Berufliche Entwicklung - Fachschaft Psychologie Freiburg

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Skriptum zur Vordiplomsprüfung
Entwicklungspsychologie
Institut für Psychologie der Universität Freiburg
Stand Wintersemester 2003/04
Vorläufige Version
Zum Geleit
Liebe Benutzerin, lieber Benutzer!
Im Wintersemester 2003/04 haben sich einige Menschen zusammengetan und jeweils ein
Kapitel Vordiplomsliteratur Entwicklungspsychologie zusammengefasst. Die Idee dieses
Skripts ist, dass es von Semester zu Semester aktualisiert, weiterentwickelt, überarbeitet und
verbessert wird. Die Erfahrung mit dem Bio-Fachschaftsskript hat gezeigt, das man nach
einer Prüfung (bzw. wenn man mit dem Lernen fertig ist) wesentlich besser weiß, was in eine
Zusammenfassung gehört und was nicht. Dieses Wissen sollte nach jedem
Prüfungssemester in eine Neufassung des Skripts fließen. Das Prinzip ist also ein
solidarisches. Das ist selten geworden und darum umso wichtiger. Der Rahmen ist fertig –
das Skript sollte nie fertig werden.
Die Zusammenfassenden waren Lena Grau, Lea Gutz, Nicola Steltzer, Laura Pielmaier,
Peter Bär, Jasmin Karius, Sebastian Nitzschke und Benjamin Fauth. Viele fertige
Zusammenfassungen haben wir im Internet gefunden. Gutes gab es zum Beispiel von der
Fachschaft Psychologie der Uni Bamberg. Außerdem haben wir viel von einer Freiburger
Lerngruppe aus dem WS 99/00 (Peter Behrend u.a.) übernommen. Dank ihnen allen im
Namen aller Studierenden.
Update Kapitel 8 (zu finden ganz am Ende des Skripts) im WS 05/06, danke an Robert Ripfl!
Viel Erfolg beim Lernen. Lasst Euch nie unterkriegen!
Sebastian Nitzschke und Benjamin Fauth
Kontakt: [email protected] und [email protected].
2
Inhaltsverzeichnis
Fragen, Konzepte, Perspektiven ..............................................................................8
Entwicklung durch Anlage- oder Umwelteinflüsse? ..................................................... 8
Erbanlagen und Entwicklungsumwelt ................................................................................ 8
Nachweis der Bedeutung von Erbanlagen.......................................................................... 9
Weitere Modellvorstellungen für die Erklärung von Entwicklung ...............................14
Reifung ............................................................................................................................. 14
Reifestand ......................................................................................................................... 15
Sensible Perioden ............................................................................................................. 15
Entwicklung als sukzessive Konstruktion ........................................................................ 16
Entwicklung durch Erziehung und Sozialisation ............................................................. 16
Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse ................................................... 18
Piaget - die Theorie der kognitiven Stadien ..........................................................22
Allgemeiner Überblick über die Theorie ......................................................................... 22
Die Stadien ....................................................................................................................... 23
Gedächtnis ........................................................................................................................ 27
Mechanismen der Entwicklung: ....................................................................................... 27
Organisation und Adaptation (funktionale Invarianten) .................................................. 27
Piagets Standpunkt zu grundlegenden Fragen ................................................................. 29
Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 30
Kritik ................................................................................................................................ 30
Wygotskis Theorie und die Kontexttheoretiker ....................................................33
Einleitung ......................................................................................................................... 33
Biographischer Abriss ...................................................................................................... 33
Allgemeiner Überblick über die Theorie ......................................................................... 34
Der Einfluß psychologischer Werkzeuge einer Kultur auf das Denken .......................... 37
Beispiele für Wygotskische und Kontextualistische Forschung ...................................... 38
Mechanismen der Entwicklung ........................................................................................ 39
Standpunkte der Theorie zu grundlegenden Fragen in der Entwicklung ......................... 40
Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 41
Kritik der Theorie ............................................................................................................. 41
Die Theorie der Informationsverarbeitung ............................................................44
Historische Entwicklung der Theorie ............................................................................... 44
Allgemeiner Überblick über die Theorie: ........................................................................ 44
Die wichtigsten entwicklungspsychologischen Forschungsrichtungen ........................... 46
Mechanismen der Entwicklung ........................................................................................ 49
Der Standpunkt des Informationsverarbeitungsansatzes zu grundlegenden Fragen der
Entwicklung ..................................................................................................................... 50
Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 51
Kritik der Theorie ............................................................................................................. 51
Psychoanalytische Ansätze....................................................................................53
Sigmund Freud ...............................................................................................................53
Biographischer Abriss ...................................................................................................... 53
Allgemeiner Überblick über die Theorie ......................................................................... 53
3
Die einzelnen Phasen ....................................................................................................... 57
Mechanismen der Entwicklung ........................................................................................ 58
Freuds Standpunkt zu grundlegenden Fragen der Entwicklung ....................................... 58
Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 59
Kritik der Theorie ............................................................................................................. 59
Erikson ............................................................................................................................60
Biographischer Abriss ...................................................................................................... 60
Allgemeiner Überblick über die Theorie ......................................................................... 60
Die einzelnen Phasen ....................................................................................................... 62
Mechanismen der Entwicklung ........................................................................................ 63
Eriksons Standpunkt zu grundlegenden Fragen der Entwicklung.................................... 63
Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 63
Kritik der Theorie ............................................................................................................. 64
Biologische Grundlagen der Entwicklung.............................................................65
Evolutionspsychologie der Entwicklung ......................................................................65
Allgemeine Prinzipien der Evolutionspsychologie .......................................................... 65
Verhaltensatavismen ........................................................................................................ 66
Entwicklung der sexuellen Orientierung .......................................................................... 66
Bedingungen und Konsequenzen väterlicher Fürsorge .................................................... 67
Entwicklungsgenetik ......................................................................................................68
Allgemeine Prinzipien der Entwicklungsgenetik ............................................................. 68
Genetischer Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede ..................................................... 68
Schätzungen des genetischen Einflusses .......................................................................... 69
