FREMDE UND HEIMAT

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FREMDE UND HEIMAT
Musik & Mensch
Konzert- und Kolloquiumsreihe
Zyklus 2007/2008 – „HEIMAT“
Pädagogischen Hochschule FHNW, Kasernenstraße 20 (ehemalige Reithalle), Aarau
Donnerstag, 27. September 2007
Heimat – ein psychoakustisches Phänomen?
Eine dialogische Erörterung von Peter Sloterdijk, Rektor der Hochschule für Gestaltung,
Karlsruhe und Siegfried Mauser, Rektor der Hochschule für Musik und Theater, München
(Transkription: Eliane und Markus Cslovjecsek, redigiert im Oktober 2013 von Siegfried Mauser)
Begrüßung und Einführung durch Markus Cslovjecsek
Peter Sloterdijk: Herzlichen Dank für die perspektivenreiche Einführung. Wir haben uns vorgenommen,
das Thema des heutigen Abends auf eine dialogische Weise miteinander zu entwickeln, wobei es von
meiner Seite her, wie es meinem Metier entspricht - einen monologischen Input geben muss. Siegfried
Mauser, der hier sozusagen als mein besseres musikalisches Selbst anwesend ist, wird eine ganz
eigenständige Art und Weise des Zugangs zu den Themen entwickeln, so dass Sie auf gar keine Weise nur
eine These und ihr Beispiel erleben werden, sondern Zweistimmigkeit in jedem möglichen Sinn des
Wortes.
Siegfried Mauser: Ein zweistimmiger Kontrapunkt
PS: Kontrapunkt, wo man gar nicht mehr weiss, wo die Hauptstimme liegen soll. Also wir werden auf
keinen Fall eine Art von Übung ausführen, die nur den Diskurs wie einen bezifferten Bass ausspielen
wird. Das hat damit zu tun, dass wir eine langjährige Kooperation entdeckt haben, dass es tatsächlich so
eine Art intermediale Resonanz gibt, die sich in einer Form entfalten lässt, für die Siegfried Mauser seit
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vielen Jahren den Begriff des Gesprächskonzert verwendet, der von manchen missverstanden wird, als
würde da sozusagen Musik mit Keilerei verbunden. Ganz so schlimm soll es ja nicht kommen.
Heimat ist ein Affekt einer Form von moderner Heimatdichtung. Dass Heimat ein Konstrukt ist, muss
heute nicht mehr mühsam nachgewiesen oder mit dekonstruktiven Künsten aufgezeigt werden. Dass
Heimat aber auch eine Vertonungsdimension hat, nicht nur Heimatdichtung darstellt im weitesten Sinn
des Wortes, sondern dass es in dieser poietischen Dimension eben eine akustische, eine
psychoakustische, eine sonore Schicht gibt, diesen Gedanken zu entfalten, darin wollen wir heute
miteinander kooperieren.
Überlegungen zu musikalischen Gegenständen eröffne ich stereotyp mit der Bemerkung Thomas Manns,
der in seinem Doktor Faustus nicht müde wurde zu betonen, dass Musik dämonisches Gebiet sei. Ich
glaube, wir haben gute Gründe uns ihnen heute als ein Team vernünftiger Dämonologen vor Ihnen zu
präsentieren, mit der Absicht fast so etwas wie eine demokratische Dämonologie des tönenden Lebens
zu entwickeln.
Und wenn ich Thomas Mann zitiert habe, komme ich nicht umhin einen zweiten Grossmeister des
Reflektierens über modernes in der Welt sein zu erwähnen, nämlich den französischen Philosophen
Maurice Merlau-Ponty, der in seiner gross angelegten Phänomenologie der Wahrnehmung, einige
Gedanken Heideggers über das "in der Welt sein", oder der Perspektive des verkörperten Daseins
aufgenommen und fortgeführt hat. In diesem Buch finden wir einen aufhorchen machenden Satz, den
ich versuchen möchte im Folgenden ein wenig zu interpretieren. Wir lesen da: "le corps n'est pas dans
l'espace, il l'habite." Der deutsche Übersetzer hat, wie ich glaube sehr glücklich, wiedergegeben: "Der
Körper ist nicht im Raum, er wohnt ihm ein."
Hier hätte er, die deutsche Sprache bietet das an, eine Nuance trivialer übersetzen können, und hätte
sagen können: "Der Körper ist nicht im Raum, er bewohnt ihn." Er hat sich für die etwas
anspruchsvollere, vielleicht sogar die einwenig theologischere Übersetzungsvariante entschieden und
spricht von Einwohnung. Da kommt nun ein leicht, fast schon wieder dämonologischer Akzent mit
hinein, über dessen besondere Machart wir uns hier verständigen sollten. Was kann denn eine solche
These bedeuten? Der Körper wäre dann im Raum - lassen sie uns zuerst mal den ersten negierten Teil
des Satzes betrachten - er wäre dann im Raum, wenn er ganz von Raum umschlossen wäre und wenn
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man über seine Lage im Raum alles gesagt hätte, wenn man ihn nach den konventionellen
dreidimensionalen Koordinaten umschrieben hätte. Der Körper ist aber nicht im Raum hören wir, er
wohnt ihm ein - aber wo ist er dann? Wo ist man, wenn man einem Raum einwohnt? Wir werden in
unserem trivialen Raumverständnis angegriffen, durch eine scheinbar so harmlose Formulierung wie
diese, und werden dazu gezwungen uns an eine Stelle des Raumes zu denken, die nur dadurch existiert,
dass der Einwohnende sich an ihr befindet und dort einen neuen Ort aufmacht, den es sonst nicht gäbe,
wenn der Existierende sich nicht an ihm befände.
Die Leiche ist im Grab - man kann auch sagen, sie wohnt im Grab, aber sie wohnt ihm nicht mehr ein in
der Weise einer Existenz. Im Sarge sein hat ganz offenkundig nicht mehr dieselben Raum eröffnenden,
raumschöpferischen Qualitäten, wie sie dem menschlichen wohnen eigentümlich sind. Also dieses Wort
"wohnen" gehört zum Grundwortschatz der heideggerschen Existentialphilosophie und deutet auf eine
Subversion des gewöhnlichen Raumverständnisses durch eine Art Lehre von der konstitutiven Ekstase.
Wir sind , wenn wir in der Welt sind, an einer Raumstelle zu der die absolute Unheimlichkeit des Daseins
gehört, denn wenn man in der Welt ist, dann sind wir, wie Heidegger im Frühwerk zu betonen nicht
müde wurde, Geworfene. Wir sind in einer ungeheuerlichen Weise ausgesetzt und aus dieser
Ausgesetztheit heraus entsteht die Bemühung des Menschen um Einwohnung, beziehungsweise um die
Einhausung, die Verwandlung der Welt in das Haus.
Am Anfang jeder philosophischen Reflexion über das Heimatproblem, muss man einen Hinweis darauf
geben, dass es ursprünglich die Griechen gewesen sind, die diesen ausserordentlichen Versuch
unternommen haben (Parallelphänomene hat die indische Mythologie hervorgebracht) eine Art strenge
Gleichung zwischen Welt oder Kosmos und Eukos (Haus, Herd, Umwelt) durchzusetzen. Wenn die Welt
ein Haus ist, dann können wir in ihr beheimatet sein. Wenn die Welt insgesamt nur die Summe des
unbewohnbaren, des unheimlichen bleibe, würde diese Gleichung von Weltlichkeit und Häuslichkeit
entfallen und die Eukoesis müsste in letzter Instanz misslingen. Das gehört übriges zu den tragischen
Gedanken des 20. Jahrhunderts, dass die Philosophie dieser Zeit den Menschen als ein Wesen zu
beschreiben und begreifen begonnen hat, dessen Bemühungen um Einwohnung, dessen Bemühungen
um heimisch und häuslich werden in der Welt zum Scheitern verurteilt sind, da haben wir nach 1945
namentlich in Europa unter existentialistischen Vorzeichen eine Fülle von Philosophien des
„unbehausten Menschen“ gehört. Hans Egon Holthusen hat eines der bekanntesten Bücher der
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deutschen Nachkriegszeit unter diesem Titel publiziert und in diesem Titel haben sich sehr viele
Menschen wiedererkannt.
