Der geriatrische Patient - Österreichische Ärztezeitung

Werbung
©Mauritius
Der
geriatrische
Patient
Unter dem Begriff „vier Giganten der Geriatrie“ werden die alterstypischen Symptome Immobilität, das erhöhte Sturzrisiko, die
Inkontinenz und kognitive Beeinträchtigung zusammengefasst. Bei
der Behandlung ist es wichtig, Schwerpunkte zu setzen, denn nicht
jede Erkrankung des geriatrischen Patienten ist behandlungsbedürftig.
Von Monika Lechleitner*
34
› österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007
D
ie Anzahl älterer Patienten
nimmt entsprechend der demographischen Entwicklung deutlich zu. Der Anteil der über 60-Jährigen
in Österreich wird von 22 Prozent im
Jahr 2004 auf rund 33 Prozent im Jahr
2050 ansteigen. Dem Lebensalter entsprechend unterscheidet man zwischen
jungen Alten (60 bis 75 Jahre), Alten
(75 bis 85 Jahre), Hochbetagten (über
85 Jahre) und langlebige Menschen (um
100 Jahre; siehe Tab. 1). Laut den Daten
des aktuellen Österreichischen Gesundheitsberichts beträgt die mittlere Lebenserwartung für Frauen derzeit rund
81 Jahre, für Männer rund 77 Jahre. Im
höheren Alter nimmt die Anzahl an Gebrechen zu. Im Alter zwischen 65 und
69 Jahren weisen neun Prozent der Bevölkerung sieben oder mehr körperliche
Gebrechen auf, bei den über 80-Jährigen
sind es bis zu 30 Prozent. Dementielle
Erkrankungen sind in der Altergruppe
über 65 Jahre bei drei Prozent der Bevölkerung anzutreffen, bei über 85-Jährigen bei 30 Prozent. Dementsprechend
steigt die Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem Lebensalter kontinuierlich an
und beträgt im Alter über 85 Jahre nahezu 80 Prozent.
Ein geriatrischer Patient ist grundsätzlich durch sein biologisches Alter
gekennzeichnet; darüber hinaus durch
sein Leiden an mehreren Krankheiten,
eine veränderte oft unspezifische klinische Symptomatik, einen verlängerten
Krankheitsverlauf und eine verzögerte
Genesung (Tab. 2). Charakteristisch
für den älteren Patienten ist auch die
veränderte Reaktion auf Medikamente
sowie das mögliche Vorliegen von Demobilisierungs- und psychosozialen
Symptomen. Die Multimorbidität des
älteren Patienten bedeutet, dass mit
zunehmendem Alter häufig mehrere
Krankheiten gleichzeitig auftreten. In
der Behandlung ist es deshalb wichtig,
Schwerpunkte zu setzen, denn nicht
jede Erkrankung beim geriatrischen Patienten ist behandlungsbedürftig, und
die Anzahl an verordneten Medikamenten sollte so gering wie möglich sein.
Unter dem Begriff „vier Giganten der
Geriatrie“ werden die alterstypischen
Symptome Immobilität, das erhöhte
Sturzrisiko, die Inkontinenz und kogni-
tive Beeinträchtigung zusammengefasst.
Sie haben einen wesentlichen Einfluss
auf die Selbstständigkeit und damit Lebensqualität des geriatrischen Patienten.
Anstelle einer rein organbezogenen
Diagnostik und Therapie erfordert die
Betreuung des geriatrischen multimorbiden Patienten eine ganzheitsmedizinische Beurteilung. Der eingehenden
Anamnese kommt im Hinblick auf die
Erfassung vorbestehender geriatrischer
Symptome und der Medikation eine
zentrale Bedeutung zu, erfordert jedoch
einen entsprechenden Zeitaufwand,
der in Akutabteilungen häufig fehlt.
Im Krankenhaus erhöht sich durch die
Immobilisierung sowie durch die beeinträchtigte Adaptationsfähigkeit des
geriatrischen Patienten und die häufige
soziale Isolierung das Risiko für weitere Komplikationen. Der geriatrische
Patient sollte so früh wie möglich mobilisiert werden, um in seine gewohnte
Umgebung zurückkehren zu können.
