen und fliegt um den Baum herum. Es greift den
künstlichen Konkurrenten aber nicht an. Es gibt noch nicht einmal Alarmrufe von
sich, sondern pfeift seinen ganz normalen Gesang. Anders als in anderen
Experimenten, in dem die Vögel die Attrappe regelrecht zerrissen.
ATMO 5 weg
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Sprecher:
Niels Dingemanse und seine Mitarbeiter haben diesen Aggressionstest zu
verschiedenen Zeiten der Brutsaison durchgeführt. Sie wollen herausfinden, wann
sich ein Vogel eher mutig und aggressionslustig verhält, wann eher scheu und
zurückhaltend. Das Ergebnis:
O-Ton 13 (Dingemanse, Niels)
Individuals where we increase the assetts... of the adaptive personality theory.
Übersetzer:
Tiere, bei denen wir die Ressourcen- und Fitnesserwartung willkürlich erhöht haben,
werden tatsächlich danach vorsichtiger, passiver und scheuer – Tiere, deren
Ressourcen wir verringert haben, werden mutiger und aggressiver. Die Tiere passen
ihre Verhaltensmuster den Umweltbedingungen an. Das ist ein Beleg für die adaptive
Persönlichkeitstheorie.
Sprecher:
Laut dieser Theorie haben Persönlichkeitseigenschaften bei Tieren den Zweck, sie
an die soziale und natürliche Umwelt anzupassen. Das bedeutet auch, dass die Tiere
in ihren persönlichen Eigenschaften flexibel sein müssen, um auf sich ändernde
Umweltsituationen reagieren zu können. Es gibt also einerseits ein persönliches
Grundmuster: manche Tiere sind neugieriger und aggressiver als andere.
Andererseits hält sich aber selbst der aggressivste und neugierigste Vogel zurück,
wenn er über gute Ressourcen verfügt.
ATMO 1: Meerschweinchen, kurz frei dann unterlegen und allmählich weg
Sprecher:
In Bielefeld stieß auch Anja Günther bei ihren Meerschweinchen auf solche
Zusammenhänge.
O-Ton 14 (Günther, Anja)
Junge Meerschweinchen, die in den Frühling hineingeboren werden, sind deutlich
mutiger, deutlich explorativer, werden viel schneller geschlechtsreif, können also
schneller selber anfangen sich fortzupflanzen und haben daran auch eine
angepasste Physiologie, d. h., was wir gemessen haben ist die sogenannte „resting
metabolic rate“, das ist quasi der Umsatz, also wie viel ein Tier umsetzt, um seinen
Körper am Laufen zu halten. Das ist eben alles angepasst an diese
Frühlingssituation.
Sprecher:
Im Frühling stehen die Chancen gut, genügend Futter zu bekommen, sodass es sich
lohnt, die Umwelt rasch zu erobern und sich fortzupflanzen. Ganz anders im Herbst,
wo der harte Winter bevorsteht und es besser ist, erst einmal abzuwarten.
O-Ton 15 (Günther, Anja)
Werden die Jungtiere in den Herbst rein geboren, dann sind Jungtiere sehr
schüchtern, vergleichsweise inaktiv und haben eben auch wieder eine angepasste
Physiologie. Das kann man tatsächlich weiterverfolgen, ja, und das ist, mittlerweile
haben wir getestet, mindestens zwei Jahre konstant.
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Sprecher:
Die Lebensumstände bei der Geburt beeinflussen die persönlichen Eigenschaften
der Tiere also nachhaltig. Solche Entdeckungen haben die Forscher auf die Frage
gebracht, ob es Phasen der tierischen Persönlichkeitsentwicklung gibt, die denen
beim Menschen ähneln. Welche Perioden beeinflussen die Persönlichkeit besonders
stark, welche bieten die Chance, die Persönlichkeit zu verändern? Wie stark werden
persönliche Eigenschaften zum Beispiel schon vorgeburtlich, also während der
Schwangerschaft festgelegt? Um das herauszufinden vergleicht Norbert Sachser bei
seinen Meerschweinchen trächtige Mütter, die mal in einer stabilen und mal in einer
instabilen und stressigen Umwelt leben. Den Nachwuchs legt er dann seinen
Studenten zur Begutachtung vor.
