Ärztlich assistierter Suizid als Herausforderung für das ärztliche

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Ärztlich assistierter Suizid als Herausforderung für das ärztliche
Berufsethos
Autoren:
1. Dr. med. Sabine Salloch, M.A., Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der
Medizin, Ruhr-Universität Bochum
2. Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann, Institut für Medizinische Ethik und Geschichte
der Medizin, Ruhr-Universität Bochum
zur Publikation in:
Kongresspublikation III. Interdisziplinärer Kongress Junge Naturwissenschaft und Praxis –
"Chancen und Grenzen (in) der Medizin" (Hanns Martin Schleyer-Stiftung / Heinz
Nixdorf Stiftung)
Wörter: 2.280
Anschrift:
Dr. med. Sabine Salloch, M.A.
Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin
Ruhr-Universität Bochum
Markstraße 258a
44799 Bochum
Tel. 0234/32-28642
Fax: 0234/32-14205
E-Mail: [email protected]
1
Einleitung - Zur aktuellen Diskussion um den ärztlich assistierten Suizid
Der ärztlich assistierte Suizid (auch als „ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung“ bezeichnet) ist
aktuell Gegenstand intensiver sowohl wissenschaftlicher als auch (standes-)ethischer
Debatten in der Medizin. Neuen Auftrieb erhielt diese Diskussion im Januar 2011 mit der
Veröffentlichung einer Neufassung der „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen
Sterbebegleitung“. Während in der vorangegangenen Fassung aus dem Jahr 2004 noch
explizit die Position vertreten worden war, dass die Mitwirkung des Arztes1 bei der
Selbsttötung eines Patienten dem ärztlichen Ethos widerspreche2, wurde in der neu
veröffentlichten Version an der entsprechenden Textstelle eine schwächere Formulierung
gewählt. In der aktuellen Fassung heißt es: „Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung
ist keine ärztliche Aufgabe.“3 Diese geänderte Formulierung in den „Grundsätzen“ der
Bundesärztekammer hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizides ist von unterschiedlichen
Seiten heftig kritisiert worden. So haben sich sowohl einzelne Landesärztekammern (Hessen4,
Westfalen-Lippe5), als auch andere Interessenvertretungen (Deutsche Hospiz Stiftung6,
Deutsche Krebsgesellschaft7) von der neuen Auffassung distanziert. Weiterhin wurde in
Verbindung mit der Änderung der „Grundsätze“ auch die Frage laut, ob überhaupt noch von
einem ärztlichen Ethos in Bezug auf Handlungspraxen am Lebensende gesprochen werden
könne8.
Im Gegensatz zur Neuformulierung der „Grundsätze“ der Bundesärztekammer, deren Position
hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizides von vielen Beteiligten im Sinne einer
Liberalisierung verstanden wurde, verabschiedete der 114. Deutsche Ärztetag in Kiel im Juni
eine Änderung der Musterberufsordnung, die diesbezüglich eine andere Tendenz zeigt9. In der
aktuellen Fassung der Musterberufsordnung findet sich in §16 ein ausdrückliches Verbot der
ärztlichen Hilfe zur Selbsttötung10. Die standesethisch relevanten Dokumente der deutschen
Ärzteschaft bieten damit hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizides derzeit kein
1
In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit zur Bezeichnung
gemischtgeschlechtlicher Gruppen die männliche Form verwendet.
2
http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Sterbebegl2004.pdf (Zugriff am 28.09.2011)
3
http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Sterbebegleitung_17022011.pdf (Zugriff am 28.09.2011)
4
http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/45252/Aerztekammer_Hessen_lehnt_BAeKGrundsaetze_zur_aerztlichen_Sterbebegleitung_ab.htm (Zugriff am 28.09.2011)
5
Gegen ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung (2011) Westfälisches Ärzteblatt Ausgabe 05/11:11.
6
http://www.hospize.de/servicepresse/2011/mitteilung426.html (Zugriff am 28.09.2011)
7
http://www.dhpv.de/tl_files/public/Aktuelles/News/DKG_Widerspruch-BAEK_2011-04-26.pdf (Zugriff am
28.09.2011)
8
Petra Gehring (2011) Soll es überhaupt noch ein ärztliches Ethos geben? Frankfurter Allgemeine Zeitung
31.03.2011.
