Zur Person Bernard Sobel - Goethe

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Preisträger: Bernard Sobel
Theaterregisseur und Gründer des Théâtre de Gennevilliers
Der französische Theaterregisseur Bernard Sobel gilt als Pionier des deutschen Theaters in Frankreich. 1963
legte er den Grundstein für das Théâtre de Gennevilliers nahe Paris, wo er in den darauf folgenden vier
Jahrzehnten Ur- und Erstaufführungen von Brecht bis Lessing, von Heiner Müller bis Christian Dietrich
Grabbe auf die Bühne brachte. Sobel präsentierte auch ungeachtet vieler Kritik als einer der ersten
französischen Regisseure der Nachkriegszeit Stücke deutscher Autoren. Seine Inszenierungen wirkten
ausschlaggebend für die Bereitschaft des französischen Publikums, sich wieder mit dem deutschen Theater
zu beschäftigen. Mit seiner Vorliebe für Dramen, die existenzielle Fragen aufwerfen, wurde Sobel zu einer
Instanz der französischen Theaterszene. Seine Geschichte ist die einer politischen und künstlerischen
Verwurzelung in einem Pariser Arbeitervorort – und zugleich die eines beispielhaften Austauschs zwischen
Deutschland und Frankreich.
Von Sobels Verbundenheit mit der deutschsprachigen Theaterszene zeugen neben seiner Tätigkeit am
Théâtre de Gennevilliers auch Inszenierungen in Berlin („Nathan der Weise“, 1985), Basel („Don Juan“,
„Tartuffe“, beide 1978) oder Zürich („Timon von Athen“, 1977, „King Lear“, 1987). Legendär ist bis heute
seine Inszenierung des bis dato als unaufführbar geltenden Theaterepos von Christian Dietrich Grabbe,
„Napoleon oder die hundert Tage“, 1996 in Weimar und Berlin. Mit rund einhundert Figuren, diversen
Ebenen und zwei Schlachten schien Napoleons dramatische Europareise auf keine Bühne zu passen. Sobel
gelang es in einer fast vierstündigen Inszenierung, auch mithilfe der besonderen Beschaffenheit seiner
neuen Bühne in Gennevilliers: In der Mitte zweier Theatersäle liegend und durch einen schalldichten
Vorhang trennbar, ermöglichte sie eine neue Art der Inszenierung. In seiner Zusammenarbeit mit deutschen
Theatern und Opernhäusern kam Sobel immer wieder auf die brechtsche Dialektik zurück und ebnete auch
in Frankreich den Weg für das epische Theater. Dies nicht zuletzt durch die 1974 von ihm gegründete
Theaterzeitschrift „Théâtre/Public“, die aktuell in der 188. Ausgabe erscheint. Bernard Sobel wirkte auch an
Übersetzungen wie der von Jürgen Syberbergs „Hitler – ein Film aus Deutschland“ mit und verfilmte unter
anderem eine Faust-Inszenierung von Klaus-Michael Grüber.
Im Jahr 2000 wurde Sobel mit dem Officier dans l’Ordre de la Légion d’Honneur ausgezeichnet, 2006 mit
dem Commandeur dans l’Ordre des Arts et des Lettres. Für seine Inszenierung von Don, mécènes et
adorateurs erhielt er im selben Jahr den Grand Prix du Syndicat de la Critique. Mit der Goethe-Medaille
würdigt das Goethe-Institut Sobels großes Verdienst um das deutschsprachige Theater in Frankreich und
seine Rolle als kultureller Mittler zwischen beiden Ländern. Bernard Sobel, geschult im Berliner Ensemble,
gilt in Frankreich als der letzte Theatermacher seiner Art, als der letzte „Dinosaurier“ der Pariser „Banlieue
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Rouge“.
