11.2 Genetik ausgewählter neurologischer

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Neurologische Erkrankungen
II
0%
H
Merke
Genetische und Umweltfaktoren spielen beim Erkrankungsalter und Verlauf von neurologischen
Erkrankungen eine besondere Rolle. Umfangreiche Studien aufgrund von Einzelgenanalysen und
von genomweiten Untersuchungen wurden für
fast alle Erkrankungsgruppen durchgeführt, haben aber gegenwärtig für die genetische Beratung eines Patienten keine Bedeutung.
11.2 Genetik ausgewählter
neurologischer Erkrankungen
11.2.1 Neurologische Erkrankungen mit dystonen Bewegungsstörungen
Das Spektrum der Dystonien reicht von fokalen
Formen wie Schreibkrampf, Blepharospasmus oder
Tortikollis über die segmentalen Dystonien bis hin
zu den generalisierten Dystonien. Die unterschiedlichen Symptome können sowohl im Kindesalter
wie auch bei Erwachsenen erstmalig auftreten. Klinisch unterscheidet man eine das Krankheitsbild
dominierende Dystonie, die dann meist mit einem
Penetranz
100%
Multiplex
Familien
homozygote Mutationsträger
in Parkin/PINK 1/DJ-1
Leucin-reiche Repeatkinase
(G2019S)
α-Synuclein-Polymorphismen
heterozyote Mutationsträger
in Parkin oder PINK1
ParkinsonErkrankung
genetische oder
umweltbedingte
Erkrankungsmodifikation
sporadisch
Abb. 11.1 Schematische Darstellung unterschiedlicher Penetranz bekannter Krankheitsgene und genetischer Risikofaktoren, die den Einfluss von genetischen Modifiern bei der Manifestation der Erkrankung darstellen, am Beispiel des
Morbus Parkinson (Quelle:[36]).
248
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nischen Familie bestätigt werden konnten [64].
Gut belegt ist auch der Val66Met-Polymorphismus
im BDNF-Gen bei der Parkinson-Erkrankung [33],
zumindest für die sog. sporadischen Erkrankungen; eine Rolle bei den genetischen Unterformen
ist fraglich.
Für die Suche nach genetischen Modifiern
scheinen insbesondere Erkrankungen mit einer
monogenen Ursache und inkompletter Penetranz
geeignet zu sein, wie die LRRK2-assoziierte Parkinson-Erkrankung (PARK8) (▶ Abb. 11.1) mit einer
Penetranzrate von 60–70 % oder auch die DYT 1Torsionsdystonie mit einer Penetranzrate von nur
30 % [7], [35], obwohl funktionelle Bildgebung des
Gehirns auf Veränderungen auch bei nicht manifestem Mutationsträger hinweist. Hier wurden interessanterweise Aminosäurepolymorphismen im
Gen in cis- und trans mit der Manifestation der Erkrankung assoziiert [51]. Als weiterer Hinweis,
dass bei DYT 1-Dystonie genetische Faktoren die
Manifestation beeinflussen, können Mausmodelle
dienen, bei denen ein unterschiedlicher genetischer Hintergrund zu einem unterschiedlichen
Manifestationsalter führt [60].
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
Isolierte Dystonien
Von der Häufigkeit her bedeutend ist die DYT 1Dystonie, die durch eine Hauptmutation, einer InFrame-GAG-Deletion (∆E) im Torsin-A-Gen, verursacht wird (die kausale Bedeutung weiterer sehr
seltener Mutationen ist bisher nicht eindeutig geklärt). DYT 1 macht bis zu 50 % aller früh manifestierenden Dystonien aus. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 13 Jahre, allerdings breitet sich
die Dystonie innerhalb von 5 Jahren aus, sodass
mit einer Generalisierung bis hin zur Rollstuhlpflichtigkeit gerechnet werden muss. Dennoch
sind Einzelfälle mit nur einem Schreibkrampf als
einziger Manifestation beschrieben. Klinisch und
genetisch interessant ist, dass nur ca. 30 % der Mutationsträger bis zu einem Alter von Mitte 20 erkranken. Überschreitet man diese Altersgrenze
symptomfrei, wird man im weiteren Laufe seines
Lebens nicht erkranken, obwohl funktionelle MRT
Aufnahmen einen veränderten Metabolismus im
Gehirn nachweisen. Die Ursachen dafür sind nicht
geklärt, man ist jedoch sicher, dass hier weitere
genetische Faktoren eine Rolle spielen.
Als klinisch sehr variabel auch hinsichtlich der
betroffenen Körperregionen (Halsmuskulatur, Laryngeal) gilt die DYT 6-Dystonie, die sich im Alter
zwischen 6 und 49 Jahren manifestiert. Zahlreiche
Mutationen im Transkriptionsfaktor THAP1 sind
beschrieben. Auch hier findet man eine reduzierte
Penetranz (60 %).
Spät manifestierende Dystonien
Diese Gruppe der Dystonien hat oftmals nur eine
fokale Manifestation und einen leichteren Verlauf.
Obwohl die meisten Unterformen dem autosomaldominanten Erbgang folgen, ist eine Stammbaumanalyse aufgrund von Penetranzraten um die 10 %
oft nicht als alleinige Entscheidungshilfe für eine
genetische Testung geeignet. Während die Bedeutung von Mutationen im CIZ1-Gen (DYT 23) und
im ANO3-Gen (DYT 24) noch näher untersucht
werden muss, scheinen Mutationen im GNAL-Gen
(DYT 25) eine größere Bedeutung zu haben. Sie
sollen bis zu 19 % der Familien insbesondere mit
zervikaler Dystonie erklären. 44 % der Patienten
zeigen Auffälligkeiten beim Sprechen. Als Erstmanifestation findet sich fast nie eine Beteiligung
der Arme und nur bei ⅓ der Mutationsträger ist
diese Muskulatur im Krankheitsverlauf beteiligt
[18].
11
Kombinierte Dystonien
Zu dieser Gruppe gehören die doparesponsiven
Dystonien, auch als Segawa-Syndrom in der Literatur geführt (DYT 5). Auch wenn sie sehr selten
ist, sollte man sie nicht übersehen, da sie in der Regel mit L-Dopa gut therapierbar ist. Typisch für
diese Dystonieform, die üblicherweise in den unteren Extremitäten im Kindesalter beginnt, ist die
Verschlechterung der Symptomatik während des
Tages. Obwohl autosomal-dominant vererbt, sind
Frauen 2- bis 4-mal häufiger symptomatisch als
Männer. Die Penetranz beträgt wie bei der DYT 1Dystonie 30 %. Die wenigen Patienten mit einer homozygoten Mutation im GCH1-Gen haben einen
schweren Krankheitsverlauf mit Enzephalopathie
und Entwicklungsverzögerung. Auch die beiden
rezessiv vererbten Formen DYT 5b und 5c sind oft
mit geistiger Behinderung, Spastik oder Epilepsie
assoziiert.
249
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Tremor kombiniert ist (75 % der Dystonien), von
Dystonien, die mit anderen Bewegungsstörungen
vergesellschaftet sind. Die neuen Klassifikationen
unterscheiden zudem zwischen den erblichen, den
erworbenen (früher als sekundär bezeichnet) und
den „idiopathischen“ Dystonien, deren Ursache
momentan unklar ist. Bevor man die genetischen
Ursachen abklärt, sollten zumindest Durchblutungsstörungen, Stoffwechselerkrankungen oder
Infektionen als Ursache ausgeschlossen sein.
Die Nomenklatur der genetisch bedingten Dystonien ist unabhängig vom Phänotyp und unabhängig vom Erbgang in aufsteigender Reihe als
DYT bezeichnet worden.
Zu den isolierten Dystonien gehören DYT 1, 2, 4,
6, 7, 13, 17, 21, 23, 24 und 25, zu den kombinierten Dystonien (früher Dystonie-plus-Syndrome)
zählen DYT 3, 5a (= DYT 14), 5b, 5c, 11, 12, 15 und
16, und zu den paroxysmalen DYT 8, 10, 18
(= DYT 9), 19 und 20. Von den 24 Genorten sind
bisher 16 Gene identifiziert, die meisten mit
einem autosomal-dominanten Erbgang, von den
autosomal-rezessiv vererbten sind bisher nur
DYT 5b (Tyrosin-Hydroxylase), 5c (SPR-Gen; Sepiapterin-Reduktase), sowie DYT 16 (Proteinkinase
PRKRA) bekannt. Schließlich ist die Dystonie Typ
Lubag (DYT 3; TAF1-Gen) X-chromosomal vererbt
(Überblick in [22]).
Klinisch interessant, wenn auch sehr selten, ist
die DYT 12-Dystonie, die sich meist im Kindesalter
„akut“ innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen
progredient zum Vollbild entwickelt (ATP1A3Gen).
Genetisch interessant ist wiederum die EpsilonSarkoglykan-assoziierte Dystonie (DYT 11), da
hier ein maternaler Imprinting-Effekt (Kap. 3.4.2)
vorliegt. Das mütterliche Allel wird nicht exprimiert, sodass eine Weitergabe der Mutation über
die Mutter phänotypisch keine Auswirkungen bei
den Nachkommen hat [67].
II
Paroxysmale Dystonien
Ähnlich wie die episodischen Ataxien (EA) (Kap.
11.2.4) können die paroxysmalen Dystonien durch
Umwelteinflüsse wie Alkohol, Koffein oder Stress
getriggert werden (DYT 8, PNKD1-Gen). Neben
dystonen Bewegungsstörungen, die Minuten oder
auch mehrere Stunden andauern können, beobachtet man choreatiforme Bewegungsstörungen
oder Athetose. Die DYT 10 ist dagegen über plötzliche Bewegungen auslösbar. Dabei können auch
epileptische Anfälle, die gut auf Antikonvulsiva ansprechen, hervorgerufen werden (PRRT 2-Gen).
Die DYT 18 wird durch körperliche Anstrengungen
und auch Fieber getriggert, oder wie DYT 8 durch
Alkohol, Koffein oder Stress. Interessanterweise
können Mutationen in demselben Gen (SLC 2A1)
auch mit Entwicklungsverzögerung, Mikrozephalie, Ataxie und frühkindlichen Anfällen einhergehen. Ebenso wird die als DYT 9 klinisch mit paroxysmaler dystoner Choreoathetose, EA und
Spastik beschriebene Form durch Mutationen im
SLC 2A1-Gen hervorgerufen. Eine ketogene Diät
mag die Symptomatik lindern.
11.2.2 Demenzielle Erkrankungen
Demenzielle Erkrankungen werden oft mit der
Alzheimer’schen Erkrankung gleichgesetzt, diese
Diagnose kann jedoch definitiv nur neuropathologisch durch den Nachweis von β-AmyloidPlaques, Tau-Protein-positiven neurofibrillären
Tangles und amyloidhaltigen Angiopathien gestellt werden (bestätigt in ca. 80 % der Diagnosen).
In der Bildgebung, die generell durchgeführt werden sollte, um differenzialdiagnostisch Tumoren
oder vaskuläre Ursachen der Symptomatik auszuschließen, findet man eine kortikale Atrophie.
Weiterhin sollten andere Ursachen für eine De-
250
menz wie behandelbare Formen bei chronischer
Medikamenteneinnahme (z. B. auch bei Depressionen), chronische Infektionen des Gehirns, Schilddrüsenerkrankungen oder auch Vitaminmangel
(insbesondere B12), ausgeschlossen werden.
In Deutschland sind ca. 700 000 Personen an
einer Alzheimer-Erkrankung erkrankt. Jährlich
kommen weitere 120 000–160 000 Personen hinzu. Etwa 25–24 % der Personen, die älter als
85 Jahre sind, sollen von einer Demenz betroffen
sein; ca. ⅔ davon haben die Alzheimer’sche Demenz (AD). Differenzialdiagnostisch sollte an eine
frontotemporale Demenz (FTD) (einschl. frontotemporale Demenz mit Parkinsonismus auf Chromosom 17 = FTDP-17), Morbus Pick, die diffuse
Lewy-Körper-Erkrankung, Morbus Parkinson oder
auch die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gedacht
werden.
Früh manifestierende familiäre
Alzheimer’sche Demenz
Möglichkeiten. einer genetischen Abklärung existieren insbesondere für die frühen Manifestationen vor dem 60. Lebensjahr. Etwa 5 % der Patienten mit einer AD haben eine frühe Manifestation
(Early-onset familial AD), davon sind ca. 60 % familiär und 13 % folgen einem autosomal-dominanten
Erbgang [8]. Mutationen in 3 Genen (APP, PSEN1
und PSEN2) sind beschrieben. Für diese Formen
gibt es prinzipiell bei Nachweis einer kausalen Mutation beim betroffenen Indexpatienten die Möglichkeit der prädiktiven Testung in der Familie, in
der Praxis wird diese jedoch eher selten in Anspruch genommen. Die Rolle des APOE-e4-Risikoallels bei der sporadischen Form der AD ist gut belegt, aber für die Prädiktion weder spezifisch noch
sensitiv genug.
Mutationen im APP-Gen (β-Amyloid-A4-Protein) findet man bei 10–12 % der familiären früh
manifestierenden AD-Formen (AD1). Auf eine
Überexpression des APP-Gens, das sich auf Chromosom 21 befindet, ist auch die Demenz bei Personen mit Down-Syndrom zurückzuführen, die
sich meist nach dem 40. Lebensjahr entwickelt.
Während Mutationen im Presenilin-2-Gen (AD4)
äußerst selten sind, findet man Veränderungen im
Presenilin-1-Gen (AD3) bei frühen familiären Formen häufig (20–70 %).
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Neurologische Erkrankungen
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
●
●
●
Bei der genetischen Beratung sollte darüber
aufgeklärt werden, dass AD eine häufige Erkrankung ist und das Risiko, im Laufe des Lebens eine Demenz zu entwickeln, ca. 10–12 %
beträgt. Eine genetische Beratung für nicht familiäre Fälle basiert auf empirischen Daten.
Verwandte 1. Grades eines Einzelfalls in der Familie haben ein Wiederholungsrisiko von ca.
15–30 %.
Erstgradig Verwandte von Patienten mit einer
früh manifestierenden familiären Form der
AD und bekannter Mutation sind bei dominantem Erbgang mit reduzierter Penetranz und variablem Erkrankungsalter entsprechend den
Empfehlungen für die prädiktive Diagnostik bei
spät manifestierenden nicht heilbaren neurodegenerativen Erkrankungen zu beraten (Kap.
11.2.3).