Heidegger ist die Explikation des Gedankens zu verdanken, dass das Einwohnen selber von ekstatischer
Qualität ist. Aber was bedeutet hier Ekstase? Selbstverständlich ist nicht dieses höhere Aussersichsein,
das als psychischer Zustand beim Benutzen von Drogen oder beim Durchführen von psychoaktiven
Übungen auftritt, gemeint. Ekstase ist hier ein ontologischer Terminus technicus und zwar bedeutend,
dass ein Dasein in der Weise da ist, dass es an sich selber das Merkmal der Weltoffenheit an den Tag
legt.
Heidegger
hat
in
seiner
bedeutendsten
Vorlesung
„Grundbegriffe
der
Philosophie:
Welteinsamkeit/Sterblichkeit“, die er Herbst 1929 / 1930 in Freiburg gehalten hat, eine kleine Skizze zu
einer Naturphilosophie gezeichnet, wo er versucht, eine Art Naturgeschichte unter dem Gesichtspunkt
des Weltzuwachses zu zeichnen. Er sagt am Anfang, der Stein – mit dem alle grossen Erzählungen über
die Natur beginnen – der Stein ist weltlos. Weltlosigkeit bedeutet, dass der Stein nicht die Möglichkeit
besitzt, Nachbar von etwas zu sein. Selbst wenn er neben einem anderen Stein lebt, ist er nicht sein
Nachbar. Er kann nicht den Nachbarstein anstossen und sich zu ihm in ein Verhältnis setzen.
Weltlosigkeit bedeutet auch Verhältnislosigkeit. Diese Steine haben daher auch die Metaphysiker
fasziniert. Vor allem dieses steinerne Individuum, diese steinerne Einzelheit sind philosophisch
faszinierend, weil sie sozusagen unbezüglich Individualität voranstellen. Manchmal träumt ja auch der
Mensch davon, unbezüglich in Stein werden zu wollen, wenn die eigene Weltoffenheit zu sehr
nervenstrapazierend wird. Das Tier, sagt Heidegger im zweiten Abschnitt seiner Reflexion, das Tier ist
weltarm. Aber es hat bereits einen ungeheuren Schritt Richtung Weltoffenheit getan. Es ist
gewissermassen so, als hätte der Stein in seinem Übermut angefangen, die Welt um ihn herum überhaupt das was um ihn herum ist - auf sich wirken zu lassen. Er hat sich Nerven zugelegt, er hat sich
geöffnet, er hat eine Haut ausgebildet, er hat sich in eine Membran verwandelt. Er spiegelt etwas
wieder, nimmt etwas auf und denkt, was ihn umgibt.
Was für ein Leichtsinn, aber gleichzeitig auch was für eine grandiose evolutionäre Verwandlung eines
Beziehungslosen in etwas Beziehungshaftes. Für den Menschen zeichne sich nun noch darüber aus, dass
er weltbildend ist. Indem er weltbildend ist, legt er gewissermassen dieses Erbe an steinerner Idiotie ab
und verwandelt sich in ein Ekstasewesen, das bis in sein Innerstes auf Nachbarschaftlichkeit mit seinem
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hin angelegt ist. Und sei es auch um dieses wahrhafte Risiko der Sterblichkeit, der Verletzbarkeit und der
Begegnung mit dem Ungeheuren, das die Fassungskraft eines blossen Nervenwesens übersteigt. Das
heisst, deswegen wird das Bewohnen so bedeutsam in dieser modernen Existenzphilosophie, weil
Weltoffenheit als solche unerträglich wäre, wenn es nicht geschützte Weltoffenheit wäre, die in einer
speziellen Weltdichtung dem überweltoffenen, dem überausgesetzen Wesen die Möglichkeit des
Daseins überhaupt erst zurückgibt.
Hätten wir alle Zeit der Welt, könnten wir jetzt natürlich viele Bereiche hindurch dieses Motiv der
geschützten Weltoffenheit durchbuchstabieren. Ich selber favorisiere auf diesem Gebiet ein Thema: Der
Mensch und die Nacht. Das soll jetzt keine erotische Digression ergeben, sondern ganz im Gegenteil. Es
soll zeigen, dass der Mensch selber mit seiner nächtlichen Seite eine Neigung hat, so etwas wie
Weltlosigkeit wieder herzustellen – wenn auch nur auf Zeit. Der Schlaf ist eine Weltlosigkeit auf Zeit. Und
zu den Dimensionen, in denen diese Weltoffenheit sich besonders manifestiert, gehört nun die Öffnung
dessen, was wir unter einem Vorbehalt den akustischen Kanal nennen möchten.
Die Ausbildung des akustischen Kanals in einem Organismus, der ursprünglich ja nicht gehört und nicht
gesehen hat. Die Audiovisualität ist auch evolutionär spät gegenüber der olfaktorischen und taktilen
Weltorientierung. 99 % aller Lebewesen orientieren sich in der Welt über vibratorische und olfaktorische
oder chemische Signale. Die Audiovisualität gehört sozusagen zu den „Abenteuern der höheren
Nervlichkeit“. Und innerhalb dessen ist die Eröffnung des akustischen Kanals besonders erregend. Man
kann zum einen ja von der Existenz von Ohren her eine Art von akustischem Weltbeweis führen: Wenn
es nichts zu hören gäbe, gäbe es auch die Ohren nicht.
Die Ohren sind eigentlich Immunsystem. Man müsste sie auch anders rubrizieren, denn sie sind
„Gefahrendetektoren“, die in einer sicherer werdenden Welt sekundär besetzt werden und dann
erotisiert und ästhetisiert werden. Das ist in hochkulturellen Kontexten der normale Lauf der Dinge:
Organe, die ursprünglich streng funktional eingesetzt waren, gehen irgendwann in ein Luxurie an
Gebrauch über. Wenn wir wiederum viel Zeit hätten, könnte ich dies Ihnen an einem Beispiel vom
weiblichen Körper her erläutern, wo sozusagen Unbrauchbarkeit in einem Direktverhältnis mit
Erotisierung auftritt.
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Aber diese akustische Welteröffnung hat für den Homo sapiens deswegen so eine besonders tiefe
Bedeutung, weil die Einhausung des Menschen in der Welt (das was Historiker Eukoesis genannt haben)
anthropologisch auf einer sehr tief angesetzten Ebene beginnt. Die Öffnung zur Welt beginnt bei den
Säugetieren wie man weiss ja schon während der Tragzeit des werdenden Individuums und es entsteht
das pränatale Bonding, wie es die Psychologen nennen. Weil das Ohr sich als das erste Organ am noch
Ungeborenen entwickelt, geht die Welt und der Weltbezug, wenn er auch noch durch das mütterliche
Milieu modifiziert ist, allen anderen Weltbezügen voraus. Bereits Ungeborene hören. Sie hören in erster
Linie sozusagen das mütterliche Milieu. Dies ist das erste Phonoton und die erste Einschleifung des Ohrs
in ein akustisches Weltverhältnis und wäre sogar der erste Beheimatungsversuch, die erste Tonspur, die
im Ohr gezogen wird. Dass die Welt eigentlich am Meisten dann heimatlich ist, wenn sie so klingt, wie
das klingt, was wir gehört haben, als wir das mütterliche Instrument bewohnt haben, liegt aufgrund
dieser Betrachtungen geradezu auf der Hand. Auch wenn es selten ausgesprochen worden ist, aber hier
ist ein Moment nochmal daran zu erinnern: Musik ist dämonisches Gebiet und als vernünftige
Dämonologen muss man auch ein stückweit vernünftige Musikgynäkologie mit anbieten.
