4 Psychosomatische Krankheitsmodelle

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4.2 Psychogenetische Modelle
4 Psychosomatische Krankheitsmodelle
U. Kohns
Im alttestamentarischen „Buch der Sprüche Salomons“,
9.-4. Jh. v. Chr., steht unter Buch 17, Vers 22: „Ein fröhliches Herz fördert die Genesung, aber ein niedergeschlagener Geist dörrt das Gebein aus.“(www.bibel-online.net)
Der Zusammenhang zwischen emotionalem Empfinden und Krankheit bzw. Krankheitsgenesung war zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt.
In einem von Platon niedergeschriebenen, fiktiven Dialog seines Lehrers Sokrates mit dem Jugendlichen Charmides, 429 v. Chr., spricht Sokrates von Ärzten: „…so wie
man nicht unternehmen dürfe, die Augen zu heilen ohne
den Kopf, noch den Kopf ohne den ganzen Leib, so auch
nicht den Leib ohne die Seele, sondern dieses eben wäre
auch die Ursache, weshalb bei den Hellenen die Ärzte den
meisten Krankheiten noch nicht gewachsen wären, weil sie
nämlich das Ganze verkennten, auf welches man seine
Sorgfalt richten müsste, und bei dessen Übelbefinden sich
unmöglich irgend ein Teil wohl befinden könnte.“[2] Weiter
heißt es, es sei ein Fehler, wenn Ärzte nur für „eins von
beiden Ärzte sein“ – für das Heilmittel oder die Seele.
Die Integration somatischer und psychischer Beschwerden war bei der Behandlung also bereits ein Thema. Das Wissen um die Wechselwirkung zwischen somatischen und psychischen Vorgängen beantwortet aber
nicht die Frage: Warum und wie geschieht es, dass Menschen psychische Problematik als Körpersymptomatik erleben? Warum somatisieren sie?
Seither wurden verschiedene Modelle zur Entstehung
psychosomatischer Störungen beschrieben. Sie sind heute
entweder bedeutungslos oder wurden in spätere Erklärungsmodelle integriert.
Ein frühes Erklärungsmodell der Wechselwirkung von
Psyche und Körper wurde von Hippokrates in „Über die
Natur des Menschen“ (um 400 v. Chr.) mit seiner 4-SäfteLehre gegeben.
Dieser Vorstellung folgend entwickelte Galen von Pergamon um 130–200 n. Chr. seine Temperamentenlehre,
in der er den 4 Flüssigkeiten („humores“) des Körpers je 1
Temperament zuordnete. Je nach Vorherrschaft einer dieser 4 Flüssigkeiten bilde sich ein damit verbundenes, besonderes Temperament. Die 4 Säfte – Blut, Schleim,
schwarze und gelbe Gallenflüssigkeit – wurden als
Grundlagen psychischer oder psychopathologischer Konstitutionen angesehen:
● Sanguiniker
● Phlegmatiker
● Melancholiker
● Choleriker
In den frühen Modellen zur Entstehung psychosomatischer Störungen steht eine linear-kausale Erklärung der
Beziehung zwischen Körper (Soma) und Geist (Psyche)
im Zentrum. Erst später wurden Modelle mit komplexdynamischen Erklärungen entwickelt, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Sie gehen von einer Wechselwirkung zwischen genetisch bedingter oder erworbener
Vulnerabilität für Stressverarbeitung und den von Geburt
an gesammelten Erfahrungen durch Entwicklung und
zwischenmenschliche Interaktionen aus.
4.2 Psychogenetische Modelle
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4.1 Einleitung
Der Begriff der „Psychosomatik“ wurde vermutlich erstmals 1818 von Johann Christian August Heinroth benutzt.