Merke
●
●
●
●
H
Eine starke Assoziation besteht vor allem beim
e4/e4-Genotyp mit nur ca. 1 % Vorkommen in
der Normalbevölkerung, aber ca. 13 % bei ADPatienten. Bei Patienten mit familiärer Erkrankung kommt dieser Genotyp sogar bei ca. 19 %
vor.
Bei Patienten, die klinisch erkrankt sind und bei
denen nach Ausschluss sekundärer Ursachen
die Diagnose einer AD gestellt wurde, erhöht
sich die Wahrscheinlichkeit der korrekten Diagnose mit einem e4/e4-Genotyp auf 97 %. Daher
kann hier differenzialdiagnostisch die molekulargenetische Analyse des APOE-Gens sinnvoll
sein.
Etwa 42 % aller Personen mit AD haben kein
APOE-e4-Allel. Daher ist die APOE-Genotypisierung allein nicht ausreichend für die Diagnosestellung.
Eine prädiktive Testung des APOE-Gens von Risikopersonen wird im Allgemeinen nicht empfohlen.
Spät manifestierende familiäre
Alzheimer’sche Demenz
Die zahlenmäßig bedeutendste Gruppe der Demenz stellen die spät manifestierenden Formen
(Late-onset familial AD) dar. In dieser Patientengruppe hat man das APOE-e4-Allel in zahlreichen
voneinander unabhängigen Studien gut dokumentiert. Das APOE-Gen hat 3 verschiedene Allele, die
in unterschiedlicher Kombination und Häufigkeit
bei Gesunden und Kranken vorkommen können
(▶ Tab. 11.3).
Tab. 11.3 APOE-Genotypen bei Kontrollen und AD-Patienten (Quelle: [31]).
APOE-Genotyp
Gesunde Personen (n = 304)
(%)
Patienten mit
AD (n = 233) (%)
e2/e2
1,3
0
e2/e3
12,5
3,4
e2/e4
4,9
4,3
e3/e3
59,9
38,2
e3/e4
20,7
41,2
e4/e4
0,7
12,9
Frontotemporale Demenz
Aktuelle genetische Daten weisen überraschenderweise auf eine enge pathogenetische Überlappung
der FTD mit der Gruppe der ALS hin. Bisher wurden Mutationen im CHMP2B-Gen (sehr selten), im
Tau-Protein-codierenden MAPT-Gen, dem Progranulin-codierenden GRN-Gen und in C 9orf72 bei
FTD nachgewiesen [52].
Mutationen im Tau-Protein verursachen FTD
mit Parkinsonismus-17. Sie können eine starke extrapyramidale Komponente mit Rigidität, Bradykinesie, supranukleärer Lähmung und Blicksakkaden
aufweisen. Die Erkrankung ist stark progredient
und wird autosomal-dominant vererbt. Mutationen im Progranulin-Gen führen meist zu einer
späteren Manifestation (59 + /–7 Jahre), und können sich sowohl mit Parkinsonismus als auch mit
kortikobasaler Symptomatik manifestieren. Kürzlich wurde ein expandiertes Hexanucleotid-Repeat
in der nicht codierenden Region des C9orf72-Gens
auf Chromosom 9 als eine häufige Ursache (ca.
12 %) der familiären FTD identifiziert [10]. Noch
häufiger sind GGGGCC-Hexarepeat-Expansionen
in C9orf72 bei familiärer ALS (FALS) (23 %). Familien mit beiden klinischen Manifestationen (einer
11
251
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H
Merke
Neurologische Erkrankungen
II
11.2.3 Neurologische Erkrankungen mit choreatischen Bewegungsstörungen
Als sekundäre Ursachen sind in der Gruppe der
choreatischen Bewegungsstörungen zunächst insbesondere toxische (z. B. Alkohol), medikamentöse
(z. B. Neuroleptika, L-Dopa, Steroide), vaskuläre
(Enzephalopathien, Immunvaskulitis), parainfektiöse (Streptokokkeninfekt bei einer Chorea-minor
Typ Sydenham), metabolische (Hyper- und Hypoglykämien, Hyperthyreoidose), paraneoplastische
(Anti-CV2/CRMP-5, Anti-Hu, Anti-Yo) oder auch
traumatische Ursachen abzuklären.
Genetisch kommen autosomal-dominante (Chorea Huntington, einige SCA), autosomal-rezessive
(Choreo-Akanthozytose) oder auch X-chromosomale Vererbungen (McLeod-Syndrom) infrage.
Chorea Huntington
Die Chorea Huntington gilt aus folgenden Gründen
als Paradigma für viele andere neurologische Erkrankungen:
● Chorea Huntington war die erste autosomal-dominante Erkrankung, die durch genetische
Kopplungsanalysen im Genom kartiert wurde
(auf 4p16.3) [23].
● Die Empfehlungen für eine prädiktive Testung
von Risikopersonen bei spät manifestierenden
Erkrankungen wurden für die Chorea Huntington modellhaft entwickelt [63], [25].
● Bei der Chorea Huntington wurde als eine der
ersten neurodegenerativen Erkrankungen eine
PolyQ-Repeat-Expansion als ursächlich beschrieben [61] und umfassend untersucht, was als Beispiel für andere PolyQ-Erkrankungen gilt.
Eine Chorea Huntington kommt in Europa mit ca.
4–8 Betroffenen auf 10 000 Einwohner vor; in Japan und in Afrika ist sie weitaus seltener. Verursacht wird die Chorea Huntington durch eine
CAG-Repeat-Verlängerung im Huntingtin-Gen
(HTT, auch mit IT 15 bezeichnet). Repeat-Verlängerungen von 40 Einheiten und darüber hinaus werden als voll penetrant definiert; zwischen 36 und
39 Einheiten findet man eine reduzierte Penetranz. Repeat-Längen im hohen Normalbereich
252
(27–35) tragen ein gewisses Risiko der Verlängerung in der paternalen Transmission. Die Größe
der verlängerten Repeats korreliert invers mit dem
Erkrankungsalter, wobei neben der Repeat-Länge
weitere noch nicht definierte genetische und Umweltfaktoren mit ca. 40 % zum Erkrankungsalter
beitragen.
Hintergrundwissen
V
Risiko für Familienmitglieder bei Chorea
Huntington in einer Indexperson
Repeat-Anzahl der Indexperson ≥ 40 CAG
● 50 % Risiko der Weitergabe eines expandierten
Allels an die Kinder, unabhängig vom Geschlecht des Kindes bzw. des betroffenen Elternteils
● Bei unauffälliger Familienanamnese kann
○ ein Elternteil entweder eine Repeat-Länge im
Intermediärbereich (27–35 Repeats) haben,
die in den verlängerten Bereich expandiert ist
(hier würde man von einer Neumutation
sprechen), oder
○ ein Elternteil eine Repeat-Länge im Bereich
von 36–39 Repeats haben, die mit reduzierter Penetranz einhergeht, oder
○ die Erkrankung bei einem Elternteil ist mild
ausgeprägt oder durch den Arzt nicht als
Chorea Huntington erkannt worden, oder
○ die Stammbaumanalyse ist nicht zielführend,
weil das transmittierende Familienmitglied
vor Erkrankungsausbruch verstorben ist, oder
○ die Vaterschaft muss hinterfragt werden.
Repeat-Anzahl der Indexperson < 40 CAG
Das Risiko für Chorea Huntington bei Nachweis
eines Repeats im Intermediärbereich von 36–
39 CAG bei einer Indexperson wird für ihre
Nachkommen mit ca. 5 % angegeben
(50 % × 10 %).
● Eine Person mit einem CAG-Allel im Bereich
von 36–39 hat eine reduzierte Penetranz für
die Manifestation der Erkrankung.
● Eine männliche Person mit Repeats im hohen
Normalbereich (27–35) hat ein geringes Risiko
für die Expansion in den Erkrankungsbereich
bei Weitergabe an seine Nachkommen. Maternale Expansionen in den Erkrankungsbereich
wurden bisher nicht beobachtet.
●
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FTD sowie einer ALS) sind beschrieben, sowie auch
stark unterschiedliche Erkrankungsalter innerhalb
einer Familie.
Als durchschnittliches Erkrankungsalter wird normalerweise das 30.–40. Lebensjahr angegeben. Ca.
10–20 % der Mutationsträger erkranken jedoch
erst nach dem 50. Lebensjahr. Verlängerungen von
mehr als 55 Repeats können zu einer Manifestation der Erkrankung vor dem 20. Lebensjahr führen, der sog. juvenilen Form. Klinisch manifestiert
diese sich als Westphal-Variante, die meist mit
einer akinetisch-rigiden Bewegungsstörung einhergeht. Obwohl ca. 5 % aller Mutationsträger an
einer juvenilen Form erkranken, ist eine pränatale
genetische Testung in Deutschland nicht erlaubt.
Sehr früh manifestierende Erkrankungen (Expansion bis zu 250 Repeats sind beschrieben, vererbt
von einem Vater mit 43 Repeat-Einheiten!) sind
oftmals mit epileptischen Anfällen (30–50 % der
Patienten mit einem Erkrankungsalter vor dem 10.
Lebensjahr), schwerer geistiger Behinderung und
rasch progredientem Krankheitsverlauf assoziiert
[45].
Obwohl das Krankheitsbild dem autosomal-dominanten Erbgang folgt, hängt das Risiko für die
Erkrankung von den Repeat-Längen des übertragenden Elternteils ab.
●
●
●
●
Prädiktive Diagnostik der Chorea
Huntington
Die Chorea Huntington gilt als Vorbild für die Entwicklung von Empfehlungen bezüglich der genetischen Testung von spät manifestierenden nicht
heilbaren Erkrankungen. Mehrere Guidelines oder
Konsensus-Papiere wurden verabschiedet (Kap.
11.4.1). Für den Beratungsablauf bei der prädiktiven Diagnostik hat sich folgende Vorgehensweise
bewährt:
● Jeder Beratungstermin im Verlauf einer prädiktiven molekulargenetischen Untersuchung wird
durch den Ratsuchenden selbst initiiert. Dies
spiegelt seine Selbstbestimmung wieder, ermöglicht ggf. den hürdenfreien Ausstieg aus dem laufenden diagnostischen Prozess und betont das
Recht des Ratsuchenden auf Nichtwissen.
● Der Abstand zwischen den Beratungen sollte
den Ratsuchenden genügend Zeit zur Reflexion
des Beratungsinhalts und zur Besprechung der
potenziellen Implikation in der Familie oder mit
Freunden geben.
● Es sollte generell das Beratungsangebot für weitere Familienmitglieder geben, auch wenn sie
sich nicht direkt testen lassen wollen.
● Demgegenüber muss die Risikoperson auch die
Möglichkeit haben, sich allein – also ohne Partner – beraten zu lassen.
●
●
Inhalte der Erstberatung vor prädiktiver Diagnostik sind Krankheitsbild, Aussagekraft der genetischen Diagnostik, Bedeutung der möglichen
Befunde (auffällig/unauffällig) für den Ratsuchenden und für seine Angehörigen sowie
standesrechtliche Rahmenbedingungen. Ergänzend können webbasierte Informationen [26],
[27] genutzt werden, wobei damit bisher keine
evaluierten Erfahrungen vorliegen.
Auf die Möglichkeit paradoxer Reaktionen nach
günstigem Testergebnis muss bereits vor dem
Test hingewiesen werden. Zum Beispiel bei der
Chorea Huntington haben ca. 10 % der prädiktiv
Getesteten, die nicht Anlageträger sind, unerwarteterweise für 2–12 Monate nach Befundmitteilung psychische Schwierigkeiten mit dem
Testergebnis [29].
Bereits vor der Diagnostik wird eine neurologische Untersuchung bei einem Spezialisten angeboten. Der Neurologe bespricht zudem aktuelle
therapeutische Angebote und die potenzielle Anbindung an ein Zentrum.
Die psychotherapeutische bzw. psychosoziale
Begleitung vor Beginn der prädiktiven Untersuchung kann zwar nicht erzwungen, sollte aber
dringend empfohlen werden. Die Konsequenzen
eines auffälligen und eines unauffälligen Befunds
für möglichst alle Lebensbereiche (Partnerschaft,
Familie, Beruf, finanzielle Lage, Hobbys etc.) sollten reflektiert und antizipiert werden. Die bereits geleistete „Vorarbeit“ des Ratsuchenden bestimmt somit u. a. die Dauer dieser Vortestphase.
Gesprächspartner können neben professionellen
psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten auch Sozialpädagogen oder Theologen
mit entsprechender psychotherapeutischer Ausbildung und Kenntnis des Krankheitsbilds sein.
Der Therapeut ist dann in der Phase nach der
prädiktiven Testung ein bereits vertrauter Ansprechpartner und Begleiter. Lehnt ein Ratsuchender die psychotherapeutische Begleitung
ab, sollte dies schriftlich festgehalten, u. U. vom
Ratsuchenden auch unterschrieben werden.
Informationen über die Selbsthilfegruppen sollten im Erstgespräch bereits vermittelt werden.
Bei direkter Kontaktaufnahme gilt es zu differenzieren, ob in einer regionalen Gruppe überwiegend Risikopersonen oder eher Betroffene mit
pflegenden Angehörigen vertreten sind. Unter
Umständen werden sonst die Bedürfnisse des
Einzelnen nicht befriedigt.
Die Blutabnahme für die Testung sollte in der
Regel im Rahmen eines 2. Beratungsgesprächs
erfolgen. Der Termin wird telefonisch durch den
11
253
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11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
II
●
●
●
Ratsuchenden nach dem Kontakt mit dem Neurologen und Psychologen vereinbart. Eine obligate 3-monatige Bedenkzeit ist heute nicht mehr
üblich.
Auch der Termin zur Befundmitteilung wird
durch den Ratsuchenden aktiv angefragt. Das
Testergebnis sollte der beratende Arzt in einem
verschlossenen Umschlag erhalten, um beim Befundmitteilungstermin zunächst zu eruieren, ob
der Ratsuchende eine Mitteilung des Befunds
wünscht, und ggf. unvoreingenommen einen
Rücktritt von der Befundmitteilung zu ermöglichen.
Die Befundmitteilung beinhaltet auch Absprachen zur Nachbetreuung.
Statistische Prognosen zum Erkrankungsbeginn
und Verlauf anhand des individuellen Testergebnisses (bei Chorea Huntington z. B. [37]) sollten
wegen der hohen Streubreite des Erkrankungsalters in der Beratung im Allgemeinen nicht vermittelt werden.