Bernard Sobel wurde 1936 als Bernard Rothstein im einst von Arbeitern bewohnten Osten von Paris
geboren. Der Sohn eines jüdisch-polnischen Einwanderers entging im Alter von sechs Jahren nur knapp
einer der Massenverhaftungen der deutschen Besatzungszeit. Sein Vater jedoch wurde deportiert, Sobel
verbrachte die Schulzeit bei Freunden der Eltern. Als junger Germanistikstudent reiste er 1956 mit einer
Delegation kommunistischer Stipendiaten nach Ostberlin. Dort entdeckte er das Berliner Ensemble für sich
und arbeitete ein Jahr lang an der Seite von Helene Weigel und Elisabeth Hauptmann, Peter Palitzsch und
Manfred Wekwerth. Diese Zeit würde Sobels Werk prägen, ihn in Frankreich zum Vertreter eines „théâtre
fondé“, eines im Denken begründeten epischen Theaters machen. Denn ein Name ist mit dem Berliner
Ensemble aufs Engste verbunden: Bertolt Brecht, der das Theater 1949 mit Helene Weigel gründete. Nach
Frankreich zurückgekehrt, gründete Sobel 1963 im Pariser Arbeitervorort Gennevilliers ein eigenes
Ensemble, das im Zuge der Kulturpolitik der „Banlieue Rouge“, der kommunistisch dominierten Pariser
Vorstadt, von einer Initiative ehrenamtlicher Amateure zu einem der produktivsten französischen
Theaterlabore avancierte. 1982, nach dem Wahlsieg der Linken, erhielt es mit dem Titel „Centre
Dramatique National“ den Status eines staatlichen Theaters. Anders als seine Kollegen, die mit dem
politischen Wandel der Sechzigerjahre ihre Karriere bei immer größeren Theatern sahen, blieb Sobel seinem
Ensemble und seinen Prinzipien treu. Nach 43 Jahren gab er Ende 2006, im Jahr seines siebzigsten
Geburtstags, die Leitung des Théâtre de Gennevilliers ab. „Talente und Verehrer“ war seine letzte
Inszenierung als Direktor.
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Bernard Sobel
Inszenierungen deutschsprachiger Autoren oder in deutscher Sprache
Brecht, Bertolt nach Maxim Gorki: Die Mutter – Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer
(1991)
Brecht, Bertolt: Antigone (1964)
Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan (1990)
Brecht, Bertolt: Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer (1981)
Brecht, Bertolt: Die Ausnahme und die Regel (1966)
Brecht, Bertolt: Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (1973)
Brecht, Bertolt: Mann ist Mann (1970, 2004)
Eisler, Hanns und Ottwald, Ernst: California Story (1970)
Grabbe, Christian Dietrich: Napoleon oder die hundert Tage (1996)
Hein, Christoph: Die wahre Geschichte von Ah Q (1984)
Holberg, Ludwig: Jeppe vom Berge (1967)
Kleist, Heinrich von: Der zerbrochene Krug (1984)
Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister (1974)
Lenz, Jakob Michael Reinhold: Die Freunde machen den Philosophen (1988)
Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise (1987)
Mann, Heinrich: Madame Legros (1972)
Mann, Thomas: Mario und der Zauberer (1979)
Molière, Jean-Baptiste: Don Juan (1978 in Zürich)
Molière, Jean-Baptiste: Tartufo (1978 in Zürich)
Müller, Heiner: Philoktet (1970, 1984)
Schiller, Friedrich: Maria Stuart (1983)
Shakespeare, William: König Lear (1987 in Zürich)
Regie (als Bernard Rothstein)
Berg, Alban nach Frank Wedekind: Lulu (1979)
Brecht, Bertolt: Der gute Mensch von Sezuan (1990)
Brecht, Bertolt: Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (1973)
Goethe, Johann Wolfgang von: Faust (1982, inszeniert von Klaus-Michael Grüber)
Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister (1975)
Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise (1987)
Mann, Klaus: Mephisto (1980)
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Zitate
Von Bernard Sobel
„Ich habe gekämpft dafür, dass der Bürgermeister sagt: Hier ist ein Theater, hier kann in Frankreich das
erste Mal ‚Der Hofmeister’ von Lenz oder ‚Die Kipper’ von Müller gespielt werden. Und diese Arbeit ist
an uns gebunden.“
Reinsberg, Ilsedore: „Berufsbild und Berufspraxis des Dramaturgen“.
