Mit Prinzip über den eigenen Tellerrand schauen Die Hände hören mit

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IGSN
NEUROrubin 2003
International Graduate School for Neuroscience (IGSN)
Mit Prinzip über den eigenen Tellerrand schauen
Ercan Altinsoy hat in Istanbul
Maschinenbau studiert, Britta Jost in
Freiburg Biologie und Anna Abraham
Psychologie in Indien und England,
danach haben sie alle den Weg nach
Bochum gefunden, um an der International Graduate School for
Neuroscience (IGSN, Sprecher: Prof.
Dr. Klaus-Peter Hoffmann) ihren
Doktortitel PhD in Neuroscience zu
erwerben. Ihre Forschungsgebiete sind
vielfältig – von der gegenseitigen Beeinflussung auditiver und taktiler Reize über
den Sitz des kreativen Potenzials bis hin
zu den Strukturen einzelner Rezeptoren in
den Nervenzellen des Gehirns: Die IGSN
umfasst die Neurowissenschaften vom
Molekül bis zur Kognition. Insgesamt 29
Hochschullehrer aus den Fakultäten für
Medizin, Chemie, Biologie, Elektrotechnik und Psychologie sowie dem Institut
für Neuroinformatik der RUB arbeiten interdisziplinär zusammen und etablieren
die Neurowissenschaften als eigenes Fachgebiet. Dieser Ansatz hat an der Ruhr-Universität bereits Tradition: Zur Vorgeschichte der 2001 gegründeten IGSN gehören eine interdisziplinäre neurowissenschaftliche DFG-Forschergruppe (1990-
1996), das kognitions- und gehirnwissen
schaftliche Graduiertenkolleg der DFG
KOGNET (1991-2000), der seit 1996 bestehende neurowissenschaftliche Sonderforschungsbereich 509 NEUROVISION und
das Institut für Neuroinformatik. Mit der
Anerkennung der Neurowissenschaften an
der Ruhr-Universität als internationalem
Center of Excellence ist die IGSN Anziehungspunkt hoch begabter Bewerber aus
dem In- und Ausland. Damit will die IGSN
die internationale Konkurrenzfähigkeit des
Standorts Bochum erhöhen und die Qualität
des wissenschaftlichen Nachwuchses langfristig sichern.
Zehn Stipendien werden jährlich an
herausragende Absolventen medizinischer,
natur- und einiger ingenieurwissenschaftlicher Fächer vergeben, wenigstens ein
Drittel der Teilnehmer sollen
aus dem Ausland stammen. Sie
erforschen Fragen der Genetik
und Strukturanalyse einzelner Membranproteine bis hin
zur Entwicklung und funktionellen Charakterisierung des
Neokortex, sie widmen sich der
Modellbildung und der technischen Umsetzung in der Neuroinformatik. Auf dem Programm steht außerdem die Verknüpfung zwischen der
neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung und relevanten klinischen Krankheitsbildern. Diese Breite wissen die
PhD-Studierenden zu schätzen: „Interdisziplinarität ist für die Neurowissenschaft
wichtig, Denkstrukturen müssen erweitert
werden”, so die Biologin Britta Jost. „Und
es ist gut, in der IGSN Leuten zu begegnen, die auf derselben Ebene arbeiten.“
Jeder ist Experte seines eigenen Fachgebiets, muss sich jedoch in andere Bereiche
erst einarbeiten; „dumme“ Fragen gibt es
nicht. Tobias Niemann
Weitere Informationen zur IGSN im
Internet: http://www.rub.de/igsn
Sinneswahrnehmungen beeinflussen sich
Die Hände hören mit
Wenn wir mit geschlossenen Augen mit
dem Finger über zwei unterschiedliche
Sandpapierstücke streichen, können wir sofort sagen, welches rauer ist. Wir haben es
mit der Fingerspitze ertastet – aber nicht
nur: Wir haben auch das unterschiedliche
Geräusch wahrgenommen, das der Finger
auf dem Papier hervorgerufen hat. Nebensache? Informationen, die über verschiedene Wahrnehmungskanäle kommen, zu integrieren, ist eine grundlegende Funktion unseres Gehirns. „Wie genau das passiert und
wie sich die Sinneswahrnehmungen gegenseitig beeinflussen, ist nicht hinreichend
erforscht. Das liegt u.a. daran, dass es im
Experiment bislang schwierig war, den einzelnen Sinnen voneinander unabhängige
Reize zu präsentieren“, erklärt Ercan Altinsoy, der am Institut für Kommunikationsakustik die Interaktion von auditiver und
taktiler Wahrnehmung erforscht. Er bedient
sich für seine psychophysischen Studien
virtueller Umgebungen. Dort entspringen
die Reize nicht der physikalischen Realität,
sondern können künstlich generiert und
unabhängig voneinander verändert werden.