Abteilungen für Akutgeriatrie/Remobilisation sind in besonderem Maß an die
Bedürfnisse des geriatrischen Patienten
angepasst. Die Indikation zur Aufnahme an eine Akutgeriatrie besteht beim
älteren Patienten bei somatischer oder
psychischer Multimorbidität, die eine
stationäre Akutbehandlung erfordert,
bei einer Einschränkung der Selbstständigkeit durch den Verlust funktioneller
und kognitiver Fähigkeiten beziehungsweise psychischer Probleme im Rahmen
einer Erkrankung. Die Notwendigkeit
für funktionsfördernde, funktionserhaltende oder reintegrierende Maßnahmen
stellt eine weitere Indikation zur Betreuung an einer Abteilung für Akutgeriatrie/Remobilisation dar.
In Bezug auf die Qualitatskriterien
gelten als Mindeststandards einer akutgeriatrischen Einheit die Ausstattung
durch ein multidisziplinäres, geriatrisch
ausgebildetes Team (Medizin, Pflege,
Physio- und Ergotherapie, Logopädie,
Sozialarbeit und Psychologie), die Betreuung durch geriatrisch fortgebildete
beziehungsweise erfahrene Fachärzte
(Additivfacharzt für Geriatrie), durch
Konsiliarfachärzte
unterschiedlicher
Fachrichtungen sowie der Zugang zu
diagnostischen Einrichtungen (bildge-
› österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007
bende Verfahren, Labor, Endoskopie,
Intensivstation).
Die Durchführung eines geriatrischen
Basis-Assessments mit darauf aufbauender Planung und Anpassung der Behandlung gilt als eine Grundvoraussetzung in
der Betreuung geriatrischer Patienten.
Das geriatrische Assessment wird als
ein multidimensionaler, interdisziplinärer Prozess definiert. Es ermöglicht
anhand der unterschiedlichen Testabläufe das Erkennen von medizinischen,
psychosozialen und funktionalen Problemen und Defiziten, aber auch von
bestehenden Kapazitäten des Patienten.
Klinische Studien konnten belegen, dass
bei Patienten, die einem geriatrischen
Assessment unterzogen wurden, neben
einer Reduktion der Wiederaufnahmebedürftigkeit und einer Verbesserung
der Mobilität und kognitiven Funktion
eine Senkung der Mortalität beobachtet
werden konnte.
Die österreichische Gesellschaft für
Geriatrie und Gerontologie hat einen
standardisierten Ablauf für das geria-:
Definition des Alters
Alter
Junge Alte
Alte
Hochbetagte
Langlebige Menschen
60 – 75 Jahre
75 – 85 Jahre
85+
um 100
Allgemeinzustand
• Selbstständige ältere Menschen
• Gebrechliche Patienten ohne typisch
geriatrische Probleme
• Extrem beeinträchtigte Patienten mit fortgeschrittener Demenz, terminalen Erkrankungen
Tab. 1
Charakteristika des
geriatrischen Patienten
•
•
•
•
Höheres Lebensalter
Multimorbidität
Unspezifische Symptome
Verlängerter Krankheitsverlauf und verzögerte Genesung
• Veränderte Reaktion auf Medikamente
• Demobilisierungssymptome
• Psychosoziale Symptome
Quelle: Füsgen I, „Der ältere Patient“, 3.
Auflage, Urban-Fischer 2000
Tab. 2
35
: trische Basis-Assessment definiert
(www.geriatrie-online.at). So erfolgt
zur Beurteilung der Mobilität der Test
nach Tinetti. Dieser Test beurteilt Bewegungsfunktionen wie Stand, Balance, Aufstehen, Drehen auf der Stelle
und Hinsetzen. Zur Einschätzung des
Gehvermögens werden das Gangbild,
die Schrittlänge und Schritthöhe, die
Symmetrie, Kontinuität, Abweichung,
Schrittbreite und die Rumpfstabilität
erfasst. Werden weniger als 20 der 28
möglichen Punkte erreicht, besteht ein
signifikant erhöhtes Sturzrisiko. Beim
„Timed Up and Go“ Test nach Richardson und Podsiadlo wird die Zeit in Sekunden angegeben, die der Patient benötigt, um nach Aufforderung aufzustehen,
mit einem sicheren Gang bis zu einer
drei Meter vom Sessel entfernten Linie
zu gehen, sich umzudrehen, zurückzugehen und wieder hinzusetzen. Eine alltagsrelevante Mobilitätseinschränkung
besteht bei einer benötigten Zeitdauer
von länger als 20 Sekunden. Mit dem
standardisierten Handkrafttest wird auf
die Muskelkraft rückgeschlossen.