Peter Reichel (Hg.): Studien zur Dramaturgie, Tübingen, Narr 2000
„Dieses Theater ist die Konkretisierung einer Demütigung: Ich meine das Gefühl der Menschen hier in
Gennevilliers, dass die Stücke von Brecht, Heiner Müller, dessen französische Erstaufführungen hier
stattfanden, Horváth, Christoph Hein, Volker Braun, Lenz und anderen nichts mit ihnen zu tun haben.
Wenn man aber im Rahmen von statistischen Erhebungen die Frage stellt, was der Bevölkerung als das
Kostbarste in ihrer Kommune erscheint, dann sagen sie paradoxerweise: das Theater. Es ist zugleich ein
Symbol der Demütigung und der Würde.“
„Eine Pariser Theaterinstanz tritt ab“, Deutschlandradio Kultur, 6. Juni 2007
„Ehrlich gestanden habe ich überhaupt keine künstlerischen Ambitionen. Mir sind die Begegnungen mit
den Menschen aus dem Publikuml wichtig, die sich bei mir gelegentlich nach Aufführungen für meine
Arbeit hier bedanken. Diese Menschen wissen genau, wer ich bin. Für sie bin ich der stalinistische Kauz,
der Störenfried, der ihnen mit seinem intellektuellen Theater auf die Nerven geht. Aber irgendwie
kommen die Leute immer wieder, weil sie wissen, mit wem sie es zu tun haben. Ein Theater braucht ein
Gesicht.“
„Eine Pariser Theaterinstanz tritt ab“, Deutschlandradio Kultur, 6. Juni 2007
„Ich verdanke der DDR sehr viel, sie wurde für mich fast so etwas wie eine zweite Heimat. Und sie hat
mein Verhältnis zur deutschen Kultur stark geprägt. Dank meines Aufenthalts in der DDR und am
Berliner Ensemble wurde ich in Frankreich zu einem Vertreter des dramaturgischen Theaters, oder besser
des ‚théâtre fondé’, des im Denken fundierten Theaters, und das folgte einer materialistischen
Philosophie.“
„Eine Pariser Theaterinstanz tritt ab“, Deutschlandradio Kultur, 6. Juni 2007
„Was man entdeckt ist, dass nicht Kultur, sondern alle künstlerische Praxis politische Taten sind. [...] Das
ist eine reine Metapher von der Selbstschaffung des Menschen durch sich selbst.“
„Eine Pariser Theaterinstanz tritt ab“, Deutschlandradio Kultur, 6. Juni 2007
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„Zu Brechts Zeiten gab es den Traum vom neuen Menschen, ein Traum, der aber eher die Züge eines
Alptraums hatte; der neue Mensch, das war fast so etwas wie eine Prophezeiung. Einen neuen Menschen
zu wollen, zu wollen, dass die Massen Geschichte schreiben, konnte zu etwas Ähnlichem führen, was
bereits Erinnerung war, was eine historische Umwälzung mit sich gebracht hatte: Ich meine die
Französische Revolution. Auch damals brauchte man einen neuen Menschen, und in seinem Namen gab
es dann die Schreckensherrschaft. Das Besondere heute ist: Die Welt von heute braucht einen neuen
Menschen, der ganz im Dienste der Industrie steht. Der Mensch von heute muss mobil sein, drei Berufe
gleichzeitig ausüben, immer schnell zur Sache gehen... Nicht die Revolutionäre brauchen einen neuen
Menschen, nein, die Kapitalisten.“
Metropolis, ARTE, 17. Juli 2004
Über Bernard Sobel
„Sobel ist mit seinem Théâtre de Gennevilliers seit Jahrzehnten eine Konstante der französischen
Theaterszene.“
Jürgen Berger, die tageszeitung, 20. Juli 2001
„Die deutschen Kritiker staunten nicht schlecht, als sie 1988 zu einer Uraufführung eines Stückes des
Goethe-Zeitgenossen Jakob Michael Reinhold Lenz in einen Pariser Arbeitervorort reisen mussten. [...]