Kovariation und Interaktion von genetischen und Umweltunterschieden ....................... 69
Sprachentwicklung..................................................................................................71
Sprache und Spracherwerbsaufgabe ............................................................................71
Komponenten der Sprache: Was muss das Kind erwerben? ............................................ 71
Spracherwerbsaufgabe: Fragen und ungelöste Probleme ................................................. 73
Die wichtigsten Meilensteine der Sprachentwicklung .................................................73
Phonologisch-prosodische Entwicklung .......................................................................... 73
Drei Hauptschritte in der lexikalischen Entwicklung ...................................................... 75
Von den Wörtern zur Satzproduktion .............................................................................. 77
Der Weg zur pragmatischen Kompetenz.......................................................................... 79
Das Erklärungsproblem .................................................................................................80
Voraussetzungen und Bedingungen für einen erfolgreichen Spracherwerb .............82
Spracherwerb als biologisch fundierter, eigenständiger Phänomenbereich ..................... 82
Kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs: Wirkungen und Rückwirkungen ......... 83
Sozial-kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs .................................................... 84
Sozial-kommunikative Voraussetzungen des Spracherwerbs: Sprachangebot und
sprachliche Interaktionen ................................................................................................. 85
Entwicklung begrifflichen Wissens .......................................................................88
Begriffliche Repräsentationen .......................................................................................88
Merkmalsbasierte Ansätze ............................................................................................... 88
Theoriebasierte Ansätze ................................................................................................... 88
Repräsentationale Entwicklung .....................................................................................88
Kategorisierung im Säuglingsalter ................................................................................... 88
Entwicklung begrifflicher Repräsentationen .................................................................... 89
4
Wissensentwicklung in den grundlegenden Domänen ...............................................89
Theoretische Ansätze ....................................................................................................... 89
Intuitive Physik: Basales Wissen ..................................................................................... 89
Entwicklung physikalischen Wissens: Begrifflicher Wandel .......................................... 90
Intuitive Alltagspsychologie (theory of mind) ................................................................. 90
Intuitive Biologie .............................................................................................................. 92
Metabegriffliches Wissen ...............................................................................................92
Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation .......................................94
Moralphilosophische Konzepte .....................................................................................94
Psychologische Moralforschung...................................................................................94
Die Internalisierung moralischer Normen .....................................................................95
Normvermittlung und Konditionierung ........................................................................... 95
Normvermittlung durch Identifikation und Beobachtung ................................................ 95
Normvermittlung durch familiäre Sozialisation ............................................................... 96
Normvermittlung durch Peergruppen ............................................................................... 96
Entwicklung des Denkens über Moral...........................................................................97
Piagets Theorie: von der Heteronomie zur Autonomie .................................................... 97
Neuere Forschung zu Piagets Themen ............................................................................. 97
Von der egozentrischen zur universalistischen Begründung normativer Urteile ............. 98
Moralisches Denken und moralisches Handeln .........................................................100
Moralisches Wissen vs. moralische Motivation ............................................................. 100
Performanzfaktoren und moralisches Handeln .............................................................. 100
Konsistenz als Indikator für die integrierende Funktion des Selbst ............................... 100
Die Funktion des moralischen Selbst ............................................................................. 102
Vorgeburt und frühe Kindheit...............................................................................103
Perspektiven auf die frühe Entwicklungszeit .............................................................103
Soziokulturelle und familiäre Rahmenbedingungen ..................................................103
Vorgeburtliche Entwicklung ........................................................................................103
Entwicklung des ZNS..................................................................................................... 103
Motorische Entwicklung des Fötus ................................................................................ 104
Geschlechtsdifferenzierung des Fötus ............................................................................ 104
Vorgeburtliche Risiken .................................................................................................. 104
Frühgeburt ...................................................................................................................... 104
Modellvorstellungen über vorgeburtliche Entwicklungsfaktoren .................................. 105
Prognosen aufgrund der vorgeburtlichen Entwicklung .................................................. 105
Die Neugeborenenzeit ..................................................................................................105
Veränderungen in der Geburtspraxis.............................................................................. 106
Zwei psychologische Fragen zur Geburt ........................................................................ 106
Psychologische Kompetenzen und Bedürfnisse des Neugeborenen .............................. 106
Modellvorstellungen über den Entwicklungswandel in den ersten Lebensmonaten und
besondere Vulnerabilität ................................................................................................ 109
Der kompetente Säugling (ca. 4-12 Monate) ...............................................................109
Körperliche und motorische Veränderungen ................................................................. 110
Neurologische und kognitive Veränderungen ................................................................ 110
Lernen, Informationsverarbeitung und Gedächtnis im ersten Lebensjahr ..................... 111
Objektpermanenz ........................................................................................................... 112
Das Weltbild des Säuglings ............................................................................................ 113
5
Sozialverhalten und Emotionen ..................................................................................... 114
Elternverhalten ............................................................................................................... 116
Das Kleinkind im zweiten Lebensjahr .........................................................................116
Laufenlernen als Problemlösen und Entwicklungsaufgabe............................................ 117
Bindung und Bindungsqualität ....................................................................................... 117
Trotzverhalten ................................................................................................................ 119
Die Entdeckung des Ich im Spiegel und Anfänge der sozialen Kognition .................... 119
Sozialisationsbereitschaft ............................................................................................... 120
Wie wichtig ist die frühe Kindheit für die weitere Persönlichkeitsentwicklung? .......... 120
Jugendalter ............................................................................................................121
Konzepte, Theorien, Thematiken .................................................................................121