Eine „Seelenstörung“ beschrieb er als Abfall von Gott und
der „heiligen Vernunft“, als das Böse und Teuflische
schlechthin. Sein Versuch, jede Krankheit in ihrem psychischen, somatischen und lebensgeschichtlichen Zusammenhang zu verstehen, wurde später zum Ausgangspunkt anderer Modelle und hat noch heute Bedeutung.
4.2.1 Konversionsmodell
Das Konversionsmodell von Sigmund Freud von 1895 beruht auf seinen Arbeiten zum Verstehen unbewusster
Motive im Erleben und Handeln des Menschen. Die Frage,
warum und wie Patienten ihre Problematik als Körpersymptome erleben, versuchte er mit seinem Konzept vom
„rätselhaften Sprung“ vom Psychischen zum Körperlichen
zu beantworten.
Demnach summieren sich zunächst einfache und
harmlos erscheinende Affekte bei Wiederholung; sie
überschreiten schließlich die Schwelle der individuellen
Anpassungsmöglichkeit und führen zur Auslösung eines
körperlichen Symptoms. Die „Erregungssumme“ dieser
Affekte wird ins Körperliche „umgewandelt“. Ein Reiz
führt zum Erleben (Affekt) mit Überforderung und wird
unter zusätzlichen Bedingungen in neurale Prozesse, wie
z. B. Lähmung umgesetzt.
Merke
H
●
Der rätselhafte Sprung vom Seelischen zum Körperlichen ist der Ausdruck eines psychischen Konflikts ins
Körperliche.
Zusammenfassend lässt sich festhalten:
Die Erregungssumme eines seelischen Konflikts –
dem Patienten nicht bewusst – wird in körperliche, insbesondere sensorische und motorische Innervation
●
39
Psychosomatische Krankheitsmodelle
Der Konflikt wird „konvertiert“, d. h. als „Ausdruckserkrankung“, z. B. als eine psychogene Gangstörung wahrgenommen.
Freud sah in der Konversion eine Störung, die das willkürmotorische System und die Sensorik betrifft. Er selbst
hat das Konversionsmodell nicht als allgemeines Entstehungsmodell für psychosomatische Krankheiten aufgefasst. Heute entspricht es weitgehend dem neurotischen Konfliktmodell für die Entstehung psychosomatischer Störungen.
Merke
Konversionsmodell
H
●
Im Kindes- und Jugendalter können sich andauernde, affektive Anspannungen summieren. Wird der auslösende
Konflikt nicht gelöst, indem er wegfällt oder ausgeglichen wird, bleibt die Erregungssumme bestehen. Bei altersbedingter Unreife der Sprachkompetenz oder bei
Vorliegen eines bedrohlichen Affekts mit drohender Gefährdung, kommt der Konflikt nicht zur Sprache und es
geschieht keine Erregungsminderung. Der Spannung
auslösende Konflikt wird symbolhaft im Verhalten oder
in körperlichen Störungen ausgedrückt – konvertiert.
In der Praxis entsprechen gerade die mit starker Wut
und Angst verbundenen psychosomatischen Störungen
am ehesten dem Konversionsmodell.
4.2.2 Konstitutionsmodell
Im Konstitutionsmodell nach Ernst Kretschmer (1921)
wird eine Zuordnung von 3 Körperbautypen zu 3 wesentlichen Charaktereigenschaften gemacht und deren Bezug
zu psychischen Störungen beschrieben:
● Leptosom
● Pykniker
● Athletiker
Psychische Erkrankungen sind die 3. Stufe der jeweiligen
Merkmalsausprägung. Das Modell hat mit seiner Spezifität keine Bedeutung.
4.2.3 Bindungstheoretisches Modell
Das bindungstheoretische Modell nach Bowlby, Ainsworth und Grossmann (um 1969), geht von verinnerlichten, frühen Erfahrungen mit Bindungspersonen aus (s.
Kap. 2.5.4). Aus diesen Beziehungserfahrungen entsteht
ein inneres Bild von sich und anderen Menschen, das als
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Bindungsrepräsentation zum lebenslangen Arbeitsmodell
(working model) für Denken, Fühlen und Verhalten wird.