9
http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.7535.9293.9347 (Zugriff am 28.09.2011)
10
http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/MBO_08_20111.pdf (Zugriff am 28.09.2011)
2
einheitliches Bild. Weiterhin bleibt unterbestimmt, welche Aufgabe die ärztliche Standesethik
insgesamt im Hinblick auf medizinisches Handeln am Lebensende haben kann. Die aktuelle
Diskussion soll daher in diesem Beitrag zum Anlass genommen werden, die Praxis des
ärztlich assistierten Suizides in Deutschland sowie auch die Bedeutung der ärztlichen
Standesethik in diesem Kontext zu diskutieren.
Ärztlich assistierter Suizid aus juristischer und medizinethischer Perspektive
Unter ärztlich assistiertem Suizid versteht man eine Handlungsweise, bei der ein Arzt einem
Patienten durch Verschreiben oder Bereitstellung von Medikamenten Hilfe zur Selbsttötung
leistet. Der Patient vollzieht die Selbsttötung dann eigenständig und kontrolliert dabei den
gesamten Handlungsverlauf, wodurch juristisch gesehen die „Tatherrschaft“ auf Seiten des
Patienten verbleibt11. Die Assistenz zur Selbsttötung ist, ebenso wie der Suizid, kein
Gegenstand des deutschen Strafgesetzbuchs. Es können dem Arzt, der Hilfe zur Selbsttötung
leistet, jedoch juristische Probleme entstehen, die aus seiner Garantenstellung gegenüber dem
Patienten und der möglicherweise unterlassenen Hilfeleistung erwachsen12. Aus der fehlenden
gesetzlichen Regelung des ärztlich assistierten Suizides folgt keine Verletzung oder
Aufhebung des Fremdtötungsverbots, da die Assistenz zur Selbsttötung nicht mit der Tötung
einer anderen Person gleichzusetzen ist. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der ärztlich
assistierte Suizid von der Tötung auf Verlangen (auch: „aktive Sterbehilfe“). Bei der Tötung
auf Verlangen vollzieht der Arzt die Tötungshandlung (z.B. die Injektion einer letalen Dosis
von Medikamenten) auf den Wunsch des Patienten hin; die „Tatherrschaft“ bleibt in diesem
Fall auf Seiten des Arztes. Die Tötung auf Verlangen ist nach §216 StGB in Deutschland
strafbar. Während der ärztlich assistierte Suizid in Deutschland kein Gegenstand des
Strafgesetzbuches ist, bestehen in verschiedenen anderen Staaten (etwa den Benelux-Ländern
und den US-Bundesstaaten Oregon und Washington) diesbezügliche gesetzliche Regelungen.
Es gelten hier jedoch unterschiedliche Voraussetzungen für eine straffreie Durchführung des
assistierten Suizides, etwa hinsichtlich minderjähriger oder psychisch kranker Patienten.
Auch aus medizinethischer Sicht ist der ärztlich assistierte Suizid eine umstrittene Praxis und
Gegenstand umfangreicher ethischer Diskussionen. Das Patientenrecht auf Selbstbestimmung
bildet die zentrale normative Grundlage für den Respekt vor dem selbstbestimmten Willen
des Patienten zu sterben. Im Rahmen dieser Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht muss
11
vgl. BGHSt 19, 135 (Urteil vom 14.08.63 - 2 StR 181/63)
Schildmann J, Vollmann J (2006) Ärztliche Assistenz zur Selbsttötung – ethische, rechtliche und klinische
Aspekte. Dtsch Med Wochenschrift 131:1405-1408.
12
3
jedoch einschränkend berücksichtigt werden, dass das Ideal eines frei verantworteten Suizids
nur in wenigen Fällen zutreffend ist, da der überwiegenden Mehrheit der Suizide und
Suizidversuche potentiell behandelbare psychische Erkrankungen oder Krisensituationen
zugrunde liegen13. Insbesondere psychische Störungen (z.B. Depressionen,
Suchterkrankungen oder schizophrene Psychosen) können dazu beitragen, dass der
Suizidwunsch eines Patienten nicht mehr als Ausdruck seines selbstbestimmten Willens
angesehen werden kann. Demgegenüber liegt jedoch bei einem Teil der Betroffenen ein
sogenannter „Bilanzsuizid“ vor, also die Selbsttötung nach umfassender rationaler Abwägung
der positiven und negativen Aspekte des eigenen Lebens. In diesem Fall kann der Wunsch
nach Lebensbeendigung durchaus dem selbstbestimmten Willen des Patienten entsprechen.