Hintergrundwissen
V
Problematik der Testung von Personen
mit einem A-priori-Risiko von 25 % bei
Chorea Huntington
Obwohl die humangenetische Beratung streng
auf die Einhaltung des Rechts auf Nichtwissen
achtet und dies auch im GenDG verankert ist, haben sich der Deutsche Huntington Hilfe e. V.
(DHH) sowie andere internationale Selbsthilfegruppen für das Recht auf Wissen bei einer Person mit einem A-priori-Risiko von 25 % ausgesprochen. Die Konstellation trifft z. B. zu, wenn
einer der Großeltern an einer Chorea Huntington
erkrankt ist, deren Kinder noch gesund sind, aber
keinen Gentest wünschen, die bereits erwachsenen Enkelkinder sich jedoch testen lassen möchten. Bei einem positiven Testergebnis würde
gleichzeitig der noch gesunde Elternteil wissen,
dass er die Mutation von seinem Elternteil ererbt
hat.
Die Selbsthilfegruppen unterstützen nach
sorgfältiger Abwägung und dem Versuch der Einbeziehung des entsprechenden Elternteils eine
Diagnostik beim erwachsenen Enkelkind, damit
dieses seine Familien- und Berufsplanung danach
ausrichten kann.
254
Die bisherigen Erfahrungen der prädiktiven Diagnostik weltweit können aufgrund des umfassenden Betreuungskonzepts bezüglich der individuellen Verarbeitung der Ergebnisse sogar bei Mutationsträgern als positiv gewertet werden. In einer
großen internationalen Studie von mehr als 4 000
Testungen traten nur bei ca. 1 % der Risikopersonen schwerwiegende Ereignisse wie Suizidversuche oder Krankenhauseinweisungen auf [2], insbesondere bei Personen mit psychischen Vorerkrankungen oder bei Arbeitslosen. Etwa ⅔ der
Risikopersonen gaben an, von dem Wissen der Anlageträgerschaft zu profitieren, so bei der Familienplanung, bei der Entscheidungsfindung für Beruf, Partnerschaft und Freizeit. Trotz der positiven
Reflexion der genetischen Testung erfuhren ca. ⅓
aller Risikopersonen mehrmalige Diskriminierungen unterschiedlichster Art, was zu Frustration
und Niedergeschlagenheit führte. Diese bezogen
sich auf Versicherungen (58 %), Arbeitgeber (21 %;
Fallbeispiel 11.1), Partnerschaften (5 %; Fallbeispiel
11.2) und Vorkommnisse im Alltag (16 %) [19].
Fallbeispiel 11.1
I
Berufliche Auswirkungen einer prädiktiven Testung
Für die Diskriminierung durch Arbeitgeber gibt es
leider sehr viele Beispiele. So wollte das Land Hessen eine gesunde Lehrerin nicht verbeamten
(www.spiegel.de/spiegel/print/d-28 921 844.
html), da ihr Vater an einer Chorea Huntington
litt. Die Lehrerin sah sich zu einem Gentest genötigt. Ein daraufhin angestrebter Rechtsstreit gab
der Lehrerin Recht. Im betreffenden Artikel sind
weitere Beispiele der Diskriminierung aufgeführt.
Von einer freiwilligen Mitteilung des genetischen Status an den Arbeitgeber ist, auch aufgrund umfangreicher Erfahrungen unserer
Sprechstunde, dringend abzuraten.
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Neurologische Erkrankungen
Fallbeispiel 11.2
I
Private Auswirkungen einer prädiktiven
Testung
Ein unverheiratetes Paar kam in die genetische
Beratung. Der Vater des 32-jährigen Mannes war
an Chorea Huntington erkrankt. Der Mann bat
um prädiktive Testung, mit der Begründung,
wenn er die CAG-Repeat-Expansion von seinem
Vater ererbt habe, würde er sich von seiner Partnerin trennen, da er ihr die Pflege seiner Person
später im Krankheitsfall nicht zumuten möchte.
Das Paar wurde wiederholt beraten, auch durch
einen Psychotherapeuten. Ein Kontakt mit betroffenen Familien wurde über die Selbsthilfegruppe
vermittelt. Bedauerlicherweise testete der Mann
positiv, das Paar trennte sich (im gegenseitigen
Einverständnis) unmittelbar nach der gemeinsamen Befundmitteilung.
Choreatische Bewegungsstörungen
(Huntington-ähnliche Erkrankungen)
Differenzialdiagnostisch sollte bei einem Vorliegen
choreatischer Bewegungsstörungen und nach Ausschluss sekundärer Ursachen sowie der CAG-Repeat-Verlängerung im HTT-Gen eine Prionerkrankung in Erwägung gezogen werden (HDL 1), die
meist eine stärkere psychiatrische Komponente
hat und stärker progredient als die Chorea Huntington verläuft. Neben der Atrophie der Basalganglien findet man hierbei auch Veränderungen der
Frontal- und Temporallappen sowie des Zerebellums.
HDL 2, das durch eine CTG/CAG-Repeat-Verlängerung im Junctophilin-3-Gen (JPH3) verursacht
wird (Normalbereich 6–28 Einheiten, expandiert
41–58), wurde bisher bei keinem Mitteleuropäer
nachgewiesen, sondern nur in der schwarzen südafrikanischen Bevölkerung oder bei deren ausgewanderten Familien. Das Erkrankungsalter liegt
in der Regel ebenfalls zwischen dem 3. und 4. Lebensjahrzehnt. Das Gen für die autosomal-rezessiv
erbliche HDL 3, die sich üblicherweise im frühen
Kindesalter manifestiert, ist bisher nicht bekannt.
Für Deutschland hat vor allem die CAG-Repeat-Expansion im TBP-Gen (Kap. Autosomal dominant
vererbte Ataxien) differenzialdiagnostisch eine Be-
deutung. Diese Veränderungen werden abhängig
vom Phänotyp sowohl als SCA17 als auch als HDL 4
bezeichnet. Manifestationsformen sind sowohl
Ataxie als auch Chorea, weiterhin können die Patienten parkinsonähnliche Symptome, Dystonie,
psychiatrische Auffälligkeiten oder eine Epilepsie
aufweisen. Einen ähnlich überlappenden Phänotyp
findet man auch bei der in Deutschland sehr seltenen DRPLA (dentatorubrale pallidoluysische Atrophie) (Kap. Autosomal dominant vererbte Ataxien).
Findet man bei Vorliegen choreatischer Symptome, manchmal mit oromandibulären Dyskinesien
und parkinsonähnlichen Symptomen, meist ohne
Tremor, selten auch Spastik, Demenz und Verhaltensauffälligkeiten, im MRT abnorme Eisenablagerungen sowie zystische Veränderungen der Basalganglien, sollte man eine Neuroferritinopathie
ausschließen (FTL-Gen). Niedrige Ferritinspiegel
im Serum sind dafür ein hinweisender Biomarker.
Nach Ausschluss sekundärer Formen und ohne
positive autosomal-dominante Familienanamnese
sollte man differenzialdiagnostisch unbedingt die
Abklärung einer Chorea-Akanthozytose (VPS 13AGen) erwägen. Der Phänotyp kann der Chorea
Huntington sehr ähnlich sein, neben Chorea und
psychiatrischen Veränderungen findet man auch
Parkinsonismus, Tics, Augenbewegungsstörungen
und Demenz, gelegentlich sogar Selbstverstümmelung. Wegweisend, aber nicht immer vorhanden,
ist der Nachweis von mehr als 15 % Akanthozyten
im Blutausstrich sowie eine erhöhte Kreatinkinase,
manchmal auch eine Hepatosplenomegalie.
Nicht ganz selten kann bei differenzialdiagnostischer Abklärung einer Chorea in spezialisierten
Laboren auch eine Pantothenatkinase-assoziierte
Neurodegeneration (PKAN) nachgewiesen werden, auch „Neurodegeneration with Brain Iron Accumulation Type 1“ (NBIA 1) oder HallervordenSpatz-Erkrankung genannt. Pathologisch findet
man eine Eisenablagerung in der Substantia nigra
und im Globus pallidus, im MRT in T 2-gewichteten Aufnahmen oftmals als „Eye-of-the-Tiger“-Zeichen beschrieben. Auch hier haben ca. 10 % eine
Akanthozytose im peripheren Blut. Während sich
die PKAN üblicherweise im Kindesalter manifestiert und dann mit extrapyramidalen Symptomen,
generalisierten Dystonien mit oromandibulärer
Beteiligung, Verhaltensauffälligkeiten, Retinitis
pigmentosa und Optikusatrophie einhergeht, imponieren Patienten mit einer späteren Manifestation oftmals mit Chorea als Hauptsymptom.
11
255
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11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
Neurologische Erkrankungen
II
11.2.4 Neurologische Erkrankungen mit ataktischen Bewegungsstörungen
Unter ataktischen Bewegungsstörungen fasst man
Störungen der Bewegungskoordination zusammen, bei der die Muskelkraft noch besteht. Oftmals
findet man bei Patienten jedoch auch eine reduzierte Muskelkraft bis hin zur Lähmung, sodass klinisch die Abgrenzung von den Paresen manchmal
schwierig ist (spastische Ataxien).
Man kann Ataxien unterschiedlich einteilen:
● Abhängig davon, bei welchen Bewegungen die
Koordination von Körperteilen am meisten betroffen ist, kann man die Gangataxie (breitbeiniges Gangbild), die Standataxie (Stehen nur mit
Stütze möglich), die Rumpfataxie (Sitzen nur
mit Stütze möglich) oder eine afferente Ataxie
(Bewegungsstörungen primär der Arme und
Hände, z. B. mit Dysmetrie oder Dysdiadochokinese, sowie der Augen wie Nystagmus) näher beschreiben. Oftmals liegt eine komplexe Koordinierungsstörung mehrerer Systeme vor.
● Abhängig davon, ob primär das Kleinhirn oder
das Rückenmark betroffen sind, kann man zwischen zerebellären und spinalen bzw. sensiblen
Ataxien unterscheiden.
● Abhängig von der pathogenetischen Kausalität
kann man andererseits unterscheiden zwischen:
○ erworbenen Ursachen, die zu einer Beteiligung
des Kleinhirns oder Spinaltrakts führen können (z. B. alkoholische, endokrine, inflammatorische, vaskuläre oder paraneoplastische Kleinhirndegeneration)
○ genetisch bedingten Ataxien
○ „sporadischen“ Ataxien mit bislang unbekannter Ursache
● Ataxien im Rahmen eines rein neurologischen
Krankheitsbilds und syndromale Ataxien im
Rahmen eines übergeordneten Syndroms.
256
2013 wird in der LMD [77] (Neurogenetics Database) bei 621 Erkrankungen eine Ataxie als
Symptom geführt.
Für die Diagnostik und Therapie ataktischer Erkrankungen, insbesondere die des Erwachsenenalters, sind durch die Deutsche Neurologische Gesellschaft (DNG) S 1-Leitlinien entwickelt worden
(www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030–
031l_S 1_Ataxien_des_Erwachsenenalters_2012–1.
pdf).
In den folgenden Abschnitten sollen genetisch
bedingte Ataxien exemplarisch dargestellt werden.
Prävalenzdaten für genetisch bedingte Ataxien
liegen nur eingeschränkt vor; sie schwanken zwischen ca. 9 und 15 auf 100 000 [9], [49], [44], [62],
[16]. Auch eine genaue Angabe für autosomal-dominant vererbte im Vergleich zu den rezessiven
Ataxien gibt es mit Ausnahme für Portugal (5,6 für
dominante und 3,3 auf 100 000 für rezessive Ataxien) [9] kaum.
In einigen Populationen sind aufgrund von
Gründereffekten bestimmte Ataxieformen häufig,
z. B. in Portugal die SCA3 oder in Lateinamerika
neben der SCA3 die SCA10, aber insgesamt gilt,
dass es sich um eine klinisch und ätiologisch äußerst heterogene Gruppe von Krankheiten handelt. Die Zahl der genetisch definierten Formen
von Ataxien wird auf 50–100 geschätzt. Eine umfassende genetische Abklärung sollte aus folgenden Gründen erfolgen:
● Seltene Unterformen, die mit den neuen NGSTechnologien detektiert werden, sind therapierbar. Diese Patienten haben ein Recht auf therapeutische Intervention.
● Kausalitätsabklärung von Erkrankungen führt
gegenwärtig zu einem neuen Krankheitsverständnis, der mit dem Begriff „Präzisionsmedizin“ zusammengefasst wird. Dieser ermöglicht
sowohl die bessere Erkundung von Biomarkern,
die Voraussetzung für effizientere Therapiestudien sind, als auch eine schnellere Übertragung
von Therapieoptionen auf weitere genetische
Unterformen.
● Genetische Diagnostik hat u. U. familienrelevante
Konsequenzen, die zur Beratung und prognostischen Begleitung von bisher nicht betroffenen
Familienmitgliedern sowie ggf. zur Pränataldiagnostik führen können (beachte hierbei GenDG,
Kap. 1).
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Von den progredient verlaufenden choreatischen Bewegungsstörungen sollte man unbedingt
die autosomal-dominant vererbte benigne hereditäre Chorea abgrenzen. Sie tritt bereits im Kindesalter auf, führt aber nicht zu kognitiven oder psychischen Defiziten. Da es sich bei dem zugrunde
liegenden Gen (NKX2) um einen Transkriptionsfaktor handelt, der auch in Lunge und Schilddrüse
exprimiert wird, findet man bei den Patienten
häufig auch Lungenerkrankungen und eine Hypothyreose.
Autosomal dominant vererbte
Ataxien
Die Häufigkeit der autosomal-dominanten zerebellären Ataxien wird mit 3:100 000 Einwohner in
Europa geschätzt [13]. Die Nomenklatur der Ataxien ist nicht einheitlich vorgenommen worden.
1983 entwickelte Anita Harding eine für lange Zeit
in der Klinik angewandte Klassifikation [24], die
die dominanten Ataxien unterteilte in:
● ADCA Typ 1: zerebelläre Ataxie mit weiteren
Symptomen
● ADCA Typ 2: autosomal-dominant vererbte Ataxie mit Beteiligung der Retina
● ADCA Typ 3: „rein“ zerebelläre Ataxie
Mit der Kartierung der ersten dominanten AtaxieGene wurde diese klinisch-genetische Klassifikation für eine mitunter wenig praktikable Nummerierung der Gene/Genorte in die Bezeichnung
„spinozerebelläre Ataxie“ (SCA) in aufsteigender
Reihenfolge verlassen [68]. Gegenwärtig werden in
OMIM [78] (Juli 2013) 35 Genorte für SCA gelistet
(▶ Tab. 11.4).
