SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
"Zum Sieg mir schlicht die Worte
fehlen: Ich werd das Pianoforte
wählen."
Helmut Lachenmann –
Vom Provokateur zum Klassiker?
Von Bernd Künzig
Sendung:
Redaktion:
Freitag, 27. November 2015
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Musikstunde 27. November 2015
Signet Musikstunde
Musikstunden-Indikativ ca. 0‘20
Am Mikrophon begrüßt Sie Bernd Künzig.
Einst umstritten, heute gefeiert. Ohne Zweifel zählt Helmut Lachenmann zu den
bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Wir beginnen unser
Geburtstagsständchen für ihn wie es sich ziemt mit einem kleinen Stück Musik.
Musik: Hans Werner Henze: Sechs Stücke für junge Pianisten aus der Oper
"Pollicino" 1. Ballade des Pollicino. Homero Francesch, Klavier; Musik in
Deutschland 1950 - 2000. Angewandte Musik: Erziehung zur Musik RCA 74321
73527 2 LC 00316 (2:12)
Nein, das war keine Klaviermusik unseres Jubilars, sondern die Ballade des
Pollicino in Hans Werner Henzes „Sechs Stücken für junge Pianisten aus der Oper
Pollicino“, gespielt vom Pianisten Homero Francesch. Das Stück erklang auch am
13. Oktober 1982 in der Stuttgarter Musikhochschule. Dort war Hans Werner Henze
bei einem von Clytus Gottwald moderierten Gespräch zu Gast. Aus dem
Publikum meldete sich Helmut Lachenmann mit Grundsätzlichem und
Fragendem zu Wort.
O-Ton: O-Ton Lachenmann Henze (4:30)
Die Missverständnisse dieser Podiumsdiskussion klärten sich im Laufe der Zeit.
Jahre später haben sie sich auch versöhnlich ausgesprochen. Nur - ein „happy
Musikstück“ und die Idylle waren nun nie die Sache Helmut Lachenmanns.
Vielleicht am ehesten noch in den „Variationen über ein Thema von Franz
Schubert“ des 22jährigen aus dem Jahr 1957, hier gespielt von Herbert Schuch.
Musik: Helmut Lachenmann „Variationen über ein Thema von Franz Schubert“
M0343058.001 (5:23)
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Für die Welt der Kinder, deren gesellschaftlicher Situation oder die Bilder der
Kindheit, hat sich Lachenmann schon lange interessiert – nicht weniger als Hans
Werner Henze mit seinen bedeutenden Kinder- und Jugendprojekten im
italienischen Montepulciano oder eben – wie zu Beginn gehört – in seiner
Kinderoper „Pollicino“. In Lachenmanns Werk mündete diese
Auseinandersetzung schließlich in eines seiner Hauptwerke, dem 1996
vollendeten, einzigen Musiktheater „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“
nach dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen. Dieses Stück
hat den Komponisten Jahrzehnte gefangen genommen.
Aber auch für den jungen Lachenmann war die Welt der Kinder ein Anstoß zum
Komponieren. Nämlich in seiner 1963 entstandenen Klavierkomposition
„Wiegenmusik“. Er sprach damals auch in Anspielung auf Robert Schumanns
„Kinderszenen“ von der Annäherung an einen Zustand der völligen Ruhe: „‘Kind
im Einschlummern‘, quasi als Psychogramm abgewandelt“. Und man wird beim
Hören überrascht sein, wie nah damals diese Komposition der nach-tristanesken
Harmonik Henzes ist, die Lachenmann als idyllische Utopie dann später kritisieren
sollte. Nur: die „Wiegenmusik“ entstand 20 Jahre vor Henzes „Pollicino“Klavierstücken. Es spielt Mario Formenti.
Musik: Helmut Lachenmann „Wiegenmusik“ M0042196.008 (6:12)
Mario Formenti spielte die 1963 komponierte „Wiegenmusik“ von Helmut
Lachenmann. 1980, im gleichen Entstehungsjahr von Henzes Pollicino-Album für
einen jungen Pianisten, schrieb Lachenmann ein Heft kleiner Klavierstücke. Dieses
mit „Ein Kinderspiel“ benannte Album für die Jugend zeigt, wie er sich an eine
bestimmte Wirklichkeit der Kinder annähert. Es beginnt mit „Hänschen klein“.
Musik: Helmut Lachenmann „Ein Kinderspiel – Hänschen klein“ M0004726.W00
(00:55)
In diesem Stück ist der Rhythmus des Kinderliedes gut zu erkennen, nicht aber
dessen unmittelbarer Melodieverlauf. Ein Kinderspiel ist dies lediglich in Hinblick
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darauf, dass dieses wie auch die übrigen Stücke des Heftes durchaus von
begabten Kindern gespielt werden können. Das Klangbild hingegen ist kaum das
einer kindlichen Idylle. „Schönheit als Verweigerung von Gewohnheit“ war eines
der strategischen Schlagworte des Komponisten Lachenmann, das letztlich auf
ein anderes, ein neues Hören zielte. Zumeist hören wir im Kinderlied Hänschen
klein ein sich harmlos gebendes Stückchen Musik im scheinbaren Volkston.