Altinsoy nutzt ein Simulationssystem,
mit dem man in physikalisch nicht existierende Umgebungen hineinhören kann. Er
hat es um eine taktile Komponente erweitert, die Oberflächeninformationen, Ganzkörperschwingungen und das sog. forcefeedback, das wir z. B. beim Klopfen oder
Schlagen empfinden, simulieren kann.
Durch Tests an Versuchspersonen hat er bereits herausgefunden, dass, auch wenn das
System immer dasselbe force-feedback
gibt, der Nutzer den Eindruck hat, kräftiger
geschlagen zu haben, wenn er ein lauteres
Geräusch dabei gehört hat. In anderen Experimenten hat Altinsoy die Verzögerungs-
toleranz zwischen einzelnen Reizen ermittelt: Wie lange dürfen Tastinformation und
Geräusch auseinander liegen, damit das
Gehirn sie als zusammengehörig interpretiert? Empfängt die Hand die Tastinformation nach dem Geräusch, dürfen nicht
mehr als 26 Millisekunden dazwischen vergehen, kommt hingegen das Geräusch verzögert, toleriert das Gehirn bis zu 49
Millisekunden. Andere Schwellenwerte ergaben Experimente mit Geräuschen und
Ganzkörperschwingungen: Kommt das Geräusch zuerst, dürfen bis zur Schwingung
höchstens 35 Millisekunden vergehen,
kommt die Schwingung zuerst, darf das
Geräusch nicht mehr als 39 Millisekunden
später erklingen. Weitere Tests sollen zeigen, welchen Einfluss die taktile Wahrnehmung auf die Lokalisation von Schallquellen hat.
Die Experimente sollen helfen, ein
besseres Verständnis der Integration von
akustischer und taktiler Information zu gewinnen und virtuelle Umgebungen möglichst realistisch erfahrbar zu machen. md
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NEUROrubin 2003
Trigeminus-Nerv aktiv:
Life übertragen aus der
Nervenbahn
Chemische Sinne spielen eine entscheidende Rolle im täglichen Leben der Säugetiere und des Menschen. Dazu gehört neben
Geruchs- und Geschmackssinn auch der
„trigeminale Sinn“. Diese Sinnessysteme vermitteln z.B. woraus sich die Nahrung
zusammen setzt. Schon vor der Aufnahme
der Nahrung informieren vor allem der Geruchs- und der trigeminale Sinn über ihre
Genießbarkeit. Zudem ist der Geruchssinn
von besonderer Bedeutung bei der sozialen
Kommunikation. Säugetiere erkennen
potenzielle Geschlechtspartner oder Feinde
an ihrem Körpergeruch. Der trigeminale
Sinn schützt den Organismus vor schädlichen Substanzen, indem er Sinneseindrücke
wie juckend, stechend, brennend oder beißend vermittelt. Dabei werden die chemischen Reize von freien Nervenendigungen des 5. Hirnnervs (Nervus trigeminus) in
den Schleimhäuten von Mund und Nase und
in den Geweben des Auges aufgenommen
und in elektrische Signale umgewandelt.
Diese werden dann entlang der Nervenfasern über das Ganglion trigeminale (Gasseri) in definierte Bereiche des Hirnstamms
geleitet. Dort bestehen Verbindungen zu
weiteren Nervenzellen, die für die Datenverarbeitung notwendig sind. Verschaltungen zwischen Nervenzellen im gesamten
Nervensystem bilden die Basis dafür, dass
Informationen aus der Umwelt geordnet
weitergeleitet und verrechnet werden und schließlich zur bewussten
Wahrnehmung führen können.
Erst die Kenntnis der funktionalen Verbindungen der Nervenzellen untereinander lässt uns die
Funktion einzelner Nervenzellen
sowie die Arbeitsweise und Informationsverarbeitung komplexer
Strukturen des Gehirns verstehen.