Konflikthafte frühe Beziehungserfahrungen haben ungünstige, unsichere Bindungsmuster, gestörte Identitätsentwicklung und später dysfunktionale Beziehungsmuster zur Folge. Unsichere Bindungsrepräsentationen werden signifikant häufiger bei Personen mit psychopathologischen Störungen gefunden und gehen mit erhöhter
Stressreagibilität durch Sensitivierung der Hypothalamus-Nebennierenrinden-Achse einher. Das hat gehäuft
psychosomatische Störungen zur Folge.
Diese Störungen werden auf unbewusste, dysfunktionale Beziehungskonfliktmuster zurückgeführt. Menschen
mit sicherer Bindungsrepräsentation haben hingegen
eine erhöhte Stressschwelle und können emotionalen
Stress mit einer besseren Stressantwort überwinden.
4.2.4 Modell der Desomatisierung
und Resomatisierung
Das Modell der De- und Resomatisierung von M. Schur
(1955) beschreibt eine „rückschreitende“ Belastungsverarbeitung als Auslöser. Beim Säugling oder jungem Kind
besteht noch eine Einheit psychischer und körperlicher
Vorgänge: Hoch belastende affektive Zustände (Angst, Ärger, Wut) oder hoch belastende somatische Zustände
(Hunger, Durst, Schmerz) finden in motorischer Unruhe,
vegetativen Überreaktionen und abweichendem Verhalten ihren Ausdruck.
Mit Ausdifferenzierung der Ich-Funktionen und mit
Reifungsvorgängen zur besseren Regulationsfähigkeit
kommt es zur Desomatisierung: Affektive Zustände werden weniger oder gar nicht in körperlichen Vorgängen
ausgedrückt und umgekehrt.
Unter krisenhaften Belastungen wie einer äußeren
oder inneren Gefahr, verbunden mit hoher psychischer
Anspannung, kann es dann zu einer unbewussten Regression hin zu frühkindlichen Bewältigungs- und Verhaltensmustern mit somatischen Reaktionen kommen: der
Resomatisierung.
Merke
H
●
In der Praxis kann die Resomatisierung als Folge von
nicht mehr erträglichen, psychischen Spannungszuständen bei Kindern und Jugendlichen beobachtet werden:
dazu gehören gesteigerte vegetative Reaktionen wie Erbrechen, Durchfälle, Schmerzen oder Essstörungen.
Trotz eines fortgeschrittenen Alters mit Desomatisierung, sind Resomatisierung und Regression in nicht altersentsprechendes, „jüngeres“ Verhalten erkennbar:
● Hyperaktivität
● Zunahme von Impulsivität
● Weglaufen
● Wutanfälle
● Panik- und Schreiattacken
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●
umgesetzt. Äußerlich ist dieser Konflikt als körperliches
Phänomen wahrnehmbar.
Das Konversionssymptom wird als Symbolisierung von
Konflikten, Wünschen, Befürchtungen oder Phantasien
in einer für den Patienten nicht mehr verständlichen
Körpersprache gesehen. Ein Symptom hierfür ist die
Gebärdensprache.
4.2 Psychogenetische Modelle
Merke
Die Spezifitätshypothese von Franz Alexander (1951),
dem „Vater“ der psychoanalytischen Psychosomatik, sieht
in Konflikten den Auslöser affektiver Spannungszustände,
die von einer definierten somatischen Reaktion begleitet
werden. Typische Persönlichkeitsstrukturen werden bestimmten, psychosomatischen Erkrankungen zugeordnet
und jedem Körpersymptom eine spezifische Konfliktsituation. In der Regel liegt im Abhängigkeitskonflikt der
Auslöser für psychosomatische Störungen.