ATMO 1: Meerschweinchen, kurz einblenden und allmählich weg
O-Ton 16 (Sachser, Norbert)
Wenn wir da vier Weibchen haben, wo die Mütter in einer stabilen Umwelt gelebt
haben, dann sagen die Studierenden nachher immer, das müssen alles Weibchen
sein. Und wenn wir sie vor eine Gruppe von Weibchen setzen, die aber von Müttern
abstammen, die soziale Instabilität erlebt haben während der Trächtigkeit, dann
sagen die: da müssen mindestens 2-3 Männchen mit drin sein, obwohl es alles
Weibchen sind. Es sind ganz dramatische Verhaltensunterschiede. Man beschreibt
die wissenschaftlich als „Verhaltensmaskulinisierung“. Das heißt, plötzlich zeigen
diese Töchter Verhaltensweisen, die man normalerweise nur von den männlichen
Tieren kennt. Sie zeigen Männchen typisches Werbe- und Sexualverhalten, sie
spielen auch viel mehr, sind wesentlich aktiver, sind auch etwas aggressiver.
Sprecher:
Norbert Sachsers Erklärung: Der Nachwuchs wird an die instabile und gefährliche
Umwelt angepasst, in der die Mutter selbst aufgewachsen ist. Er wird robust und
aggressiv, um sich in einer solchen Umwelt behaupten und mit anderen um knappe
Ressourcen konkurrieren zu können, Geschlecht hin oder her.
O-Ton 17 (Sachser, Norbert)
Man kann das alles darauf zurückführen, dass die unterschiedliche Umwelt der
Mütter den Hormonhaushalt der Mütter beeinflusst. Diese Hormone, das ist die
Theorie, die sehr plausibel ist, gehen durch die Plazenta, gelangen in den
embryonalen Blutkreislauf und beeinflussen dann die Gehirnentwicklung und das
führt dazu, dass wir einmal verhaltensmaskulinisierte Töchter haben und einmal
solche, die sich eher Weibchen typisch verhalten.
Sprecher:
Nächste Lebensphase: die Zeit unmittelbar nach der Geburt. Auch hier ist der
Einfluss der Eltern – ähnlich wie beim Menschen – beträchtlich.
O-Ton 18 (Sachser, Norbert)
Es ist sehr gut untersucht an den verschiedenen Tierarten, dass die Mütter von
herausragender Bedeutung für den Verhaltenscharakter der Nachkommen auch
sind: besonders eindrucksvolle Studien auch zum Beispiel bei Ratten, wo man
zeigen kann, es gibt gute und schlechte Mütter mit viel mütterlicher Fürsorge oder
wenig mütterlicher Fürsorge. Das führt sogar zur Veränderung bestimmter Gene,
dieses unterschiedliche mütterliche Verhalten, zu einer Modifizierung von Genen in
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bestimmten Arealen des Gehirns, die dann wiederum für die Verhaltenssteuerung
zuständig sind, die dazu führen, dass dann die Nachkommen entweder ängstlicher
oder weniger ängstlich sind, dass sie besonders gute kognitive Fähigkeiten haben
oder weniger gute kognitive Fähigkeiten. Dass wenn die Nachkommen dann selbst
wieder trächtig werden und Nachkommen haben, dass sie dann auch wieder gute
oder schlechte Mütter sind.
Sprecher:
In gewissem Maße pflanzen sich Persönlichkeitseigenschaften auch bei den Tieren
über die Generationen hinweg fort. Wie stark ist die Persönlichkeit der Tiere aber
tatsächlich durch vorgeburtliche und nachgeburtliche Einflüsse der Eltern lebenslang
festgelegt? Menschen gesteht man vor allem dann zu, eine authentische
Persönlichkeit zu besitzen, wenn sie sie selbständig mitgeprägt haben. Entscheidend
dafür ist die Adoleszenz, in der sich die Nervenverbindungen im Gehirn noch einmal
aufgrund neu gemachter Erfahrungen verändern. Das menschliche Gehirn ist
plastisch, gestaltbar, sagen die Wissenschaftler: es versetzt den Einzelnen in die
Lage, sich vom Einfluss seiner Herkunft in gewissem Ausmaß zu lösen. Und das
tierische Gehirn?