Untersuchen wir aber den Text des Liedchens einmal genauer, dann steht einem
der von Lachenmann betriebene Absturz in die Finsternis als tatsächlich neues
und anderes Hören vor Ohren.
Der Originaltext von Franz Wiedemann lautet:
Hänschen klein
Ging allein
In die weite Welt hinein.
Stock und Hut
Steht ihm gut,
Ist gar wohlgemut.
Doch die Mutter weinet sehr,
Hat ja nun kein Hänschen mehr!
„Wünsch dir Glück!“
Sagt ihr Blick,
„Kehr’ nur bald zurück!“
Sieben Jahr
Trüb und klar
Hänschen in der Fremde war.
Da besinnt
Sich das Kind,
Eilt nach Haus geschwind.
Doch nun ist’s kein Hänschen mehr.
Nein, ein großer Hans ist er.
Braun gebrannt
Stirn und Hand.
Wird er wohl erkannt?
Eins, zwei, drei
Geh’n vorbei,
Wissen nicht, wer das wohl sei.
Schwester spricht:
„Welch Gesicht?“
Kennt den Bruder nicht.
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Kommt daher sein Mütterlein,
Schaut ihm kaum ins Aug hinein,
Ruft sie schon:
„Hans, mein Sohn!
Grüß dich Gott, mein Sohn!“
In seiner biedermeierlichen Kulisse handelt das Lied vom Erwachsenwerden.
Weggehen und Heimkommen sind zyklisch ineinander geschlossen. Dahinter
steckt aber verborgene Melancholie: Einsamkeit, der Abschiedsschmerz der
Mutter, das Heimweh des Kindes, das Nichterkennen der Schwester und der Blick
der Mutter in die Seele durch das Auge des nun erwachsenen Kindes. Warum
aber geht Hänschen allein in die Welt? Der Text verschweigt den Beweggrund.
Der soziale Kontext der Entstehungszeit könnte ihn schon eher benennen: Armut
und Kinderarbeit.
Dagegen nun die uns vertraute Version des 20. Jahrhunderts, wie sie sicher auch
Helmut Lachenmanns Sohn David, dem die Stücke gewidmet sind, bekannt war:
Hänschen klein
ging allein
in die weite Welt hinein.
Stock und Hut
steht ihm gut,
er ist wohlgemut.
Doch die Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr!
Da besinnt
sich das Kind,
kehrt nach Haus’ geschwind.
Mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert – die populäre Version des Liedes wird
dem Jahr 1899 zugeschrieben – wird aus dem sozialen Kontext ein ideologischer
Text. Dagegen setzt Helmut Lachenmann auf Aufklärung. Den Klavierstücken
stellt er ein Zitat aus einem Brief Theodor W. Adornos an Walter Benjamin voran:
„…wobei es eben mehr um die Demonstration am Kindermodell als um die
Beschwörung von Kindheit geht…“. In seinem Werkkommentar schreibt er:
„Obwohl für meinen Sohn David geschrieben und - in Teilen - von meiner damals
siebenjährigen Tochter Akiko zum ersten Mal öffentlich gespielt, ist Kinderspiel
keine pädagogische Musik und nicht unbedingt für Kinder. Kindheit und daran
gebundene musikalische Erfahrungen sind tiefer Bestandteil der inneren Welt
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jedes Erwachsenen. (…) Wichtig erschien mir also, die in meinen Stücken
angebotene Veränderung des Hörens und des ästhetischen Verhaltens hier nicht
in einen Bereich des Abstrakten zu verdrängen, sondern mit der ‚Provokation‘
dort zu beginnen, wo der Hörer (wie auch der Komponist) sich zuhause fühlt, wo
er sich geborgen weiß. Was herauskommt, ist leicht zu spielen, leicht zu verstehen:
ein Kinderspiel, aber ästhetisch ohne Kompromisse.“1
Helmut Lachenmann spielt aus seinem kompromissloses Album für die Jugend
„Ein Kinderspiel“ die Stücke „Hänschen klein“, „Wolken im eisigen Mondlicht“,
„Falscher Chinese (ein wenig besoffen)“ und „Schattentanz“.
