7.4 Bewältigung struktureller Störungen durch

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7 Strukturelle Systematik klinischer Bilder und ihre Behandlung
Die oben beschriebenen neurotischen Kompromissbildungen haben deutlich die
Funktion der Bewältigung von strukturellen Defiziten. Angesichts der strukturell
erheblich erschwerten Fähigkeit, Beziehungen herzustellen und auszuhalten, erweisen sich narzisstische und schizoide Haltungen als geeignete Reparationsversuche.
Sie sind geeignet, dem Patienten zu erklären, warum es sinnvoll ist, sich von den
Objekten fernzuhalten. Damit wird zugleich das Selbstwerterleben stabilisiert, denn
es geht jetzt für die Patienten nicht mehr um Bedürftigkeit und Unfähigkeit, sondern um selbst verantwortete Haltungen.
Ähnlich wie bei den somatoformen Störungen und Depressionen kommt es häufig
dann zur Symptombildung, wenn die neurotischen Bewältigungsmuster sich erschöpft haben und ihre Funktion, die strukturellen Defizite zu überdecken, nicht
mehr erfüllen können. Das geschieht schleichend, allmählich, aber es wird häufig
anlässlich eines aktuellen Ereignisses, welches das Fass zum Überlaufen bringt, als
krisenhafter Zusammenbruch erlebt. Das Einbrechen wird als existenzielle Krise erfahren und ist häufig mit suizidalen Impulsen verknüpft. Es ist von außen her
schwer verständlich, da die Anlässe scheinbar geringfügig waren und eine derart
dramatische Erkrankung nicht eigentlich rechtfertigen.
Die beiden genannten Aspekte prägen auch die Psychotherapie dieser Patienten:
Die mühevolle Arbeit an einer festgefügten ich-syntonen Charakterabwehr macht
es dem Patienten schwer, sie überhaupt in Frage zu stellen. Zum Zweiten geht es um
die therapeutischen Komplikationen, die aus den strukturellen Defiziten herrühren: Schwer überwindbare Positionen des Misstrauens, immer wieder erfolgende
Distanzierung in der therapeutischen Beziehung oder gar ihre Infragestellung und
Zerstörung. Und schließlich ereignen sich dramatische, krisenhafte Ausnahmezustände, überraschende Katastrophenszenarien mit vitaler Bedrohung des Patienten
und Zerstörung der therapeutischen Situation.
Ein klinisches Beispiel für diesen Typus bietet die in Kapitel 5.4 beschriebene komplikationsreiche und ineffektive analytische Psychotherapie.
7.4
Bewältigung struktureller Störungen
durch symptomwertiges Verhalten:
Beispiel der Bulimie
Eine Störung wie die Bulimie wurde gelegentlich konfliktneurotisch interpretiert:
z. B. wurde in der Gier der raschen Nahrungsaufnahme im Essanfall und der zugehörigen Befriedigung eine Analogie zum sexuellen Orgasmus gesehen. Eine weitere
Verständnisebene – die objektbeziehungstheoretische – fokussiert auf die latente
Objektbedürftigkeit, den drängenden Wunsch, das gute Objekt bei sich zu haben
und es sich möglichst einzuverleiben, um es dann beim Umschlag in die Objektenttäuschung als schlechtes Objekt wieder auszuspeien. Diese Vorstellung eines frühen
Konflikts ist psychodynamisch plausibel, aber therapeutisch wenig handlungsleitend, weil sie sehr weit vom Erleben des Patienten entfernt ist. Erst wenn die struk-
7.4 Bewältigung struktureller Störungen durch symptomwertiges Verhalten
turellen Aspekte der frühen Beziehungsstörung mit berücksichtigt werden, lässt
sich daraus ein therapeutischer Ansatz ableiten. Für die junge Patientin schafft
• die Schwierigkeit, die eigene Bedürftigkeit wahrzunehmen und mitzuteilen,
• die Unsicherheit im Erkennen und Ertragen der eigenen Affekte,
• die Schwierigkeit, das Selbst in seinen Intentionen und Identitätsaspekten wahrzunehmen sowie
• die Unsicherheit der Selbstbewertung
eine starke Abhängigkeit von der Zuwendung und Bewertung der anderen. Diese
Voraussetzungen machen es speziell jungen Erwachsenen und Jugendlichen
schwer, die alterstypischen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen: die Verselbstständigung aus der Familie, das Sichpositionieren unter Gleichaltrigen und das Aufnehmen von Partnerbeziehungen. Diffuse Affekt- und Bedürfnisspannungen bei
gleichzeitigen Leeregefühlen schaffen eine schwer erträgliche innere Verfassung, in
der das impulshafte Verhalten des gierigen Essens eine Strukturierung des Empfindens, des Denkens und des Handelns und eine Erlösung aus der diffusen Leere und
Anspannung bedeutet. Das bulimische Ereignis wird als „prägenitales Konfliktgeschehen“ wenig verständlich, aber im Kontext der strukturellen Defizite und Vulnerabilität gewinnt der Triebdurchbruch des Essanfalls und des Erbrechens eine
funktionale Bedeutung. Er bringt den hohen Bedürfnisdruck der Objektgier ebenso
zum Ausdruck wie er eine Selbststimulation und Selbstberuhigung in einer anders
nicht zu regulierenden Affektsituation ermöglicht. Der Bewältigungsversuch (des
bulimischen Verhaltens) gewinnt einen großen Symptomwert und überdeckt zunächst die dahinter liegende weniger laute strukturelle Störung. Therapeutisch stellt
sich dadurch eine doppelte Aufgabe: Die Patientin kann weder das bulimische Verhalten noch ihre strukturelle Einschränkung aus eigener Kraft verändern. Ihre Hilflosigkeit angesichts des strukturellen Defizits ist genauso groß wie ihr Ausgeliefertsein an die Bulimie, die sich von einem bestimmten Zeitpunkt an suchtartig
verselbständigt. Beides erfordert strukturierte aktive therapeutische Maßnahmen.