O-Ton 19 (Sachser, Norbert)
Wir wissen, dass aufgrund einzelner Erfahrungen neue Verzweigungen gebildet
werden können und da sehe ich auch keinen prinzipiellen Unterschied zwischen
Mensch und Tier. Man kann darüber diskutieren über das Ausmaß der Plastizität, da
können vielleicht Unterschiede sein. Aber was wir sicherlich gelernt haben ist, dass
Adoleszenz eine Phase von sehr hoher Plastizität ist, die auch mit Veränderungen in
der Tierpersönlichkeit einhergehen. In der Adoleszenz befinden sich die
Nachkommen plötzlich in einer Phase, wo sie noch einmal checken können: in welch
einer Welt lebe ich jetzt eigentlich, hat mich meine Mutter eigentlich richtig
programmiert?
ATMO 1: Meerschweinchen, kurz einblenden, dann allmählich weg
Sprecher:
Norbert Sachser ließ männliche Meerschweinchen im adoleszenten Alter manchmal
nur mit einem Weibchen aufwachsen, manchmal in einer großen Gruppe von
Meerschweinchen. Dann konfrontierte er die Männchen mit einem völlig fremden
Artgenossen. Das Meerschwein, das nur mit einem Weibchen aufgewachsen war,
wurde sofort aggressiv. Das Tier aus der großen Kolonie dagegen blieb friedlich und
arrangierte sich. Das sei eine direkte Folge der jugendlichen
Sozialisationserfahrungen, meint Norbert Sachser.
O-Ton 20 (Sachser, Norbert)
Wenn die jungen Männchen in so einer großen Kolonie heranwachsen, dann werden
sie auch geschlechtsreif und dann werden sie in Auseinandersetzung mit den älteren
dominanten Männchen verwickelt. Und man kann sehen, dass sie in diesen
Interaktionen mit den älteren Männchen lernen, wie sie sich zu arrangieren haben.
Sie lernen auch so triviale Sachen wie „ Du darfst nicht jedes Weibchen, was da ist,
umwerben“. Sie lernen: sonst kommt jemand und jagt mich davon. Und lernen zum
Beispiel die Regel, wenn sie später allein auf ein fremdes Weibchen treffen, genau
drei Stunden zu warten, bis sie mit dem Werbeverhalten anfangen.
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ATMO 1: Meerschweinchen, kurz hoch
O-Ton 21 (Sachser, Norbert) Fortsetzung
Wenn ich aber ein Männchen jetzt nehme, das nur mit einem Weibchen groß
geworden ist, das hat diese Regel nicht gelernt, d. h. in der Adoleszenz lernt dieses
Tier dann auch nicht, wie man mit Konflikten umgeht und das sind dann rein
instinktive Muster. Sobald die ein fremdes Männchen sehen, greifen die an, sobald
die ein fremdes Weibchen sehen, zeigen die intensives Werbe- und Sexualverhalten.
Sprecher:
Für Norbert Sachser ist damit klar, dass die Persönlichkeit von Tieren ein Produkt
mehrerer Phasen ist: zunächst dominiert der Einfluss der Eltern, aber dann kommen
wie beim Menschen die während der Adoleszenz neu gemachten Erfahrungen hinzu.
Die Persönlichkeit wird nun noch einmal sozial und kulturell überformt.
O-Ton 22 (Sachser, Norbert)
Man sollte aber auch fairerweise sagen, dass wir momentan – aber das gilt auch für
Mensch und Tier – sehr wenig davon wissen, wie die Effekte der einzelnen Phasen
eigentlich miteinander verrechnet werden und wie viel überhaupt noch neu gebildet
werden kann, wie viel rückgängig gemacht werden kann. Für mich ist aber eine der
spannendsten Sachen, dass wir gelernt haben, dass die Plastizität bei Mensch und
Tier viel, viel größer ist, als wir noch vor 30 Jahren angenommen haben.
Sprecher:
Noch bleibt die Persönlichkeit der Tiere rätselhaft. Die Biologen kennen viele
Einflussfaktoren, können Tiereigenschaften auf das biologische Bedürfnis beziehen,
zu überleben und sich zu reproduzieren – aber wie genau all diese Faktoren und
Phasen zusammenwirken, wissen sie nicht. Einige Beispiele aus dem Tierreich
zeigen überdies unmissverständlich, dass manche Tiere durchaus persönliche
Eigenschaften haben, die alles andere als biologisch sinnvoll sind. Fritz Trillmich vom
Bielefelder Institut.