Bisher gibt es keine Daten zur Prävalenz der
SCA13, 20, 23, 28 oder 31 in Deutschland. Mit Ausnahme der CAG-Trinukleotid-Repeat-Erkrankungen (SCA1, 2, 3, 6, 7 und 17) werden die anderen
Gene nicht in der Routinediagnostik, sondern nur
nach spezieller Anforderung getestet.
Tab. 11.4 Autosomal-dominant vererbte Ataxien.
Genort
Gen/Locus
Funktion des Genprodukts
Genetische Besonderheiten
Phänotypmerkmale
DRPLA
ATN1
Atrophin
vorrangig in Japan, nur
einzelne Familien in USA
und Europa, CAGRepeat-Erkrankung
Epilepsie, Chorea, psychiatrische Manifestationen; daher
auch als DD für choreatische
Bewegungsstörung
SCA1
Ataxin1
CAG-Repeat-Erkrankung
frühe Schluckstörung, Pyramidenbahnzeichen (mit
mittlerer Repeat-Zahl) und
ALS (mit langer Repeat-Zahl)
SCA2
Ataxin2
CAG-Repeat-Erkrankung
verlangsamte Sakkaden, Parkinsonismus
SCA3
Ataxin3
Deubiquitinase, interagiert mit Parkin
häufigste SCA weltweit,
besonders häufig in
Portugal und Lateinamerika, CAG-RepeatErkrankung
abhängig von der RepeatLänge von Parkinsonismus bis
Spastik, große Repeat-Verlängerungen manifestieren
sich meist mit Spastik und vor
dem 20. Lebensjahr mit Dystonie
SCA4
C/T-Mutation in der
5‘-untranslatierten
Region des Puratrophin-1-Gens beschrieben
Zweifel, ob Puratrophin
Krankheitsgen ist, daher
gegenwärtig keine Testung
Gen in einer großen
deutschen Familie nicht
bestätigt
reine und langsam progrediente zerebelläre Ataxie;
mittleres Erkrankungsalter
60 Jahre (+ /– 10)
SCA5
SPTBN2
Beta-III-Spectrin
beschrieben in der Familie von Abraham Lincoln; bisher je 1
deutsche, amerikanische und französische
Familie beschrieben
kognitive Beeinträchtigung
bei homozygoter Mutation,
„reine“ Ataxie, manchmal
bulbäre Zeichen, normale Lebenserwartung; Erkrankungsalter zwischen 10 und
68 Jahren
SCA6
CACNA1A
P/Q-abhängiger Kalziumkanal
CAG-Repeat-Expansion
spät beginnende, überwiegend rein cerebelläre Ataxie
SCA7
ATXN7
häufig in Frankreich,
CAG-Repeat-Erkrankung
Visusreduktion durch Makuladegeneration (bei langer
Repeat-Zahl u. U. vor Ataxiebeginn)
11
257
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11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
Neurologische Erkrankungen
II
258
Genort
Gen/Locus
SCA8
ATXN8 und
ATXN8OS
SCA9
nicht kartiert
SCA10
ATXN10
SCA11
TTBK2
SCA12
Funktion des Genprodukts
Genetische Besonderheiten
Phänotypmerkmale
Cave: Repeat-Verlängerung auch in Kontrollen,
sowie in SCA6, Schizophrenie und manisch
depressiven Patienten
beschrieben, insbesondere Bereich zwischen
250–800 CTG-Repeats
geringe Penetranz
stark variierendes Erkrankungsalter von 1–73 Jahren,
skandierende Dysarthrie,
leichte Pyramidenbahnstörung, Nystagmus, Tremor
Gen unbekannt
Ophthalmoplegie, Dysarthrie,
Pyramidenbahnzeichen, Muskelschwäche, extrapyramidale Zeichen, Parkinsonismus
ATTCT Repeat; bislang
nur in Lateinamerika
beschrieben, in Mexiko
und Brasilien nach SCA3
zweithäufigste dominante Ataxie
Epilepsie häufig
Tau-Tubulin-Kinase 2
bisher nur 1 britische
Familie beschrieben,
kein Nachweis bei
deutschen bzw. französischen SCA-Patienten
„reine“ Ataxie, Nystagmus,
normale Lebenserwartung;
Erkrankungsalter zwischen 15
und 43 Jahren
PPP2R2B
Proteinphosphatase
PP2A–PR55β
vorrangig indische Familien; nur einzelne Familien aus Italien, USA
und China, keine deutsche Familie beschrieben; CAG-RepeatErkrankung
zerebrale Atrophie
SCA13
KCNC 3
Ca-Voltage gated Potassium Channel
sehr selten (< 1 %), 1
französische und 1 philippinische Familie beschrieben
mentale Retardierung (moderat IQ 62–76) und faziale
Dysmorphien bei früh beginnenden Verläufen, langsam
verlaufend
SCA14
PRKCG
Proteinkinase C γ
1,5 % der SCA in Frankreich, mehrere Familien
in Deutschland beschrieben
früh beginnender Myoklonus,
kognitive Beeinträchtigung,
Kopf- und Rumpftremor,
langsam progredient, selten
zervikale Dystonie; Erkrankungsalter zwischen 12 und
60 Jahren
SCA15/16
ITPR1
Inositol-1,4,5-Triphosphatrezeptor
große Deletion, aber
auch Punktmutationen;
58 Exone, daher schwer
in Routine ohne NGS zu
testen; ca. 9 % der
deutschen und 2 % der
französischen Familien
Aktions- und Haltetremor,
vorwiegend rein zerebellär,
Nystagmus, normale Lebenserwartung, nur langsam progredient; Erkrankungsalter
zwischen 10 und 66 Jahren
SCA17
TBP
TATA-Bindeprotein
CAG-Repeat-Erkrankung
Demenz, Huntington-ähnliche Chorea, daher auch als
DD für choreatische Bewegungsstörungen
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Tab. 11.4 Fortsetzung
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
Genort
Gen/Locus
Funktion des Genprodukts
Genetische Besonderheiten
Phänotypmerkmale
SCA18
7q31
Gen unbekannt
1 amerikanische Familie
Nystagmus, Pyramidenbahnzeichen, proximal betonte
Schwäche; Erkrankungsalter
12–25 Jahre
SCA19/22
1p21-q21
Gen unbekannt
1 chinesische und 1
holländische Familie
Nystagmus, kognitive Beeinträchtigung, Myoklonus, Tremor, langsam progredient;
Erkrankungsalter 10–46 Jahre
SCA20
225-kb-Duplikation
in der perizentrischen Region von
Chromosom 11
Gen unbekannt, Region
enthält mindestens 10
Gene
1 anglokeltische Familie
Dysphonie, Dentatuskalzifikation, milde Pyramidenbahnzeichen; Erkrankungsalter
19–64
SCA21
7p21-p15
Gen unbekannt
1 französische Familie
Langsam progredient, Akinesie, Tremor, Hyporeflexie,
milde kognitive Beeinträchtigung; Erkrankungsalter 6–
30 Jahre
SCA23
PDYN
Prodynorphin, Precursor
of opioid Neuropeptides
4 holländische Familien
beschrieben (< 0,5 %)
extrem selten, langsam progredient, Nystagmus; Erkrankungsalter zwischen 43 und
56 Jahren
SCA24
19
Gen unbekannt
SCA25
2p15-p21
Gen unbekannt
1 französische Familie
sensorische Neuropathie; Erkrankungsalter 1,5– 39 Jahre
SCA26
19p13
Gen unbekannt
1 norwegische Familie
langsam progrediente Gangataxie, ataktische Bewegungen der Arme;
Erkrankungsalter 26–60 Jahre
SCA27
FGF14
Fibroblast Growth
Factor 14
sehr selten (1 holländische und 1 deutsche
Familie)
früh beginnender posturaler
Tremor, kognitive Defizite,
Verhaltensauffälligkeiten,
langsam progredient; Erkrankungsalter zwischen 24 und
40 Jahren
SCA28
AFG3L 2
mitochondriale AAAProtease; AFG3L 2 bildet
homooligomere und
heterooligomere Komplexe mit Paraplegin,
das bei SPG7 mutiert ist
3 % der italienischen Familien
langsam progredient, tiefe
Sehnenreflexe der unteren
Gliedmaßen erhöht, Ptosis
auch in Betracht ziehen bei
spastischer Ataxianeuropathie; Erkrankungsalter 12–
36 Jahre
SCA29
ITPR1
Inositol-1,4,5-Triphosphatrezeptor
1 australische und 1
kanadische Familie; im
Gegensatz zu SCA15
hier Punktmutationen
kongenitale nicht progressive
Ataxie
SCA30
4q34–35
Gen unbekannt
1 australische Familie
Langsam progredient, reine
Ataxie
11
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Tab. 11.4 Fortsetzung
Neurologische Erkrankungen
II
260
Genort
Gen/Locus
Funktion des Genprodukts
Genetische Besonderheiten
Phänotypmerkmale
SCA31
BEAN-TK2
Thymidine Kinase 2
TGGAA-Repeat, auch in
Kontrollen; bislang keine sicher pathogene
Variante in Europa; in
Japan dritthäufigste Erkrankung nach SCA3
und 6
Hypakusis, später Krankheitsbeginn, meist rein zerebellär;
mittleres Erkrankungsalter
61 Jahre
SCA32
7q32-q33
Gen unbekannt
1 chinesische Familie
Männer mit Azoospermie, bei
Erkrankungsalter vor dem 40.
Lebensjahr milde kognitive
Beeinträchtigung
SCA33
nicht vergeben
SCA34
6p12.3-q16.2
Gen unbekannt
1 kanadische Familie
französischer Abstammung
plus neurokutanes Syndrom,
unmittelbar nach Geburt
Auftreten von ichthyosiformen Plaques, die im Sommer
schwächer werden und denen bei Erythrokeratodermie
entsprechen (EKVP; 133 200),
insbesondere an den Extremitäten; Hautbeteiligung
verschwindet nach dem 25.
Lebensjahr bei den meisten
Patienten und tritt oft ab
dem 40. Lebensjahr wieder
auf; im späteren Alter langsam progredientes neurologisches Syndrom mit
Nystagmus, Dysarthrie und
schwerer Ataxie
SCA35
TGM6
bislang nicht in Europa
beschrieben
SCA36
NOP56
GGCCTG-Repeat; vorrangig in Japan, vereinzelt in Spanien und
Frankreich; bislang
nicht in Deutschland
beschrieben
Schädigung 1. und 2. Motorneuron; Hypakusis
EA1
KCNA1
Kaliumkanal
sehr selten (1:500 000);
unvollständige Penetranz; autosomal dominant, Neumutationen
beschrieben
episodische Ataxie meist in
Kindheit manifestierend, Anfälle nur wenige Minuten
anhaltend, manchmal mehrmals täglich, durch Stress,
Angst und Kinesien auslösbar
EA2/SCA6
CACNA1A
P/Q-abhängiger Kalziumkanal
Missense- und Frameshift-Mutationen, Exondeletionen
episodische Ataxie; aber auch
früh beginnende langsam
progrediente Ataxie mit
Kleinhirnatrophie
EA3
1q42
Gen unbekannt
2 Familien europäischen
Ursprungs
Schwindelanfälle, Doppelsehen, und ataktische Bewegungsstörungen bereits im
Kindesalter, Ataxie langsam
progredient
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Tab. 11.4 Fortsetzung
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
Genort
Gen/Locus
Funktion des Genprodukts
Genetische Besonderheiten
Phänotypmerkmale
EA4
unbekannt
unbekannt
1 große kanadische
Mennonitenfamilie
Periodische vestibulozerebelläre Ataxie
EA5
CACNB4
Regulatorische beta-Untereinheit eines Ca2 + Kanals
1 kanadische Familie
französischer Abstammung; Allelisch zur juvenilen Myoklonusepilepsie (JME)
Wiederholte Attacken von
Schwindel und Ataxie, mehrere Stunden andauernd
EA6
SLC1A3
excitatory amino acid
transporter 1 (EAAT 1)
Fieber-induzierte Ataxieattacken einhergehend mit
verwaschener Sprache und
Kopfschmerzen, gelegentlich
Hemiplegie
EA7
19q13
unbekannt
Episodische Ataxie vor dem
20. Lebensjahr beginnend,
oft durch körperliche Anstrengung ausgelöst und mit
Schwäche und Schwindel
einhergehend, Stunden bis
Tage anhaltend
Merke
H
Klinische Orientierung für die molekulargenetische Diagnostik bei autosomal-dominant vererbten Ataxien
●
●
●
●
ADCA Typ I: klare extrazerebelläre Symptome
○ First-Line: SCA1, 2, 3
○ Second-Line: 6, 7, 17, DRPLA, 14
ADCA Typ II: Ataxie plus Retinopathie
○ First-Line: SCA7
○ Second-Line: andere SCA-Gene
ADCA Typ III: „reine“ zerebelläre Symptome
○ First-Line: SCA6, 8, 5, (12), 11, 15/16, 28
○ Second-Line: andere SCA-Loci
ADCA Typ „IV“: mit geistiger Behinderung/kognitiver Beeinträchtigung
○ First-Line: SCA27/FGF14, SCA13
Autosomal-rezessiv vererbte
Ataxien
Die Klassifikation der rezessiv vererbten Ataxien
ist äußerst unübersichtlich (s. auch http://neuromuscular.wustl.edu/ataxia/recatax.html).
Einige
werden nach den zugrunde liegenden Gendefekten benannt, bei anderen hat man versucht, eine
Klassifikation entsprechend den dominanten Ata-
xien zu beginnen und als ARCA zu bezeichnen.
Momentan sind mehr als 50 autosomal-rezessiv
vererbte Entitäten bekannt, die primär mit Ataxie
einhergehen [17]. Der Phänotyp ist in aller Regel
deutlich vielfältiger im Sinne einer Multisystembeteiligung und das Erkrankungsalter liegt häufig vor
dem 30. Lebensjahr. Die Erkrankungen schreiten
meist schneller als die dominanten Formen voran.
Eine genaue klinische Untersuchung zur Erfassung
okulomotorischer Apraxien oder Blickparesen,
einer Pyramidenbahnbeteiligung oder PNP sowie
auch nicht zerebellärer cMRT-Auffälligkeiten ist
für die Differenzialdiagnosen oft richtungweisend.