Die behauptete Spezifität der Persönlichkeitsstrukturen
und der Konfliktsituation bei der Somatisierung wird
strittig diskutiert. Die zu beobachtenden Konstitutionsund Dispositionsfaktoren bei Personen mit psychosomatischen Störungen entsprechen in Teilen der Hypothese.
Eine Spezifität der Störung in Abhängigkeit von der Persönlichkeitsstruktur bzw. dem auslösenden Konflikt und
umgekehrt wird nicht angenommen.
Merke
H
●
In der Praxis kann die Spezifitätshypothese sehr wohl belegt werden: Bei psychosomatischen Störungen sind sowohl konstitutionelle, disponierende Persönlichkeitseigenschaften auf dem Hintergrund genetischer oder familiärer Prägung als auch ein Abhängigkeitskonflikt von
Kindern und Jugendlichen mit einem erheblichen affektiven Stau Auslöser für psychosomatische Störungen.
4.2.6 Konzept der 2-phasigen
Verdrängung
Im Konzept der 2-phasigen Verdrängung nach Alexander
Mitscherlich (1953) steht das „Affektäquivalent“ im Zentrum: das körperliche Symptom als Begleiterscheinung
starker, bewusster oder unbewusster Affekte.
In einer 1. Phase führt eine starke, anhaltende Belastung wie ein realer oder phantasierter Objektverlust zur
Mobilisation psychischer Abwehrkräfte.
In einer 2. Phase kommt es durch Anhalten der Belastung für das eingeengte Ich zur Verschiebung der Abwehr
in körperliche (somatische) Symptome.
Schließlich werden nur noch die körperlichen Symptome (das Affektäquivalent) vom Patienten wahrgenommen und nicht mehr die Belastung oder der auslösende
Konflikt.
H
●
Oft werden komplexe Zusammenhänge vom somatischen Symptom und möglichen emotionalen Hintergründen, die nicht mehr wahrgenommen werden, in alltagsüblicher Sprache auf den Punkt gebracht:
● „Der Schreck ist in die Glieder gefahren.“
● „Da platzt mir der Kragen“ - als Hinweis auf vegetative,
am Hals spürbare Symptome.
● „Es liegt mir etwas im Magen.“
● „Es zerreißt ihm den Kopf.“
● „Das bricht ihm das Herz.“
Das alles sind Hinweise auf ungelöste Konflikte und fortbestehende emotionale Belastungen. Hinter den Redewendungen verbergen sich oft schwere Belastungen, die
nur bildhaft ausgesprochen und als somatisches Symptom berichtet werden. Der auslösende Konflikt aber wird
nicht mehr wahrgenommen und kann nicht besprochen
werden. Nur das somatische Symptom, nicht die Anspannung oder der Auslöser stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit.
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4.2.5 Spezifitätshypothese
4.2.7 Alexithymie-Modell
Im Alexithymie-Modell von Pierre Marty (1957) steht die
Alexithymie, die sog. „Gefühlsblindheit“ im Mittelpunkt –
die Unfähigkeit, Gefühle hinreichend wahrnehmen und
beschreiben zu können. Die Patienten sind in ihrer Erlebnisfähigkeit zu stark eingeengt, um seelische Prozesse wie
innere Konflikte und Widersprüche wahrzunehmen, d. h.
sie psychisch zu repräsentieren. Die schweren emotionalen Belastungen können dann nicht verarbeitet werden.
