Mami, ich sehe doppelt!

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d e r b e s o n d e r e fa l l
Mami, ich sehe doppelt!
Marco Patrick Luràa, Filippo Donatib, Reto Villigera
a
b
Kinderklinik Wildermeth, Spitalzentrum Biel
Neurologie, Spitalzentrum Biel und Inselspital Bern
Fallschilderung
Ein 8½-jähriger Knabe wurde uns wegen neu aufgetretener Doppelbilder sowie einer rechtsseitigen Ptose
zur Abklärung zugewiesen. Er berichtete, dass er am
Vorabend beim Verlassen der Badeanstalt ein «komisches» Sehen sowie Doppelbilder bemerkt habe. Nach
einem Intervall von einigen Stunden waren die Symptome regredient. Der Knabe klagte lediglich noch über
einen gewissen Druck über dem rechten Auge, so dass
zunächst abgewartet wurde. Am Folgetag erwachte er
mit Doppelbildern, den Eltern fielen zudem ein Strabismus und ein hängendes Augenlid rechts auf, weshalb
die Vorstellung beim Kinderarzt erfolgte. Anamnestisch
konnte kein Unfall eruiert werden, der Knabe gab lediglich an, am Abend zuvor mehrfach vom Sprungturm ins
Wasser gesprungen zu sein, ohne sich dabei zu verletzen. Weder aktuell noch in den letzten Tagen sei es
zu Kopfschmerzen gekommen. Infektzeichen wie Husten, Schnupfen, Durchfall oder Fieber wurden verneint,
ebenso Erbrechen. Der Knabe war in den letzten
Wochen voll leistungsfähig gewesen.
Was die persönliche Anamnese anbelangt, berichtete
die Mutter über bisher gute Gesundheit; beim Knaben
sei lediglich ein Asthma bronchiale bekannt, welches
aktuell keine Schwierigkeiten bereite. Im Laufe des
Sommers sei er mehrmals von Zecken gestochen worden, ohne eine wandernde Rötung oder andere Symptome zu entwickeln. Familienanamnestisch gibt es
keine Migränen, keine Gerinnungsstörungen oder vaskulären Fehlbildungen. Jedoch gab die Mutter an, vor
einigen Jahren eine isolierte Optikusneuritis durchgemacht zu haben, welche unter einer einwöchigen
Kortikosteroid-Therapie wieder verschwunden war.
Die klinische Untersuchung auf unserer Notfallstation
zeigte einen afebrilen, 8½-jährigen Knaben in gutem
Allgemeinzustand, Puls 82/min, Blutdruck 102/73 mm
Hg. Er klagte über Doppelbilder in alle Blickrichtungen,
wies eine ausgeprägte Ptose des rechten Augenlids auf
sowie eine deutlich eingeschränkte Motilität des rechten Auges in der Elevation, Senkung und Adduktion,
nicht jedoch in der Abduktion (Abb. 1 x). Die Augenruhestellung zeigte eine kombinierte Exotropie (Auswärtsschielen) und Hypotropie (Abwärtsschielen). Die
Motilität des linken Auges war unauffällig. Die Pupillen
waren leicht anisokor (rechts etwas weiter als links),
reagierten aber beide prompt auf Licht. Die Fundoskopie war unauffällig. Der restliche Neurostatus, insbesondere die Untersuchung der restlichen Hirnnerven,
war unauffällig, und es zeigte sich kein Meningismus.
In der ophthalmologischen Untersuchung konnte bei
rechtsseitig unauffälligem Augenfundus, fehlender
Afferenzstörung sowie korrigierbarer Myopie mit Astigmatismus eine gleichzeitige Beteiligung des N. opticus
weitgehend ausgeschlossen werden.
