Krebsrisiko: Doch kein Roulette?

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Krebsrisiko: Doch kein Roulette?
DocCheck News; 24. Februar 2016
Vor einem Jahr behaupteten Onkologen, die Diagnose „Krebs“ sei meist einfach nur Pech.
Viele widersprachen, doch erst vor Kurzem lieferte eine Studie die Gegenposition.
Unbeantwortet bleibt die Frage: Wie viele Treffer ins Genom reichen für die maligne
Transformation?
„Ich hab mir immer so viel Mühe gegeben, gesund zu leben – und jetzt trifft es mich – ganz
unvorbereitet.“ Ärzten ist dieser Satz nicht ganz unbekannt, wenn sie ihrem Patienten die
schlechte Nachricht überbringen, dass er an Krebs erkrankt ist. Noch vor 20 oder 30 Jahren
schien alles ganz einfach zu sein. Wer viel rauchte, sich ungesund ernährte oder sich zu lange
in der Sonne aufhielt, der musste damit rechnen, dass es ihn „trifft“. Es gab etliche
Risikofaktoren, die das Risiko für einen bestimmten Tumor erhöhten. Zuweilen kamen auch
vermehrte Fälle in der Familie vor, die sich auf vererbte „Suszeptibilitätsgene“ zurückführen
ließen.
Risikofaktor Zellteilung
Bert Vogelstein vom renommierten Howard Hughes Medical Institute hatte sich mit seinen
Arbeiten in der molekularen Onkologie einen in der Fachwelt geachteten Namen gemacht und
schien mit einem Artikel in „Science“ vor einem Jahr alle diese Erkenntnisse plötzlich infrage
zu stellen. Er und sein Kollege Cristian Tomasetti behaupteten, die Entstehung von Krebs
hinge zum weit überwiegenden Teil vom Zufall ab und sei nichts anderes als „Pech“. Die
gesamte Anzahl an Teilungen von Stammzellen eines bestimmten Gewebes im Laufe eines
Lebens korreliere sehr stark mit der Krebsrate für dieses Organ. Jede Teilung einer dieser
Gewebevorläuferzellen könne zu einem Schaden in der DNA führen. Einen Schaden mit dem
Risiko, dass aus der „normalen“ Zelle eine ohne Wachstumshemmung werde.
Die Publikation dieser Erkenntnisse bedeutete einen großen Rückschlag für die
Krebsvorsorge. Sollte wirklich nur ein Drittel aller Krebsfälle durch ein vermeidbares Risiko
entstanden sein, so wie es die Autoren errechnet hatten? Schnell gab es zahlreiche kritische
Stimmen. Auch die IARC (International Agency for Research on Cancer) reagierte schnell
und mit harscher Kritik. Zwei der wichtigsten Tumorarten, Karzinome von Brust und
Prostata, hätten die Autoren nicht berücksichtigt. Außerdem, so die Pressemitteilung des
IARC, „hätte der Vergleich verschiedener Populationen andere Resultate ergeben“.
Tatsächlich ist die Krebsrate bei einzelnen Tumorformen in verschiedenen Regionen der Erde
zum Teil ganz unterschiedlich. Brustkrebs kommt in Europa etwa fünfmal häufiger vor als in
Ostasien oder Zentralafrika. In Australien ist das Risiko, an einem Prostatakarzinom zu
erkranken, etwa 20-mal so hoch wie in Zentralasien. Auswanderer passen sich dabei den
Gegebenheiten ihrer neuen Heimat an, was auch auf einen starken Einfluss von extrinsischen
Faktoren schließen lässt, auch wenn diese Risikofaktoren häufig noch nicht bekannt sind.
Epidemiologie gegen den Zufall
Viele Monate lang konnte aber niemand stichhaltig beweisen, dass Vogelstein und Tomasetti
in ihrer Arbeit Fehler gemacht hätten. Tatsächlich lassen sich die unterschiedlichen
Krebsraten in verschiedenen Geweben allein durch den Einfluß von Umwelt und familiärem
Risiko nicht wirklich erklären. Im Dezember erschien dann jedoch in „Nature“ eine
Untersuchung [Paywall], die mit Fakten gegen das Zufallsprinzip beim Krebsroulette
anzukommen schien. Yusuf Hannun und sein Team von der New Yorker Stony Brook
University versuchten bei 30 Krebsarten, den Einfluss bekannter extrinsischer Faktoren zu
quantifizieren.
Auch wenn man die Gesamtzahl der Stammzellteilungen berücksichtigt, sind bei einzelnen
Tumorformen immer noch deutliche Unterschiede in der Häufigkeit zu sehen – mehr, als sich
mit dem Vogelstein-Tomasetti-Modell erklären lassen. Demzufolge muss der Anteil äußerer
Einflüsse wohl weit höher sein. Die epidemiologischen Daten für einzelne Tumorformen
korrelieren nicht mit den Berechnungen aus dem „Science“-Artikel, der den aus den
Zellteilungen resultierenden Zufall weit höher als andere Einflüsse ansetzt.