Ich springe jetzt einfach über viele Stichworte hinweg, die ich mir notiert hätte - wir können manches
auch mitten im Gespräch miteinander entwickeln. Ich glaube es genügt, wenn ich diese
tiefenakustischen oder protomusikologischen Überlegungen vorausschicke.
Eines sei abschließend klargestellt: Musik schliesst in all ihren Formen eine Stellungnahme zu diesen
Grundtatsachen ein. Das meiste von dem, was ich jetzt gesagt habe, ist vormusikalisch relevant. Es ist
allgemein. Akustik und Musik sind ja nicht dasselbe und die Welt der psychoakustischen
Weltkonstruktion ist ein sehr viel breiteres Phänomen als das, was im musikalischen Feld als solchem
auftritt, aber es ist beruhigend und bestätigend zugleich zu sehen, dass es von der Musik her eine starke
Antwort geben kann auf Anregungen dieses Typs. Daher denke ich, sollten wir versuchen, jetzt die
„Antwort des Musikers“ zu hören – wir werden dann vielleicht nach dem ersten Beispiel nochmals in
eine biologische Passage eintreten.
SM: Diese psychoakustischen Phänomene, die beschrieben wurden, sind natürlich für die Musik auch so
etwas wie nicht hintergehbare apriorische Möglichkeitsbedingungen, die in der Kunstmusik und ihrer
abendländischen Werkgeschichte zu unterschiedlichen Reaktionen, Stellungnahmen, Strategien geführt
haben. Wenn Musik als Kunstform beheimatend wirken soll und kann, so muss sie in irgendeiner Weise
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die Dimension des Räumlichen erreichen. Sowie der Körper in den Raum einwohnt, so der hörende
Mensch in die Musik. Er kann sich in ihr nur einwohnen, wenn sie etwas ist, das dieses „rezeptive
Platznehmen“ im Klang, in irgendeiner Kontinuitätsvorstellung von Klang anbietet. Das ist nicht einfach,
da der Grundbaustein von Musik als Kunst etwas ist, das gerade durch seine radikale Zeitlichkeit/
Zeitgebundenheit – nämlich dem verklingenden Ton – nicht unbedingt geeignet ist, so etwas wie
Räumlichkeit zu entfalten. Der Ton ist etwas, das verschwindet. Töne und Musik verklingen, das
eigentliche Ziel ihres Erklingens. Die Kompositionsgeschichte könnte man weitgehend als strategisches
Verhalten mit unterschiedlichen Ausprägungen sehen, gegen dieses Verklingen anzugehen und innerhalb
dieser Reaktionsformen Techniken zu entwickeln, die stärker auf Räumlichkeit ausgerichtet sind, um
damit wiederum ein stärkeres Beheimatungspotenzial zu ermöglichen.
Einen qualitativen Sprung gibt es meiner Meinung nach hier in der Musik der Frühromantik zu sehen. In
dem Programm dieses Kolloquiums ist die Winterreise von Schubert zu finden; dies ist natürlich kein
Zufall, sondern quasi eine Bestätigung und auch eine Anregung für mich: Fremd bin ich eingezogen,
fremd zieh ich wieder aus im ersten Lied „Gute Nacht“, da ist introitus exodus der Impuls, der zum
Verlöschen führt. Hier das Setzen, das gleichzeitig ein Verschwinden darstellt, direkt programmatisch im
wunderbaren Text von Wilhelm Müller akzentuiert und das Ergebnis, das vielleicht so eine Art Utopie
von Beheimatung ex negativo sein könnte, endgültig dann im Leiermann am Schluss: Formeln des in sich
selbst kreisenden Melodiebogens, das Unausweichliche einer radikalen, nicht mehr zielgerichteten
Entwicklung.
Ein kleiner Exkurs sei an dieser Stelle erlaubt: Wenn man die Kompositionsgeschichte des Abendlandes
unabhängig von den stilistischen, ästhetischen und kompositionstechnischen Unterschieden Revue
passieren lässt, kann man sich kaum der Einsicht erwehren, dass zwei grundsätzliche Tendenzen des
Komponierens festzumachen sind, die mit diesen Beheimatungsversuchen zu tun haben. Gerade die
beiden Zeitgenossen Beethoven und Schubert wären Prototypen für diese beiden Grundtendenzen:
Entweder man tritt dem Verklingen des Tones und der Musik - sozusagen der Entkörperlichung, der
Enträumlichung - dadurch entgegen, dass sie in eine radikale, zielgerichtete Prozessualität überführt
wird. Das wäre bei Beethoven der Fall. Es ist die prozessgesteuerte Musik, die es wohl gibt in der
Musikgeschichte, die jederzeit Strategien des Durchbruchs, der Zielgerichtetheit, der Teleologie
entwickelt.
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Der andere Typus ist der, der weniger mit zielgerichteter Verarbeitungstechnik verbunden ist, der
umgekehrt das Möglichste festhält, der Tonkonstellationen umschreibt, Fixierungsstrategien entwickelt,
Flächenbildungen, Räumlichkeitsillusionen mit den Tönen suggeriert – um dadurch direkt eine
Behausung, eine Beheimatung im Raum (zumindest imaginär) möglich zu machen. Die Heimatsuche ist
etwas, das das Werk Schuberts durchzieht, zwar in einer besseren Welt – wie es im berühmten Lied von
der holden Kunst heisst – aber dennoch eine Beheimatung als eigentliches Ziel. Eine Heimat, die mit
Melancholie, mit Unerreichbarkeit durchtränkt ist, aber dennoch die Sucht nach ihr im Medium des
Klanges vollzieht – vor allem im Spätwerk Schuberts, wozu natürlich auch die Winterreise zählt. Ein
schönes Beispiel für diese intendierte Räumlichkeit als akustisches Beheimatungsangebot – wobei
gleichzeitig der Modus des Scheiterns eingeschrieben ist und mitgesetzt wird – wäre die letzte
Klaviersonate in B-Dur, die – das passt natürlich auch sehr gut zur Winterreise – einen spezifischen
Wander-Geh-Tonfall entfaltet, der mehr ein Umkreisungstonfall ist denn einer, der ein Ziel hat – bereits
im Thema und in den ersten drei Sätzen prototypisch entwickelt. Da zeigt sich Heimatsucht,
Heimatsehnsucht, aber auch Beheimatungsangebot – allerdings im Modus des sehnsüchtig
Angestrebten, nicht für realisierbar Gehaltenen, sozusagen im Modus des Scheiterns.
Ich werde dies ganz kurz am Thema exemplifizieren. Hier wird besonders deutlich, wie so etwas wie
Räumlichkeitsentwicklung in der Musik als Beheimatungsangebot erscheint. Und dies trotz der Kategorie
des Verklingens und der Flüchtigkeit in der Zeit – Musik ist ja sozusagen Luftvibrationskunst, die ein Grad
an Manifestheit vortäuschen, imaginieren muss, eine Suggestionskraft entwickeln muss, um so etwas
wie Klangraum, in dem man einwohnen kann, überhaupt möglich zu machen. Es ist ein sehr schönes,
einfaches, liedhaftes Thema, das durchaus auch als Melodie mit Text existieren könnte, das auch vom
Duktus her dem ersten Winterreise-Lied nicht unähnlich ist. Diese Klangräumlichkeit, dieses
Einwohnungsangebot, das immer gleichzeitig die Unmöglichkeit einer tatsächlichen Erfüllung
mitformuliert – mit das Bedeutsamste in der späten Schubertschen Musik – das kann man hier, ohne
dass man viel Musiktheorie betreiben muss, einfach phänomenologisch nachvollziehen…
Siegfried Mauser spielt das Thema auf dem Klavier.