Weitere Testverfahren des geriatrischen Assessments sind die Beurteilung des Barthel-Index beziehungsweise des Activity Daily Life Index. Dabei
wird die Selbstständigkeit der Absolvierung von Aktivitäten wie Nahrungsaufnahme, Waschen, Toilettengang, Gehen
auf Flurebenen oder Fahren mit dem
Rollstuhl, Treppensteigen, sowie Anund Auskleiden beurteilt, einschließlich
möglicher Inkontinenzsymptome. Zum
geriatrischen Assessments zählt auch die
Prüfung der Sinnesfunktionen (Hörminderung, Visuseinschränkung), die
Erfassung depressiver Störungen durch
die Geriatrische Depressionsskala und
die Beurteilung der kognitiven Funktion anhand des Mini-Mental State Examination Tests. Der Geldzähltests nach
Nikolaus erfasst die manuellen Fähigkeiten, den Nahvisus und die kognitive
Leistung. Auch die Beurteilung des Essverhaltens, der Gewichtsbewegung und
des Ernährungszustandes (Body Mass
Index, eventuell Körperfettmessung,
36/37
Oberarm- und Wadenumfang) zählt zu
den Messparametern des geriatrischen
Assessments.
Ernährungszustand im Alter
Im höheren Lebensalter kommt es
häufig zu einer Reduktion des Body
Mass Index (BMI). Eine deutliche Gewichtsabnahme, körperliche Schwäche
und Inaktivität werden auch als „Frailty“ bezeichnet, die Gebrechlichkeit erhöht das Risiko für Stürze und weitere
Behinderungen. Unabhängig vom BMI
kann aber auch bei normal- oder übergewichtigen Patienten eine Malnutrition
mit einem Protein- und Vitaminmangel
vorliegen. Die europäische SENECA
(Survey in Europe on Nutrition and
the Elderly Concerted Action) Study
hat nachgewiesen, dass bei rund zehn
Prozent der zu Hause lebenden älteren
Menschen eine Unterernährung vorliegt. Dieser Prozentsatz steigt bei in
Alters- und Pflegeheimen betreuten älteren Menschen auf bis zu 60 Prozent
an. Dem Ernährungszustand älterer
Menschen wird grundsätzlich zu wenig
Aufmerksamkeit gewidmet. Vielfältige
und komplexe Mechanismen tragen zur
Mangelernährung beim geriatrischen Patienten bei, wie eine Verminderung von
Appetit, Geschmack, Geruchsvermögen
und Durstgefühl, aber auch Zahnprobleme, Schluckstörungen, die Immobilität, sozioökonomische Faktoren und
Nebenwirkungen von Medikamenten.
Diese verschiedenen Einflussfaktoren
werden im Rahmen des geriatrischen Assessments erfasst. Nahrungssupplemente,
Trink- und Zusatznahrungen können
helfen, Defizite wie eine Hypoproteinämie, einen Calcium-, Folsäure- oder Eisenmangel auszugleichen. Bei Schluckstörungen mit Aspirationsgefahr ist die
Anlage einer PEG-Sonde (Percutane Endoskopische Gastrotomie) zu erwägen.
Atypische
Krankheitssymptome
Während die klassischen klinischen
Symptome von Infektionen oder Herz-
Kreislauferkrankungen abgeschwächt
oder gänzlich fehlen können, findet
man als Begleitreaktion akuter Erkrankungen beim geriatrischen Patienten
häufig eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Schwäche, Verwirrtheit,
verstärkte Sturzneigung und das Auftreten einer Inkontinenz. Bei einer akuten
Verschlechterung des Allgemeinzustandes sollten deshalb abklärende Untersuchungen auf das Vorliegen von Infekten
(Harnwegsinfekt, Diverticulitis), kardiovaskulären Erkrankungen (stummer
Herzinfarkt) oder metabolischen Erkrankungen (Hypo- oder Hyperglykämie bei Diabetes mellitus) durchgeführt
werden. Auch funktionelle Störungen
wie die Obstipation oder Blasenentleerungsstörungen können beim älteren
Patienten mit Allgemeinsymptomen wie
mit einer Verschlechterung der Befindlichkeit und Verwirrtheit einhergehen.
Differentialdiagnostisch sind auch Nebenwirkungen und Interaktionen von
Medikamenten zu berücksichtigen.