Aus Signaturen lesen
Des Weiteren lassen sich bei vielen Tumoren bestimmte Veränderungen im Genom
beobachten, sogenannte „Tumor-Signaturen“, die typisch für die entsprechende Geschwulst
sind. Tumore, die auf extensive Sonnenbäder zurückgehen, sehen ganz anders aus als solche,
bei denen der Tabakqualm als eines der größten Risiken gilt. Die Autoren schauten sich 30
dieser genetischen Fingerabdrücke genauer an und fanden nur zwei mit einer deutlichen
Alterskorrelation. Die restlichen scheinen unabhängig vom Lebensalter aufzutreten. Das
wiederum erhärtet die These, dass äußere Einflussfaktoren – unabhängig vom „Pech-Prinzip“
– eine wesentlich stärkere Rolle spielen. Betrachtet man schließlich noch die Fehlerrate bei
Zellteilungen genau, kommt man mit den Berechnungen der Möglichkeit einer
Transformation zu einer bösartigen Tumorzelle auf weit geringere Raten als die von
Vogelstein/Tomasetti vertretene These des Zufalls am Anfang der meisten Tumoren. Die
Autoren wagten mit ihren Analysen auch die Aussage: 70 bis weit über 90 Prozent der
äußeren Faktoren und ungünstigen Erbgut-Konstellationen führen schließlich zur Diagnose
„Krebs“.
Ob allerdings 95 Prozent bei Gehirntumoren, mehr als 99 Prozent bei Prostata- und
mindestens 98 Prozent bei Schilddrüsenkarzinomen – wie nach Hannuns Rechnung – auf
extrinsische Faktoren zurückzuführen seien, so die Antwort von Vogelstein und Tomasetti an
ihre Herausforderer, sei fraglich. Bis jetzt könnten Epidemiologen bei keiner dieser
Tumorformen die wirkliche äußere Gefahrenquelle benennen.
Sind da also äußere Faktoren, von denen wir möglicherweise bislang noch gar nichts wissen?
Der renommierte englische Onkologe Mel Greaves vermutet in einem Statement des Instituts
of Cancer Research, dass „90 Prozent der häufigen Krebsarten vermieden oder verhindert“
werden könnten, geht man nach den dokumentierten Unterschieden in den TumorInzidenzraten.
Geburt einer Tumorzelle
Wie sieht jetzt aber die Geburt und die früheste Kindheit einer Tumorzelle aus? Im November
erschien dazu im New England Journal of Medicine ein interessanter Bericht [Paywall] von
Pathologen aus San Francisco, zu dem der bereits bekannte Bert Vogelstein einen
ausführlichen Kommentar [Paywall] in der gleichen Ausgabe schrieb. Das Team um Boris
Bastian und Hunter Shain analysierte Veränderungen von nahezu 300 Genen in den ersten
Stadien einer Melanomzelle bis hin zum invasiven ausgewachsenen Tumor. Welche der
Mutationen sind entscheidend, um sich den Wachstumsvorteil gegenüber der Umgebung zu
sichern und nicht gleichzeitig wieder von den körpereigenen Wachsoldaten um die Ecke
gebracht zu werden?
Driver-Mutationen finden sich als charakteristische Mutationen bei Tumorzellen und dort vor
allem in Genen für Mitogen-aktivierte Proteinkinasen. Als Precurser-Läsionen tauchen sie bei
Vorstufen der eigentlichen Melanomzellen auf. Im fortgeschrittenen Stadium hat sich dann
die DNA-Sequenz bei NRAS und TERT-Genen verändert. Invasive Tumorzellen zeichnen
sich durch biallelische Aberrationen bei CDKN2a aus. TP53 Mutationen sind wiederum ein
typisches Merkmal fortgeschrittener Melanome.
Drei Treffer schieben den Krebs an
Ähnliche Befunde bei Zervix-, Pankreas- und Kolonkarzinomen – allerdings mit jeweils
anderen Driver-Mutationen – lassen den Schluss zu, dass drei Veränderungen in solchen
„Drivern“ die normale Gewebezelle zu einem aggressiven Raubtier machen, das sich ständig
vermehrt. Nur etwa 200 unserer rund 20.000 Gene sind für solche Veränderungen
empfänglich. Alle anderen sind sogenannte „Passenger“; Passagiere, die mitfliegen, aber
keinen Einfluss auf die Flugroute haben. Es scheint so, dass je nach Gewebe jeweils andere
Veränderungen die Schlüssel zur Malignität sind.
Drei spezifische Veränderungen in einer bestimmten Reihenfolge an den spezifischen
„Achillesfersen“ der Zelle im Laufe ihres Lebens? Eher unwahrscheinlich. Vielmehr sieht es
so aus, dass die ersten zwei Treffer zu einem leichten Wachstumsvorteil und veränderter
Zellarchitektur führen, die auch für benigne Tumoren typisch ist. Besonders in dieser
Frühphase scheint es sehr darauf anzukommen, dass die Treffer an der vorgegebenen
„empfindlichen“ Stelle landen. Der dritte Treffer bringt die angeschossene Zelle oft erst zwei
oder drei Generationen später dann völlig aus der Balance und ist wohl weit weniger
spezifisch. Mit ihm beginnt die invasive Laufbahn der eigentlichen Tumorzelle.
Angeschossene Zellen aufspüren
Das bedeutet aber auch eine gute Chance für zukünftige Krebsdiagnostik und Prävention. Bei
einem ausgewachsenen Tumor sind frühe Phasen von „Breakthrough“ und Expansion nur
schwer zu finden, da sie von Zellen im späteren Stadium überwachsen werden. Entdeckte man
die Zellen in der frühen Phase, so böte sich möglicherweise eine gute Chance, sie noch vor
dem dritten Treffer aus dem System zu nehmen.
Ob das alles als eine Reihe von Zufallsereignissen geschieht, ist auch nach der NaturePublikation vom Dezember umstritten. Äußere Einflüsse wirken sich sicher auf die Fehlerrate
bei der Replikation von Stammzellen aus. Gelingt es dem Reparaturdienst nicht schnell, die
Veränderung im Genom aufzudecken und auszubessern, so kann das den ersten Schritt zum
Tumor bedeuten. Es lohnt sich sicher, die Trefferquote so klein wie möglich zu halten.
Artikel von Erich Lederer
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