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SM: Eine relativ gleichförmige, in Vierteln verlaufende Melodie: man könnte sagen, eine Art
„dahinsingen“. Vielleicht bei einem Gang durch die Natur. Der Wanderduktus, das langsame Schlendern,
ist hier eingeschrieben. Aber es ist kein Gehen, das zielgerichtet ist, sondern ein Gehen, das in sich kreist.
Dies zeigt schon die erste Phrase, die sozusagen nicht über sich hinaus kommt: Siegfried Mauser
wiederholt die erste Phrase. Hier ist ein Spitzenton erreicht, der sofort zurückgenommen wird und zum
Ausgangston zurückkehrt. Eine kreisförmige Bewegung, die weder Teleologie, noch Fortschritt, noch Ziel
kennt. Verstärkt wird dieser Eindruck merkwürdige Tonfixierungen, die räumliche Markierungen
einzuschlagen scheinen.
Es handelt sich um die beiden wichtigsten Töne, die eine Tonart bestimmen, nämlich den Grundton, das
B, und die Quinte das F wie Pol und Gegenpol. Das ganze Thema hält diese beiden Töne über die ersten
vier Takte fest. Dies wäre für den Zeitgenossen Beethoven undenkbar! Diese Töne bilden Klangpflöcke,
konstituieren einen Raum, der sich anbietet und den die Melodie gewissermassen kreisläufig
durchschreitet. Sie sind festgehalten, wie in einer gewissen Manie festgeschrieben.
Siegfried Mauser wiederholt das Thema und betont die „Klangpflöcke“ B und F.
In diesen beiden Tonpflöcken vollzieht sich der melodische Kreis. Dadurch gelingt es tatsächlich, so etwas
wie Bewegung aus dem Raum heraus zu konstituieren. Am Ende des Prozesses wird nämlich die
Dominante, die harmonische Gegenkraft zur Tonart in der sich die Musik bewegt, mehr oder weniger
beiläufig erreicht. Da ereignet sich etwas völlig Extraterritoriales, eine Art Gefährdung des Klangraumes,
des Beheimatungsangebots, in dem man sich bewegte…
…Siegfried Mauser spielt das Thema erneut. Spielt weiter…
…Gefährdung der Konstitution eines heimatlichen Klangraumes erzeugt ein plötzlich mitgesetztes Ges.
Dieses Ges, das eine schärfste Dissonanz darstellt, nicht wie Irritation und Störfaktor, ist so etwas wie der
Inbegriff der Gefährdung von Heimat. Das Ineinander und Miteinander von Angebotsstruktur einer
Beheimatung in einem sich entfaltenden Klangraum und der gleichzeitig mitgesetzten, in der Sache
selbst bereits als begründet anzusehenden Irritation, Störung, ja Verstörung, stellt meiner Meinung
einen Kernpunkt der grossen Kunst des späten Schubertschen Komponierens dar.
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„Spät“ ist eine merkwürdige Kategorie bei einem Komponisten, der nur 31 Jahre alt geworden ist. Aber
die Entwicklung ist sicher – wie bei Mozart auch – in einer Art Zeitbeschleuniger abgelaufen. Das heisst,
dass da in fünf Jahren wahrscheinlich so viel passiert ist wie bei manchem anderen Komponisten in
zwanzig Jahren. Insofern ist es legitim, von einem „Spätstil“ zu sprechen, der sich mit diesen
weiträumigen und gleichzeitig gefährdeten Beheimatungsangeboten – die Schuberts eigene Utopien,
seine Versuche widerspiegeln – in eine nahezu existentialistische Dimension begibt.
Nach dem Störfaktor beginnt Schubert nochmal von vorne, als ob nichts gewesen wäre - vielleicht geht’s
jetzt. Dann kommt am Ende kein Störfaktor, aber die Weiterführung und das weitere Ausschreiten des
Klangraumes sinkt um eine Terz herab. Das ist auch völlig ungewöhnlich – und für Beethoven kaum
denkbar – dass ein Thema bis zu fünfmal hintereinander erklingt und quasi nur verrutscht. Und zwar
immer wieder unter Kategorien eines klangräumlichen Angebots, in das wir eintreten können, und der
gleichzeitigen Irritation und Gefährdung desselben. Dies gilt für das zweite Thema – in melancholischer
Form – auch: Töne und Klänge werden festgehalten und die Melodik versucht, diese Pflöcke, die
räumlich-körperlichen Markierungen der verklingenden Töne, die durch die Wiederholung und Insistenz
die reine Zeitlichkeit zu überwinden scheinen zu umspielen. Es entwickelt sich eine Art KlangraumGewebe, das unentwegten Gefährdungen ausgesetzt ist.
Siegfried Mauser spielt das zweite Thema auf dem Klavier.
PS: Das war eine sehr eindrucksvolle Übersetzung einiger der Motive aus dem ersten Exposé in ein völlig
anderes Register. Mir selber fiel bei deinen Ausführungen ein, dass gerade Schubert von seiner
Kompositionstechnik her eine ganz besonders ausgeprägte Möglichkeit besitzt, „Heimaten als ob“
herzstellen, weil er – gerade als Liedkomponist – starke Neigungen zum Strophenlied hat. Das
Strophenlied bietet ja gerade das Element an, was für den psychoakustischen Beheimatungseffekt das
stärkste ist, nämlich die Wiederholung. Schubert ist schon in der zweiten Strophe der ersten zu Hause.
Das heisst er bietet das erste Gefäss an und darin ist es in ein grosses trostvolles Programm gesetzt. Und
dass das eben kein Kitsch und keine Heimatmusik im trivialen, bösen Sinne des Wortes sind, zeigt sich
daran, dass die Musik nicht lügt, weil sie ihre Gefährdung nicht verschweigt. Der Bruch kommt sofort.
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Und da kommt die zweifache Verarbeitung: einmal in dieser fast katastrophischen Andeutung durch die
scharfe Dissonanz, zum anderen auch in der Form der melancholischen Verarbeitung. Schubert wechselt
das Tongeschlecht gerne. Durch den Wechsel des Tongeschlechts wird die Zerstörung der Homöostase
verarbeitet. Eine Art Trauerarbeit, die in Strophenform abgeleistet wird. Wenn alles gut geht, gibt es so
etwas wie eine schwebende, nicht gelogene Rückkehr in die Stimmung, in der man ursprünglich hat
beginnen wollen. Im Grunde ist das, was du zeigst auch ein Hinweis auf die kreisenden Bewegungen, die
mir ganz fundamental erscheinen. Sie sind wie ein Element einer allgemeinen Theorie der Strophe. Oder
umgekehrt ist eine Strophe vielleicht eine allgemeine Theorie der kreisförmigen Figur im musikalischen
Raum…
SM: Es gibt ja ein berühmtes Zitat, das für Luigi Nono so wichtig geworden ist und an die Klostermauer in
Toledo geschrieben wurde: „Wanderer, du musst gehen, doch es gibt keinen Weg.“ Damit ist abstrakt
der Prototyp solcher Umkreisungsbewegungen erfasst. Der Weg beschreibt letztlich das Insichkreisen,
das dort endet, wo es begann. Die Ambivalenz des Angebots bei Schubert ist das Erstaunliche, das was
vor Kitsch bewahrt: die Gefährdungen sind eingeschrieben konstitutiver Bestandteil. All das ist
beispielsweise auch im Streichquintett und den grossen späten Liedern zu finden. Ungebrochenheit tritt
nur dort auf, wo das Angebot selbst schon katastrophisch ist, wo das wüste Land von vornherein die
einzig mögliche Heimat zu sein scheint. Das wäre im zweiten Satz sehr schön zu sehen: dort gibt es keine
derartigen Störfaktoren, weil die Nichterreichbarkeit in der räumlichen Setzung selbst bereits stattfindet.