Musik: Ein Kinderspiel. 7 Kleine Stücke für Klavier (Auszug) M0004726.W00 (8:30)
Eine Spiellust verbindet diese Stücke mit der Haltung von Kindern, sich die Welt zu
erobern. Ähnlich entdeckte Helmut Lachenmann 1970 das Klavier als
Klangmöbel vollkommen neu. In der Studie für Klavier „Guero“ klingt an diesem
Instrument alles – nur nicht das eigentliche Klanginnere des Korpus mit seinen
Saiten. Die schwarzen und weißen Tastenflächen, die Wirbel und die Saiten
werden mit den Fingernägeln bestrichen, berieben und gezupft, wie dies auch
beim lateinamerikanischen Rhythmusinstrument der Fall ist, das „Guiro“, also
Gurke genannt wird. Hier klingt das Klavier wie nie ein Klavier zuvor geklungen
hat. Angebot und Verweigerung nennt Lachenmann die Spielstrategie.
Verweigert werden der übliche Klavierklang und die gewohnte Spielweise.
Angeboten wird ein neuer Klangkörper. Musik heißt in diesem konkreten Fall für
den Komponisten: sich ein Instrument bauen. Als Studie für Klavier ist „Guero“ in
erster Linie für den Pianisten gedacht. Es ist aber auch eine Studie für den Hörer,
sich in einer Wahrnehmung einzuüben, die keine Gewohnheiten anbietet,
sondern als Neue Musik auch ein neues Hören meint: Also Angebot durch
Verweigerung. Mario Formenti lässt diese Studie Klang werden.
Musik: Helmut Lachenmann „Guero. Studie für Klavier“ M0042196.009 (4:57)
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Helmut Lachenmann: „Ein Kinderspiel“, in ders.: Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 2004, S. 394.
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In unserer Musikstunde zum 80. Geburtstag des Komponisten Helmut
Lachenmann haben wir bislang kurze Musikstücke und hauptsächlich Werke für
Klavier gehört. Diese Klaviermusik ist strategische und taktische Einübung für das,
was sich im übrigen Werk eigentlich durch größere Besetzungen vom Trio über
das Quartett und Ensemble bis hin zum großen Orchester in längeren
Dimensionen entfaltet. Lachenmanns Musik hat Zeit und braucht Zeit. Erst mit
einer gewissen Dauer entfalten sich die oft auch sehr leisen Passagen und
offenbaren die Klangschönheiten und –magie einer Geräuschmusik, die der
Komponist als „musique concrète instrumentale“ bezeichnet hat. Sie war oft
Gegenstand der kritischen, ja geradezu hetzerischen Anfeindung. Selbst das für
seine Interpretation neuer Musik gerühmte SWR Sinfonieorchester Baden-Baden
und Freiburg weigerte sich das zu seinem 40jährigen Bestehen 1986 komponierte
Stück „Staub“ zu spielen. Das sei dem im Jubiläumskonzert anwesenden
damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth vor Beethovens 9. Sinfonie nicht
zuzumuten. Diese Verhältnisse haben sich heute, rund dreißig Jahre später,
grundlegend geändert. Fast könnte man meinen, Lachenmanns einst als
vollkommen antiklassischer Affront empfundene „musique concrète
instrumentale“ sei zum mittlerweile schon klassisch gewordenen Normalfall einer
Neuen Musik geronnen. Fast rauschhaft lässt man sich von den Klangbildern
dieser Musik einfangen. Und „Musik mit Bildern“ – so der Untertitel von
Lachenmanns Musiktheater „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ – ist fast
alle Orchestermusik dieses Komponisten. Aber es ist keine Filmmusik, bei der
konkrete Bilder im Kopf des Zuhörers entstehen sollen. Es ist – wie es sich für einen
als protestantischen Pastorensohn in Stuttgart am 27. November 1935 Geborenen
gehört – eine Musik des Ikonoklasmus, des Bildersturms, der alle äußeren Bilder wie
in einem kostbaren Kristall einschließt. Sie sind da, hörbar, aber nicht mehr
sichtbar zu greifen. Wie in einem Brennspiegel können wir diese Klangmagie in
dem 1989 vollendeten, ausnahmsweise recht kurzen Orchesterstück „Tableau“
erfahren. Das Bild trägt dieses Stück bereits in seinem Titel. Nur nichts ist daran
illustrativ. Hier wird, wie Lachenmann selbst zu diesem Stück sagt, der Blick in die
Körperlichkeit der Klangobjekte freigegeben und zielt auch hier wieder auf ein
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neues Hören. Allerdings mag der Komponist das Stück nur bedingt. Leicht
abfällig, ironisch hat er dieses kurze Klangwunder als „Unterhaltungsmusik“
abgeurteilt. Das macht aber nichts. Denn es ist einfach ein schönes Stück. Das
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg hat sich diesmal nicht
geweigert und spielt „Tableau“ von Helmut Lachenmann. Die Leitung hat Clark
Rundell.
Musik: Helmut Lachenmann „Tableau“ M0395372.001 (10:01)
Die Musikstunde zum 80. Geburtstag des Komponisten Helmut Lachenmann ging
zu Ende mit „Tableau“. Es spielte das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und
Freiburg unter der Leitung von Clark Rundell. Am Mikrophon verabschiedet sich
Bernd Künzig.
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