Jugend - zur Konstruktion einer Lebensphase ............................................................... 121
Adoleszenz im Wandel entwicklungspsychologischer Forschung ................................ 122
Theorien der Adoleszenz ................................................................................................ 122
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter ........................................................................... 126
Kognitive Entwicklung .................................................................................................127
Körperliche und Psychosexuelle Entwicklung ...........................................................129
Körperwachstum und Motorik ....................................................................................... 129
Geschlechtsreifung (biosexuelle Entwicklung) .............................................................. 129
Das Körperselbstbild bei Jugendlichen .......................................................................... 130
Sexuelle Orientierung und Sexualverhalten ................................................................... 131
Identität: das zentrale Thema des Jugendalters ........................................................134
Zum Begriff der Identität ............................................................................................... 134
Identitätsentwicklung: Voller Tumulte oder ruhiges kontinuierliches Wachstum? ....... 135
Die Struktur der Identität und ihre Veränderung im Jugendalter ................................... 135
Identität zwischen Widerspruch und Stimmigkeit ......................................................... 138
Suizid im Jugendalter ..................................................................................................... 140
Der Jugendliche im Spannungsfeld verschiedener Umwelten..................................141
Die Familie als Umwelt .................................................................................................. 142
Die Gleichaltrigen .......................................................................................................... 144
Frühes Erwachsenenalter .....................................................................................148
Erwachsenenalter und Alter .................................................................................149
Entwicklung im Erwachsenenalter ..............................................................................149
Die generelle Architektur des Lebensverlaufs ............................................................... 149
Veränderung der relativen Ressourcenallokation .......................................................... 150
Selektive Optimierung mit Kompensation ..................................................................... 150
Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter .................151
Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung .......................................... 151
Relative Stabilität intellektueller Leistungen über die Lebensspanne ........................... 153
Heritabilität..................................................................................................................... 154
Fähigkeitsstruktur ........................................................................................................... 155
Historische und ontogenetische Plastizität ..................................................................... 155
Determinanten der mechanischen Entwicklung im Erwachsenenalter .......................... 158
Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht ..................................... 159
Die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter ....................161
Forschungsstrategien im Bereich von Selbst und Persönlichkeit ................................... 161
Persönlichkeit im Erwachsenalter .................................................................................. 162
6
Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Prozesse....................................................... 163
Familienentwicklung .............................................................................................166
Die familienpsychologische Perspektive von Familienentwicklung .........................166
Theoretische Aspekte einer Psychologie der Familienentwicklung .........................166
Familiensystemtheorie ................................................................................................... 166
Familienentwicklungstheorie ......................................................................................... 167
Familienstresstheorie ...................................................................................................... 167
Integratives Systemmodell der Familienentwicklung .................................................... 167
Entwicklung von Familienbeziehungen ......................................................................168
Entwicklung von Paarbeziehungen ............................................................................... 168
Entwicklung von Eltern-Kind-Beziehungen .................................................................. 169
Beziehungen zwischen Beziehungen..........................................................................171
Intergenerationale Transmission von Eltern-Kind-Beziehungen ................................... 171
Beziehungen zwischen dem Paar- und dem Eltern-Kind-Subsystem ............................ 171
Entwicklung durch Intervention in Paar- und Familiensystemen .............................171
Entwicklungsförderliche Stärkung von Paarbeziehungen .............................................. 172
Entwicklungsförderliche Stärkung von Elternkompetenzen .......................................... 172
Familiäre Entwicklungsintervention als Public Health Aufgabe ................................... 172
7
Grundlegung
Fragen, Konzepte, Perspektiven
(Leo Montada)
Entwicklung durch Anlage- oder Umwelteinflüsse?
Erbanlagen und Entwicklungsumwelt
Es gibt keine E ohne Erbanlagen, deren Gesamtheit als Genom / Genotyp bezeichnet wird;
Erbanlagen brauchen für ihre E eine geeignete Umwelt in allen Lebensphasen. Heute noch
Kontroverse, ob den individuellen Erbanlagen oder den individuell erfahrenen
Umwelteinflüssen mehr Gewicht bei der E des Phänotypus des Menschen mit seinen
Fähigkeiten, Motivationen, Merkmalen und Störungen.
Phänotyp (= Erscheinungsbild / Summe aller Merkmale eines Lebewesens, welches durch
Anlage und Umwelt geprägt wird)
Genotyp (= Gesamtheit des Erbgutes; legt grob den Phänotyp fest)
Würde nur Vererbung E determinieren, könnte man nur versuchen Erbschädigungen zu
Bekämpfen und bei der Umwelt müssten u.a. Familien- oder Bildungspolitik beeinflusst
werden. Empirische Forschung sollte Antworten auf die folgenden Fragen geben.
Fragen
Welche interindividuellen Unterschiede im Genom und in der Umwelt sind bei Herausbildung
phänotypischer Unterschiede bedeutsam (und nicht Gewicht der zusammenwirkenden
Faktoren Anlage und Umwelt)?
Erfassung der Unterschiede: Forschung bei Genetik / Verhaltensgenetik oder Verhaltens-,
Sozial-, Öko-, Kulturwissenschaften.
Frage nach Anlage- und Umwelteinflüssen oder dem Zusammenwirken von beiden ist nicht
global, sondern spezifisch für einzelne Merkmale zu beantworten. Man kann nicht von einem
psychologischen Merkmal auf andere generalisieren. Störungen können sich z.B. bei
genetischen Dispositionen in dem Umfeld universell auswirken, durch „günstige“ Umwelt
ausgeglichen oder Ausprägung kann in vielen genotypischen Varianten durch
Entwicklungsumwelt bestimmt werden.
Objektive und subjektive Umwelt
Objektiv identische oder ähnliche Umwelten wirken unterschiedlich oder haben
unterschiedliche Bedeutung je nach Genom und bereits entwickeltem Phänotyp. Interaktion
zwischen Individuum und Umwelt, in der jede Situation unterschiedlich wahrgenommen und
bewertet wird und unterschiedlich auf Umwelt eingewirkt wird. Deshalb ist Qualität zwischen
objektiven
Beschreibungen
von
Entwicklungskontexten
und
den
individuell
wahrgenommenen Umwelten zu klären. Umgekehrt können objektiv unterschiedliche
Entwicklungskontexte gleich sein für die Herausbildung von z.B. Merkmalen.
8
Das Konzept der spezies-normalen Umwelt
Kulturspezifika werden während der Sozialisation gelernt. Verhaltensgenetik: unterscheidet
E, die normal ist für eine Spezies und E, die normal ist für eine Kultur. Alle genetisch
normalen Kinder lernen Sprache, Grundwissen, Werte/Normen, Fertigkeiten einer Kultur,
wenn sie in einer für die Spezies Mensch normalen kulturellen Umwelt aufwachsen.
Das, was Kinder lernen, ist phänotypisch unterschiedlich, aber funktional im jeweiligen
materiellen, sozialen und kulturellen Kontext äquivalent (=vollwertiger Ersatz).
Was also ein spezies-normales Genom und eine spezies-normale Umwelt ist, umfasst große
Spannbreiten, von denen die Varianz individueller Ausprägungen des Phänotyps abhängt.
Letzteres unterscheidet zwischen Erfolg oder Misserfolg in einer Kultur. Unterschiede sind in
dem, was die Verhaltensgenetiker spezies-normal nennen, zentraler Forschungsgegenstand
der Psychologie.