Das ist einer der grossartigsten langsamen Sätzen Schuberts – in cis-Moll – und man sieht auch nochmal
die bedrängenden Klangbeheimatungsstrategien des späten Schubert.
Siegfried Mauser zeigt am ersten Teil des Satzes, wie dessen räumlicher Charakter als ein Angebot an den
Zuhörenden, in eine melancholisch durchwobene, letztlich nicht erreichbare Heimat einzutreten,
verstanden werden kann.
PS: Ich glaube, du wirst zugeben, hiergegen hilft nur noch Dämonologie…Was hört man, wenn man das
hört? Es ist ja doch ein Tongewebe, bei dem der Eindruck des Durchscheinens auf etwas ganz
Unheimliches, Unabweisliches …
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SM: Genau! Diese existentielle Dimension der Schubertschen Musik ist ja spät entdeckt worden, weil
natürlich diese Dinge in dem Biedermeierkontext, indem er gesehen wurde und der auf ihn projiziert
wurde, keinen Raum hatten. Man kann schon sagen, dass es sich um einen von Melancholie und
Todesvision durchdrungenen Klangraum handelt.
PS: Ich wollte jetzt auch versuchen, mit einer vormusikalischen Impression zu einem Neuanfang zu
kommen. Dies kann natürlich kein Kommentar zu dem Stück sein, aber es kann einen allgemeinen Raum
innerhalb dessen eröffnen, der ein musikalisches Gespräch über das Gehörte möglich macht. Um
nochmal zurückzugehen zu diesen Unheimlichkeiten des menschlichen „zur Welt kommens“. Wenn es
richtig ist, dass das menschliche Ohr aus einem Rhythmuskontinuum kommt, das durch das mütterliche
Instrument mit all seinen Rhythmusschwankungen (der mütterliche Herzton ist, wenn man so will, der
primäre Beat auf dem die menschliche Existenz in ihren verschiedenen rhythmischen Regungszuständen
gestimmt ist) dargestellt wird – was passiert, wenn ein solches Ohr nach der Geburt die Welt entdeckt?
Was hört es da? Da sind zwei wesentlich differente akustische Dimensionen. Das eine macht die
Erfahrung der Direktheit. Kleinkinder haben ja eine ungeheure Fähigkeit über scharfe Geräusche zu
erschrecken. Diese Schrecksamkeit gegenüber dem direkten Klang ist auch manchen Erwachsenen (in
ermüdeten, regressiven Zuständen) noch gegeben. Dass der Ton plötzlich nackt ans Ohr dringt, ist etwas
Irritierendes.
Die zweite Unheimlichkeit besteht darin, dass man als Geborenes zum ersten Mal die Möglichkeit hat,
dass man nichts hat. Silencium ist eine postnatale Entdeckung. Die Welt ist ein Ort, an dem etwas wie
eine ganz unermessliche, unheimliche Stille herrschen kann. Die Stille eines Wiener Wohnhauses um
1800. Da möchte ich nicht drin sein. Aber der grosse Künstler schwingt von dort her. Wenn er häufig
solche Tonarten des Heimwehs anschlägt, dann ist es zugleich eine Art von Nostalgie nach etwas,
wonach er eigentlich gar kein Heimweh haben kann, weil es dort auf keinen Fall besser sein kann. Also ist
es eine ganz merkwürdige, utopische Form von Suchbewegung. Es spricht alles dafür, dass dann die
einzige Beheimatungsmöglichkeit, die überhaupt gefunden wird, im Kunstgeschehen selber liegt. Indem
das Werk in sich kreist, indem es sich seine eigene wärmende Resonanz ergibt, erzeugt es die
Möglichkeit einer vorübergehenden Heimkehr in das Nicht-Neue. Das ist ja das, was man an der Heimat
schätzt, dass man dort wieder idiotisch werden darf. Eine nicht kritisierbare Form von Idiotie. Das ist das
Menschenrecht auf Innovationsentlastung, um es übertrieben auszudrücken.
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SM: …auch Entlastung vom Lebenskampf.
PS: Ja, man hört ja auch so etwas wie Vertonung der Utopie einer Müdigkeit, die gut ist. Nicht die
Müdigkeit eines Besiegten, sondern Kompositionsgewebe ist da, und selbst bei scheinbar fröhlichen
Liedern hört man etwas Mitternächtliches…
SM: Der Bruder Ferdinand übermittelte folgende Anekdote – wenn sie nicht wahr sein sollte, ist sie
zumindest sehr gut erfunden: Schubert wurde in der späten Zeit in der Kettenbrückenstrasse, also in der
sogenannten „Vorstadt“, bei ihm aufgenommen. Die fortschreitende Krankheit zwang ihn immer mehr
dazu, im Zimmer zu bleiben und nicht mehr auszugehen. Er sei da immer wieder mit der Brille (seiner
berühmten Nickelbrille) eingeschlafen, weil er mehrfach in frühen Morgenstunden, in denen er erwachte
– die Trinkgelage im Freundeskreis waren bereits reduziert – die Brille nicht fand. Er erachtete aber den
somnambulen Zustand des Noch-nicht-Wachseins, aber auch Nicht-mehr-Schlafens, als den eigentlich
notwendigen Impuls fürs Komponieren. Deswegen ist er lieber mit der Brille eingeschlafen, damit er in
der Frühe nicht suchen musste und sofort in diesem halbwachen Zustand in seine Klangräume
eingetreten ist. Bei diesem cis-Moll-Satz leuchtet mir das sofort ein.
PS: Also ganz am anderen Pol im Vergleich zu einem Autor wie etwa Honoré de Balzac, von dem
überliefert ist, dass er, um zu schreiben, nicht nur fünfzig Kannen Kaffee zu sich nehmen musste,
sondern sich sogar bevor er sich an seinen „Schreibaltar“ gesetzt hat, umzog. Er hat seine gewöhnliche
Kleidung ausgezogen und ein weisses Priestergewand angelegt, um dem Hochamt der Poesie nachgehen
zu können. Wenn hier ein veränderter Bewusstseinszustand im Spiel ist, hat er nicht mehr somnambulen
Wert, sondern versteht sich als Zustand der Hyperluzidität, der auch mit einer unerhörten Schnelligkeit
und Sicherheit des Schreibens zusammenhing.
Das ist übrigens auch bei Schubert beobachtet worden, allerdings ist bei ihm eher eine magische
Überbeschleunigung zu bemerken. Dies beweist, dass Können auf seinem höchsten Punkt in einer Weise
bei sich ist, dass es vom Probieren und Suchen entlastet wird. Jede Setzung, die gemacht wird, ist intern
so anschlussfähig, dass immer eine gelingende Figur entsteht.
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SM: Übrigens ist der Kern der Klanghülle, die die wehmütige Terzmelodie in den Eckteilen unseres
langsamen Satzes umgibt, eigentlich der Herzpuls: tam-ta-tam-ta – wie ein schlagendes Herz.