Der Vollständigkeit halber sollen hier einige Erkrankungen gelistet, jedoch nicht weiter diskutiert
werden, die mit Ataxien als einem von vielen
Symptomen einhergehen.
Dies betrifft z. B. die Gruppe der kongenitalen
Ataxien und zerebellären Malformationen, wie
Behr-Syndrom CAMOS (SCAR5), zerebelläre Ataxie
Typ 1 (SCAR2), Typ 3 (SCAR6), zerebelläre und pankreatische Aplasie (PTF1A), COACH-Syndrom
(CC2D2A, TMEM67), kongenitale Muskeldystrophien mit Dandy-Walker-Malformation (ZIC1, ZIC4,
FOXC1), Joubert-Syndrom (u. a. TMEM216, AHI1,
NPHP1, CEP290, TMEM67, RPGRIP1L, ARL13B,
CC2D2A, OFD1), zerebelläre Hypoplasien (RELN),
pontozerebelläre Hypoplasien (PCH), oftmals einhergehend mit progressiven zerebralen Atrophien
(TSEN54, TSEN2, TSEN34), aber auch quadrupedale
11
261
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Tab. 11.4 Fortsetzung
Neurologische Erkrankungen
II
Mit diesen Tests können zugleich kausal behandelbare Ataxien erfasst werden.
Friedreich-Ataxie
Mit ca. 3 auf 100 000 Einwohner ist die FriedreichAtaxie (FRDA) die häufigste ARCA in der westlichen Welt, wohingegen die Erkrankung z. B. in
Asien eher selten ist. Diese Form der Ataxie gehört
zu den Repeat-Expansionserkrankungen (Typ 2)
und wird meist durch eine homozygote GAA-Triplet-Expansion (70 bis > 1000 GAA-Triplets) in
einem Intron des FXN-Gens verursacht. Auch hier
findet man eine inverse Korrelation des Erkrankungsalters mit der expandierten GAA-RepeatLänge. In 2–4 % der Fälle findet sich neben einer
heterozygoten Triplet-Expansion eine Punktmutation auf dem zweiten FXN-Allel. Ein solcher compound-heterozygoter Zustand muss bei Patienten
ausgeschlossen werden, bei denen primär nur eine
heterozygote Triplet-Expansion nachgewiesen
wird. Bisher sind keine Patienten mit CompoundHeterozygotie für 2 Punktmutationen beschrieben.
Kürzlich wurden auch Exondeletionen bei FRDA
beschrieben, die man insbesondere bei frühem Erkrankungsalter und Entwicklung einer schweren
Skoliose in Betracht ziehen sollte [3].
Noch vor wenigen Jahren wurde die Erkrankung
nur in Betracht gezogen, wenn sie vor dem 20. Le-
262
bensjahr auftrat. Seit dem Nachweis der genetischen Ursache weiß man jedoch, dass eine FRDA
im Alter bis zu 60 Jahren auftreten kann.
Merke
H
Patienten mit einer FRDA sollten interdisziplinär
in einem Zentrum betreut werden, in dem neben
Neurologen auch Kardiologen (hypertrophe nicht
obstruktive Kardiomyopathie), Orthopäden (Skoliose), Endokrinologen (Diabetes mellitus bei ca.
30 % der Patienten), Gastroenterologen, Ophthalmologen (Optikusatrophie bei ca. 25 %), HNOÄrzte (13 % Taubheit) und Humangenetiker (25 %
iges Wiederholungsrisiko) mit dem Krankheitsbild vertraut sind. Taubheit und Optikusatrophie
treten meist erst im fortgeschrittenen Stadium
der Erkrankung auf, sodass deren Auftreten vor
der Ataxie eher für eine andere Erkrankung wie
CMTX5 bei PRPS1-Mutation, OPA1 oder OPA3
spricht. Ebenso spricht eine deutliche Kleinhirnatrophie oder ein Nystagmus eher gegen eine
FRDA. Die Heterozygotenfrequenz wird mit
1:60–100 angegeben.
Praxistipp
Z
Einen sehr guten Überblick über die Klinik, Genetik und Behandlung der FRDA findet man in
GeneReviews (www.ncbi.nlm.nih.gov/books/
NBK1281/).
Weitere autosomal-rezessiv vererbte
Ataxien
Die autosomal-rezessive spastische Ataxie Charlevoix-Saguenay (ARSACS) wird in die genetische
Differenzialdiagnose in Deutschland bisher wenig
einbezogen, stellt aber die zweithäufigste ARCA
nach FRDA dar [58]. Wie die FRDA beginnt auch
ARSACS in der Regel früh (< 20. Lebensjahr), kann
aber neben der zerebellären Ataxie auch Pyramidenbahnzeichen der unteren Extremität (Spastik,
Babinski-Zeichen, Hyperreflexie) und eine axonale
sensomotorische Polyneuropathie (PNP) aufweisen. Differenzialdiagnostisch wichtig ist ein charakteristischer cMRT-Befund mit oberwurmbetonter Kleinhirnatrophie, T 2-hypointensen linearen
Streifen in der Pons und einer T 2-hyperintensen
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Fortbewegung (CA8, VLDLR), um nur einige zu nennen.
Auch die Gruppe der metabolischen Ataxien
wächst ständig. Dazu gehören Abetalipoproteinämie, Biotinidasemangel, Karnitinazetyltransferasemangel, zerebrotendinöse Xanthomatose (CTX),
Hartnup-Erkrankung, Hypobetalipoproteinämie,
Ahornsiruperkrankung, Niemann-Pick Typ C
(NPC), Refsum-Erkrankung oder auch Morbus Wilson.
Zur Differenzialdiagnose werden folgende Laborparameter bei früh beginnenden Ataxieformen
empfohlen (S 1 Ataxie-Leitlinien der DGN):
● AFP (Ataxie-Teleangiektasie [AT], Ataxie mit okulomotorischer Apraxie Typ 2 [AOA2])
● Vitamin E (Ataxie mit Vitamin-E-Defizienz
[AVED], Abetalipoproteinämie)
● Laktat (mitochondriale Ataxieformen)
● Phytansäure (Refsum-Krankheit)
● Albumin (AOA1)
● Cholesterin (Abetalipoproteinämie, AOA1)
● Cholestanol (CTX)
lateralen Pons [50]. Bei der Mehrheit der ARSACSPatienten finden sich auch eine parietale Atrophie
und ein dünnes Corpus callosum.
Zu der in Deutschland mit bis zu 11 % aller Patienten häufigen Gruppe der früh manifesten Ataxien gehören auch Mutationen im nukleär codierten Gen der mitochondrialen Polymerase γ (POLG)
(mittleres Alter bei Krankheitsbeginn 26 Jahre,
Spannweite 7–52 Jahre) [54]. Der Phänotyp entspricht weitestgehend einer „mitochondrialen“ autosomal-rezessiven Ataxie mit externer Ophthalmoplegie (PEO) und sensorischer axonaler PNP.
Diese phänotypische Kombination hat eine prädiktive Validität von 80 % auf zugrunde liegende
POLG-Mutationen [56].
Weitere häufige phänotypische Merkmale sind
bilaterale Ptosis (69 %), Epilepsie (38 %) und hyperkinetische Bewegungsstörungen (Chorea 31 %,
Dystonie 31 %, Myoklonus 23 %). Ähnlich wie bei
FRDA besteht in der Mehrzahl der Fälle (85 %) keine oder eine allenfalls moderate Kleinhirnatrophie
[57].
Differenzialdiagnostisch relativ einfach zu erkennen sind Ataxien mit okulomotorischer Apraxie (definiert als verzögerte Sakkadeninitiation,
zudem häufig unter Zuhilfenahme einer ipsilateralen Kopfdrehung), von denen es bisher 2 genetisch
definierte Unterformen (AOA1 und AOA2) gibt. Die
Häufigkeit beider Ataxieformen wird jeweils mit
ca. 5 % unter den rezessiven Ataxien angegeben.
AOA2 (Senataxindefekt) geht bei fast allen Patienten mit einem erhöhten AFP im Serum einher,
während der AFP-Wert bei AOA1 normal ist. Dafür
findet man bei AOA1-Patienten mit längerem
Krankheitsverlauf eine Hypoalbuminämie (ca.
80 %) und eine Hypercholesterinämie (ca. 70 %).
Fast alle Patienten haben eine Kleinhirndegeneration. Wichtig ist zu erwähnen, dass ca. ⅓ aller
AOA1-Patienten (Mutation im Aprataxin-Gen) eine
kognitive Beeinträchtigung haben.
Ebenfalls mit okulomotorischer Apraxie und wie
die AOA2 mit erhöhtem AFP-Spiegel einhergehend
(Werte > 10 ng/mL) ist die Ataxia teleangiectasia
(AT, auch Louis-Bar-Syndrom genannt). Charakteristisch für die AT sind okulokutane Teleangiektasien und eine variabel ausgeprägte Immundefizienz, die mit einem erhöhten Malignomrisiko,
insbesondere für Leukämien oder Lymphome, einhergeht.
Auch wenn in Europa selten, sollte eine Vitamin-E-Mangel-Ataxie (AVED) wegen der Behandlungsmöglichkeiten bei Patienten mit früh begin-
nender Ataxie ausgeschlossen werden. Richtungsweisend können hier erniedrigte Serum-VitaminE-Spiegel sein. Lebenslange orale Vitamin-E-Gaben
in hohen Dosen können den Krankheitsprogress
verlangsamen oder sogar aufhalten [42].
Ebenfalls selten, aber therapeutisch relevant
sind die adulte Verlaufsform des NPC und die CTX.
Bei der adulten Verlaufsform der NPC (Mutationen
im NPC 1-Gen [95 %] oder NPC 2-Gen [5 %]), die
häufig mit einer vertikalen supranukleären Blickparese nach oben (initial oftmals zunächst nur als
Verlangsamung der vertikalen Sakkaden imponierend), Gangataxie, Dysphagie, Dysarthrie, gelegentlich mit Dystonie und Hyperreflexie sowie
einer früh beginnenden Demenz (20.–40. Lebensjahr) einhergeht, bewirkt die Substanz Miglustat
eine gewisse Stabilisierung des Krankheitsverlaufs
[47]. Der biochemische Filipin-Test, der nicht verestertes freies Cholesterol bindet und anfärbt, ist
bei ca. 20 % der Patienten nicht richtungsweisend
für die Diagnosestellung. Bei der CTX, die durch
Störung des Gallensäureabbaus (CYP27A1-Gen) zu
einer Lipidspeicherung führt und mit Katarakt, Diarrhoe und Xanthomen an den Sehnen einhergeht,
sowie ebenfalls zu progressiven neuropsychiatrischen Störungen (Demenz, psychiatrische Störungen, Ataxie, Pyramidenbahnzeichen, Dystonie, Parkinson-Syndrom, periphere Neuropathie) führen
kann, dient Chenodeoxycholsäure als therapeutisches Mittel der Wahl.
Ataxie mit Augenmanifestationen findet sich
beim Marinesco-Sjögren-Syndrom mit Katarakt
als richtungsweisendes Symptom, bei CAMOS (zerebelläre Ataxie mit mentaler Retardierung, Optikusatrophie und Hautdefekten) sowie gelegentlich
bei einer GM1-Gangliosidose, bei der bei ca. 50 %
der Patienten sog. „Cherry-red Spots“ im Augenhintergrund bestehen. Eine Retinitis pigmentosa
ist in Kombination mit hinterstrangbetonter Ataxie bei PCARP beschrieben, sowie eine Optikusatrophie, kombiniert mit Ataxie und Lernbehinderung bei Mutationen im MTPAP-Gen.
Aus den genannten Häufigkeiten und phänotypischen Merkmalen lässt sich das in ▶ Abb. 11.2
dargestellte Vorgehen bei der genetischen Diagnostik rezessiver Ataxien empfehlen.
11
263
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11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
Neurologische Erkrankungen
Erwäge anderen
Vererbungsmodus (x-linked,
mtDNA, dominant mit red. Penetranz)
II
früh beginnende Ataxie
Ausschluss sekundärer
Ursachen
Familienanamnese
vereinbar mit ARCA
+
+
PEO?
–
Afferente Ataxie?
–
–
FRDA
cMRT = zerebelläre Atrophie?
–
–
+
AOA2 + AT
α-Fetoprotein↑
CTX
Cholesteanol↑
Phytansäure↑
Refsum
AOA1 + SCAN1
Cholesterin↑+
Albumin↓
Coeruloplasmin↓
Wilson
Vitamin E↓
AVED + Abeta
–
Pyramidenbahnzeichen?
–
+
–
–
Demyelinisierende PNP?
+
ARSACS
SYNE1
–
Krabbe, MLD, GM1, GM2, NPC, ALD
Abb. 11.2 Stufendiagnostische Vorgehensweise bei Verdacht auf eine rezessiv vererbte Ataxie (Quelle: [55]), mit
freundlicher Genehmigung von Springer Science + Business Media
X-chromosomal vererbte Ataxien
Mehrere X-chromosomal vererbte Ataxieformen
haben eine kongenitale Manifestation und gehen
mit zerebellären Anomalien einher. Hier soll jedoch aufgrund seiner Bedeutung und Häufigkeit
ausschließlich auf das FXTAS-Syndrom (Fragile-XTremor-Ataxie-Syndrom) eingegangen werden.
FXTAS entsteht auf dem Hintergrund einer CCGRepeat-Expansion im FMR1-Gen zwischen 55 und
200 CGG-Repeats (Fragile-X-Prämutation) (Kap.
Repeat-Expansionen als Ursache des Expressionsverlusts eines Gens, Kap. 13.2.4). Männliche und
weibliche Prämutationsträger haben ein erhöhtes
Risiko für eine neurodegenerative Erkrankung im
Alter, die insbesondere durch Intentionstremor
und Ataxie gekennzeichnet ist. 20–30 % der Frauen
264
entwickeln darüber hinaus eine vorzeitige Ovarialinsuffizienz (POI). Seltener findet man parkinsonoide Symptome, kognitive Einschränkungen und
autonome Funktionsstörungen sowie Hypothyreose. Als beweisend für ein FXTAS gilt folgende
Kombination:
● CGG-Repeat-Verlängerungen zwischen 55 und
200
● Läsionen im mittleren Kleinhirnstiel und zerebellärem oder supratentoriellem Marklager im
MRT
● Intentionstremor und/oder Ataxie
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POLG
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
I
Fragile-X-Syndrom
In Fallbeispiel 13.1 (Kap. 13.2.4) wurde Antons
klinische Symptomatik als Fragile-X-Syndrom
nachgewiesen. An dieser Stelle soll auf eine besondere Problematik für die weitere Familie aufmerksam gemacht werden:
Im Stammbaum zeigt sich bereits, dass der
Großvater von Anton in höherem Alter eine zunehmende Zittrigkeit und Gangunsicherheit entwickelt hatte. Der Nachweis einer Prämutation
(ca. 110 Repeats) im FMR1-Gen bestätigte die
Vermutung des Vorliegens eines FXTAS.