Nachweis der Bedeutung von Erbanlagen
Die erbliche Basis art- und rassetypischer Merkmale, der Geschlechtszugehörigkeit und
einiger pathologischer Phänomene ist unbestritten. Die Träger der Erbanlagen heißen Allele,
die beim Menschen in 23 Chromosomenpaare, an denen sich je ein Allel von Vater und
Mutter befinden, heißen Gene. Mehrere Möglichkeiten des Nachweises von
Vererbungseinflüssen sind zu unterscheiden.
Chromosomale Besonderheiten
Geschlechtszugehörigkeit wird durch 23. Chromosomenpaar determiniert (Mann hat XY ->
unterschiedliche Paarlinge und Frau XX -> homologe Paarlinge).
Es kann ein enger Zusammenhang zwischen phänotypischem Merkmal und chromosomaler
Auffälligkeit gegeben sein: häufigste Chromosomenanomalie ist Trisomie 21 (das 21.
Chromosom hat 3 statt 2 homologe Paarlinge), die zum Down-Syndrom führt und mit
körperliche Auffälligkeiten, mongoloidem Gesichtsschnitt, geistiger Behinderung,
verminderter Lebenserwartung und Fortpflanzungsunfähigkeit einhergeht.
Passung in ein Erbgangsmodell
Erbeinflüsse sind auch nachzuweisen, wenn ein Merkmal / Krankheit in
aufeinanderfolgenden Generationen bezüglich Aussehen und Auftreten einem bekannten
Ergangsmodell entspricht. Mendel’sche Gesetze beruhen auf einfachen Erbgangsmodellen,
in denen jeweils ein Gen die Ausprägung bestimmt. Bei diskreten (klar abgrenzbaren)
Merkmalen kann der Erbgang in der Generationsfolge leicht verfolgt werden, wenn die
phänotypische Ausprägung durch ein einzelnes Gen determiniert ist.
Krankheit Phenylketonurie: Eiweißstoffwechselstörung aufgrund eines Enzymdefektes,
dessen Synthese durch ein Gen kontrolliert wird. Das Enzym wandelt normalerweise Eiweiß
Phenylalanin um. Hier ist es –wenn keine spezielle Diät eingehalten wird- im Körper
hochkonzentriert, was zu geistigen Schäden, durch ZNS-Schädigung, führt.
Die meisten Merkmale, wie Haarfarbe und Größe, werden durch mehrere Gene determiniert.
Es kann, bei multigener Vererbung, wie auch bei dem Beispiel mit einem Gen, das
anlagemäßige familiäre Risiko aus der Auftretenshäufigkeit in der Verwandtschaft geschätzt
werden.
Bei in kontinuierlichen Abstufungen vorkommenden Merkmalen wie Aggressivität oder
Intelligenz wird ein zusammenwirken vieler unabhängig voneinander vererbter Gene /
Gengruppen angenommen (polygene Vererbung). Dabei kann sich das gleiche Gen unter
9
dem Einfluss anderer Gene (Modifikation) verschieden auswirken. Durch eine
Erbgangsanalyse kann man in diesen Fällen den Anlageeinfluss nicht nachweisen, sondern
durch Reinzüchtung oder populationsgenetische Analysemethoden.
Reinzüchtung und Wahl ähnlicher Partner
Reinzüchtung einer kontinuierlich abgestuften Variablen, wie Aggressivität, in
aufeinanderfolgenden Generationen wird es bei anlagebedingten Merkmalen geben, wenn
Individuen mit extrem phänotypischen Ausprägungen jeweils ähnliche Partner wählen.
Wird die phänotypische Varianz der Nachkommen durch selektive Partnerwahl geringer, ist
Erbeinfluss nachgewiesen, sofern Vermittlung der Merkmale durch „Sozialisation“
ausgeschlossen werden kann.
Beispiel: Kreuzung einer aggressiven mit einer friedlichen Hunderasse oder Partnerwahl in
Bezug auf Intelligenz -> häufig finden sich Partner ähnlicher Intelligenz und somit haben
auch die Nachkommen ähnlichen IQ, wenn dies über mehrere Generationen der Fall war
(bei erstmaliger Aktion ist die Wahrscheinlichkeit ähnlicher Intelligenz geringer).
Populationsgenetische Analysen
Mit populationsgenetischen Methoden versucht man, die in einer Population gegebenen
phänotypischen Unterschiede auf Anlage- und / oder Umweltunterschiede zurückzuführen.
In einer Population gibt es:
phänotypische Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Individuen
unterschiedliche
Anlageähnlichkeiten
Verwandtschaftsgrad zu erschließen ist
zwischen
unterschiedliche
Umweltähnlichkeit
zwischen
Umweltbeschreibungen zu erschließen ist
Personen,
Personen,
die
die
aus
aus
ihrem
geeigneten
Beispiele: musikalische Begabung bleibt ohne Angebot / Förderung unentdeckt, mittlerer IQ
kann durch schwache Begabung mit optimalem Milieu und umgekehrt zustande kommen.
Die Auflösung dieser Verwirrung von Anlage- und Umweltähnlichkeiten ist das methodische
Problem der Populationsgenetik.
In Familiensituation kann man nicht unabhängig schätzen, ob ein Merkmal durch
Erziehungsumwelt oder Vererbung entstanden ist. Deshalb sind Zwillings- und
Adoptivkinderforschung von Bedeutung.
Zwillingsuntersuchungen
Eineiige Zwillinge (EZ) sind anlagemäßig identisch; phänotypische Unterschiede müssen
also auf andere als auf Anlagefaktoren zurückgeführt werden; bei allen anderen
Verwandtschaftsgraden ist dies nicht der Fall.
Zweieiige Zwillinge (ZZ) sind anlagemäßig nicht ähnlicher als normale Geschwister, aber sie
teilen als gleichaltrige mehr an Kontext und Erfahrungen. Dennoch wurden bei gemeinsam
aufwachsenden ZZ geringere Ähnlichkeiten als bei altersungleichen Geschwistern und
getrennt aufwachsenden ZZ beobachtet, was mit Bemühung um Identität durch Abgrenzung
voneinander erklärt wird.
Also ist im Durchschnitt die phänotypische Ähnlichkeit umso größer, je enger der
Verwandtschaftsgrad ist (bei Eltern und Kindern größer als bei Großeltern und Enkeln).