PS: Wir haben im vorigen Gespräch gelegentlich mit so einer Art Pulsation, also einer Art Dialektik
musikalischer Grundgebärden gearbeitet, die ich einmal in einem Aufsatz vor rund 20 Jahren (Wo sind
wir, wenn wir Musik hören?) entwickelt habe. Darauf gab es verschiedene Antworten und die eine davon
war: In dieser Pulsation zwei Grundstrebungen, Heimkehr oder Einkehr, zu erkennen, die die
musikalische Bewegung prägt. Dies hat man hier auch deutlich gehört.
Es gibt noch einer andere Setzungsdynamik, eine, die nicht mit diesem wohlgeordneten Rückzug des
musikalischen Subjekts vom Weltstress zu tun hat; eine Bewegung, die übrigens Schubert auch sehr
geläufig ist, beispielsweise im „Mut“ in der Winterreise. „Bläst der Wind mir ins Gesicht“, wiederzufinden
wo der Exodus als Gebärde vorwiegt. Mit anderen Worten: das abgetrotzte Glück, Boden unter den
Füssen zu haben und gehen zu können und sich vorwärts zu bewegen. Quasi ein Exodus mit grossem
Orchester. Man nimmt sämtliche Instrumente mit, um im musikalischen Raum eine Entdeckung zu
machen. Mit den Mitteln einer Kompositionskunst, die eine Zeitlang eine Art Parallelbewegung zu dem
geworden ist, was die Neuzeiteuropäer ohnedies getan haben, nämlich, dass sie sich als Agenten des
Zeitalters der Forschung und Entdeckung verhalten. Die Welt ist in der Ära nach Kolumbus das
schlechthin zu Entdeckende. Auf ihre Weise haben die Musiker nach dem Vorgang der Maler dieses
„entdecken Können“ ebenfalls entdeckt. Nachdem das „entdecken Können“ in der Musik entdeckt war,
kam das eigentliche Komponieren erst auf.
SM: Der Künstlertypus des Pioniers.
PS: Der Pionier wird hier positiv besetzt. Deswegen ist auch der Künstler von einem bestimmten
Zeitpunkt an nicht mehr nur Handwerker / nicht mehr nur artigiano, sondern er wird wirklich Artist. Er
wird Virtuose, ein Trainer der höchsten Tugend, der Kraft (virtu). Und er macht vor allem Neues, dies ist
das Entscheidende.
In dem Stück, das wir eben gehört haben, ist der erste Pol, die Heimkehrbewegung ausgeprägt.
Nichtsdestoweniger spürt man an diesem innovationsträchtigen, virtuosen Apparat des musikalischen
Satzes, dass Schubert seine Exodus-Fähigkeit zu keinem Augenblick vergisst. In dieser Doppelbewegung
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ist ja das angesiedelt, was man den eigentlich musikalischen Moment nennen muss. Es ist wiederum
auch nicht nur eine Form, die irgendwann einmal gefunden worden ist, sondern „un moment musical“ ist
eine Gattung, die zugleich das Gattungshafte transzendiert, weil in ihm gewissermassen so eine Art
vertonte Musikphilosophie stattfindet. Es ist meistens ein „moment musical“, ein Moment, in dem etwas
sichtbar gemacht wird von der Tatsache, dass Musik etwas mit „finden“ zu tun hat. Entweder mit dem
Wiederfinden - „music à retrouver“ lautete der Titel einer Rede, die ich vor zwei Jahren einmal hier in
der Schweiz, bei der Eröffnung der Luzerner Festspiele, halten durfte – es ist aber auch „music trouvé“,
nicht nur „retrouvé“, also eine Musik, die selber findet, einen Charakter an den Tag legt. Und die führt
dann die Heimkehrbewegung in einer ganz anderen Art und Weise aus, nämlich indem sie Musik mit
dem Prinzip des Utopischen zusammenschliesst – bei Beethoven wohl deutlicher erkennbar als bei
Schubert. So wird es sinnvoll, daran zu denken, dass man sich durch musikalische Arbeit an ein Ziel
begeben kann. An ein Willensziel und an ein Menschheitsziel. Wir machen Musik dann eben nach dem
Lärm. Eine Position, die mit der Heimkehrbewegung korrespondiert. Heimkehr in das „nicht Neue“, das
aber, weil es „gutes Altes“ ist, anknüpfungsfähig bleibt. Aber wohin kehren wir heim, wenn wir kein
gutes Altes haben? Der ganze Horror unserer Heimatambivalenz steckt ja in dieser entscheidenden
Fragestellung.
SM: Das kann nur ein Abstraktum, gleichsam auf einer Metaebene sein. Die ausserordentliche Denkfigur
der „Weltfremdheit“, die du entwickelt hast: dass letztlich die akustische Urerfahrung, in die man in eine
offene Unbewusstheit des pränatalen Zustands hineinwächst, die eines weltfremden Kontinuums ist,
man als substantielle Ersterfahrung mitnimmt. Und dass Diskontinuierliche (Umweltgeräusche oder
Sprechakte der Mutter) akzidentell sind. Somit akustische Grunderfahrung die des Kontinuums ist: der
Puls und das viszerale Rauschen. Und akzidentell die nicht kontinuierliche Hörerfahrung. Das dreht sich
dann genau um. Das ist also eigentlich das akustische Trauma der Geburt: Dass jetzt das
Diskontinuierliche – auch die absolute Stille, die auf den (schockhaften) Impuls folgt – die substantielle
Grunderfahrung ist. Und die akzidentelle Grunderfahrung vielleicht als Beheimatung, als Suche nach
Geborgenheit, nach Aufgehobenheit letztlich nach Kontinuitätserfahrungen dasteht.
Ich scheu mich nicht, die Theorie zu vertreten, dass die abendländische Kompositionsgeschichte in ihrer
Abfolge von bedeutenden Werten nichts anderes als ganz unterschiedliche Strategieversuche sind, diese
Kontinuitätserfahrung wieder her zu stellen. Und dies in der gelingenden ästhetischen Erfahrung des
jeweiligen Kunstwerkes – völlig abgelöst von Stil, Technik und von Zugehörigkeit zu einer Epoche.
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Vielleicht ist die gelingende ästhetische Grunderfahrung im Medium des Akustischen genau dieses
Grundgefühl einer Kontinuitätswahrnehmung, die als substantielles Element des Hörens in der
Alltagswelt letztlich nicht mehr existiert, das ein peripheres, akzidentielles Phänomen geworden ist, und
nur noch in der ästhetischen Wahrnehmung des gelungen musikalischen Werks möglich ist.
PS: Mir geht manchmal ein Bild durch den Kopf, das ich vor einigen Monaten aufgeschnappt habe: bei
den Geburtstagsfeierlichkeiten für Benedikt XVI, hat ja ein Baden-Württembergisches Sinfonieorchester
die Ehre gehabt, im Vatikan zu spielen. Da sah man Benedikt XVI. Gespielt wurde, weil es sein Geburtstag
war, ein Violinkonzert von Mozart. Er ist, wie man weiss, ein Mozartliebhaber. Das haben wir uns alle
angesehen. Die Kamera hat unbewusst subversiv gearbeitet, möchte ich mal behaupten. Man sah das
geistliche Oberhaupt der katholischen Kirche, man sah die junge hübsche Geigerin, man sah das
Orchester, man hörte Mozart. Wo ist die Botschaft? Es war eigentlich ziemlich klar, dass das apostolische
Amt auf die Musik übergegangen ist. Benedikt macht einen Anfängerfehler, er fühlt sich als Hörer eines
anderen Evangeliums. Als Oberhaupt der katholischen Kirche hat er kein Recht, Mozart zu hören. Dies
aus einem ganz einfachen Grund: Wegen des Kontinuumproblems. Er ist ja selber eine unerhörte,
ständig sprudelnde Quelle mikroevangelischer neuer Intensität. Das heisst am Ende, ständig neue gute
Botschaften zu formulieren, die es an Erhabenheit gelegentlich durchaus mit dem, was in alten
Dokumenten gesagt ist und was in Jahrtausend alten Ritualen bekräftigt wird, aufnehmen können. Was
hört überhaupt ein 80-jähriger, was ist die Erfahrung des Hörens mit Achtzig? Ich finde generell, dass
man Menschen beim Hören nicht zuschauen soll, weil es eine intime Tätigkeit ist. Jemand beim Hören zu
Fotografieren ist eigentlich indezent.