Die dennoch „andrängende“ Emotion wird dadurch beherrscht, dass sie auf eine biologische Ebene „abgeleitet“
wird. An Stelle der seelischen Verarbeitung tritt die biologische Verarbeitung der Krankheit. Das Leiden von Menschen mit eingeschränkter Gefühls- und Konfliktwahrnehmung besteht hauptsächlich in körperlichen Beschwerden und nicht in der Gefühlswahrnehmung. Bestätigt wird das Modell in verschiedenen Forschungsergebnissen:
● signifikant niedrigere Werte in der Levels of Emotional
Awareness Scale (LEAS) von Patienten mit somatoformen
Störungen; verglichen mit Patienten mit affektiven Störungen, Zwangs-, Angst-, Ess- und Anpassungsstörungen
● Entkopplung von emotionalen und physiologischen Reaktionen (Blutdruck, Herzfrequenz etc.) bei alexithymen Patienten
● Unterschiede in der regionalen Durchblutung in den Affekt steuernden Hirnstrukturen, v. a. im anterioren Gyrus cinguli
● „Blindheit“ für soziale Situationen (Dekodierungsschwäche) mit geringerer Zugänglichkeit zu sozialer
Unterstützung
41
Merke
H
●
Alexithyme Patienten finden sich in der Praxis unter denen,
die Erfahrungen mit Missbrauch, Misshandlung und schwerer Vernachlässigung gemacht haben. Diese „Seelenblindheit“ und Dekodierungsschwäche kann zum Auslöser für
zusätzliche psychosomatische Störungen werden bei:
○ Patienten mit schweren affektiven Störungen
○ Störungen des autistischen Formenkreises
○ Bindungsstörungen
○ schwer traumatisierten Patienten und Jugendlichen
mit Substanzmissbrauch
4.3 Psychobiologische Modelle
Merke
H
●
Bei Kindern und Jugendlichen können Erfahrungen durch
die verschiedenen Lernmodelle zur Verstärkung oder zum
Abbau somatischer oder psychischer Belastungen führen.
Gelernte, konditionierte Konflikt- und Belastungsverleugnung tragen in der Regel nicht zur Konfliktlösung bei –
sie verhindern den Abbau emotionaler Belastung und sind
Auslöser für psychosomatische Störungen.
Positive Erfahrungen als unmittelbare Folge psychosomatischer Symptome im Hinblick auf kurzfristige Entlastung von Anforderungen oder die Erfahrung von Zuwendung, werden als Symptomgewinn abgespeichert;
sie sind kein Anlass für Konflikt- und Belastungsverminderung. Die psychosomatische Störung wird aufrechterhalten und die Lösung der ihr zugrunde liegenden Konflikte erschwert.
4.3.1 Modell des Situationskreises
Das Modell des Situationskreises von Thure von Uexküll,
dem Begründer der psychosomatischen Medizin, wurde
1979 zum Grundlagenwerk der psychosomatischen Medizin: Nicht die Krankheit, sondern der Kranke sollte im
Mittelpunkt stehen und Gegenstand der Medizin sein.
Krankheit wird darin gesehen als Ausdruck einer Störung der Passung zwischen der subjektiv konstruierten
Wirklichkeit, die der Kranke aufgrund seiner gesammelten Erfahrungen aufgebaut hat, und der ständigen Notwendigkeit, neue Wahrnehmungen an die bisherigen Erfahrungen anzupassen. Mit dem systemischen Konzept
einer integrierten Medizin gilt dieser Dualismus von Leib
und Seele als überwunden.
4.4 Psychophysiologische
Modelle
4.4.1 Behaviorales Modell
Im behavioralen Modell als lerntheoretisches Konzept
von Albert Bandura (1960) werden somatische Funktionsstörungen als Ergebnisse fehlgeleiteter Verhaltensund Konditionierungsprozesse aufgefasst. Kinder/Jugendliche lernen Verhalten und Konfliktbewältigung am Beispiel von Bezugspersonen, Idolen, Gleichaltrigen und sozialen Gruppen. Die Erfahrungen von positiver oder negativer Verstärkung (Belohnung, Gewinn oder Hemmung,
Nachteil) werden zur Motivation für Verhalten und Konfliktbewältigung. Die unterschiedlichen Formen des Lernens von Anderen wirken sich auf die Motivation und die
eigene Erwartung an Selbstwirksamkeit im Umgang mit
psychosomatischen Symptomen aus:
● Modelllernen
● Nachahmungslernen
● Beobachtungslernen
● Imitationslernen
● sozial-kognitives Lernen
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4.4.2 Stressmodell
Das Stressmodell psychosomatischer Störungen hat seinen Ursprung im transaktionalen Stressmodell von Richard Lazarus (1974). Stress entsteht nach Lazarus bei
einem Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen an
eine Person, ihren persönlichen Möglichkeiten und den
zur Verfügung stehenden Ressourcen, um die Anforderungen zu bewältigen. Stress wird als Folge misslingender Anpassung an äußere Bedingungen oder gestellte Erwartungen gesehen.