Mit dem Nachweis einer Prämutation von ca.
120 CCG-Einheiten bei der Mutter von Anton ergeben sich zahlreiche Aspekte, die keine primären Fragestellungen bei der Konsultation des Humangenetikers waren:
● Mit dem Nachweis eines Fragile-X-Syndroms
bei Anton ist nun eine gesamte Familie mit der
Fragestellung von Krankheitsursachen und Risiken involviert. Wir hatten bereits erfahren, dass
die Schwester eine Testung und Beratung zunächst abgelehnt hat.
● Der Mutter von Anton ist nun ihr erhöhtes Risiko einer frühen Menopause bekannt, was die
Familienplanung möglicherweise einschränkt.
● Wegen des X-chromosomalen Erbgangs könnten sogar weiter entfernte Verwandte mit der
Auseinandersetzung einer genetisch bedingten
Erkrankung konfrontiert sein.
● Der Großvater von Anton könnte sich evtl. für
die Behinderung seines Enkels „verantwortlich“
fühlen, hier ist Beratung dringend empfohlen.
● Ein schwieriger Punkt ist zudem, dass sich die
Mutter von Anton, wie eigentlich auch deren
Schwester, mit der Situation konfrontiert sieht,
dass auch sie ein Risiko für FXTAS im späteren
Alter hat. Mit der Aufklärung der genetischen
Ursachen bei ihrem Sohn besteht für sie selbst
ein Risiko für eine spät manifestierende neurodegenerative Erkrankung sowie für andere
Manifestationen bei Trägerschaft von Prämutationen (Kap. 13.2.4). Diese Problematik sollte
unbedingt vor einer Testung besprochen werden.
Merke
H
Für FXTAS gelten folgende Merkmale:
● Die klinische Penetranz der Prämutation ist variabel und altersabhängig.
● Männer wie Frauen können an einer FXTAS erkranken, wobei die Penetranz bei Frauen nur
etwa halb so hoch ist.
● Das Erkrankungsrisiko nimmt mit dem Alter zu
(bei Männern gilt als Richtwert: 50–59 Jahre
17 %; 60–69 Jahre 38 %; 70–79 Jahre
47 %; > 80 Jahre 75 %) [21].
● Höhere Prämutations-Repeat-Längen gehen
mit einem höheren Risiko für FXTAS einher
[39].
Episodische Ataxien
Auch wenn EA eine seltene Untergruppe darstellen
(verlässliche Daten sind in der Literatur nicht ersichtlich), wollen wir sie wegen der klinischen
Sichtbarkeit, des besonderen Verlaufs und der
prinzipiellen Therapierbarkeit kurz ansprechen.
Gegenwärtig unterscheidet man 7 genetische
Unterformen (EA1–7; www.ncbi.nlm.nih.gov/
books/NBK25 442/). Nur 2 autosomal-dominant
vererbte Unterformen, EA1 und EA2, sind relativ
häufig. EA1, bei der Mutationen im KCNA1-Gen
kausal sind, manifestiert sich mit kinesiogener
Ataxie, die durch körperliche Anstrengung, Erschrecken und manchmal auch durch Positionswechsel ausgelöst werden kann. Diese „Attacken“,
auch mit Krämpfen und Steifheit der Gliedmaßen
einhergehend, manifestieren bereits im Kindesalter und können häufig auftreten, dauern aber
selten länger als 15 Minuten. Bei der EA2
(CACNA1A-Mutationen) handelt es sich um eine
nicht kinesiogene EA, die durch Stress, Kaffee, Alkohol und bestimmte Medikamente ausgelöst
werden kann. Diese Attacken können Stunden bis
Tage andauern und mit Übelkeit, Migräne, Hemiparese, Dystonie, Tinnitus und Diplopie einhergehen.
Wichtig ist die differenzialdiagnostische Abgrenzung der EA, da sie mit Azetazolamid, 4-Aminopyridin und Carbamazepin gut behandelt werden können oder deren Auftreten verhindert werden kann. Eine Kaliumsubstitution ist bei EA2 besser wirksam als bei EA1. Meist nimmt die Häufig-
11
265
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Fallbeispiel 11.3
II
keit der Attacken im Laufe des Lebens ab, es sollte
aber unbedingt darauf geachtet werden, die genannten auslösenden Faktoren zu vermeiden.
Neurologische Erkrankungen mit
paraplegischen Bewegungsstörungen
11.2.5 Motoneuronerkrankungen
Ähnlich komplex wie die Genetik und Klinik der
Ataxien ist auch die der Paraplegien. Zum Teil bestehen auch mit den Ataxien überlappende Phänotypen. Genetisch wurden bisher 52 SPG-Genorte
beschrieben, davon 19 autosomal-dominante, 27
autosomal-rezessive, eine maternal vererbte und 5
X-chromosomale Formen. Für 35 dieser Genorte
konnten die zugrunde liegenden Gene bereits
identifiziert werden (▶ Tab. 11.5). Man schätzt jedoch, dass ca. 50 % der kausalen genetischen Ursachen noch aufzudecken sind, was durch den Einsatz der neuen Next-Generation-Technologien
auch in schneller Abfolge für einen Großteil der
Patienten erfolgen wird (Kap. 15).
Die Zahl der gegenwärtig bekannten Gene
macht auch deutlich, dass bisher insbesondere für
die seltenen Unterformen populationsspezifische
Angaben über die Häufigkeit fehlen und Informationen über die phänotypische Manifestation der
jeweiligen Erkrankung begrenzt sind.
Generell sollten vor einer genetischen Diagnostik auch andere Ursachen einer Paraspastik wie
Genetisch bedingte Motoneuronerkrankungen
können das 1. Motoneuron (SPG: spastische Spinalparalyse), das 2. Motoneuron (SMA) oder aber
beide Motoneurone betreffen (ALS). Bei der SPG
finden wir primär eine Affektion der Beine, die zu
Gehschwierigkeiten führt. Weitere Gliedmaßen
können betroffen sein. Genaue Häufigkeitsangaben finden sich nicht, schätzungsweise sind 2–10
von 100 000 Personen an einer SPG erkrankt. Die
ALS ist deutlich häufiger, hier liegt die Neuerkrankungsrate pro Jahr bei 2 Individuen je 100 000 Einwohner. Es handelt sich dabei um eine progrediente degenerative motorische Systemerkrankung.
Die klinische Symptomatik bei der SMA wird bestimmt durch die Folgen eines selektiven Untergangs motorischer Vorderhornzellen und der motorischen Kerngebiete des Hirnstamms. Für alle Erkrankungen gibt es komplexe genetische Grundlagen, die in den folgenden Kapiteln erörtert werden.
Tab. 11.5 Bekannte HSP-Gene (Quelle: [55]).
HSP-Subtyp/Genlocus/
(OMIM)
Gen/Genprodukt
Erkrankungsalter
(Jahre)
Phänotyp/MRT
Häufigkeit
SPG3A, 14q22.1 (182 600)
ATL 1, Atlastin-1
2–50
reine HSP mit langsamer
Progression, variable axonale PNP, MRT: normal;
allelische Erkrankung: hereditäre sensorische und autonome Neuropathie Typ 1
(OMIM 613 708)
∼ 10 % der
AD HSP, ∼
30–50 % der
früh beginnenden
(< 10 Jahre)
AD HSP
SPG4, 2p22.3 (182 601)
SPAST, Spastin
1–74
meist reine HSP, PNP selten,
MRT: meist normal; selten
komplizierte Formen mit
Demenz, Epilepsie, PNP,
Tremor oder Ataxie
∼ 50 % der
AD HSP; partielle Deletionen in 10 %
der AD HSP; ∼
10–15 % der S
HSP
SPG6, 15q11.2-q12
(600 363)
NIPA1, Non-imprinted in Prader-Willi/
Angelman Syndrome Region Protein
1
12–35
reine HSP; vereinzelte Fälle
mit Epilepsie oder PNP;
meist keine PNP; MRT: normal
selten (∼ 2 %)
SPG8, 8q24.13 (603 563)
KIAA0196, Strumpellin
18–69
reine HSP; keine PNP; MRT:
spinale Atrophie
unbekannt
Autosomal-dominant
266
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Neurologische Erkrankungen
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
HSP-Subtyp/Genlocus/
(OMIM)
Gen/Genprodukt
Erkrankungsalter
(Jahre)
Phänotyp/MRT
Häufigkeit
SPG10, 12q13.3 (604 187)
KIF5A, Kinesin Family Member 5A
2–51
reine oder komplizierte
HSP: Amyotrophie, kognitive Beeinträchtigung; axonale PNP; MRT: normal
∼ 4–10 % der
SPG4-negativen AD HSP
SPG12, 19q13 (604 805)
RTN2, Reticulon 2
1–22
reine HSP, rasch progredient; keine PNP; MRT:
normal oder spinale Atrophie
unbekannt
SPG13, 2q33.1 (605 280)
HSPD1, Heat Shock
60kD Protein 1
(Chaperon)
17–68
reine HSP; Neurophysiologie: normal; MRT: normal;
potenzieller genetischer
Modifier der SPG4; allelische Erkrankung: autosomal-rezessive hypomyelinisierende Leukodystrophie
Typ 4 (HLD4; OMIM
612 233)
selten (< 1 %)
SPG17/Silver-Syndrom,
11q12.3 (270 685)
BSCL 2, BerardinelliSeip congenital Lipodystrophy 2 (Seipin)
8–40
Spektrum der reinen HSP
bis distale hereditäre motorische Neuropathie
(dHMN Typ 5) inkl. SilverSyndrom; axonale PNP;
MRT: spinale Atrophie; allelische Erkrankung: kongenitale generalisierte
Lipodystrophie Typ 2
(OMIM 269 700); distale
hereditäre motorische Neuropathie Typ V (OMIM
600 794)
unbekannt
meist reine HSP, selten
Amyotrophie der Handmuskeln (Silver-Syndrom);
selten axonale PNP; MRT:
normal
~ 7 % der
SPG4-negativen AD HSP
komplizierte HSP: Fußdeformitäten
unbekannt;
auch in Kontrollen gefunden, Kausalität
wird debattiert
11
SPG31, 2p11.2 (610 250)
REEP1, Receptor Expression-Enhancing
Protein 1
SPG33, 10q24.2 (610 244)
ZFYVE27, Protrudin
SPG42, 3q25.31 (612 539)
SLC33A1, SoluteCarrier-Family 33
(Acetyl-CoA Transporter), Member 1
4–42
reine HSP; MRT: normal
selten (1 Mutation in einer
chinesischen
Familie)
CYP7B1, Oxysterol
7a-Hydroxylase 1
(OAH1)
1–30
meist reine HSP; keine PNP;
MRT: Marklagerläsionen;
komplizierte HSP: Optikusatrophie, Kleinhirnfunktionsstörung
~ 16 % der
reinen AR
HSP; ~ 3 % der
S HSP
1–60
Autosomal-rezessiv
SPG5, 8q12.3 (270 800)
267
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Tab. 11.5 Fortsetzung
Neurologische Erkrankungen
II
268
HSP-Subtyp/Genlocus/
(OMIM)
Gen/Genprodukt
Erkrankungsalter
(Jahre)
Phänotyp/MRT
Häufigkeit
SPG7, 16q24.3 (607 259)
SPG7, Paraplegin
8–42
reine oder komplizierte
HSP: Optikusathrophie, zerebelläre Atrophie, variable
PNP, Dysarthrie, Dysphagie;
MRT: häufig Kleinhirnatrophie
~ 1,5–7 % der
S/AR HSP
SPG11, 15q21.1 (604 360)
SPG11, Spatacsin
1–31
komplizierte HSP: kognitive
Beeinträchtigung, Dysarthrie, Amyotrophie der Handmuskeln; häufig axonale
PNP; MRT: dünnes Corpus
callosum, kortikale Atrophie, Marklagerläsionen
~ 20 % der AR
HSP
SPG15, 14q24.1 (270 700)
ZFYVE26, Spastizin
8–35
komplizierte HSP: kognitive
Beeinträchtigung, Dysarthrie, Amyotrophie der Handmuskeln; häufig axonale
PNP; MRT: dünnes Corpus
callosum, kortikale Atrophie, Marklagerläsionen
< 3 % der AR
HSP; ~ 28 %
der SPG11-negativen HSP
mit dünnem
Corpus callosum und
mentaler Retardierung
SPG18, 8p12-p11.21
(611 225)
ERLIN-2, SPFH2
Kindheit
komplizierte HSP: schwere
kognitive Beeinträchtigung,
Kontraktur; keine PNP;
MRT: normal
unbekannt
SPG20/Troyer-Syndrom,
13q13.3 (275 900)
SPG20, Spartin
1–20
komplizierte HSP: milde
kognitive Beeinträchtiung,
Dysarthrie, distale Amyotrophie, Kleinwuchs, häufig
emotionale Labilität und
Affektstörungen; keine
PNP; MRT: Marklagerläsionen
1 Mutation in
der „OldAmish“- Bevölkerung
SPG21/MAST-Syndrom,
15q22.31 (248 900)
SPG21, Maspardin
1–31
komplizierte HSP: schwere
kognitive Beeinträchtigung,
Psychose, Dysarthrie, zerebelläre Dysfunktion, langsam progredient; keine
PNP; MRT: dünnes Corpus
callosum, kortikale und zerebelläre Atrophie, Marklagerläsionen
1 Mutation in
der „OldAmish“-Bevölkerung
SPG28, 14q22.1 (609 340)
DDHD1, DDHD Domain-Containing
Protein 1
Kindheit
reine HSP
unbekannt (3
Familien)
SPG30, 2q37.3 (610 357)
KIF1A, Kinesin3
12–21
komplizierte HSP: Kleinhirnzeichen; PNP; MRT: keine oder milde
Kleinhirnatrophie; allelische
Erkrankung: hereditäre
sensorisch-autonome Neuropathie Typ2 (HSAN2;
OMIM 614 213)
unbekannt (3
Familien)
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Tab. 11.5 Fortsetzung
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
HSP-Subtyp/Genlocus/
(OMIM)
Gen/Genprodukt
Erkrankungsalter
(Jahre)
Phänotyp/MRT
Häufigkeit
SPG35, 16q23.1 (612 319)
FA2H, Fatty Acid 2Hydroxylase
6–11
reine und komplizierte HSP:
kognitive Beeinträchtigung,
Optikusatrophie, Opthalmoplegie, Dysarthrie,
Ataxie, Krampfanfälle,
Dystonie; keine PNP; MRT:
milde Marklagerläsionen,
Groß- und Kleinhirnatrophie, T 2-Signalabsenkungen des Globus pallidus
unbekannt (7
Familien)
SPG39, 19p12.2 (612 020)
PNPLA6, Patatin-like
Phospholipase Domain Containing 6
Kindheit
komplizierte HSP: axonale
Neuropathie; MRT: spinale
Atrophie
unbekannt (2
Familien)
SPG44, 1q42.13 (613 206)
GJC2, Gap Junction
Protein Connexin
47
10–31
komplizierte HSP: milde
kognitive Beeinträchtigung,
milde bis moderate Kleinhirndysfunktion, Dysarthrie;
keine PNP; MRT: dünnes
Corpus callosum, Marklagerläsionen; allelische Erkrankung: hypomyelinisierende Leukodystrophie Typ
2 (Pelizaeus-Merzbacher-like Disease (PMLD; OMIM
608 804)
unbekannt (1
Familie)
SPG46, 9p13.3 (n.a.)
