Leseprobe - Secession

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Im dritten Raum
König Oscar II., König von Schweden und Norwegen, geboren 1829,
starb 1907.
Sein Platz in dieser Erzählung ist rein zufällig. Er wird sie ebenso
leicht verlassen, wie er in sie hineingekommen ist.
Das Arbeitszimmer von Oscar II. im Stockholmer Schloss ist noch
zu besichtigen, einer der Höhepunkte auf den Etagen, die der Allgemeinheit zugänglich sind. Füller und Tintenfass sauber und ordentlich in einem eleganten Tischarrangement angeordnet, ­Kissen und
Lampenschirme aus Seide im Zeitgeschmack, solide Gardinen,
Plüsch und Antimakassars.
Hier und da stehen auf Regalen und Tischen die vielen Familienporträts – darunter auch der unglückliche russische Zar Nikolaus
und seine Alexandra, der deutsche Wilhelm II. und die Königin
Victoria von England. Alles Verwandtschaft. Auf dem Ehrenplatz
außerdem natürlich die königlich schwedischen Prinzen: Prinz
Wilhelm, Nachfolger von König Oscar II. als König Gustav V., der
später der Vorsitzende des Pen-Clubs werden sollte und Dokumentarfilmer und Schriftsteller, sowie der geniale Maler Prinz Eugen.
Auf übliche Museumsart sperrt ein Seil den Raum ab, grenzt den
Teil, den die Zuschauer betreten dürfen, vom unerlaubten Teil ab.
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Jeder versteht, dass dieses Seil aus vernünftigen Gründen existieren muss. Es ist jedoch mehr als eine praktische Anordnung. Es
ist ein semantischer Operator, etwa vom Charakter eines Anführungszeichens. Es grenzt den Raum von der gewöhnlichen Welt ab
und verwandelt ihn in ein Zitat.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Raum detailgetreu einen
anderen abbildet. In der Lyndon-B.-Johnson-Bibliothek in ­Austin,
Texas können Touristen das »Oval Office« des Weißen Hauses in
Washington, so wie es vermutlich zur Zeit der Präsidentschaft von
­Lyndon B. ­Johnson ausgesehen hat, besichtigen. Wenn wir uns
vorstellen, dass diese Abbildung perfekt in dem Sinne ist, dass
jedes Ding im Original sein exaktes und gleichartiges Gegenstück
in der Kopie findet, sind die Räume isomorph.
Sie unterscheiden sich einzig durch ihre Lage im Raum und eventuell in der Zeit.
Anders ausgedrückt könnte ein Besucher, der nicht die Möglichkeit hätte, den Raum zu verlassen, nicht entscheiden, ob er sich in
der Kopie oder im Original befände, vorausgesetzt, wir hätten es
mit einem fensterlosen Raum zu tun.
Im Fall des Zimmers von Oscar II. ist die Isomorphie natürlich
offenkundig: dieser Raum ist im Gegensatz zur Kopie des »Oval
Office« in Austin wirklich er selbst.
Eine fruchtbare Methode in der Mathematik besteht darin, einen
Begriff bis an seine äußerste Grenze auszudehnen. Was passiert,
wenn man 1 mit 0 dividiert? Was geschieht, wenn wir eine Differenz unendlich verkleinern? In der Philosophie kann die gleiche
Methode ebenso fruchtbar sein. Das Zimmer Oscars II. im Schloss
von Stockholm führt uns an eine solche Grenze. Es ist ein Raum,
der sich selbst abbildet. Die Grenze, die zwischen dem Original
und der Kopie verläuft, ist fiktiv; das Anführungszeichen abgesteckt durch das rote Seil.
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Handelt es sich lediglich um ein Anführungszeichen?
Kann ein Gegenstand seine eigene optimale Abbildung darstellen? Wie Nelson Goodman belegt hat, ist es möglich, Margaret
­Thatcher als Minerva abzubilden oder Gustav III. als Apollon, wie
es der Künstler Johan Tobias Sergel am Skeppsbrokai in ­Stockholm
getan hat. Das abzubildende Objekt kann offenbar als etwas anderes getarnt werden. Kann ein Objekt mit seinem eigenen Bild maskiert werden? Wie wäre es, wenn ein Raum als Abbildung des
Arbeitszimmers von Oscar II. im Stockholmer Schloss präsentiert
würde? Und was – nun dreidimensional – als Abbildung präsentiert würde, wäre zufällig identisch mit dem Abgebildeten?
Muss die Abbildung immer eine (möglichst minimale) Abweichung vom Abgebildeten aufweisen? Diese Abweichung geht hier
gegen Null.
Oder müssen wir vielleicht doch akzeptieren, dass das rote Seil
nicht einfach nur ein rotes Seil ist? Sondern ein vor eine Klammer
gestellter Operator – der ein leises ontologisches Wunder vollbringt.
Ein Operator, der einen zweiten Raum erschafft? Das Arbeitszimmer Oscars II. tritt auf in der Rolle des Arbeitszimmers Oscars II.
Wir haben also hier das Arbeitszimmer König Oscars II. Und ein
Zimmer, das identisch mit diesem und als seine Abbildung präsentiert wird – »Arbeitszimmer von König Oscar II.«.
Wo enden wir mit einer solchen Ontologie? Irgendwo weit draußen in der Landschaft? Gelangen wir geradewegs zum Horizont?
Aber zu welchem?
Die Serie negativer, ganzer Zahlen von − n bis 0 und dann die Serie
positiver Zahlen von 0 bis + n kann man sich auf ein Papier geschrieben vorstellen, das in der Mitte gefaltet wird, bei 0. So wird diese
Menge in sich selbst abgebildet, in ihrem negativen Spiegelbild.
Aber was ist 0?
Null ist das rote Seil.
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