Für die Auslösung einer psychophysiologischen Stressreaktion ist aber nicht die objektive Art des Reizes oder der
Situation entscheidend, sondern deren subjektive, „primäre Bewertung“ als positiv, gefährlich oder irrelevant.
Die „sekundäre Bewertung“ analysiert, ob ausreichende oder mangelnde Ressourcen zur Stressreduktion verfügbar sind. Die nachfolgende Stressbewältigung, das
Coping, kann dann problem- oder emotionsorientiert erfolgen. Im günstigen Fall kommt es zur Neubewertung
der Situation, Überwindung des Stresses und zum Lernen
für spätere Stresssituationen.
Diese Reaktionskaskade wird von einem individuellen,
„inneren Skript“ bestimmt. Denn was für den Einen Stress
bedeutet, wird vom Anderen nicht als Stress empfunden.
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Psychosomatische Krankheitsmodelle
Stressmodell
H
●
Im Kindes- und Jugendalter, beginnend im Säuglingsalter,
kann bei psychosomatischen Symptomen in der Regel
ein Ungleichgewicht beobachtet werden zwischen: gestellten Anforderungen und den verfügbaren Möglichkeiten, diese zu erfüllen oder abzuwehren. Erwartungen, die
nicht dem Entwicklungsalter entsprechen, überhöhte
Selbstanforderung und emotionale Belastungen werden
zu akuten oder chronischen Konflikten, von denen Kinder/Jugendliche überfordert sein können. Ihnen stehen
aufgrund ihres Entwicklungsalters oder aufgrund sozialbedingter Mängel an genetischer oder erworbener Resilienz, die notwendigen Mechanismen zur Belastungsund Konfliktbewältigung nicht zur Verfügung. Es kommt
zum Dauerstress mit psychovegetativen Auswirkungen.
4.4.3 Biopsychosoziales Modell
Die Entwicklung funktionell-bildgebender Verfahren hat
zu einer Vielzahl an Einzelbefunden geführt, die ein erweitertes Verständnis der Entstehung psychosomatischer
Symptome möglich machen. Dazu zählen:
● funktionelle Magnetresonanztomografie = fMRT
● Positronen-Emissions-Tomografie = PET
● Single-Photon-Emissions-Computertomografie = SPECT
Die neurophysiologische Stressreaktion – ausgelöst durch
psychosoziale oder somatische Stressoren – hat ihren Beginn in der Amygdala, wo alle bewussten und unbewussten Reize von innen oder außen kontrolliert werden. Die
Reizantwort wirkt auf Hirnstamm und autonomes Nervensystem sowie die Hypothalamus-Hypophyse-Nebennieren-Achse ein. Enge Verbindungen der Amygdala zu
Netzwerken in der Kortiko-Frontalregion üben Einfluss
auf die Kognitions- und Emotionsverarbeitung, wie die
ausgeschütteten Stresshormone, aus. Sie können:
● die Blockade neuraler Netzwerke bewirken.
● Auslöser für Degeneration neuraler Netzwerke und
Zentren sein.
● eine lebenslange, übersteigerte Empfindlichkeit für äußere und innere Reize auslösen.
● gerade in den frühen Lebensjahren die Entwicklung und
Verschaltung sich entwickelnder Hirnregionen stören.