Die Lumbalpunktion ergab einen farblosen Liquor
mit normaler Zellzahl. Die chemische Analyse war
ebenfalls normal. Die Proteinanalyse im Liquor war
unauffällig, es waren keine oligoklonalen IgG-Banden
nachweisbar. Ausserdem zeigte sich keine intrathekale
Synthese von IgG und IgM gegen Borrelien. Im Blut
waren die Serologien für Borrelien, EBV, FSME sowie
CMV negativ. Es erfolgte eine notfallmässige Computertomographie, welche weder ossäre noch parenchymatöse Veränderungen im Bereich des Gesichtsschädels
und Neurokraniums zeigte.
Am zweiten Hospitalisationstag hatte die Ptose des
rechten Augenlids so stark zugenommen, dass das
Abbildung 1
Test der Augenmotilität (von links nach rechts): in Ruhe, Blick nach rechts, Blick nach links, Blick nach oben, Blick nach unten
(das schriftliche Einverständnis des Patienten bzw. seiner Eltern zur Publikation der Abbildung liegt vor).
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Auge vollständig verschlossen war. Dazu liess sich eine
ausgeprägtere Anisokorie sowie eine Unmöglichkeit
der Akkommodation feststellen. Zur detaillierten ätiologischen Abklärung wurde ein MRI des Schädels inkl.
Angio-MRI durchgeführt. Auch diese Untersuchungen
fielen normal aus, insbesondere bestand kein Hinweis
auf einen raumfordernden Prozess im Verlauf des
N. oculomotorius oder für ein Aneurysma der Arteria
cerebri posterior rechts. Es konnten somit insgesamt
sämtliche bedeutenden Ursachen einer isolierten
Okulomotoriusparese ausgeschlossen werden, und der
Knabe wurde mit der Diagnose einer idiopathischen
Okulomotoriusparese nach Hause entlassen.
Sobald die Ptose das rechte Auge nicht mehr verdeckte,
musste der Knabe prismatische Brillengläser tragen,
um den alltäglichen Aktivitäten nachgehen zu können.
Im Verlaufe der folgenden zwei Monate kam es zu einer
vollständigen Regredienz der Parese, und während der
Beobachtungszeit von nun sechs Monaten trat kein
Rezidiv auf.
Diskussion
Isolierte Okulomotoriusparesen im Kindesalter sind
sehr selten. Eine epidemiologische populationsbezogene Studie der Olmsted County in Minnesota über das
Vorkommen von Paresen der Hirnnerven III, IV und
VI zeigte über eine Periode von 15 Jahren eine jährliche Inzidenz von 7,6/100 000 für Einwohner unter
18 Jahren. Die Okulomotoriusparese war mit 22% am
seltensten repräsentiert (Inzidenz 1,7/100 000) [1].
Ätiologisch kommen bei Kindern kongenitale Okulomotoriusparesen am häufigsten vor [1–3]. Bei den erworbenen Formen ist die traumatisch bedingte (meist
schwere Verkehrsunfälle) führend und in den letzten
Jahren deutlich zunehmend [2, 4], gefolgt von infektiösen resp. parainfektiösen Ursachen (inklusive MillerFisher-Syndrom). Daneben werden auch neoplastische,
vaskuläre oder Migräne-assoziierte Formen beschrieben [1–3]. Schliesslich gibt es, wie im vorliegenden Fall,
die idiopathische Form. Obwohl sehr selten im Kindesalter, muss man bei gewissen Grunderkrankungen
wie polyzystischen Nieren, Aortenisthmusstenose oder
Ehlers-Danlos-Syndrom an zerebrale Aneurysmen als
Ursache denken und diese ausschliessen [4]. Differentialdiagnostische Überlegungen müssen auch Orbitapathologien wie Frakturen, Neoplasien oder Entzündungen,
aber auch Augenmuskelpathologien wie die kongenitale Fibrose der äusseren Augenmuskeln oder die
Myasthenia gravis berücksichtigen.