SM: Ja, das Musikmachen selber soll man meistens sehen können. Beim Hören beobachtet zu werden,
das ist indiskret.
PS: Es ist aber auch nicht schön, einen Posaunisten oder einen Bläser zu filmen. Der Atemstrom gehört
dem Bläser und nicht in die Öffentlichkeit…
SM: Stravinsky war der Meinung, dass man Musikerzeugung sehr wohl sehen sollte, weil damit so etwas
wie ein visuelles Korsett mitgeliefert wird. Durch Impuls, durch Bewegung im Moment…
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PS: Gut, in einer Zeit, in der das Ohr selber schon auf alle möglichen Angebote reingefallen ist, sind
solche visuellen Hilfen vielleicht sogar wieder ganz gut: Wenn man nicht hören kann, so soll man dem
Pianisten auf die Finger schauen. Aber wenn man hören kann, soll man es besser lassen. Die Augen
nehmen so viel vom Ohr weg. Man soll sich fragen „wie macht der das nur?“ Da ist schon wieder eine
heteronome Dimension mit eingedrungen... Worauf ich hinaus will: was für ein Gesichtspunkt, dass,
sagen wir diese ständige Arbeit am Kontinuum, die mit dem musikalischen Prozess als solchem intim
verbunden ist, etwas ist, das es verträgt, von der Ferne mit so protoevangelischen Prozess verglichen zu
werden. Diejenigen Äusserungen, die von ihrer semantischen Ladung her, von ihrer Vektorkraft her, die
gute Nachricht tragen. Die gute Nachricht, die lautet, dass der klingende Faden des Lebens nicht gerissen
ist, obwohl eigentlich alles dafür spricht. Wir, als Bewohner des Lernens, haben zunächst einmal ein
realistisches Ohr. Das heisst, ein Lern-Ohr, ein semantisches Ohr, ein Gefahren-Ohr, ein Alarm-Ohr, ein
Arbeits-Ohr. Und dann kommen diese Musiker und spielen uns solche Sachen vor. Das kann man
eigentlich einem arbeitenden Menschen gar nicht zumuten. Der langsame Satz von Schubert – ich meine,
wenn ich die Konsequenzen ziehe, dann lass ich mich vierzehn Tage krankschreiben. Wenn das stimmt,
was da passiert, was mach ich denn dann in meinem Lernleben?
SM: Ich nehme es darin auf!
PS: Na gut, ich meine, deine Heimat ist es ja dadurch geworden, dass du die Darstellung des damit
Bezeichneten professionalisiert hast. Du hast als Pianist die Möglichkeit, diese „Krankschreibung“ zu
vermeiden, indem die Darstellung als solche, dich sehr mit dem Prinzip des forschenden, des könnenden,
des extrovertierten Lebens weiterhin verbunden ist…
SM: …Dennoch verliert man diese „Krankschreibung“ nie ganz. Denn dies ist bei der Ausübung ganz
besonders wichtig: weil derartige Musik an die Grenzen der Selbstaufgabe geht, muss man sie trotz aller
professionalisierten Darstellung doch immer auch nacherleben.
Ich würde gerne nochmal den Gedanken des Subversiven aufgreifen. Am Beginn der musikalischen
Moderne gibt es eine Musik, die die Klangräumlichkeit/Körperhaftigkeit sogar direkt und konzeptionell
umsetzt. Erik Satie hat ein Konzept entwickelt, das die Illusionsbeheimatungen der musikalischen, vor
allem deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts konterkariert, dekonstruiert, persifliert und sie trotzdem
auf eine gewisse Weise neutral restituiert. Es ist das Konzept einer musique d’ameublement, das er vor
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gut hundert Jahren entwickelte. Pariser Zeitungen bietet er sie für alle möglichen Familienfeste, für
Hochzeiten etc. an. Für jede neu einzurichtende Wohnung, empfiehlt er neben Schreibtisch und Bett,
natürlich auch musique d’ameublement, die man kaufen kann und die dann als akustisches Möbel
eingestellt wird und den Raum wie ein Schreibtisch funktionalisiert. Das Paradestück der musique
d’ameublement hat schon den verhängnisvollen Titel „Vexations“. Es handelt sich um einen
verfremdeten Choral, der 840mal zu wiederholen ist, was zwischen elf und zwölf Stunden dauert – eine
radikale Form eines Konzepts der Klangraumbeheimatung. Es hat insofern einen Realitätsbezug – was
sehr weitsichtig war – als wir ja die Klangmöblierung von Kaufhäusern über Gaststädten bis hin zu
Toiletten alle kennen. Die Wiederholungen erzeugen totale Vergegenwärtigung, das war das
Kennzeichen für diese Idee der musique d’ameublement, wo also tatsächlich Körper und Raum als
Beheimatungsphänomene dem Menschen im Medium des Klangs entgegentreten. Natürlich ist die
Musik stereotyp langsam, stereotyp gleichbleibend und sich wiederholend, im Verlauf an die Grenze der
Indifferenz gerückt.
SM spielt auf dem Klavier aus der ersten, zweiten und dritten „Gymnopédie“ von Eric Satie…
SM: Akustisches Besteck wie: Messer, Gabel, Löffel, Tische, Stühle, etc…
PS: Ich hatte eine andere Assoziation. Um beim Konzept des Möbels, des akustischen Sofas, das nach
dem Geschmack des Raumbesitzers bezogen wird, zu bleiben: Da ist ein Element der Individualisierung
mit vorgesehen. Sowie auch heute die grossen Raumausstatter ihren Kunden die frohe Botschaft von der
vollkommenen Individualisierung der Wahl vortragen. Es gibt hier eine Fülle von aussermusikalischen
Anschlüssen in dem gleichzeigen Kunstsystem, das sich vorbereitet auf diese funktionalistische Wende.
Später tritt Le Corbusier (schweizerisch-französischer Architekt/Möbeldesigner) auf und programmiert
an Stelle von Wohnungen die Maschinenhabité. Das heisst, man begreift, dass auch solche
unvordenklichen
menschlichen
Grundtätigkeiten
wie
das
„Wohnen“
von
der
modernen,
funktionalistischen Denkweise miterfasst werden. Funktionalisten gehen ja immer von der Frage aus:
Welche Leistungen hat eine bestimmte Funktion zu erbringen und welche Variablen könnte man
einführen? Funktionalismus ist immer das Denken in Varianten. Funktionen beschreiben ja
Funktionsbereiche. Ein akustisches Möbel ist offenkundig ein musikalisches Objekt, ein sphärisches
Produkt, das sich insofern für Wohnungen eignet, als Wohnungen – das wissen wir erst seit der
funktionalistischen Revolution – eigentlich Maschinen zur Erzeugung von lebensförderlicher
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Regeneration sind. Das heisst, es sind gewissermassen Gewöhnungsanlagen. Wenn ich in einer gut
funktionierenden Gewöhnungsmaschine beheimatet bin, dann kann ich von dort aus originell werden,
weil der triviale Hintergrund gesättigt ist. Die Entdeckung der Notwenigkeit der Erinnerungssättigung. So
hat Le Corbusier auch argumentiert: Wir brauchen Wohnungen, in denen diese Regenerationsleistung,
die Regressionsleistung, die Stabilisierung der Lebensfunktionen hundertprozentig gesichert ist. Dann
kann von dort aus ein Leistungsträger einen rationellen Wert durchführen, vom Basislager aus. Alles, was
Leistung ist, beginnt nicht bei null, sondern beginnt bei einem Basislager. Die Wohnung ist ein Basislager
für Höchstleistungen. Je nachdem, wie hoch die Wohnung angesetzt wird, desto höher ist das Niveau der
Razzia, die von der Wohnung aus durchgeführt wird. Rationelle Leistungswelt, die Kunst wie ein
Erwerbsfeld… Das Interessante ist, dass man dann von den 10er-/20er-Jahren aus Wohnungen
tatsächlich ganz bewusst von vornherein so gebaut hat. Dass man „zweite Gemütlichkeit“ hergestellt hat,
aber nicht mehr im Sinne des alten Miefs, sondern, indem man eine neue funktionale Gemütlichkeit
herstellt, als ein Angebot eines gut funktionierenden und zuverlässig vernachlässigbaren Hintergrundes.