Ein weiteres Argument gegen die Praxis des ärztlich assistierten Suizides ist die Gefahr
möglicher unerwünschter gesellschaftlicher Auswirkungen. Von Kritikern wird hier
insbesondere betont, dass ein sozialer Druck auf alte und kranke Menschen vermieden werden
müsse, sich durch Suizid das Leben zu nehmen, um Angehörige und die Gesellschaft nicht
durch die eigene Krankheit und Hilfsbedürftigkeit zu belasten14. Zugunsten des ärztlich
assistierten Suizides kann hingegen angeführt werden, dass er möglicherweise geeignet ist,
andere Methoden der Selbsttötung, die für den Betroffenen inhuman und für dritte Personen
gefährlich sein können, zu verhindern (etwa Sprung aus großer Höhe, Vor-den-Zug-Werfen).
Ein weiterer relevanter Aspekt bei der ethischen Bewertung des ärztlich assistierten Suizides
ist, dass im Unterschied zur Tötung auf Verlangen die Tötungshandlung durch den Patienten
selbst durchgeführt wird. Hieraus ergeben sich unter Umständen Vorteile in Hinsicht auf die
Realisierung der Patientenautonomie und die Vermeidung von Tötungen, die nicht dem
Willen des Patienten entsprechen. Weiterhin ist die Diskussion um eine Liberalisierung des
ärztlich assistierten Suizides möglicherweise geeignet, den Stellenwert der
Patientenselbstbestimmung in der Medizin generell zu erhöhen15. Der ärztlich assistierte
Suizid stellt den traditionellen ärztlichen Paternalismus in Frage, indem einer modernen
Auffassung des Arzt-Patient-Verhältnisses Vorschub leistet, im Rahmen derer das Moment
der Patientenselbstbestimmung zentral ist, während der Arzt den Patienten in der Ausübung
seines Selbstbestimmungsrechts unterstützt16. Umstritten ist allerdings derzeit, ob der
13
ebd.
vgl. zu diesem Argument auch die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats (vormals: Nationaler Ethikrat) von
2006
http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/Stellungnahme_Selbstbestimmung_und_Fuersorge_am_Lebensende.pdf
(Zugriff am 28.09.2011)
15
Vollmann J (2004) Ärztliche Beihilfe zum Suizid bei AIDS-Patienten in den USA. Eine qualitative InterviewStudie über professionelle Ethik und Praxis im Wandel. Ethik Med 14:270-286.
16
Vollmann J (2003) Sterbebegleitung. Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 2 (2. überarbeitete
Auflage) Verlag Robert Koch-Institut, Berlin.
14
4
assistierte Suizid als ärztliche Aufgabe aufgefasst werden muss, oder ob die Assistenz, wie
dies etwa der in der Schweiz überwiegenden Praxis entspricht, auch durch nicht-ärztliche
Helfer geleistet werden kann17.
Empirische Daten
In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von empirischen Untersuchungen durchgeführt,
welche sowohl die ärztliche Handlungspraxis als auch die Meinungen und Einstellungen
unterschiedlicher Personengruppen hinsichtlich des ärztlich assistierten Suizides analysiert
haben. Eine im Jahr 2009 von der Bundesärztekammer in Auftrag gegebene Untersuchung des
Allensbach-Instituts zeigte, dass jeder dritte befragte deutsche Arzt im Laufe seines
Berufslebens bereits um Beihilfe zum Suizid gebeten worden ist18. Darüber hinaus
befürworteten 30% der befragten Ärzte eine Legalisierung des ärztlich assistierten Suizides in
Deutschland. Hohe Zustimmung (89%) erhielt jedoch das Argument, dass eine Legalisierung
des ärztlich assistierten Suizides dazu führen könnte, dass Menschen sich um ärztliche Hilfe
beim Suizid bemühten, weil sie sich als Belastung für Familie und Gesellschaft fühlten.