Die zuweilen geäußerte therapeutische Hoffnung, der eine Bereich werde sich positiv weiterentwickeln, wenn der andere stabilisiert sei, ist wenig begründet. So erscheint es in hohem Maße ratsam, die strukturbezogene Psychotherapie, die sich
auf die strukturelle Vulnerabilität richtet, zu ergänzen durch symptombezogene
Therapiemaßnahmen, die sich mit dem süchtig verselbständigten bulimischen Verhalten befassen.
Das gleiche Prinzip gilt für alle Formen des selbstschädigenden, z. B. selbstverletzenden Verhaltens, wie es bei einer überwiegend strukturellen Störung wie z. B. der
Borderline-Störung vorliegt. Wichtige symptombezogene Maßnahmen in diesem
Bereich sind die „Verträge“, die der Therapeut mit dem Patienten abschließt (z. B.
Pakt gegen Selbstschädigung), um gemeinsam mit dem Patienten die Kontrolle
über das entgleiste Verhalten zurückzugewinnen.
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7 Strukturelle Systematik klinischer Bilder und ihre Behandlung
7.5
Borderline-Störung und Traumafolgestörung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist, wie schon wiederholt erwähnt, durch die
Arbeiten von O. Kernberg so gut beschrieben, dass sie an dieser Stelle keines weiteren Kommentares bedarf. Einen Überblick über die wissenschaftlich begründeten
Prinzipien in der Diagnostik und Therapie der Persönlichkeitsstörungen generell
und hier speziell der Borderline-Persönlichkeitsstörung bieten Tress et al. 2002. Auf
der Grundlage dieser Evidenz formulieren sie eine Leitlinie zur Behandlung der
Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das Vorgehen der strukturbezogenen Psychotherapie mit seiner regressionsbegrenzenden strukturierenden Zielsetzung, seiner
durch Aktivität und Akzeptanz bestimmten therapeutischen Haltung und seiner
besonderen Aufmerksamkeit für maladaptive Beziehungsgestaltung und Selbstregulierung entspricht in allen wichtigen Punkten den Prinzipien dieser Leitlinie.
Im Folgenden soll der häufig gegebene Zusammenhang zwischen Borderline-Entwicklung und Traumafolgen diskutiert werden. In der lebensgeschichtlichen Entwicklung von Patienten finden sich zuweilen schwerwiegende Defizite der frühen
Versorgung, häufig aufgrund von psychischen Erkrankungen und sozialen Notlagen der Eltern (chronifizierte Depressionen, schwere Psychosen, Medikamentenabhängigkeit, Alkohol- und Drogensucht). Die Folge ist ein massiver Versorgungsmangel des Kindes, das von klein auf mit chaotischen Familienverhältnissen
(intoxikierten, überforderten Eltern, fehlender Versorgung bezüglich Ernährung
und Kleidung, emotionaler Unausgeglichenheit oder Bedrohlichkeit der Bezugspersonen) zurechtkommen muss. Die Auswirkungen dieser Unversorgtheit und
Ungeschütztheit für die kindliche Entwicklung sind strukturell erheblich. Die Kinder überleben das Chaos manchmal dadurch, dass sie sich notfallmäßig an andere
Angehörige, z. B. Großeltern wenden, die sie dann aber oft wieder zu früh verlieren.
In ihrer Rolle als „Mutter meiner Mutter“ oder als „der einzig vernünftige nüchterne Mensch in unserer Familie“ werden sie parentifiziert, durch ihre wichtige Aufgabe stabilisiert, aber auch überfordert und ausgebeutet. Ihre strukturelle Störung
ist in der Regel bestimmt durch:
• das Fehlen von internalisierten verlässlichen Objekten
• die fehlende Fähigkeit zur Selbstberuhigung
• das Überflutetwerden von ängstigenden Eindrücken, die oft nur durch Dissoziation bewältigt werden können
• ein fehlendes Identitätsgefühl
• fehlende selbstreflexive Fähigkeiten speziell in der Differenzierung eigener Affekte
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches ungeschütztes, überfordertes Kind zum
Opfer von aggressiven und sexuellen Übergriffen wird, ist groß. Das kleine Mädchen bindet sich an den alkoholkranken Vater, der in der Familie vergleichsweise
noch der emotional Zugewandteste ist, aber unter Alkoholeinfluss vorübergehend
gewalttätig oder sexuell übergriffig handelt. Die Jugendliche wendet sich, um aus
der Familie herauszukommen, früh an einen Partner, der alsbald ähnliche gewalttätige Seiten wie der Vater erkennen lässt. Auch hier kommt es zu traumatisieren-
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