GBA2, Glucosidase,
Beta (Bile Acid) 2
n.a.
komplizierte HSP: mentale
Retardierung, Katarakt,
Hypogonadismus bei
männlichen Patienten;
MRT: dünnes Corpus callosum
unbekannt (4
Familien)
11
SPG47, 1p13.2 (614 066)
AP4B1, Adaptorrelated Protein
Complex 4, Beta-1
Subunit
Kindheit
komplizierte HSP: mentale
Retardierung, Mikrozephalus, Epilepsie, Kleinwuchs;
MRT: dünnes Corpus callosum, Marklagerläsionen
unbekannt (2
Familien)
SPG48, 7p22.2 (613 647)
AP5Z1 (KIAA0415),
Adaptor-related
Protein Complex 5,
Zeta-1 Subunit
Erwachsenenalter
reine HSP
unbekannt (1
Familie)
SPG49, 4q25 (n.a.)
CYP2U1, Cytochrome P450, Family 2, Subfamily U,
Polypeptide 1
0–8
reine oder komplizierte
HSP: mentale Retardierung,
axonale Neuropathie; MRT:
dünnes Corpus callosum,
Marklagerläsionen
unbekannt (5
Familien)
SPG50, 7q22.1 (612 936)
AP4M1, Adaptor-related Protein Complex 4, Mu-1
Subunit
Kindheit
komplizierte HSP: schwere
mentale Retardierung, Mikrozephalus, adduzierte
Daumen; MRT: Ventrikulomegalie, Marklagerläsionen, variable zerebelläre
Atrophie
unbekannt (1
Familie)
269
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Tab. 11.5 Fortsetzung
Neurologische Erkrankungen
II
HSP-Subtyp/Genlocus/
(OMIM)
Gen/Genprodukt
Erkrankungsalter
(Jahre)
Phänotyp/MRT
Häufigkeit
SPG51, 15q13.3 (613 744)
AP4E1, Adaptor-related Protein Complex 4, Epsilon-1
Subunit
Kindheit
komplizierte HSP: schwere
mentale Retardierung, Mikrozephalus, Spitz-Klumpfuß, Epilepsie; MRT:
erweiterte Ventrikel, kortikale und zerebelläre Atrophie, Marklagerläsionen
unbekannt (2
Familien)
SPG52, 14p11.2 (614 067)
AP4S1, Adaptor-related Protein Complex 4, Sigma-1
Subunit
Kindheit
komplizierte HSP: schwere
mentale Retardierung, Mikrozephalus, Spitz-KlumpFuß
unbekannt (1
Familie)
SPG54, 8p11.23 (615 033)
DDHD2, DDHD Domain-containing
Protein 2
<2
komplizierte HSP: mentale
Retardierung; MRT: dünnes
Corpus callosum
unbekannt (3
Familien)
SPG55, 12q24.31
(615 035)
C12orf65, Chromosome 12 open Reading Frame 65
Kindheit
komplizierte HSP: Optikusathrophie, periphere Neuropathie; allelische
Erkrankung: kombinierter
Defekt der oxidativen
Phosphorylierung Typ 7
(COXPD7; OMIM 613 559)
unbekannt (1
Familie)
SPG1, Xq28 (303 350)
L1CAM, Neural Celladhesion Molecule
L 1 (NCAM)
perinatal
komplizierte HSP: kognitive
Beeinträchtigung, adduzierte Daumen (in 50 % der
Fälle); MASA-Syndrom;
MRT: Hydrozephalus, dünnes Corpus callosum
unbekannt
SPG2, Xq22.2 (312 920)
PLP1, Proteolipid
Protein 1 (MPLP)
1–18
reine oder komplizierte
HSP: Nystagmus, Ataxie;
MRT: Marklagerläsionen; allelische Erkrankung: Pelizaeus-Merzbacher-Erkrankung (OMIM 312 080)
unbekannt
SPG22/Allan-HerndonDudley-Syndrom (AHDS),
Xq13.2 (300 523)
SLC16A2, Monocarboxylate Thyroid
Hormone Transporter 8 (MCT 8)
Kindheit
komplizierte HSP: kognitive
Beeinträchtigung, generalisierte Schwäche, Hypotonie
insb. der Nackenmuskeln in
der Kindheit, Dystonie; erhöhtes Trijodthyronin, erniedrigtes freies Thyroxin;
MRT: variable kortikale und
subkortikale Atrophie
unbekannt
X-chromosomal
AD: autosomal-dominant; BMP: Bone morphogenetic Protein; CMT: Central Motor Conduction Time; ER: endoplasmatisches Retikulum; OMIM: Online Inheritance In Man, Datenbank der Gene, die – wenn verändert – mit einer Krankheit
assoziiert sind; PNP: periphere Neuropathie; S: sporadisch
270
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Tab. 11.5 Fortsetzung
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
Anamnese und
neurologischer Befund
nein
ja
auffällig
SPAST-Diagnostik
(Sanger-Sequenzierung und Gendosis)
auffällig
Befund
unauffällig
nein
Spor-HSP
AR-HSP
Befund
unauffällig
ja
AD-HSP
Sanger-Sequenzierung
(z.B. SPG11, L1CAM)
ja
„gene panel sequencing“
(Next-Generation-Sequencing,
inklusive Gendosis für SPAST, SPG7, SPG11)
Befund
Abb. 11.3 Stufendiagnostische Vorgehensweise zur Abklärung einer hereditären Spinalparalyse (Quelle: [57]), mit
freundlicher Genehmigung von Springer Science + Business Media.
Entzündungen (multiple Sklerose), Fehlbildungen,
metabolische Störungen (Vitamin-B12-Mangel,
Morbus Krabbe) und mechanische Rückenmarkserkrankungen (Myelopathien) ausgeschlossen
werden.
Momentan wird aus genetischer Sicht eine Stufendiagnostik insbesondere aufgrund der Häufigkeit der einzelnen Unterformen vorgenommen.
Die weltweit sicherlich häufigste Form ist die SPG4
mit Mutationen im SPAST-Gen [4]. Schätzungsweise werden ca. 30–50 % aller dominant vererbten
Formen durch Mutationen im SPAST-Gen verursacht. Da aber sowohl eine verminderte Penetranz (Penetranzrate bisher nicht bekannt) als
auch seltene Neumutationen dokumentiert sind,
sollte das SPAST-Gen auch bei sporadisch erscheinender Paraplegie untersucht werden (Detektionsrate unabhängig vom Vererbungsmodus 12 %) [11].
Männer scheinen einen früheren und schwereren
Phänotyp zu entwickeln. Große und kleine Insertionen und Deletionen finden sich häufig, sodass
Gendosisanalysen bei einem DNA-Test unumgänglich sind. Eine klinische Einordnung der Patienten
in reine und komplizierte SPG hilft hier wenig, da
beide Formen manchmal sogar in derselben Familie, auch mit deutlich unterschiedlichem Erkran-
kungsalter (1–74 Jahre) und Verläufen, vorkommen.
Neben der SPG4 ist auch eine Analyse des SPG7Gens (Paraplegin-Gen) bei sporadisch erscheinenden Patienten indiziert. Bei dieser autosomal-rezessiv vererbten Form der Paraplegie (oftmals Paraspastik) besteht bei etwa 50 % der Patienten auch
eine Kleinhirndegeneration im Sinne einer spastischen Ataxie. Im Sinne einer Stufendiagnostik
kann man insbesondere bei früh beginnender autosomal-dominanter SPG auch erwägen, SPG3A
(Atlastin-1-Gen) zu testen. Mutationen in diesem
Gen sollen für ca. 10 % der dominanten Paraplegien
und insbesondere für 30–50 % der früh (vor dem
10. Lebensjahr) beginnenden Formen verantwortlich sein. Ebenfalls früh beginnend ist die SPG11
(Spatacsin-Gen), die meist mit kognitiven Einschränkungen und rascher Progredienz sowie
einem dünnen Balken im MRT einhergeht. Eine
Übersicht über bekannte SPG-Gene, deren Häufigkeit und assoziierte Phänotypen findet sich bei
Schöls et al. [55].
11
271
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Typischer HSP-Phänotyp?
(z.B. TCC-HSP, L1-Syndrom)
Neurologische Erkrankungen
Die genetische Aufklärung der spastischen Paraplegien (SPG) ist in ständiger Entwicklung. Wir
haben mit der Einführung der Panel-Diagnostik
mehrere Fehlbewertungen bei Einzelgenanalysen
anderer Labore nachweisen müssen, bspw. in der
Überinterpretation einzelner Mutationen oder
aufgrund untypischer klinischer Manifestationen.
Daher sollte man sich vor einer genetischen Beratung zu spastischen Paraplegien über den aktuellen Wissensstand zu Phänotypen und Genotypen
der SPG, bspw. über GeneReviews, informieren
(www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK1116/). Bei
der genetisch basierten Pathogeneseeinteilung
der SPG beobachtet man gegenwärtig einen starken Wissenszuwachs, der zur Entwicklung von
neuen Biomarkern und Therapiekonzepten führt,
sodass man Patienten mit einer SPG unbedingt
an ein spezialisiertes Zentrum anbinden sollte.
II
Spinale Muskelatrophien
Bei systematischer Darstellung gehören die SMA
zu der Gruppe der Motoneuronerkrankungen. Da
sie aber klinisch als Muskelerkrankungen imponieren, werden sie im Kap. 12.9 dargestellt.
Amyotrophe Lateralsklerose (LouGehring-Erkrankung)
Die ALS mit einer Häufigkeit von ca. 4–8 auf
100 000 betrifft sowohl das obere wie untere Motoneuron, was sich in Form von Hyperreflexie, verstärktem Muskeltonus und Muskelschwäche äußert. Die Erstmanifestation variiert von Patient zu
Patient und auch innerhalb einer Familie. Manche
Patienten stolpern, andere zeigen einen schwachen Handgriff, wieder andere haben bulbäre Zeichen wie Dysarthie und Dysphagie. Unabhängig
von der Erstmanifestation sind nach und nach weitere Muskeln betroffen. Bei familiären ALS-Formen
(FALS) (▶ Tab. 11.6) ist die durchschnittliche Erst-
Tab. 11.6 Häufigkeit der autosomal-dominanten und -rezessiven FALS.
Locus-Name (Gensymbol)
Genprodukt
Anzahl der Patienten mit FALS
Autosomal-dominant vererbte FALS
ALS 1 (SOD1)
ALS 4
1
(SETX)
ALS 6 (FUS/TLS)
Superoxide Dismutase 1(Cu-Zn)
20 %
Motorneuropathie mit pyramidalen Zeichen,
Senataxin, auch Ursache der AOA2
selten
RNA-bindendes Protein FUS
~ 4%
Finkel Typ SMA or SMA IV, vesikelassoziiertes
membranassoziiertes Protein
selten
ALS 9 (ANG)
Angiogenin
selten
ALS 10 (TARDBP)
TAR DNA-binding Protein 43 (TDB-43)
1–4 %
ALS 11 (FIG4)
Polyphosphoinositid-Phosphatase
selten
ALS/FTD1 (C9orf72)
C 9FTD/ALS, s. auch frontotemporale Demenz
23–30 %
ALS 14 (VCP)
ATPase des endoplasmischen Reticulums, auch
als Ursache von Morbus Paget mit frontotemporaler Demenz
unbekannt
ALS 2
Alsin
selten
ALS 12 (OPTN)
Optineurin, bei sporadischer, autosomal-dominanter und bei autosomal-rezessiv vererbter ALS
selten
SPG20
Spartin, Troyer-Syndrom, spastische Paraplegie
mit Dsarthrie, distal betonter Amyotrophie,
milder Entwicklungsverzögerung, Kleinwuchs
selten
Ubiquilin-2, mit und ohne FTD, X-chromosomal
dominant
selten
ALS 8
1
(VAPB)
Autosomal-rezessiv vererbte FALS
X-chromosomale Form der ALS
ALS 15 (UBQLN2)
1
272
betrifft sowohl das 1. wie auch das 2. Motoneuron
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H
Merke
manifestation ca. 10 Jahre früher (46 Jahre) als
bei sporadischen Formen (56 Jahre). Der Krankheitsverlauf ist stark progredient und führt aufgrund der schwächer werdenden Atemmuskulatur
zum Tod.
Folgende Stufendiagnostik wird momentan bei
der molekulargenetischen Analyse der ALS vorgeschlagen:
● Aufgrund seiner Häufigkeit und der Nichterfassung sowohl durch herkömmliche Sanger-Sequenzierung als auch durch die neuen „Next-Generation-Technologien“ (Kap. 15) sollte eine Hexanucleotid-Repeat-Expansion in C9orf72 ausgeschlossen bzw. nachgewiesen werden.
● Insbesondere bei autosomal-dominantem Erbgang ist anschließend die Analyse des SOD1Gens indiziert. Die Interpretation von Mutationen im SOD1-Gen ist schwierig, da sie eine hohe
klinische Variabilität aufweisen.
● SOD1-Gendiagnostik ist auch bei sporadischem
Vorkommen der ALS indiziert, da ca. 3 % der sporadischen Patienten in diesem Gen eine Mutation aufweisen.