In der internationalen EURELD-Studie („European end-of-life decisions“) wurden mittels
Fragebögen medizinische Entscheidungen am Lebensende in sechs europäischen Staaten
untersucht. Hier konnte nachgewiesen werden, dass mit 0,36 % der höchste Anteil von
ärztlich assistierten Suiziden an den untersuchten Todesfällen in der Schweiz auftrat. In den
Niederlanden fand ein ärztlich assistierter Suizid in 0,21% der untersuchten Todesfälle statt,
der Anteil der Todesfälle durch Tötung auf Verlangen war jedoch mit 2,59% in den
Niederlanden deutlich höher19. Eine an der EURELD-Studie orientierte Befragung der
ärztlichen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ergab, dass ärztlich
assistierter Suizid in 0,1% der untersuchten Todesfälle durchgeführt wurde20. Weitere
relevante empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass in denjenigen Ländern, in
denen ärztlich assistierter Suizid eine legale Praxis ist, nur ein Teil der Patienten die ihnen zur
Verfügung gestellten tödlichen Medikamente auch tatsächlich einnimmt (so 53 von 95
befragten Bürgern im US-Bundesstaat Oregon)21. Dies legt die Interpretation nahe, dass für
17
vgl. dazu etwa Randall F, Downie R (2010) Assisted suicide and voluntary euthanasia: role contradictions for
physicians. Clin Med 10:323-325 sowie Martin AK, Mauron A, Hurst SA (2011) Assisted suicide is compatible
with medical ethos. Am J Bioeth 11:55-57.
18
http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/Sterbehilfe1.pdf (Zugriff am 28.09.2011)
19
van der Heide A et al. (2003) End-of-life decision-making in six European countries: a descriptive study.
Lancet 362:345-350.
20
Schildmann J et al. (2010) End-of-life practices in palliative care: a cross sectional survey of physician
members of the German Society for Palliative Medicine. Palliat Med 24:820-827.
21
Oregon Department of Human Services. 12th Annual Report on Oregon’s Death with Dignity Act.
http://public.health.oregon.gov/ProviderPartnerResources/EvaluationResearch/DeathwithDignityAct/Documents
/year12.pdf (Zugriff am 28.09.2011) Ähnlich lautende Aussagen finden sich auch in den Jahresberichten der
5
diesen Teil der Patienten das Wissen, ihr Leben selbst beenden zu können („being in
control“), ausreichend ist, dass sie den Suizid aber nicht in die Tat umsetzen.
Ärztliche Standesethik im Spannungsfeld zwischen Moral und Ethik
Wie bereits dargestellt wird die Frage nach der Zulässigkeit des ärztlich assistierten Suizides
derzeit vielfach unter Bezugnahme auf die ärztliche Standesethik diskutiert. Unklar bleibt
dabei jedoch, welche spezifische Bedeutung der Standesethik im Rahmen konkreter ethischer
Debatten zukommt. Im Folgenden soll vor dem Hintergrund der klassischen philosophischen
Unterscheidung zwischen Moral und Ethik ein Schlaglicht auf die Unklarheiten geworfen
werden, die in der aktuellen Debatte hinsichtlich der Rolle der ärztlichen Standesethik
auftreten. Die dabei vorgetragenen Überlegungen haben dabei den Charakter eines ersten
Problemaufrisses, sollten also nicht als abschließende Analyse aufgefasst werden.
Unter „Moral“ wird der philosophischen Standardauffassung nach22 die Gesamtheit der
Überzeugungen vom normativ Richtigen und evaluativ Guten sowie der diesen
Überzeugungen korrespondierenden Handlungen verstanden23. Demzufolge bezieht Moral
sich auf soziale Phänomene, die einem historischen und gesellschaftlichen Wandel
unterliegen. Es geht hier um Regeln und Wertmaßstäbe, die de facto das Handeln bestimmter
Gruppen von Individuen leiten und in diesem Sinne auch normative Wirksamkeit entfalten.
Als „Ethik“ hingegen wird die wissenschaftliche Disziplin bezeichnet, welche diese
faktischen Überzeugungen und Handlungen einer philosophischen Reflexion unterzieht. Die
Ethik ist damit die methodisch geleitete Untersuchung und Kritik moralischer Aussagen
(Theorie der Moral). Ein zentraler Aufgabenbereich der Ethik ist die ethische Rechtfertigung
moralischer Aussagen und damit die Auseinandersetzung mit der Frage, unter welchen
Bedingungen moralische Aussagen normative Verbindlichkeit beanspruchen sollten.