Diese kulturhistorisch bemerkenswerte Tat war nur eine der vielen, die Bernard Sobel in den letzten
Jahrzehnten in einem Pariser Vorort gelangen. [...] Es ist das Werk eines Mannes, der sein Theater nie
verlassen hat. [...] Die Geschichte einer politischen und künstlerischen Verwurzelung eines
Theatermannes mit einem eher kulturfremden Arbeitervorort. [...] Sobel wurde so in den letzten
Jahrzehnten zu einer dramaturgischen Instanz, zum festen Pol einer zunehmend nomadisierenden
Kulturarbeit. [...] Mit seinem Ausscheiden aus dem Theater in Gennevilliers stirbt ein Stück
kommunistischer Kultur-Geschichte in Europa.“
Eberhard Spreng, Deutschlandradio Kultur, 6. Juni 2007
„Bernard Sobel [...] liebt nichts so sehr wie Dramen, die moralisch-existenzielle Fragen aufwerfen. [...]
Sobel gilt hierzulande als eine moralische Instanz, als ein Schöpfer, der seinen Prinzipien treu geblieben
und bei aller Offenheit für alles Neue nie der Mode nachgelaufen ist.“
Marc Zitzmann, Neue Zürcher Zeitung, 10. Januar 2006
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„Bernard Sobel triumphiert beim Theaterfestival in Avignon mit ‚Ubu roi’: Der kluge Bernard Sobel [...] hält
seine Schauspieler just dazu an: denkend zu spielen [...]. Sobel schneidet Menschen aus und Menschen zu.
Und plötzlich wird deutlich, dass das, was vor hundert Jahren nicht zu tolerierende Fiktion war, nach
Erstem und Zweitem Weltkrieg, nach Holocaust, Hiroshima und dem Fall des Kommunismus [...]
international tolerierte Realität geworden ist. [...] Wer bemerkte nicht, dass Sobel – geschickt mit den
Geräuschen der Freizeitgesellschaft spielend [...] – erinnert an Brot, Spiel und an den Krieg als Ersatz für das
Spiel, das dem Gemetzel als Training vorausgeht? Bernard Sobels ‚Ubu roi’ ist ein erschreckender und ein
faszinierender Abend. Völlig undidaktisch, äußerst spielerisch erklärt der Regisseur die Welt, in der es
zugeht wie bei Shakespeare und im Grand Guignol. Mit einem glänzenden Ensemble [...] demonstriert es
den Menschen ohne Maske.“
Bernd Sucher, Süddeutsche Zeitung, 13. Juli 2001
Solche politisch-literarischen Arbeitsteilungen im deutsch-französischen Verhältnis faszinieren Bernard
Sobel, der im Revolutionsland Frankreich des ausgehenden 20. Jahrhunderts darüber wacht, dass die
dramaturgischen Revolutionen im Blickfeld bleiben, deren Heimat Deutschland ist und die nicht eine
Kette von Jahreszahlen bilden, sondern eine Ahnenreihe: Lenz – Büchner – Grabbe – Brecht – Müller.
Eberhard Spreng, Der Tagesspiegel, 23. Mai 1996
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Laudatorin: Nele Hertling
Nele Hertling, geboren 1934 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Germanistik, Philosophie,
Theater- und Musikwissenschaft. Ab 1962 war sie für die Akademie der Künste tätig. Mit der künstlerischen
Leitung der Werkstatt Berlin übernahm Hertling 1988 die Verantwortung für das Programm zur Kulturstadt
Europa und gründete im selben Jahr die TanzWerkstatt Berlin. Die Berliner Theaterinstitution Hebbel am
Ufer, die Hertling von 1989 bis 2003 leitete, machte sie mit Geschick und Kunstverstand zu einem Zentrum
der internationalen Tanz- und Theaterszene. Hertling engagiert sich in zahlreichen Gremien, darunter das
Informal European Theatre Meeting (I.E.T.M.) und der Beirat Darstellende Kunst des Goethe-Instituts, und
war Mitglied des Stiftungsrats der Kulturstiftung des Bundes. Seit 2001 ist sie Präsidentin des DeutschFranzösischen Kulturrats, 2003 übernahm sie die Leitung des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Vor
zwei Jahren wurde Nele Hertling zur Vizepräsidentin der Akademie der Künste gewählt.
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