Moderne Techniken ermöglichen
es heute, die Aktivität von Nervenzellen unter natürlichen Bedingungen zu beobachten, z.B. den
Zusammenhang von Umweltreizen
und neuronalen Aktivitätsmustern einzelner
Zellen und funktionaler Netzwerke.
Nils Damann untersucht in seiner Doktorarbeit am Lehrstuhl für Zellphysiologie
die Aktivität trigeminaler Nervenzellen und
das funktionale Zusammenspiel von Nervenzellgruppen im Ganglion trigeminale von
Mäusen. Indem er über genetisch veränderte
Viren einen Calcium-empfindlichen Fluoreszenzfarbstoff in die Nervenzellen einschleust, macht er die neuronale Aktivität
dieser Zellen sichtbar. Mit optischen (bildgebenden) Verfahren blickt er „life“ und in
Echtzeit in den intakten Gewebeverband.
Da sich das ausgewählte Virus innerhalb des Nervensystems spezifisch über
aktivitätsgekoppelte Nervenzellen ausbrei-
Abb.: Trigeminale Nervenzellen produzieren
nach Virusinfektion ein fluoreszierendes Protein. Bei Bestrahlung mit Licht einer bestimmten
Wellenlänge leuchten die Nervenfasern und
Zellkörper charakteristisch.
tet (Neurotropie), vermittelt sein Verbreitungsmuster im Gehirn die exakte Funktionskarte der an der Informationsverarbeitung beteiligten Strukturen (s. Abb). Mit
immunhistochemischen und aktivitätsabbildenden Verfahren (Ca-Imaging) können
die trigeminalen Sinnesreize erstmals auf
ihrem Erregungs- und Verarbeitungspfad
durch das Mäusegehirn verfolgt werden.
Bausteine elektrischer Synapsen suchen:
Methode im Griff
Erst in den letzten Jahren machen sie
von sich reden, die elektrischen Synapsen
(Abb.1, A), auch Gap Junctions genannt: Es
sind kleine Kanäle, die benachbarte Zellen
miteinander verbinden und sich aus speziellen Proteinen (Connexinen) zusammensetzen. Elektrische Synapsen leiten Signale ohne Hilfe von Botenstoffen (wie die
chemischen Synapsen) und damit extrem
schnell von Nervenzelle zu Nervenzelle
weiter. Sie verbinden Neurone untereinander zu ganzen Netzwerken. Wenn es um
komplizierte Wahrnehmungen geht, die unser Gehirn aus vielen Detailinformationen
aufbaut, scheinen sie eine wichtige Rolle
zu spielen. Vermutlich sind elektrische
Synapsen mitverantwortlich für schnelle
rhythmische Entladungen, sog. Oszillationen, in der Hirnrinde und deren Weiterleitung über größere Distanzen hinweg zu
übergeordneten Neuronen.
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Oszillationen kommen in unterschiedlichen Hirngebieten vor und werden mit höheren Hirnfunktionen wie Gedächtnisbildung und Wahrnehmung in Verbindung gebracht. Eine dieser Hirnregionen ist der
Hippocampus, der an der Bildung des Langzeitgedächtnisses beteiligt ist.
Svenja Weickert (Neuroanatomie und
Molekulare Hirnforschung) ist den elektrischen Synapsen im Hippocampus auf der
Spur, indem sie nach ihren Bausteinen, den
Connexinen, sucht und diese analysiert.
Bisher weiß man wenig über die Funktion,
molekulare Vielfalt und Konzentration dieser Proteine in den verschiedenen Hirnarealen. Deshalb möchte die PhD-Studentin
mit modernen molekularbiologischen Methoden auf RNA-Ebene klären, welche Proteine dieser Connexinfamilie an der elektrischen Kopplung im Hippocampus beteiligt
sind und welcher Zusammenhang zwischen
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der Häufigkeit ihres Auftretens und ihrer
Funktion besteht.
Da bisherige Techniken, mit denen Connexine in spezifischen Zellgruppen untersucht wurden, zu widersprüchlichen Ergebnissen führten, setzt Svenja Weickert in ihrer Arbeitsgruppe als eine der ersten in
Deutschland die Lasermikrodissektion (Laser Microbeam Microdissection, LMM)
ein: Sie bringt dünne Gewebeschnitte auf
folienbeschichtete Objektträger auf und
färbt sie zur besseren Orientierung an. Mit
einem Laser schneidet sie dann unter dem
Mikroskop definierte Zellgruppen aus dem
Gewebe aus. Da das Gewebe auf der Folie
und nicht direkt am Objektträger haftet (s.