10
Leben in derselben Familie bedeutet nicht zwingend, dass Umwelt identisch ist, da
Geschwister ungleich behandelt werden oder sie das Familienleben unterschiedlich
wahrnehmen.
EZ-Paare sind ähnlicher als ZZ-Paare
Umwelt ist für EZ ähnlicher als für ZZ, da EZ mehr Zeit miteinander verbringen, häufiger
dieselben Freunde und Interessen haben, schwieriger zu unterscheiden sind und daher
ähnlicher behandelt werden als ZZ.
Getrennt aufwachsende Zwillinge
Auch bei getrennt aufgewachsenen Zwillingen sind EZ ähnlicher als ZZ. Dies gilt für
Intelligenz und viele Persönlichkeitsmerkmale, wie Ängstlichkeit und Impulsivität.
Zum Beispiel Intelligenz: getrennt aufgewachsene EZ haben höhere IQ-Ähnlichkeit als
gemeinsam aufgewachsene ZZ und Geschwister; auch getrennte Geschwister haben
Ähnlichkeit, während Adoptivkinder und ihre nicht verwandten „Geschwister“, die in
dergleichen Umwelt aufgewachsen sind, keine IQ-Ähnlichkeit aufweisen -> ein größerer
Anteil an der Varianz phänotypischer Unterschiede aufgrund von Erbgut als
Umweltunterschieden während der E (siehe Tabelle 1.1, Seite 27).
Ein Maß für Erblichkeit
Populationsgenetische Analysen machen Aussagen über Erblichkeit eines phänotypischen
Merkmals. Erblichkeit (E²) ist definiert als Anteil an Gesamtvarianz eines phänotypischen
Merkmals in der Population, der auf Anlageunterschiede in dieser Population zurückzuführen
ist.
E² = (rEZ – rZZ) : (1 – rZZ) -> Korrelationen (Zusammenhänge) zwischen EZ und ZZ, die in
derselben Umwelt aufgewachsen sind. Werte aus Tabelle 1.1 eingesetzt -> E² = .77 für
Intelligenz. Erblichkeitswerte für Schulleistungen liegen deutlich darunter; bei
Persönlichkeitsmerkmalen liegt der Erblichkeitskoeffizient zwischen .40 und .50.
Untersuchungen in Adoptivfamilien
Überzufällige Ähnlichkeiten zwischen Adoptiveltern und adoptierten Kindern können –sofern
sie nicht verwandt sind– nur aus zwei Quellen stammen:
einer differentiellen Auswahl oder selektiven Platzierung bei Adoptionen, z.B., dass Kinder
mit höher eingeschätzter Intelligenz in gebildetere Adoptivfamilien vermittelt werden
der Sozialisation der adoptierten Kinder durch die Adoptiveltern (→ Prozess der stetigen
Anpassung des Adoptivkindes an Normen / typische Verhaltensweisen der Adoptivfamilie)
bzw. in den von diesen gestalteten Entwicklungskontexten.
Überzufällige Korrelation zwischen den biologischen Eltern und ihren frühzeitig adoptierten
Kindern ist –falls selektive Platzierung ausgeschlossen werden kann- nur auf
Anlageähnlichkeiten zurückzuführen.
Beispiel Intelligenz: Munzinger (1975) untersuchte 17 Adoptivkinderuntersuchungen
qualitativ. Ergebnisse: Mittlerer IQ der Adoptiveltern korreliert mit r = .19 deutlich geringer als
die entsprechenden Werte der biologischen Mütter und der Adoptivkinder mit r = .34. Dieser
Wert liegt auch deutlich unter der Korrelation des mittleren IQ biologischer Eltern mit dem IQ
ihrer bei Ihnen lebender Kinder mit r = .58 -> Beleg für Anlageeinfluss! Zusätzlicher Beleg
dafür: Vorhersage des IQs des Kindes verbessert anhand IQ-Mittelwertes (wegen
Unterschieden zwischen den Eltern) der biologischen Eltern als anhand der Adoptiveltern.
Kritik: Häufig fehlen Informationen über den biologischen Vater; Vergleichbarkeit der
biologischen- und Adoptiveltern fraglich, da biologische Mütter durchschnittlich 10 Jahre
11
jünger mit weniger gefestigtem Bildungsstand. Qualität der Informationen der biologische
Eltern geringer als die der Adoptiveltern.
Veränderung des Erblichkeitskoeffizienten mit dem Lebensalter
Erblichkeitskoeffizienten sind über Kinder und Jugend nicht invariant, sondern werden mit
zunehmenden Alter höher. Das spricht dafür, dass sich genetische Ähnlichkeiten und
Unterschiede nach der Vorschulperiode immer deutlicher manifestieren (vgl. „Unter der
Lupe“ Seite 30).
3 Arten der Passung zwischen Anlage und Umwelt
Plomins
Typologie
der
Anlage-Umwelt-Korrelation
(oder
–Passung)
bietet
Erklärungsmöglichkeit für die sich im Alter ändernden Korrelationen zwischen Eltern-KindPaaren oder Geschwisterpaaren, was sich weder mit einer Anlage- noch mit einer
Umwelttheorie erklären lässt. Plomin unterscheidet (1977) die 3 folgenden Arten der
Passung zwischen Anlage und Umwelt.
Passive Genom-Umwelt-Passung
Eltern teilen mit Kindern einen Teil des Genoms, welches zu bestimmten Gestaltungen des
Lebens (z.B. Interessen, Motive) der Eltern führt, was wiederum einen Teil der
Lebensumwelt der Kinder ausmacht (Angebote, Anforderungen z.B.). Diese
Umweltgestaltung kann dem Genom des Kindes entsprechen oder nicht. Wenn nun z.B. ein
Musikangebot dem Genom des Kindes entspricht, liegt eine passive Genom-UmweltPassung (G-U-P) vor, aber das Angebot des Elterhauses kann stark beeinflussend sein.
Evokative Genom-Umwelt-Passung
Evokative (oder reaktive) Passung liegt vor, wenn ein Kind Angebote oder Anforderungen
erhält, die ausgelöst sind durch sein Genom. So sucht z.B. das sportlich begabte Kind mehr
Gelegenheiten zu sportlicher Betätigung als das sportuninteressierte Kind. Das gilt im
Durchschnitt und in Einzelfällen kann die Umwelt unresponsiv gegenüber dem Genom
bleiben oder dieses durchkreuzen.