Medikamentöse Therapie
Aufgrund altersbedingter Organ-Veränderungen, vor allem der Nieren- und
Leberfunktion, ist die Pharmakokinetik
von Medikamenten beim älteren Patienten eingeschränkt, und damit das
Risiko für potentielle Nebenwirkungen
erhöht. Die Nierenzellmasse nimmt von
circa 250 Gramm beim 50-Jährigen mit
zunehmendem Alter kontinuierlich auf
rund 180 Gramm im Alter von 90 Jahren ab. In der Folge kommt es zu einer
Reduktion der glomerulären Filtrationsrate um etwa ein Milliliter pro Jahr
nach dem 40. Lebensjahr. Der Serumkreatininwert bleibt jedoch aufgrund
der altersbedingten Abnahme der Skelettmuskulatur (Sarkopenie) stabil und
kann damit zu einer Fehlinterpretation
der Nierenfunktion führen; deshalb ist
die Berechnung der glomerulären Filtrationsrate von Vorteil. Auch die Leberzellmase und der hepatische Blutfluß
nehmen mit zunehmendem Lebensalter
ab. Aufgrund der großen Reserve zeigt
sich jedoch keine relevante Funk- :
› österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007
: tionseinschränkung. Allerdings können beim älteren Patienten zusätzliche
Stressfaktoren wie Akuterkrankungen
und deswegen erforderliche Therapiemaßnahmen die hepatische Funktionskapazität beeinträchtigen. Dies betrifft
die Metabolisierung von Medikamenten über das Cytochrom P450-System,
das mit zunehmendem Lebensalter eine
verminderte Aktivität aufweist. Bei
der Verabreichung von mehreren Medikamenten sind vor allem potentielle
Interferenzen in der Metabolisierung
zu berücksichtigen. Weitere Involutionsvorgänge, die den Wirkspiegel von
Pharmaka beim älteren Patienten beeinflussen können, sind die Verminderung
des Wassergehalts im Organismus, die
Verminderung der Muskelmasse (Sarkopenie) und Zunahme der Fettmasse,
sowie eine veränderte gastrointestinale
Kinetik (Obstipationsneigung).
Häufige klinische Syndrome
beim geriatrischen Patienten
Sturzneigung
Jährlich stürzen circa 30 Prozent aller über 65-jährigen Menschen. Etwa
18 Prozent dieser Stürze haben eine
schwerere Verletzung, bis zu zwölf Prozent eine Fraktur zur Folge. Die Einjahresmortalität nach einer Hüftfraktur beträgt bis zu 30 Prozent. Die Inzidenz der
Stürze im eigenen Haushalt erreicht bei
über 80-jährigen 40 Prozent, in Altenund Pflegeheimen liegt sie noch höher.
Sturzgefahren und mögliche Ursachen müssen deshalb rechtzeitig erkannt
werden, um präventive Maßnahmen zu
treffen. Ursachen für Stürze können altersbedingte Erkrankungen darstellen
wie cerebro- und kardiovaskuläre Erkrankungen, eine Beeinträchtigung des
Seh- oder Hörvermögens, die Sarkopenie
und Osteoporose mit Veränderungen in
der Balance und eine Neuropathien (diabetische Neuropathie). Medikamente
wie psychotrope Pharmaka, Antihypertensiva, Diuretika oder Antiparkinsonmedikamente tragen ebenfalls zum
38/39
Sturzrisiko bei. Die Sturzerfahrung für
den älteren Patienten selbst kann zur
Entwicklung des sogenannten „PostfallSyndroms“ führen. Das Sturzereignis
stellt ein einschneidendes und beängstigendes Erlebnis dar, das einen Rückzug
aus dem aktiven Leben, Perspektivlosigkeit und Depressionen zur Folge hat.
Akute Verwirrtheit
Eine akute Verwirrheit entwickelt
sich innerhalb einer Zeitspanne von
Stunden oder Tagen und geht mit einer
Bewusstseinsstörung, das heißt einer
reduzierten Klarheit der Umgebungswahrnehmung einher. Störungen des
Neugedächtnisses, der Orientierung,
der Sprache und/oder die Entwicklung
einer Wahrnehmungsstörung sind somit
typische Symptome, ebenso auch Veränderungen der Psychomotorik (rascher,
nicht vorhersehbarer Wechsel zwischen
Hypo- und Hyperaktivität, vermehrter
oder verminderter Redefluss, verstärkte
Schreckreaktion) und Veränderungen
des Schlaf-Wachrhythmus.