O-Ton 23 + 24 (Trillmich, Fritz)
Ein immer sehr nettes Beispiel sind eben die Spinnen, bei denen die Weibchen sehr
viel größer sind als die Männchen und gerne mal da auch ein Männchen fressen.
Und es gibt bei diesen Spinnen so aggressive Tiere, dass sie gar nicht tatsächlich
zur Kopula kommen, sondern vorher ihr Männchen auffressen. Das ist dann natürlich
nicht mehr so richtig zielführend. … // Es gibt aber genug Spinnen, die ihr Männchen
erst auffressen, nachdem es mit ihnen kopuliert hat, die dementsprechend noch
Fortpflanzungserfolg haben. Aber es gibt genau so auch Spinnen, die da weniger
aggressiv gegenüber den Männchen sind und wo die Männchen dann auch wieder
entkommen können. Also da zeigt sich ganz deutlich, dass eben die Tiere sehr
unterschiedlich sind.
Sprecher:
Wie könnten die Biologen diese Vielfalt in den Griff bekommen? Eine Möglichkeit
bestünde darin, die Tierpersönlichkeit auf einige zentrale Kategorien herunter zu
brechen. Sie könnten sich dabei an den Humanpsychologen orientieren. Die
benutzen oft fünf Kategorien, um menschliches Verhalten zu kennzeichnen, die
berühmten „Big Five”: Wie neurotisch ist ein Mensch und wie introvertiert? Ist er offen
für neue Erfahrungen, ist er gewissenhaft und wie verträglich?
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Norbert Sachser meint, es sei durchaus lohnenswert, das auch bei Tieren zu
diskutieren.
O-Ton 25 (Sachser, Norbert)
Also Big Five ist ein Thema, oder zumindest in der Anfangsphase, als es losging mit
dem Thema animal personalities, da ist es zum Teil auch von amerikanischen
Psychologen mit hinein gebracht worden. Und spätestens wenn wir mit Primaten
arbeiten, mit Menschenaffen oder so, dann wüsste ich nicht, warum wir nicht die Big
Five nehmen sollten als sinnvolles Konzept.
Sprecher:
Fritz Trillmich hingegen ist skeptisch – nicht nur bei den Primaten.
O-Ton 26 (Trillmich, Fritz)
Ob man diese Big Five jetzt so ernst nehmen muss, dass man sagen muss, die gibt
es wirklich und das ist das allein Seligmachende, würde ich nicht so sehen.
Sprecher:
Norbert Sachser bleibt trotzdem vorsichtig optimistisch.
O-Ton 27 (Sachser, Norbert)
Das würde ich dann doch differenzieren, ich sehe nicht, dass im Moment viel dafür
spricht, die Big Five wirklich eins zu eins auf den Blattkäfer zu übersetzen. Aber
wenn wir bei Säugetieren sind, vielleicht auch bei Rabenvögeln, dann ist es den
Versuch wert, das mal konzeptionell zu diskutieren. Was können wir davon nehmen,
um für eine Theoriebildung das auf Tiere anzuwenden?
ATMO 6: kauendes Meerschweinchen. Beginnt unter dem letzten O-Ton, kurz hoch,
dann unterlegen und allmählich weg.
Sprecher:
Viele der Meerschweinchen im Bielefelder Gehege zucken zusammen und flüchten,
wenn ihnen ein Reporter-Mikrofon zu nahe kommt. Nur einige bleiben ruhig. Ein
Meerschweinchen mit braunen Flecken lässt das Mikrofon sogar ganz nah an sich
heran und beißt seelenruhig auf der Paprika weiter, die es ergattert hat. Noch kann
die Wissenschaft nicht sicher sagen, ob es nur besonders mutig ist oder auch sehr
introvertiert oder einfach ein gewissenhafter Esser. Ob es ihr überhaupt einmal
gelingen wird, die innere geistige Welt von Tieren zu verstehen, ist fraglich – ist das
doch in letzter Konsequenz schon beim Menschen schwierig. Hinter die Einsicht,
dass auch Tiere individuell zu betrachten sind, wird die Forschung aber nicht mehr
zurück können.
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