Aktive Genom-Umwelt-Passung
Aktive Passung liegt vor, wenn das Kind seinem Genom entsprechend seine Umwelt aktiv
aufsucht und mitgestaltet. Z.B. aktive Wahl von Freunden und Interessensgebieten.
Im günstigsten Fall entsprechen die Entwicklungsziele der Eltern den Präferenzen der
Kinder. Passive, evokative und aktive Genom-Umwelt-Passung fallen hier zusammen.
Fehlende Passung liegt vor, wenn die Eltern die Entwicklungspotentiale der Kinder
verkennen, weniger ausgeprägte Potentiale fördern und keine ausreichenden
Entwicklungsgelegenheiten bieten. Somit wird ein deprivierendes familiäres Umfeld gestaltet.
Der vorherrschende Passungstypus ändert sich mit dem Lebensalter
Scarr und Weinberg (1983) denken, dass sich Bedeutung der 3 Arten der G-U-P übers
Lebensalter ändert: Passive G-U-P verliert mit steigendem Lebensalter an Bedeutung, da
Kinder Evokativ (bleibt gleich) und aktiv (steigt) mehr Einfluss nehmen.
Mit dieser Theorie lässt sich die Veränderung des Erblichkeitskoeffizienten mit dem Alter
interpretieren. Passive Kovariation ist in biologischen Familien wegen Genetik
wahrscheinlicher als in Adoptivfamilien; man kann also in jedem Lebensalter höhere
Umwelt-Intelligenz-Korrelationen in biologischen Familien erwarten. Nicht Genom passende
Anforderungen werden bei passiver G-U-P trotzdem Wirkung zeigen. Dadurch können
milieubedingt vorübergehend höhere Ähnlichkeiten zwischen Adoptiveltern und –kindern
erzeugt werden, als auf der Basis der Genom-Ähnlichkeit zu erwarten wäre. Je mehr die
12
evokativen und aktiven Arten an Bedeutung gewinnen,
Anlageähnlichkeit in der phänotypischen Ähnlichkeit durch.
Aktive Passung erfordert Wahlmöglichkeiten
desto mehr
setzt
sich
Je eingeschränkter Angebot / Wahlmöglichkeiten sind, umso geringer aktive, dem Genom
entsprechende Gestaltung der Umwelt. Im Durchschnitt werden EZ, auch wenn sie getrennt
aufwachsen, einander sehr ähnlich, da sie aus einem breiten Angebot das „Geno-typische“
aktiv auswählen. Das gilt nicht, wenn extrem unterschiedliche Milieus und extreme
Einschränkung der „Wahlmöglichkeiten“.
Fazit:
Die vorgestellten Daten deuten darauf hin, dass vor allem in den ersten Lebensjahren
genetische Unterschiede durch Milieuunterschiede überlagert werden können. Mit
wachsender Selbstbestimmung setzen sich die Anlageunterschiede stärker durch. Das
Genom ist somit als ein Entwicklungsagens (agens = Ursache / Triebkraft) anzusehen, das
ständig und selbsttätig wirksam ist.
Die Interpretation populationsgenetischer Analysen
Ist das Merkmal Intelligenz stärker durch Anlage als durch Umwelt determiniert? Kann man
nicht so sagen, da populationsgenetische Analysen begrenzt generalisierbar sind. Sie
beschreiben nur die Verhältnisse in einer untersuchten Population und können nichts dazu
sagen wie die Verhältnisse auch sein könnten, da in jeder Population nur bestimmte Anlageund Umweltunterschiede mit bestimmten Häufigkeiten realisiert sind.
In der Summe zeigen die bisherigen populationsgenetischen Untersuchungen, dass bei der
gegebenen Varianz der Anlagen und der Entwicklungsumwelten ein größerer Teil der
Varianz der phänotypischen interindividuellen Unterschiede in der Population auf genetische
Unterschiede zurückzuführen ist als auf identifizierte Umweltunterschiede. Demnach wurde
die Erblichkeit der Intelligenz in den untersuchten Populationen auf mindestens .50 der
phänotypischen Varianz geschätzt.
Vorsicht! Varianzanteile sind keine Merkmalsanteile!
Aus dem Varianzanteil der Intelligenz in einer untersuchten Population, der auf
Anlageunterschiede zurückzuführen ist, darf keinesfalls auf den „Anteil“ von Erbeinflüssen
bei der Ausbildung des Merkmals bei einzelnen Personen geschlossen werden (eine
einzelne Messung hat keine Varianz). Erblichkeit beschreibt den relativen Einfluss der
Anlagen in der Populationsvarianz des fraglichen Merkmals.
Vorsicht! Ein hoher Erblichkeitskoeffizient bedeutet nicht Determination durch
Anlagen!
Was beim Individuum / Population durch Förderung erreicht oder durch
Anregungsdeprivation
verhindert
werden
kann,
ist
nicht
allein
aus
dem
Erblichkeitskoeffizienten abzuleiten. Er sagt über die Möglichkeiten der Umwelteinwirkungen
nichts aus, solange er nicht in Bezug gesetzt wird zum Ausmaß und zur Häufigkeit
gegebener Umweltdifferenzen und realisierter Umweltveränderungen in der untersuchten
Population.
Die Adoption von Kindern aus sozial schwachem Milieu in Mittelschichtfamilien stellt eine
dauerhaft angelegte Förderung dar und führt im Durchschnitt zum dauerhaften Anstieg des
IQ der adoptierten Kinder, auch wenn interindividuelle Unterschiede zwischen den
adoptierten Kindern dadurch nicht aufgehoben werden und enger mit den Unterschieden
zwischen den biologischen Eltern als zwischen den Adoptiveltern kovariieren.
13
Insgesamt zeigen populationsgenetische Studien, dass Anlageunterschiede bedeutsam für
die differentielle E von Merkmalen sind; man kann also nicht alle Menschen mit gleichem
Aufwand zu gleichen Entwicklungsergebnissen führen. Gefährlich sind unkritischer
Milieuoptimismus als auch unberechtigter Milieupessimismus.
Man muss Anlageunterschiede als Entwicklungsgegebenheiten ernst nehmen, ohne
sie vorschnell als deterministisch (bedingend) anzusehen.
Genom ist bei vielen Merkmalen über das ganze Leben eine wirksame Triebkraft offenbar.