Zu den häufigsten Ursachen für
eine akute Verwirrtheit zählen neurologische, internistische und psychiatrische
Erkrankungen, Nebenwirkungen von
Medikamenten, aber auch psychosoziale
Belastungssituationen. Reizdeprivationen und Perzeptionsstörungen, wie der
Verlust einer Brille, des Hörgeräts oder
der Zahnprothese, sowie Dunkelheit
und Einsamkeit können über illusionäre
Fehlinterpretationen zur Verwirrtheit
führen.
Depression
Die Altersdepression stellt eine wegen des hohen Suizidrisikos große Gefährdung für den alten Menschen dar.
Im Vordergrund der Symptomatik der
Altersdepression steht typischerweise
die gedrückte Stimmung mit ausgeprägter Losigkeits-Symptomatik und
Antriebshemmung. Vegetative Veränderungen wie Tachykardien, Hypo- oder
Hypertonie, Obstipation oder Diarrhoe
führen häufig zum Arztbesuch. Kognitive Defizite bei Depression können
zum Bild der Pseudodemenz führen mit
einer Verlangsamung der Denkprozesse,
Konzentrationsstörungen,
Wahrnehmungsbeeinträchtigungen und einer gestörten Gedächtnisleistung. Ein weiteres
häufiges Symptom einer depressiven
Störung im Alter ist Angst, mit Trennungsängsten und sozialen Ängsten.
Auch ein Verarmungswahn oder hypochondrischer Wahn können im Rahmen
einer Depression auftreten.
Demenz
Rund 55 Prozent aller Patienten mit
Demenz leiden an der Alzheimer Erkrankung, zehn bis 15 Prozent an einer vaskulären Demenz und rund 15
Prozent an einer Kombination beider
Formen. Degenerative motorische, zerebelläre beziehungsweise spinale Systemerkrankungen können ebenfalls zur
einer Demenz führen. Die Prävalenz der
Alzheimer-Erkrankung steigt ab dem
65. Lebensjahr kontinuierlich an. In
der Bevölkerungsgruppe über 85 Jahre
weisen rund 35 Prozent Anzeichen eines
dementiellen Syndroms auf.
Häufige Erkrankungen
beim geriatrischen Patienten
Koronare Herzerkrankung
und Herzinsuffizienz
Pectanginöse Beschwerden als typische klinische Symptome einer myokardialen Mangeldurchblutung bei
koronarer Herzerkrankung können
beim älteren Patienten fehlen, aufgrund
einer Neuropathie kann sogar ein Myokardinfarkt stumm verlaufen. Als
sogenannte KHK-Äquivalente gelten
ventrikuläre Extrasystolien, Vorhofflimmern, Palpitationen, Dyspnoe, Kollaps
beziehunsgweise Synkopen. Eine häufige Folge einer KHK ist die Herzinsuffizienz.
Die chronische Herzinsuffzienz findet sich typischerweise beim älteren :
› österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007
: Menschen. Die Inzidenz beträgt in
der Gesamtbevölkerung rund zwei Prozent und steigt bei über 65-Jährigen
auf zehn Prozent an. Die Notwendigkeit für eine stationäre Bertreuung und
die Mortalität nimmt in der höheren
Altersgruppe deutlich zu. Pathophysiologisch führt der Alterungsprozess
am Herzen zu einer zunehmenden
Steifigkeit des linken Ventrikels. Eine
diastolische Funktionsstörung stellt
im höheren Lebensalter mit bis zu 50
Prozent die grundlegende Funktionsstörung des Herzens dar. Auch die klinische Symptomatik der Herzinsuffizienz ändert sich im höheren Lebensalter.
Anstelle der typischen Anzeichen einer
Herzinsuffizienz, wie Leistungsknick,
Dyspnoe und Ödemneigung zeigen
geriatrische Patienten cerebrale Funktionsstörungen, wie Agitiertheit, Verwirrtheit, sowie Appetitlosigkeit und
Adynamie.
Diabetes mellitus
In den Industriestaaten liegt die Prävalenz des Typ 2-Diabetes in der Altersgruppe von über 70 Jahren bei 20
bis 25 Prozent. Lebensstilmaßnahmen
stellen auch beim älteren Patienten die
Grundlage in der Therapie des Diabetes mellitus dar. Die Ernährungsempfehlungen für den Diabetiker gelten
altersunabhängig. Der bei über 70-Jährigen zu beobachtende altersassoziierte
Gewichtsverlust ist dabei jedoch zu berücksichtigen, um einen ungewollten iatrogenen Gewichtsverlust zu vermeiden.