Die Diagnostik bei Okulomotoriusparesen stützt sich
primär auf die bildgebende Diagnostik des Neurokraniums und der Orbitahöhle sowie auf Untersuchungen
des Liquors bei Zeichen einer meningealen Reizung
oder Verdacht auf Infektionen des ZNS. Spezifische
Literatur zur Diagnostik bei Kindern ist uns nicht bekannt. Eine CT-Untersuchung ist heutzutage in den
meisten Kliniken am einfachsten und schnellsten durchzuführen, weshalb sie für eine erste Evaluation am
ehesten in Frage kommt. Des weiteren wird in der Literatur empfohlen, eine MRI-Untersuchung und wenn
möglich sogar eine MR-Angiographie sowie in komplexen Fällen ein High-resolution-MRI durchzuführen [5, 6].
Die Behandlung sollte primär die auslösenden Faktoren
bekämpfen, im Sinne einer Kausaltherapie. Bei persistierenden Paresen müssen prismatische Brillengläser,
Okklusionstherapie und als Ultima Ratio eine chirurgische Korrektur in Betracht gezogen werden. Eine
durch Schumacher-Feero et al. durchgeführte Untersuchung des Outcomes bei Okulomotoriusparesen von
49 Kindern mit einem durchschnittlichen Follow-up
von 5½ Jahren zeigte einen deutlich besseren Spontanverlauf bei nur partiellen Paresen: 15 von 32 Augen
zeigten eine teilweise oder totale Regredienz, während
bei kompletten Paresen (total 21 Augen) überhaupt
keine Regredienz feststellbar war [3]. Allerdings litt der
überwiegende Anteil der untersuchten Kinder an einer
kongenitalen oder traumatischen Okulomotoriusparese. Spezifische Zahlen für idiopathische Formen sind
uns nicht bekannt, jedoch dürfte die Spontanheilungsrate deutlich höher liegen.
Die wichtigste Komplikation der Okulomotoriusparese
im Kindesalter ist die Amblyopie. Mudgil und Repka
zeigen in ihrer Studie mit 41 Kindern im Alter von unter
acht Jahren, dass 35% im Verlaufe an einer Amblyopie
litten [2]. Andere Quellen gehen von 50 bis 70% aus [3].
Zur Prävention wird eine Abdecktherapie durchgeführt.
Gemäss der Studie von Schumacher-Feero et al. vermag
diese allerdings den bei Beginn der Parese vorhandenen
Visus nicht zu verbessern, sondern lediglich zu erhalten [3].
Nach einer Analyse der Literatur können wir festhalten,
dass der von uns geschilderte Fall eines 8½-jährigen
Knaben mit einer idiopathischen einseitigen kompletten
Parese der motorischen sowie parasympathischen Fasern des N. oculomotorius mit vollständiger Spontanheilung eine Seltenheit darstellt.
Korrespondenz:
Marco Patrick Lurà
Kinderklinik Wildermeth
Spitalzentrum Biel
CH-2501 Biel/Bienne
[email protected]
Literatur
1 Holmes JM, Mutyala S, Maus TL, Grill R, Hodge DO, Gray DT. Pediatric third, fourth, and sixth nerve palsies: a population-based study.
American Journal of Ophthalmology. 1999;127:388–92.
2 Mudgil AV, Repka MX. Ophthalmologic outcome after third cranial
nerve palsy or paresis in childhood. Journal of American Association
for Pediatric Ophthalmology and Strabismus. 1999;3:2–8.
3 Schumacher-Feero LA, Yoo KW, Mendiola Solari F, Biglan AW. Third
cranial nerve palsy in children. American Journal of Ophthalmology.
1999;128:216–21.
4 Ing EB, Sullivan TJ, Clarke MP, Buncic JR. Oculomotor nerve palsies
in children. J Pediatr Ophthalmol Strabismus. 1992;29:331–6.
5 Blake PY, Mark AS, Kattah J, Kolsky M. MR of oculomotor nerve palsy.
AJNR Am J Neuroradiol. 1995;16:1665–72.
6 Kau HC, Tsai CC, Ortube MC, Demer JL. High-resolution magnetic
resonance imaging of the extraocular muscles and nerves demonstrates various etiologies of third nerve palsy. American Journal of
Ophthalmology. 2007;143:280–7.
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