Erblichkeit erklärt bei einem Merkmal nicht die gesamte Varianz und die nicht durch
Erblichkeit aufgeklärte Varianz hat also nichtgenetische Quellen, die noch weniger gut
identifiziert sind. Man denkt an Umwelteinflüsse, die aber identifiziert und für einzelne
Fähigkeiten / Merkmale / Störungen gesondert nachgewiesen werden müssen.
Richtige Fragen stellen
Anne Anastasi (1958): es gibt viele Wege des Zusammenwirkens von Anlage und Umwelt,
die man erkunden sollte (und nicht nach Einflussanteilen fragen). Umwelt kann fördernd,
behindernd oder kompensierend auf genotypische Potentiale und Dispositionen wirken.
Einige Auswirkungen von Anlagen werden erst durch Bewertung der Umwelt produziert:
Schönheitsideal ist kulturell geprägt, wie auch z.B. Idealvorstellungen von Eigenschaften.
Diese kulturellen Bewertungen steuern Angebote und Anforderungen, die mehr oder weniger
zu den individuellen genetischen Potentialen oder Dispositionen passen und beeinflussen
Selbstwert, Sozialstatus und Lebenschancen der Individuen (z.B. wurden körperlichen
Merkmalen Charakterzüge zugeordnet -> Stigmatisierung -> Auswirkungen auf zukünftige
E).
Koaktionen zwischen Anlage und Umwelt sind sicher vielfältig und Aufgabe
entwicklungspsychologischer Forschung ist die Art des Zusammenwirkens zu erkunden.
Weitere Modellvorstellungen für die Erklärung von Entwicklung
EP soll klären, warum es zu Veränderungen, zu Stabilitäten kommt und warum es
diesbezüglich inter- und intraindividuelle Unterschiede gibt. Bedingungen können intern (in
der Person liegend) und/oder extern (in der sozialen Umwelt liegend) sein und können
additiv wirken oder interagieren. Modellvorstellungen folgen nun:
Reifung
Reifung wird in Biologie als gengesteuerte Entfaltung biologischer Strukturen bezeichnet,
die spezifische innere und äußere Entwicklungskontexte voraussetzt. In EP wird Reifung auf
beobachtbare Veränderungen zurückgeführt, wenn diese universell in einer Altersperiode
und ohne Lernen auftreten (z.B. können alle gesunden Kinder um 12./13. Monat laufen); ist
also Prozess, wenn Erwerbungen nicht auf Erfahrung, Übung, Erziehung, Sozialisation oder
gedankliche Erkenntnisgewinnung zurückgeführt werden können. Sind diese Faktoren
auszuschließen spricht man von Reifung.
Fehlende Erfahrungsmöglichkeiten
Erkenntnisse über Ausschaltung von Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten müssen aus
Tierexperimenten oder extrem deprivierten und isolierten Lebensbiographien gewonnen
werden.
Wolfskinder sind hierfür ein Beispiel. Sie wachsen ohne menschliche Kontakte auf. Genie
war 13 Jahre isoliert, wurde dann „entdeckt“, aus Ihrer Familie herausgeholt und von
14
Wissenschaftlern „erforscht“. Sie konnte nicht sprechen, erlernte zwar rasch einen
Wortschatz, aber ohne differenzierte Syntaktik und Morphologie.
Es gibt häufig spezifische Erfahrungsdeprivationen: Welche Auswirkungen haben Blindheit
oder motorische Beeinträchtigungen auf die geistige E? Kann man sie kompensieren?
Auswirkungen sind jeweils hinsichtlich des Ausmaßes und der Reversibilität, der aktuellen
und langfristigen Effekte zu beurteilen.
Z.B. Taubgeboren entwickeln Zeichensprache mit strukturellen Entsprechungen zur
Sprachentwicklung gesunder Kinder, was für eine Reifungshypothese spricht.
Reifestand
Das Konzept Reifestand („readiness for learning“) beinhaltet, dass ein bestimmter
Entwicklungsstand gegeben sein muss, damit Erfahrungen auf fruchtbaren Boden fallen oder
damit effizient geübt werden kann.
Vorraussetzungen für den Erwerb (z.B. Fahrradfahren, lesen) scheinen erst mit einem
bestimmten Entwicklungs- oder Reifestand gegeben. Kulturabhängig auch: Kinder lernen
hier mit 6 lesen, obwohl sie schon mit 3 bis 4 Jahren dazu in der Lage sind. Überforderung
bei noch nicht erreichtem Reifestand führt zum Nichterwerb.
Sensible Perioden
Sensible Periode in Embryologie = Entwicklungsabschnitte, in denen bestimmte Organe und
Funktionen ausgebildet werden: Zellsysteme erlangen hier ihre Struktur und pathogene
Einflüsse (wie Unterernährung der Mutter oder Gifte) schädigen besonders die in der
Entstehung befindlichen Organe.
Prägung
Konrad Lorenz (1935) definiert Prägung als einen verhaltensmäßig gleichartigen Fall, da
Graugänse in einer bestimmten Entwicklungsphase auf ein sich bewegendes Objekt (Mutter,
Holzente, Mensch) geprägt werden und diesem nachfolgen.
In
der
Entwicklungspsychologie
werden
sensible
Perioden
als
Entwicklungsabschnitte definiert, in denen – im Vergleich zu vorangehenden und
nachfolgenden Perioden – spezifische Erfahrungen maximale positive oder negative
Wirkungen haben.
Es handelt sich also um Perioden erhöhter Umwelteinflüsse unterm Einfluss spezifischer
Bedingungen (Art, Dauer, Intensität, Person, Kontext). Der empirische Existenznachweis
einer sensiblen Periode setzt voraus, dass
1. potentielle Einflussfaktoren gemessen werden können,
2. diese Faktoren an vergleichbaren Gruppen in vergleichbaren Ausprägungen
untersucht sind,
3. ihre Wirkungen objektiv erfasst werden,
4. diese Wirkungen langfristig beobachtet werden und
5. die Schwierigkeit oder Unwirksamkeit von Versuchen, die in der sensiblen Periode
entstandenen Anordnungen zu ändern, nachgewiesen wird.
Experimente aus ethischen Gründen kaum möglich; wie Hospitalisierung von Spitz (1945;
Kinder wurden nur gefüttert und hygienisch versorgt ohne Zuwendung zu erhalten und
15
starben früher) -> nur bei extremer Deprivation ist mit nachhaltigen Schädigungen, von z.B.