Abb.1, B-E), können einzelne Schnitte gesammelt werden. A us diesen Proben wird
die RNA isoliert und dann mit speziellen
Techniken (reverser Transkription, RT, und
Polymerase Chain Reaction, PCR)
in DNA umgesetzt und sehr spezifisch untersucht. So lässt die Real
Time RT-PCR-Technik Aussagen
zur Konzentration einer RNA in
der Probe zu: ein Fluorenszenzfarbstoff macht den Reaktionsverlauf bei dieser äußerst empfindlichen quantitativen Analyse
messbar – die RNA-Menge kann
unmittelbar abgelesen werden.
Svenja Weikert hat mit der
LMM-Methode inzwischen viel
Erfahrung sammeln können und
bereits einige Vertreter der Connexinfamilie im Hippocampus nachgewiesen. Sie wird diese Ergebnisse nun mit anderen elektrisch gekoppelten Hirnregionen
vergleichen. Schließlich will sie den Hippocampus zum Oszillieren bringen, um an-
hand der Konzentrationsveränderungen der
Connexine ihrer Funktion auf die Spur zu
kommen – die optimale Methode dafür hat
sie schon im Griff!
Plastizität des erwachsenen und alternden Gehirns:
Zirkelspitzenpaare tasten
„Was Hänschen nicht lernt Hans
(n)immer mehr“ – nicht zum ersten Mal
scheint hier wissenschaftliche Erkenntnis
den Volksmund zu widerlegen: Wie aktuelle Ergebnisse zeigen, sind Leistungssteigerung und Plastizität des Gehirns bis ins
hohe Alter möglich. Den Zusammenhang
zwischen Verhaltensänderungen und deren
Auswirkungen auf dafür zuständige Hirnbereiche untersucht Patrick Ragert (Institut
für Neuroinformatik) in seiner Doktorarbeit
an der IGSN. Indem er beobachtet, wie sich
bei veränderter Tastwahrnehmung (Perzeption) zugleich Bereiche des Gehirns umstrukturieren, erfährt er mehr über die physiologischen Mechanismen des „perzeptuellen Lernens“.
Seine Arbeiten konzentrieren sich auf
zwei Bereiche. Im Mittelpunkt stehen die
Auswirkungen eines passiven künstlichen
Trainings auf kortikaler und Verhaltensebene. Dies erfolgt mithilfe simultaner
Abb.: Zuwachs an Hirnaktivität im Bereich
des primären (S1) und sekundären (S2)
somatosensorischen Kortex durch künstliches passives Training .
Reizmuster unter genau definierten Bedingungen und in drei Trainingsschritten: Zunächst lernen Testpersonen vorgegebene
Tastreize zu unterscheiden, indem sie mit
dem Finger acht Zirkelspitzenpaare auf einer sich drehenden Scheibe ertasten müssen („aktives Lernen“). Daran schließt sich
das „künstliche Training“ an, bei dem die
rezeptiven Felder für das Tasten der Zirkelspitzenpaare an den Fingerspitzen der
Testpersonen mit genau definierten Reizen
stimuliert werden. Im dritten Schritt wird
das „aktive Lernen“ wiederholt. Dabei
zeigte sich, dass der Tastsinn durch „künstliches Training“ verbessert werden kann die Testpersonen ertasten wesentlich mehr
Zirkelspitzenpaare als beim ersten „aktiven
Lernen“. Patrick Ragert stellte außerdem
einen linearen Zusammenhang zwischen
verbessertem Tastsinn und Umstrukturierungen der dafür zuständigen Hirnareale
fest (s. Abb., SI und SII).
Neben den peripheren Reizen an den
Fingerspitzen stimuliert er auch direkt die
Hirnregionen, in denen die Reize der Fingerspitze verarbeitet werden. Er nutzt dafür
die repetitive transcranielle Magnetstimulation (rTMS), bei der sich mithilfe
eines Magnetfeldes die Aktivität in bestimmten Hirnregionen kurzzeitig verändern lässt. Die funktionellen Änderungen
im Gehirn erfasst er kernspintomografisch
und mit einer speziellen Hirnstrommessung
(SEP-mapping).