● Auch wenn es für einige ALS-Formen klinische
Hinweise auf das spezielle Gen gibt (z. B. Senataxin-Gen bei begleitenden Pyramidenbahnzeichen und Manifestation im Erwachsenenalter,
Alsin 2 bei Manifestation in der Kindheit und
primärer Affektion der unteren Motoneurone),
ist eine Gen-Panel-Diagnostik aufgrund der großen klinischen und genetischen Heterogenität
die Methode der Wahl einer effizienten Diagnostik.
11.2.6 Periphere Neuropathien
Allgemeine Einführung in die Polyneuropathien
Generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems werden im Allgemeinen als PNP bezeichnet. Sie können sich durch sensible Reiz- und
Ausfallerscheinungen wie Missempfinden insbesondere in den Beinen, Wärme- und Kälteparästhesien, Taubheitsgefühle oder auch schmerzlose Wunden manifestieren, aber auch durch motorische Reiz- und Ausfallerscheinungen wie Muskelzucken, Muskelkrämpfe, -schwäche und -atrophie. Bei manchen PNP finden sich auch autonome Symptome wie orthostatische Hypotonie,
Hypo- oder Anhidrosis, kardiovaskuläre oder gastrointestinale Funktionsstörungen.
Diagnostisch hinweisend kann der Verlauf sein,
hier unterscheidet man einen akuten Verlauf (< 4
Wochen), einen subakuten (4–8 Wochen) und einen chronischen Verlauf (> 8 Wochen).
Auf die zahlreichen Ursachen von Neuropathien
kann im Rahmen dieses Abschnitts nicht eingegangen werden. Insbesondere sollte man bei der Eigenanamnese jedoch Grunderkrankungen wie Diabetes, Nierenerkrankungen oder Kollagenosen erfragen, sowie Unfälle oder Medikamenten- bzw.
Drogeneinnahme (insbesondere Alkoholmissbrauch).
Die klinische Differenzialdiagnose obliegt unbedingt einem neurologischen Spezialisten. Die genetische Differenzialdiagnose hat ihren Stellenwert erst nach Ausschluss zahlreicher infektiöser
oder tumorbedingter Ursachen (S 1-Leitlinien für
Diagnostik und Therapie in der Neurologie, Kapitel
„Diagnostik bei Polyneuropathien“), oder aufgrund
einer klaren Familienanamnese mit weiteren Erkrankten gleicher Symptomatik.
Genetik der Polyneuropathien
Die genetisch bedingten peripheren Neuropathien
können aufgrund ihrer klinischen Manifestation,
ihres Erbgangs und der Elektrophysiologie klassifiziert werden. Die weitaus größte Gruppe stellen
die hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN), die auch als Charcot-MarieTooth-Neuropathie (CMT) bezeichnet werden und
mit einer Häufigkeit von 1:2500 auftreten. Die hereditären motorischen Neuropathien (HMN) weisen Übergänge zu den distalen SMA auf. Sehr viel
seltener sind die rein sensiblen bzw. autonomen
Neuropathien (HSN bzw. HSAN). Innerhalb der
HMSN/CMT-Formen unterscheidet man die autosomal-dominant vererbten demyelinisierenden
(CMT 1) von den axonalen (CMT 2) Formen sowie
die autosomal-rezessiv vererbten und die X-chromosomalen (CMTX) Subtypen, wobei es zahlreiche
Mischtypen gibt, die die Klassifikation erschweren.
Eine weitere wichtige Form, die differenzialdiagnostische Bedeutung hat, ist die PNP mit Neigung
zu Druckparesen (HNPP). Zu der Gruppe der Neuropathien zählt man des Weiteren die hereditären
Amyloidneuropathien.
Bei den PNP handelt sich um ein sehr heterogenes Krankheitsbild mit über 44 bekannten Genen
und mehr als doppelt so vielen mittels Kopplungsanalysen identifizierte Genorten, die in schneller
Abfolge sicher in den kommenden Jahren weitest-
11
273
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11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
gehend identifiziert sein werden. Es empfiehlt sich
daher insbesondere bei Patienten, bei denen die
molekulargenetische Diagnostik bisher zu keiner
Klärung führte, eine wiederholte Vorstellung in
der Beratung in angemessenen zeitlichen Abständen. Ein aktueller Wissensstand zu den bekannten
Genen findet sich bspw. bei www.molgen.ua.ac.be/
CMTMutations/Mutations/MutByGene.cfm.
II
Hereditäre demyelinisierende Polyneuropathie
Nach neueren Studien liegt der Anteil der genetisch identifizierbaren CMT 1-Formen in einer Größenordnung von 60–70 % [46]. Die häufigste genetische Ursache der CMT ist der Typ1A, der verursacht wird durch eine 1,4-Mb-Duplikation der
chromosomalen Region 17p11.2–12, die das periphere Myelin-Protein-22-Gen (PMP22-Gen) enthält.
Eine stark auf elektrophysiologischen Daten basierende Stufendiagnostik (Nervenleitgeschwindigkeit zwischen 15 und 35 m/s, unter 15 m/s und
zwischen 35 und 45 m/s, sowie normale Nervenleitgeschwindigkeit von über 45 m/s) zur genetischen Analyse der CMT wurde durch Miller et al.
vorgeschlagen [43], hat aber aufgrund der starken
Schwankungen bei der Messung der Nervenleitgeschwindigkeiten und der großen Variabilität bei
identischen Gendefekten in der Praxis kaum eine
Bedeutung. Als internationale Referenz gilt für die
CMT 1 ein Cut-off für die motorische Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus von < 38 m/s. In
diesen Fällen wird zunächst die Diagnostik der
PMP22-Duplikation empfohlen, gefolgt von
CMT 1X (GJB1-Cx32) und CMT 1B (MPZ), erst danach sollte die Sequenzierung des PMP22-Gens
oder die Testung weiterer PNP-Gene erfolgen, die
eine CMT 1 verursachen.
Hereditäre axonale Polyneuropathie
Bei den axonal betonten PNP (CMT 2) ist die genetische Aufklärungsrate deutlich geringer als bei
der CMT 1 und liegt bei etwa 20–30 %. Am häufigsten sind Mutationen im Mitofusin-2-Gen (MFN2Gen), gefolgt vom GJB1-Cx32-Gen, während MPZund NEFL-Mutationen nur einen kleineren Anteil
einnehmen. Hier findet man oftmals normale oder
nur geringfügig reduzierte Nervenleitgeschwindigkeiten, bei rascher axonaler Degeneration kann die
elektroneurografische Reizleitung jedoch vollstän-
274
dig ausbleiben, sodass dann eine Abgrenzung von
einer CMT 1 schwierig ist.
Zusätzliche Manifestationen können auf bestimmte Gendefekte hinweisen. So entwickeln ca.
10–20 % aller Patienten mit einer MFN2-Mutation
eine Optikusatrophie, wobei man die Kombination mit einer hereditären motosensorischen Neuropathie auch als HMSN IV bezeichnet. Bei Patienten mit MFN2- oder BSCL 2-Mutationen können
spastische Tonuserhöhungen oder Pyramidenbahnzeichen vorkommen, was dann als HMSN V
bezeichnet wird. Hier zeigt sich deutlich, dass die
auf Symptomen beruhende Nomenklatur der
HMSN aus genetischer Sicht überarbeitet werden
sollte. Mutationen im MFN2-Gen haben meist eine
dominante Manifestation und treten zu 30–40 %
de novo auf. Compound-heterozygote bzw. homozygote Mutationen wurden in Fällen mit einem
sehr frühen Beginn beschrieben (Überblick in
[66]).
Bei den seltenen autosomal-rezessiven PNP
sind sehr unterschiedliche Gendefekte beschrieben, von denen das SH3TC 2- und das GDAP1-Gen
die größte Bedeutung haben. Hier finden sich
meist ein frühes Erkrankungsalter und ein relativ
schwerer Verlauf. In geeigneten Familien (betroffene Geschwister, elterliche Blutsverwandtschaft)
kann eine genetische Lokalisierung über Kopplungsuntersuchungen hilfreich sein.
Abzugrenzen sind Formen, die eine zusätzliche
Organmanifestation aufweisen, so zeigt sich bei
Mutationen im Gigaxonin (GAN)-Gen häufig eine
ZNS-Beteiligung (periventrikuläre und zerebelläre
„White-Matter“-Läsionen und/oder zerebrale, zerebelläre und Hirnstammatrophien), oftmals mit
Entwicklungsverzögerung und Gangschwierigkeiten sowie charakteristischem krausem Haar einhergehend. Bei dieser „Giant-axonalen Neuropathie“ sind neuropathologisch sehr dünn myelinisierte und geschwollene Axone charakteristisch.
Der klinische Verlauf ist stark progredient und
führt meist zu Rollstuhlpflichtigkeit bereits im 2.
Lebensjahrzehnt. „Giant Axons“ sind nicht für Mutationen im GAN-Gen spezifisch, sondern können
auch bei Patienten mit Mutationen im SH3TC 2(CMT 4C) und im NEFL-Gen (CMT 2E/CMT 1F) hervorgerufen werden. Weitere HMSN gehen mit
geistiger Behinderung und Gehirnfehlbildungen
einher, bspw. mit Corpus-Callosum-Agenesie, wie
eine Form in der französisch-kanadischen Bevölkerung von Quebec, die durch Mutationen in
einem Kaliumkanal (KCC 3-Gen) verursacht werden.
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Neurologische Erkrankungen
11.2 Genetik ausgewählter neurologischer Erkrankungen
Merke
H
Klinisch-genetische Heterogenität bei
Neuropathien des frühen Kindesalters
Pränatale und infantile Neuropathien sind selten
und extrem heterogen; mehr als 30 Genorte sind
bekannt. Die Erkrankungsgruppe zeigt ein sehr
variables Erkrankungsalter. Stark überlappende
Phänotypen mit der Gruppe der SMA oder mit
mitochondrialen Erkrankungen (SCO2-, POLG 1-,
TK2-, DGUOK-, MPV17-Gen) sind zahlreich beschrieben.
Aufgrund der möglichen Beteiligung anderer
Organsysteme, insbesondere des Gehirns, des
Herzens, der Nieren und der Leber, sollte eine
umfangreiche klinisch-diagnostische Abklärung
erfolgen.
Hereditäre Neuropathie mit Neigung
zu Druckparesen
Während bei einem Großteil der Patienten mit
einer CMT 1A eine PMP22-Duplikation ursächlich
ist, findet man bei ca. 80 % der Patienten mit HNPP
das genetische Pendant dazu, die heterozygote Deletion des PMP22-Gens. Homozygote Deletionen
des PMP22-Gens sind letal, glücklicherweise jedoch äußerst selten. Bei einem kleinen Teil der Patienten liegen Punktmutationen im PMP22-Gen
vor. Die Beeinträchtigung aufgrund mechanischer
Beanspruchung wie Kompression oder sich wiederholenden Bewegungen der betroffenen Gliedmaßen sind oft reversibel. Es gibt bei chronischen
Verläufen jedoch durchaus Übergänge zu demyelinisierenden PNP.
Distale hereditäre sensorisch-autonome Neuropathien
Im Gegensatz zu Patienten mit einer CMT haben
Patienten mit einer HSN/HSAN aufgrund einer herabgesetzten Sensibilität und autonomer Funktionsstörungen oft Verletzungen. Dies kann zu Ulzera insbesondere an den Füßen oder auch zu Osteomyelitis bis hin zu Amputationen führen. Die
genetische Aufklärung ist durch große Heterogenie
erschwert und liegt selbst bei familiären Fällen
bisher nicht höher als 10–20 %. Mutationen in Serinpalmitoyltransferase (SPTLC 1 und 2), der Rasverwandten GTPase 7 (RAB7) sowie von Atlastin1
(ATL 1) sind bekannt. Kürzlich wurde eine HSANUnterform beschrieben, die mit Hörverlust und
Demenz einhergehen kann und autosomal-dominant vererbt wird. Sie wird durch Mutationen in
einer DNA-Methyltransferase (DNMT 1) hervorgerufen.
Diagnostisch wichtig ist, dass insbesondere
Mutationen der autosomal-dominant vererbten
Formen bei sporadischen HSAN vorkommen.
Autosomal-rezessive Formen (WNK1, KIF1A,
FAM134B), u. a. einhergehend mit Gelenkskontrakturen (NTRK1, NGFB), Knochenbrüchen
(NGFB) oder Hyperhidrose (IKBKAP), wurden beschrieben (Überblick in [40]).
Die klinische Variabilität und die komplexen genetischen Pathomechanismen der hereditären PNP
unterstreichen die Ansprüche an die neurologische und genetische Fachkompetenz.
11
275
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Bei Auftreten erster Symptome einer axonal betonten PNP im Erwachsenenalter sollte mit der
Testung von MFN2 begonnen und, falls negativ,
durch Testung von GJB1/Cx32 MPZ und BSCL 2 ergänzt werden. Erwähnenswert, wenn auch sehr
selten, ist, dass autosomal-dominant vererbte Formen wie CMT 2 M, das durch Mutationen im Dynamin-2-Gen verursacht wird, auch eine autosomaldominant vererbte zentronukleäre Myopathie hervorruft. Homozygote Mutationen im DNM2-Gen
verursachen jedoch ein letales kongenitales Syndrom, das mit Akinesie, Gelenkkontrakturen,
schweren Skelettfehlbildungen und Blutungen des
Gehirns und der Retina einhergeht [34].
Wie für andere neurologische Erkrankungen
gibt es auch für die Neuropathien zahlreiche Beispiele, dass Mutationen eines Gens unterschiedliche Phänotypen hervorrufen. So können Mutationen im TRPV4-Gen (TRPV4: Transient Receptor Potential Vanilloid 4) sowohl mit einer kongenitalen
distalen SMA, einer scapuloperonealen SMA
(SPSMA) wie auch mit einer axonalen CMT
(CMT 2C) einhergehen. Insbesondere bei den infantilen axonalen Neuropathien (IAN) ist eine genetische Abklärung notwendig, um die klinisch
notwendige Betreuung der Kinder ausreichend zu
gewährleisten; so gibt es zahlreiche IAN, bei denen
die Augen, Herz, Leber oder das Gehirn betroffen
sind oder die auch zu schwerwiegenden Atemstörungen führen (Überblick in [66]). Beispielsweise
können Patienten mit SPSMA oder mit CMT 2C bereits im Neugeborenenalter Stimmbandparesen
haben, u. U. kann sogar ein Tracheostoma notwendig sein.
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