● zu dauerhaften Funktionsstörungen führen in der:
○ Kognition
○ Affektauslösung und -regulation
○ sensorischen Verarbeitung
○ Handlungsorganisation
Bildgebend sind derartige Veränderungen nachgewiesen
bei:
● Persönlichkeitsstörungen
● dissoziativen und somatoformen Störungen
● Verhaltensstörungen der Impulsivitäts- und Aufmerksamkeitsregulation
● Schmerzpatienten
Stressempfindlichkeit, Störungen im Immunsystem und
somatische Störungen sind lebenslange Folgen.
4.4.4 Vulnerabilitätsmodell
Das Vulnerabilitätsmodell der Psychosomatik steht in engem Bezug zum Stressmodell. Unter psychischer Vulnerabilität einer Person wird die Anfälligkeit oder Sensibilität,
z. B. für psychische Störungen verstanden. Verbunden mit
der zusätzlichen Störung der Selbstregulationsfähigkeit
des Organismus, kann es bei Vorliegen der Vulnerabilität
zu psychosomatischen Störungen kommen.
Menschen sind bei emotionalen Belastungen unterschiedlich vulnerabel und regulationsfähig, was genetisch
determiniert oder später erworben sein kann. Gibt es neben der Vulnerabilität zusätzlich akute oder chronische
Stressfaktoren wird das Erkrankungsrisiko für psychosomatische Störungen erhöht. Insbesondere dann, wenn
Bewältigungsstrategien (Coping) altersbedingt oder nicht
erworben fehlen. Menschen mit Einschränkungen im biologisch-somatischen, psychischen und/oder sozialen Bereich haben ein erhöhtes Risiko, bei emotionalen Belastungen psychosomatisch zu erkranken.
Merke
Vulnerabilitätsmodell
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Merke
4.4 Psychophysiologische Modelle
H
●
Im Kindes- und Jugendalter stehen naturgemäß Fähigkeiten zur Konflikt- oder Stressverarbeitung umso weniger
zur Verfügung, je jünger oder je beeinträchtigter der Betroffene ist, z. B. aufgrund einer Entwicklungsstörung. Zusätzlich führen frühe, beeinträchtigende Erfahrungen oder
Traumatisierungen zu unsicheren Bindungsmustern und
erworbener Stressintoleranz – Zeichen einer früh erworbenen Vulnerabilität. Psychosoziale Anforderungen mit fehlenden, psychosozialen Ressourcen sind nicht selten Ursache chronifizierter, psychobiologischer Stressreaktionen.
Das zusätzliche Fehlen positiver Modelle, mit deren Hilfe
ausreichende Erfahrungen und Strategien zur Konfliktund Stressbewältigung hätten erworben werden können,
ist ein weiterer Faktor bei der Entstehung und Bewältigung der psychosomatischen Störungen. Alltäglich finden
sich Kinder oder Jugendliche in der Praxis ein, für deren
Symptomatik dieses Erklärungsmodell gültig ist.
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Psychosomatische Krankheitsmodelle
●
●
Das integrative Modell der Psychosomatik versucht, die
Komplexität der Selbstorganisation und Anpassung des
Menschen zu beschreiben. Krankheitsauslösende Faktoren sind demnach zu finden in:
● genetischen Grundlagen
● frühen Bindungserfahrungen
● späteren Interaktionserfahrungen
● Traumatisierungen und sozialen Umweltbedingungen
Psychosomatische Störungen als biopsychosoziale Störbilder anzusehen macht es möglich, Betroffene zu verstehen
unter Berücksichtigung ihrer:
● genetischen Disposition
● Vulnerabilität
● frühen Bindungserfahrungen
● späteren Lebens- und Interaktionserfahrungen
● Denk-, Emotions- und Verhaltensmuster
● Resilienzfaktoren
● zur Verfügung stehenden Ressourcen
Zu diesem Verständnis muss der betroffenen Person
ebenfalls verholfen werden.