Das ist eigentlich der Grund. Musik sagt ja bei jedem Akkord, hör doch nicht schon wieder hin.
SM: Absichtsvolle Redundanz.
PS: Jaja. Sie sagt, warum hörst du zu? Hör weg.
SM: Und von dort führt der Weg zu Cage. Cage mit seiner Ästhetik der Intentionslosigkeit, hat als einer
seiner wenigen historischen Bezugspunkt Satie gelten lassen. Weil das natürlich auskomponierte
Intentionslosigkeit ist, die bei Cage das Komponieren selbst noch aufs Spiel setzt, beziehungsweise
ausser Acht lässt.
PS: Aber dann ist das Hören auch eine viel zu intentionale, viel zu saugende, viel zu voraussetzungsvolle
Tätigkeit. Dann muss man auch vom Hören ablassen. Die Musik ist wirklich als akustisches Möbel an
seinem Platz. Und Möbel sind Dinge, die uns das Recht geben, sie nicht zu beachten. Es gehört zu jedem
guten Möbel, dass, wenn ich es mal hingestellt habe, es für den Rest meines Lebens nicht mehr sehen
muss. Nur so ein paar überdrehte Antiquitätsbesitzer, die tun so, als würden sie sich jeden Tag freuen
und machen dann so sinnige Betrachtungen von Holzmaserungen ihrer Kommode, usw. Aber dies ist
eigentlich gegen den Geist des Wohnens im Sinne dieser le-corbusier-artigen, rekonstruierten
Aufenthaltsmaschine, in der ein Leistungsträger ein Basislager hat für seine Evasionen in die Leistung
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zurück. Ich denke, diese Musik von Satie fühlt sich in gewisser Weise so an, weil sie dieselbe Art hat… Die
sieht man einem müden Menschen an, der in einem Glaskubus hin und her geht, in Gedanken
versunken, und sich für einen neuen Tag an der Börse vorbereitet...
SM: Dass dies auch neutrale Raumerfüllung im akustischen Sinne sein kann, zeigt, dass entsprechende
Stücke von Satie statistisch gesehen am häufigsten für filmmusikalische Zwecke genutzt wurden. Sie sind
durch diese (Raum) Neutralität, die sie aufweisen, anpassungsfähig für verschiedenste Szenerien. Sie
markieren Raum in gleichsam ahistorischer Neutralität.
PS: Aber sie zeigen sogar noch mehr: Im Zuge der funktionalistischen Abstraktion und funktionalistisch
fortschreitenden Explikation, wird Atmosphäre wie eine Sache für sich darstellbar. Das ist etwas ganz
Neues: dass das Jahrhundert mit bisher unsichtbarsten Dingen in die Explikation eingezogen ist. Und dass
Atmosphäre als Gegenstand einer aparten Produktion popularisiert werden kann. In Treibhäusern, in
den „Hothouses“ der britischen Oberschicht der 10er-, 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts hat man
begonnen, Häuser zu errichten, die eigentlich nur des Klimas Willen, das dort drin herrschen soll,
aufgestellt werden. Dies ist in der Geschichte des Bauhauses eine relative Neuigkeit. Man hat die
Dampfheizung erfunden für die Pflanzentreibhäuser. Nicht für die Menschen in England - die waren das
Frieren gewöhnt – aber die Pflanzen aus den Kolonien wie zum Beispiel die berühmte victoria regia (die
Schönste der Seerosen), die Palmen … die sollten auch in England beheimatet werden.
Also hat man Gesetze der atmosphärischen Gastfreundschaft für Pflanzen zu respektieren gehabt. Und
weil dies in den guten Kreisen Grossbritanniens und Nordeuropas tatsächlich auch respektiert wurde, hat
man dann versucht, eben Häuser zu bauen, die dann als Klimasimulatoren ihre Dienste tun. Von den
Gedanken des Treibhauses her wird dann auch die Abstraktion des Atmosphärischen als eine
architektonische Grundgrösse per se um eine Qualifikationsstufe weitergetrieben. Natürlich haben die
Architekten immer gewusst, dass ein gutes Haus im Winter wärmt und im Sommer kühlt. Aber über
diese Elementardinge hinaus ist eine ganze Technologie entstanden… Wenn Sie sich heute
Schwierigkeiten beim Häuserbauen vergegenwärtigen wollen, dann denkt man in erster Linie eben an
das Atmosphärendesign, das um das Gebäude herum zu betreiben ist. Und das gilt nun auch für die
metaphorische Interpretation des Begriffs Atmosphäre.
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Der „tonale Atmosphäre – Marker“ hat eine eigene Kraft. Und diese Transponierbarkeit der Musik hat
offenbar damit zu tun, dass sie von vornherein auch wie ein Spray in die Luft entsandt werden kann. Und
unabhängig vom Himmelsstrich funktioniert das offenbar überall.
SM: Möbel-tauglich…Übrigens, dieser „Transfer“ von Atmosphäre, in diesem Fall von exotischem „Spray“
– dafür gibt es ein schönes Beispiel in der französischen Tradition. Und zwar bei dem Komponisten, der
die klanginnovativen, konzeptionellen Elemente Saties in Werk-Komplexe gegossen hat: Claude Debussy.
Das entsprechende Stück heisst Pagodes aus dem Jahr 1903. Die Atmosphäre ist die Klangwelt
javanischer Gamelan Orchester. Da gibt es diese tiefen Gongs, die immer durchklingen. Es ist eine durch
und durch klangräumliche Musik. Ein exotisches Raumangebot für Heimatfindung. So wie die Palmen
oder die exotische Architektur…
PS: Aber es ist sehr wichtig zu wissen, dass der Exotismus oder Funktionalismus beide dieselbe Passion
reflektieren,
dass
nämlich
Heimat
disponibel
geworden
ist,
dass
wir
neonomadische
Atmosphärenpluralisten werden und daher mit einer einzelnen Heimat nicht mehr durchkommen. Dass
man auch die Dummheit, die Regression wechseln muss, selbst die Elementarfunktionen werden
pluralisiert. Das ist ein Teil der Moderne. Das heisst…es ist ja nicht so, dass Manager sich nicht
entspannen. Und dass nicht ein Manager auch in der Heimattracht herumlaufen könnte. Aber die
Identitätsfindung kann nicht mehr auf diesem Weg geschehen. Wir haben über diese agrarromantische
Dimension des Heimatproblems heute noch gar nichts gesagt. Das gehört zu den grössten Vorzügen
unseres Gesprächs, glaube ich…
Siegfried Mauser spielt abschliessend Debussys „Pagodes“ auf dem Klavier.
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