Ein dritter Begriff, der in diesem terminologischen Kontext diskutiert werden kann, ist
derjenige des „Ethos“. Bezüglich der systematischen Einordnung des „Ethos“ im Verhältnis
zu Ethik und Moral werden jedoch unterschiedliche Auffassungen vertreten. Während bei
einigen Autoren der Begriff des Ethos nicht klar von demjenigen der Moral getrennt wird24,
gilt bei anderen Autoren das Ethos als eine spezifische Ausformung der Moral und des
Schweizer Sterbehilfeorganisation „Dignitas“ http://www.dignitas.ch/images/stories/pdf/bericht-jahr-2004.pdf
(Zugriff am 28.09.2011)
22
Einzelne Philosophen weichen jedoch aus jeweils unterschiedlichen Gründen von dieser Begriffsverwendung
von „Moral“ und „Ethik“ ab, so etwa Jürgen Habermas und Paul Ricoeur.
23
Düwell M, Hübenthal C, Werner MH (2011) Einleitung. In: dies. Handbuch Ethik (3. aktualisierte Auflage)
Metzler, Stuttgart S 1-23.
24
Höffe O (2002) Lexikon der Ethik (6. neubearbeitete Auflage) C.H. Beck, München.
6
sittlichen Charakters des einzelnen Handelnden innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe25.
Obwohl es sich beim Ethos um einen im Rahmen philosophischer Nomenklatur nicht
einheitlich besetzten Begriff handelt, hat er doch in verschiedenen Zusammenhängen
praxisrelevante Bedeutung, etwa in seiner Spezifizierung als „Berufsethos“. Als Berufsethos
bezeichnet man die Gesamtheit der moralischen Einstellungen und Normen, an denen sich das
Handeln eines bestimmten Berufsstandes ausrichtet und die von den Angehörigen dieses
Berufsstandes für verbindlich gehalten und im Rahmen der Ausbildung tradiert werden26. Es
geht hier also um die geteilten Wertvorstellungen von Personen innerhalb eines bestimmten
Berufsfeldes, wie sie etwa auch die ärztliche Standesethik zum Ausdruck bringen soll. Die
ärztliche Standesethik spielt dabei im Denken und Urteilen von Ärzten auch heute noch
vielfach eine wichtige Rolle, wie nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um den ärztlich
assistierten Suizid zeigt. Dennoch können an dem Konzept ärztlicher Standesethik, wie es in
aktuellen Debatten in Erscheinung tritt, verschiedene Aspekte kritisiert werden, die im
Folgenden kurz angerissen werden sollen.
Zunächst einmal kann gefragt werden, ob es sich bei der ärztlichen Standesethik tatsächlich
um eine Standesethik im eigentlichen Wortsinn handelt. Aufgabe der Ethik ist, wie oben
dargestellt, die kritische Auseinandersetzung mit bestimmten moralischen Überzeugungen
und Handlungsweisen. Ethik meint also nicht die Wiedergabe faktisch vorherrschender
Werthaltungen, sondern erhebt den Anspruch, diese aus einer extern-kritischen Perspektive zu
analysieren. Dies bedeutet zum einen, dass moralische Aussagen unter Anwendung
allgemein-logischer Kriterien wie Transparenz, Explizitheit und Kohärenz geprüft werden
sollten. Darüber hinaus stellt sich für die Ethik aber auch die Frage nach der spezifisch
normativen Rechtfertigung. Ein breites Spektrum ethischer Theorien kann hier einbezogen
werden, um die normative Stimmigkeit bestimmter moralischer Positionen zu beurteilen. Bei
der Formulierung standesethischer Normen in der Medizin fehlt jedoch aktuell vielfach dieses
extern-kritische Moment, welches die Ethik kennzeichnet. Es wird hier häufig nicht
unterschieden zwischen den faktischen moralischen Überzeugungen der Ärzteschaft (oder
einzelner ihrer Vertreter) und einer medizinethischen Reflexion bestimmter moralisch
umstrittener Praxen wie dem ärztlich assistierten Suizid. Wünschenswert wäre die
Hinzuziehung medizinethischer Expertise, um eine umfassende ethische Evaluation
entsprechender Fragestellungen leisten zu können. Die medizinethisch-kritische Diskussion
25
Honnefelder L (2011) Sittlichkeit / Ethos. In: Düwell M, Hübenthal C, Werner MH Handbuch Ethik (3.
aktualisierte Auflage) Metzler, Stuttgart S 508-513.