Eine einseitige und strikte Diabeteskost
ohne Anpassung an die Bedürfnisse älterer Menschen ist grundsätzlich abzulehnen.
Generell gelten für den älteren Diabetiker die gleichen Stoffwechselziele
wie für den jüngeren (besonders bei
biologische jungen, aktiven und selbstständigen Personen), wenn diese unter
Lebensstilführung und medikamentöser
Therapie bei Aufrechterhaltung einer
guten Lebensqualität erreichbar sind.
Bei Nichterreichen der glykämischen
Zielwerte unter alleinigen Lebens-
40/41
stilmaßnahmen wird der Einsatz von
oralen Antidiabetika beziehungsweise
Insulin empfohlen. Bei Metformin ist
bei älteren Patienten die strikte Kontraindikation einer eingeschränkten
Nierenfunktion zu beachten. Die appetithemmende Wirkung von Metformin ist bei kachektischen älteren
Patienten ungünstig. Aufgrund einer
Neigung zur Flüssigkeitsretention unter Glitazonen gilt die Herzinsuffizienz
als Kontraindikation, dies bedeutet eine
weitere Begrenzung der Behandlungsoptionen beim älteren Diabetiker. Bei
einer Therapie mit Insulinsekretagoga
(Sulfonylharnstoffderivate, Repaglinid)
besteht bei inadäquater Ernährung beziehungsweise Dosierung die Gefahr
einer Hypogly-kämie. Bei einer Indikation für eine Insulintherapie (Sekundärversagen oraler Antidiabetika, Akuterkrankungen) ist ein auf die Bedürfnisse
des geriatrischen Patienten angepasstes
Therapieregime zu wählen, mit einer
eventuellen Insulinverabreichung durch
Angehörige beziehungsweise mobile
Hilfsdienste.
Perioperatives Managment
Für den geriatrischen Patienten
kann sich typischerweise die Indikation für eine akute abdominalchirurgische (Appendicitis, Cholecystitis,
Diverticulitis, obstruktive Tumore),
eine gefäßchirurgische (Extremitätenischämie, Aneurysma, diabetisches
Fusßsyndrom) oder eine unfallchirugisch/orthopädische Interventionen
(Schenkelhalsfraktur) ergeben.
Wichtig ist die sorgfältige internistische Untersuchung und Vortherapie,
die Infektionsprophylaxe, der Einsatz
von Cellsaver und Eigenblutspende bei
elektiven Eingriffen, und vor allem die
Frühmobilisierung und Thromboseprophylaxe.
Zusammenfassung
Hinsichtlich der vorliegenden Zusammenfassung von Charakteristika des
geriatrischen Patienten soll grundsätzlich die Notwendigkeit der patientenund funktionsorientierten Medizin
betont werden. Der geriatrische Patient
ist durch sein höheres Lebensalter durch
sein Leiden an mehreren Erkrankungen,
eine häufig unspezifische klinische
Symptomatik und eine verzögerte Genesung charakterisiert. Die Lebensqualität
und die Wertvorstellungen älterer Menschen müssen bei der Planung der differentialdiagnostischen Abklärung und der
Therapiemaßnahmen Berücksichtigung
finden. Gespräche mit dem Patienten,
seinen Angehörigen und Betreuern sind
dafür eine wichtige Voraussetzung, wie
auch das geriatrische Assessment und
ein optimiertes Nahtstellenmanagment
bei einer Entlassung aus dem Kranken9
haus. Literatur bei der Verfasserin
Univ. Prof. Dr. Monika Lechleitner, Landeskrankenhaus Hochzirl/Anna-DengelHaus, 6170 Zirl;
Tel: 05238/501; Fax-DW 55; E-Mail: [email protected]
Berücksichtigung der physiologischen Veränderung
der Vitalparameter im Alter
•
•
•
•
•
•
•
Anstieg des systolischen Blutdrucks
Abfall der maximalen Herzfrequenz
Orthostatische Dysregulation
beeinträchtigte Thermoregulation (niedrigere Basistemperatur)
beeinträchtigte Fieberreaktion
abnorme Pulsoxymetrie <95 Prozent (bei ca. 25 Prozent)
beeinträchtigte hepatische und renale Metabolisierung (Medikamenteninteraktion bzw. Nebenwirkung)
Tab. 3
› österreichische ärztezeitung ‹ 12 ‹ 30. juni 2007
Herunterladen