Im zweiten Teil seiner Arbeiten erforscht Ragert, wie sich aktives Training
im Vergleich zu fehlendem Training auf das
Alltagsleben und die Reorganisation des
Gehirns auswirken. Für diese Untersuchungen wählt er drei repräsentative Personengruppen aus: Menschen mit künstlerischen
Fähigkeiten (z.B. professionelle Musiker),
Patienten mit pathologischen Symptomen
(z.B. Schmerz) sowie ältere Menschen. Bei
Musikern lässt sich aufgrund ihres enormen
Trainings spezifischer musikalischer Fähigkeiten die kortikale Plastizität besonders
gut studieren. Patienten mit pathologischen
Symptomen wie etwa Schmerzen zeigen infolge fehlenden Trainings durch Nichtgebrauch der betroffenen Extremität häufig
erhebliche Reorganisationen im Gehirn.
Mithilfe bildgebender Verfahren wie
der Kernspintomografie weist er nach, dass
Alterungsprozesse deutliche funktionelle
Veränderungen im menschlichen Gehirn
verursachen. Er will nun herausfinden, ob
diese Prozesse in einem Zusammenhang
mit eingeschränkten motorischen, sensorischen sowie kognitiven Fähigkeiten stehen.
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Wo die Geistesblitze herkommen
Maler, Werber, Musiker, Schriftsteller –
sie alle leben von ihren guten Ideen: Ihr
Kapital ist ihre Kreativität. Der präfrontale
Kortex im vordersten Bereich des Gehirns
hinter der Stirn ist wahrscheinlich Hauptsitz dieser schöpferischen Kraft. Welche
kognitiven Vorgänge jedoch genau an den
komplexen kreativen Prozessen beteiligt
sind und wie sie in dieser Hirnregion auf
unterschiedliche Art und Weise verarbeitet
werden, ist bisher nicht bekannt. Um diese
Fragen zu ergründen, vergleicht Anna Abraham (Biopsychologie) kreative Leistungen
von gesunden Probanden mit denen von Patienten mit krankhaften Veränderungen des
präfrontalen Kortex, wie sie etwa bei Schizophrenie auftreten. Durch Unterschiede
zwischen diesen beiden Gruppen hofft sie,
auf Funktionen dieser Hirnregion rückschließen zu können. Ihre Hypothese: Die
Patienten werden die Kontrollgruppe in einigen kreativen Denkprozessen übertreffen.
Denn manche gesunden Abläufe in unserem Denken können bei kreativen Aufgaben eher hinderlich sein. So beziehen wir
in die Verarbeitung neuer Informationen
immer unsere Erfahrungen und Erwartungen mit ein (top-down processing). Bei
schizophrenen Patienten deutet hingegen
einiges darauf hin, dass diese Einbeziehung
von Vorwissen in kognitive Prozesse bei
ihnen vermindert ist – Aufgaben, bei denen
es von Vorteil ist, frei von Erfahrungen und
Erwartungen zu sein, müssten sie also bes-
Vorkommen und Funktion klären:
Rezeptor der „Extraklasse“
Einem noch wenig erforschten Rezeptor
des zentralen Nervensystems ist Britta Jost
(Entwicklungsneurobiologie) auf der Spur:
Der sog. GABA C -Rezeptor ist einer von
dreien, die für γ -Aminobuttersäure (GABA)
empfänglich sind. GABA ist der wichtigste
hemmende Botenstoff im Nervensystem von
Wirbeltieren. Durch das Zusammenspiel
zwischen hemmenden und erregenden
Botenstoffen wie z. B. Glutamat wird die
Nervenzellaktivität im Gehirn reguliert:
Trifft GABA auf einen für diesen Botenstoff empfänglichen Rezeptor, so öffnen
sich Kanäle, die bestimmte Ionen in die
Zelle hineinlassen und so das elektrische
Potenzial im Zellinneren herabsetzen. Von
diesem Potenzial hängt die Aktivität der
Zelle und die Weiterleitung der neuronalen Signalen ab.