26
ebd.
7
ist nicht zuletzt aus dem Grunde wichtig, dass standesethische Richtlinien normative
Verbindlichkeit beanspruchen, die bis zur Rechtswirksamkeit reichen kann, etwa bei der vom
114. Deutschen Ärztetag verabschiedeten Musterberufsordnung, die im Falle einer
Übernahme der entsprechenden Paragraphen in die Berufsordnungen der
Landesärztekammern standesrechtlich verpflichtenden Charakter erhalten würde.
Darüber hinaus kann kritisiert werden, dass bei der Formulierung standesethischer
Dokumente, die ärztliches Handeln am Lebensende betreffen, die Ergebnisse empirischer
Studien zu wenig berücksichtigt werden. Wenn standesethische Dokumente den Anspruch
erheben, der vorherrschenden moralischen Überzeugung der deutschen Ärzteschaft Ausdruck
zu verleihen, kann eine diesbezügliche empirische Informiertheit erwartet werden. So hat die
bereits zitierte Befragung des Allensbach-Instituts aus dem Jahr 2009 gezeigt, dass ein
relevanter Anteil (30%) der befragten deutschen Ärzte einer Legalisierung des ärztlich
assistierten Suizides positiv gegenübersteht. Solche und ähnliche Daten sollten im Rahmen
standesethischer Positionierungen Berücksichtigung finden. Zugleich stellt sich dabei jedoch
das Problem, dass innerhalb einer pluralistisch verfassten Gesellschaft in ethischen Fragen
vielfach kein Konsens zu erreichen ist, wie ja auch das Beispiel der Untersuchungen zum
ärztlich assistierten Suizid zeigt. Die Berufung auf eine „vorherrschende moralische
Überzeugung“ der deutschen Ärzteschaft ist bei vielen medizinethischen Fragestellungen am
Lebensende problematisch, so dass fragwürdig bleibt, ob standesethische Verlautbarungen
diesen Anspruch überhaupt erheben können. Aus normativ-ethischer Perspektive ist weiterhin
einschränkend zu berücksichtigen, dass Mehrheitsmeinungen nicht mit ethischer
Rechtfertigung gleichgesetzt werden dürfen, dass also aus empirischen Daten kein direkter
Rückschluss auf die normative Richtigkeit bestimmter Positionen gezogen werden kann27.
Fazit
Zusammenfassend ist die aktuelle Diskussion um den ärztlich assistierten Suizid geeignet, ein
Schlaglicht auf die Bedeutung der ärztlichen Standesethik innerhalb medizinethischer
Debatten zu werfen. Dabei wird deutlich, dass der Status der Standesethik als eines „Ethos“
vor dem Hintergrund der klassischen philosophischen Unterscheidung zwischen Moral und
Ethik derzeit unklar ist. Nicht zuletzt durch diese Unklarheit können jedoch
Missverständnisse darüber entstehen, auf welchem Wege konkrete standesethische Positionen
27
vgl. etwa Sulmasy DP, Sugarman J (2001) The many methods of medical ethics (or, thirteen ways of looking
at a blackbird). In: dies. Methods in medical ethics, Georgetown University Press, Washington S 3-18.
8
zu rechtfertigen sind, ob hier also die Ergebnisse empirischer Forschung zu moralischen
Überzeugungen der Ärzteschaft oder aber die Ergebnisse ethisch-kritischer Analyse
ausschlaggebend sein sollen. Diese Unklarheit des jeweiligen Rechtfertigungshintergrundes
spiegelt sich auch in der derzeit uneinheitlichen Position zum ärztlich assistierten Suizid
wider. Wünschenswert wäre in der Diskussion um die standesethische Positionierung der
deutschen Ärzteschaft eine medizinethisch-kritische Reflexion des jeweiligen
Problemzusammenhangs unter Berücksichtigung relevanter empirischer Daten. Darüber
hinaus kann die aktuelle Debatte über den ärztlich assistierten Suizid aber auch zum Anlass
genommen werden, ein Nachdenken über Hintergrund und Funktion der ärztlichen
Standesethik insgesamt anzustoßen und deren spezifische Konzeption im Spannungsfeld
zwischen Moral und Ethik weiterzuentwickeln.
9
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