Unter Berücksichtigung der zentralen Inhalte verschiedener Modelle ist die folgende Übersicht zur Entstehung
psychosomatischer Störungen entstanden (▶ Abb. 4.1).
Ein vegetativer Dauererregungszustand infolge Stresssensibilität und -fehlregulation führt zu psychosomatischen Symptomen, die als Entlastungsversuche bei mangelnder Konfliktverarbeitung angesehen werden können.
Stressauslöser sind auch bei Kindern/Jugendlichen häufige emotionale Überforderungen. Dazu tragen kindliche
Risikofaktoren bei wie:
Dauererregungszustand
psychosomatisches
Syndrom
Stresssensibilität
und
-fehlregulation
genetische
Vulnerabilität
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●
Entwicklungsstörungen
Entwicklungskrisen
abweichendes Temperament
Auch zu Überforderung führen können familiäre Risikofaktoren wie:
● Bindungsmangel
● Verlusterfahrungen eines Elternteils
● psychische Krankheiten der Eltern
● sozioökonomischen Risiken
● Traumatisierung wie nach Vernachlässigung und Misshandlung
Ebenfalls zu den Stressauslösern bei Kindern und Jugendlichen zählen soziale Risikofaktoren, die im schulischen
und/oder sozialen Umfeld zu finden sind, wie z. B.:
● kognitive Überforderung
● Desintegration
● Misshandlung
● Risikomilieu
● Traumatisierung
Fehlende soziale Unterstützung, defizitäre Lernmodelle
und Symptom verstärkende Lernerfahrungen führen zu
dysfunktionalem, d. h. Symptome nicht überwindendem
Verhalten.
Zu diesen Symptomen und störungsfördernden Faktoren kommen oft hinzu:
● eine genetische Disposition mit erhöhter Vulnerabilität
● defizitäre Bindungserfahrungen
● beeinträchtigende Persönlichkeitsfaktoren mit gesteigerter Affektivität und erniedrigter Stressschwelle
Entlastungsversuch
Mangel an
Strategien zur
Konfliktverarbeitung
emotional
überfordernde
Anforderung
dysfunktionales
Verhalten bei
Symptomen
kindliche, familiäre und soziale
Risikofaktoren
Fehlen
sozialer
Unterstützung
ungünstige
Bindungserfahrungen
erworbene
Persönlichkeitsfaktoren
Mangel an
Bewältigungsstrategien
Abb. 4.1 Modell der Entstehung psychosomatischer Symptome
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4.4.5 Integratives Modell
4.6 Literatur
Fehlen zusätzlich altersbedingt oder nicht erworben ausreichende Bewältigungsstrategien für die emotionalen
Belastungen, können sich psychosomatische Störungen
entwickeln.
Störungen in jedem Alter zu verstehen. Andere und ältere
Erklärungsmodelle können im Einzelfall zu einem Verständnis von Teilaspekten der Entstehung psychosomatischer Störung beitragen.
4.5 Fazit
4.6 Literatur
[1] Hoffmann SO, Hochapfel FR. Neurotische Störungen und Psychosomatische Medizin. Mit einer Einführung in die Psychodiagnostik
und Psychotherapie. 8. Aufl. Stuttgart: Schattauer Verlag; 2009
[2] Platon Charmides. Übers. u. mit Anm. versehen. Reclam, Stuttgart
1977 (Reclam UB 9 861)
[3] Veit I. Praxis der Psychosomatischen Grundversorgung. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Stuttgart: Kohlhammer Verlag;
2010
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Mit dem integrativen Modell der Psychosomatik werden
die Individualität der Entwicklung und der Lebenskontext
der Betroffenen erfasst. Es berücksichtigt die körperlichpsychischen und sozialen Wechselwirkungen bei der Entwicklung der Störung, beginnend mit der Geburt, und
hilft, die Komplexität der Entstehung psychosomatischer
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