Während die beiden Rezeptortypen GABA A und GABA B schon seit längerem bekannt sind, entdeckten Wissenschaftler
GABA C erst vor einigen Jahren. Dieser Rezeptor unterscheidet sich in der Zusammensetzung seiner Untereinheiten und der dar-
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aus resultierenden Empfänglichkeit für verschiedene Botenstoffe so sehr von den anderen beiden GABA-Rezeptoren, dass die
Forscher ihm eine eigene Rezeptorklasse
zuwiesen. Wo GABA C genau vorkommt, in
welchem Entwicklungsstadium eines Organismus er vorhanden (exprimiert) ist und
welche Aufgaben er hat, untersucht Britta
Jost in ihrer Dissertation.
GABA C kommt gehäuft in der Netzhaut
und in visuellen Arealen des Gehirns vor,
z. B. im Colliculus superior, einer Hirnregion, die an den Koordinationsbewegungen der Augen beteiligt ist. Auch in der
Sehrinde lässt sich der Rezeptor nachweisen. Man nimmt daher an, dass GABA C
eine Rolle beim Sehprozess spielen könnte.
Um herauszufinden, ob der Rezeptor von
Geburt an im Gehirn vorhanden ist oder
sich erst später etabliert, ob seine Entstehung womöglich durch das Sehen selbst
beeinflusst wird, untersucht Britta Jost diverse Gewebeproben aus visuellen Hirnarealen. Mittels molekularbiologischer Techniken kann sie darin enthaltene Rezeptor-
ser lösen können als gesunde Testpersonen.
Diesen Effekt soll ein Experiment belegen:
Beide Gruppen sollen ein Tier zeichnen,
das auf einem fernen Planeten vorkommen
könnte, der vollkommen anders ist als die
Erde – eine schwierige Aufgabe, wenn das
irdische Vorwissen dabei im Weg steht.
Eine solche Begriffserweiterung ist jedoch
immer dann notwendig, wenn wir neue Ideen entwickeln. Vorangehende Untersuchungen an gesunden Probanden haben bereits
gezeigt, dass Menschen mit stärkeren psychotischen Zügen besser in der Lage sind,
ihre Begriffskonzepte zu erweitern (s. auch
Bild links im Vergleich zu Bild, rechts
oben) als Menschen mit schwächer ausgeprägten psychotischen Merkmalen. md
DNA für GABA C nachweisen, deren Gehalt
in den einzelnen Proben ermitteln und so
ein Entwicklungsprofil erstellen.
Um zu testen, welche äußeren Faktoren
die Entwicklung dieses Rezeptors beeinflussen, legt sie organotypische Zellkulturen von entsprechenden Hirnarealen an und
fügt der Nährlösung, die sie versorgt, bestimmte Faktoren zu, die als potenziell einflussreiche Kandidaten infrage kommen.
Dieses Kultursystem birgt den Vorteil, dass
Neurone nicht einzeln, sondern in ihrem ursprünglichen Verband wachsen können, was
eher dem natürlichen Zustand entspricht.
Ob eine Zelle den GABA C -Rezeptor
enthält, kann sie anhand elektrophysiologischer Messungen nachweisen: Sie stimuliert einzelne Neurone einer organotypischen Zellkultur mit GABA und leitet
über eine sog. patch-clamp-Messung den
Strom aus dem Zellinneren ab. Dieser
durch GABA induzierte Strom setzt sich
aus mehreren Komponenten zusammen. Er
kann von GABA A -, GABA B- und GABA C-Rezeptoren vermittelt werden. Um zu untersuchen ob GABA C -Rezeptoren beteiligt sind,
werden spezifische Stoffe, welche die
GABA A - und GABA B -Rezeptoren blockieren, verabreicht. Bleibt ein Reststrom, so
handelt es sich um den GABA C-vermittelten
Anteil, der durch Gabe eines GABA C -Antagonisten eliminiert werden kann.
Außerdem versucht Britta Jost mit morphologischen Untersuchungen herauszufinden, wo genau sich die GABA C -Rezeptoren
befinden. Die Forscher vermuten, dass sie
auf sog. Interneuronen sitzen, d. h. Nervenzellen, die andere Nervenzellen miteinander
verbinden. Mithilfe ihrer Daten soll eine
Übersicht über das Vorkommen von GABA C
entstehen. Außerdem versprechen ihre Ergebnisse genauere Einblicke in die Funktion dieser Rezeptoren im neuralen Netzwerk
des Colliculus superior. md
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