Sozial- oder Persönlichkeitsentwicklung, zu rechnen.
Beginn und Ende einer sensiblen Phase
Beginn einer sensiblen Phase wird wie bei Reifestandshypothesen durch Erwerb von
Erfahrungsvoraussetzungen erklärt. Warum sind nach ihrem Ende die gleichen Erfahrungen
weniger wirksam? Kindheit = besonders sensible Phase, in der ungünstige Erfahrungen
traumatisch (nach)wirken. So kann fehlende Unterscheidung zwischen Realität und
Traumwelt Ängste hervorrufen, die sich Stabilisieren (in der Realität) und deshalb schwer
wieder
abzulegen
sind.
Diese
selbststabilisierende
Funktion
kommt
auch
Interaktionsmustern zu -> Interaktion mit Bezugsperson führt zu Ver- oder Misstrauen, was
sich durch ihre Wirkung auf andere selbst stabilisiert.
Entwicklung als sukzessive Konstruktion
Stadienabfolgen müssen nicht auf Reifung zurückzuführen werden. Alternativerklärung ist
der sukzessive Aufbau, der beinhaltet, dass jedes Stadium auf dem vorausgehenden
aufbaut, es voraussetzt und eine Voraussetzung für das nächsthöhere ist ->
Strukturanalysen zeigen Notwendigkeit dieser Ordnung.
E ist nicht eine beliebige, sondern sachlich wie logisch geordnete Folge von
Konstruktionsschritten.
Beispiel: Erwerb aufeinander aufbauender Begriffe, in denen die entwicklungsmäßig früheren
in den späteren enthalten sind und diese komplexer werden.
Selbstkonstruktion
Piaget beschreibt den unsystematischen, nicht didaktisch angeleiteten Aufbauprozess als
Selbstkonstruktion. Er hat 2 Grundannahmen: der sich entwickelnde Mensch erkundet und
strukturiert aktiv seine Umwelt, sucht nach Informationen und verarbeitet diese, stellt nach
der Maßgabe des jeweils erreichten Entwicklungsstandes Fragen, er braucht nicht motiviert
zu werden, da seine Erkenntnismöglichkeiten nach Erprobung und Anwendung drängen (4
Jahre altes Kind, das „Warum-Frage“ entdeckt hat nervt Umwelt mit ständigem „Warum?“)
und Erkenntnisfortschritt erfolgt in Sequenzen von einfachen zu komplexen,
leistungsfähigeren Strukturen, Motor der E sind Probleme und Widersprüche, die sich aus
der Anwendung der einfacheren Strukturen ergeben, ihre Lösung bedeutet Aufbau einer
komplexeren Struktur.
Entwicklung durch Erziehung und Sozialisation
Sozialisation ist all das, was ein Mensch aus einer anderen Epoche lernen müsste, um in
unserer Kultur zu leben: Sprache, Symbole, Regeln des Verhaltens in unterschiedlichen
Situationen, Funktionen von Geräten, Wirtschaft, Moden...
Sozialisation erfolgt durch Anleitung und Anforderung, Information und Belehrung,
durch Beobachtung und Nachahmung von Vorbildern, durch Strafen und Belohnung
usw. Die Familie, Schule, Beruf, Gruppe der Freunde, Medien sind an diesen
Prozessen beteiligt.
Lebenslanges Lernen
Dieses Lernen ist nie zuende, da sich Gesellschaft und Kultur immer wandeln. Gesellschaft
ist pluralistisch bezüglich Werten, dynamisch, da u.a. Wissenschaft, Künste und Sprache
sich ständig wandeln, offen gegenüber Einflüssen und Neuerungen: z.B. gehen alte Berufe
16
und neue kommen hinzu. Sozialisation bedeutet also lebenslanges Lernen auf vielen
Gebieten.
Entwicklungspsychologische Sozialisationsforschung
Perspektive
wird
entwicklungspsychologisch,
wenn
Auswirkungen
von
Sozialisationseinflüssen in verschiedenen Altersgruppen vergleichend untersucht werden.
Dabei ist eine Wechselwirkung zwischen Sozialisationseinflüssen und dem
Entwicklungsstand immer als Hypothese in Betracht zu ziehen.
Differentielle Entwicklungen
Neben generellen altersgebundenen Entwicklungstrends sind differentielle und individuelle
Entwicklungen zu beachten: Sozialisationseinflüsse interagieren mit den bereits
herausgebildeten individuellen Eigenschaften, Motiven usw. und ihren individuellen
Entwicklungskontexten.
Langfristige Sozialisationseffekte
Sozialisationsforschung
hat
Entwicklungsperspektive,
wenn
Folgen
von
Sozialisationseinflüssen langfristig untersucht werden, gerade betreffend (In)Stabilität der
Wirkungen von Sozialisationserfahrungen.
E von Kritikfähigkeit
Erziehung und Sozialisation vermitteln Wissen, Normen usw. und sollen auch
emanzipatorisch fördernd wirken, was zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den
Gegebenheiten motivieren und befähigen. Ziel sollte E einer persönlichen Identität sein, was
aber mit Spannungen bezüglich gesellschaftlicher Vorgaben einhergeht.
Interaktion und retroaktive Sozialisation
Eltern und Kinder beeinflussen sich wechselseitig und ein Beispiel hierfür ist die retroaktive
Sozialisation. Kinder z.B. stellen ihre Eltern vor viele Entwicklungsaufgaben, die
Veränderungen das Alltags mit sich bringen. Durch ihre Existenz, Eigenarten,
Entwicklungsfortschritte und –probleme nehmen Kinder Einfluss auf Eltern bezüglich derer
Entwicklungsmöglichkeiten, Lebensziele usw.
Child effect Forschung
In der „Child effect“-Forschung sind Anpassungen der Eltern untersucht worden. Rheingold
(1969) beschrieb, dass Babys durch Weinen, Lächeln, Unmut und Behagen Eltern steuern,
ohne das dieses bewusste Handlungen wären. So verlangen auch Freizeit, Krankheiten,
Schwächen und Autonomieansprüche der Kinder Anpassungsleistungen der Eltern.
Kinder vermitteln Wissen und Einstellungen
Kinder und Heranwachsende vermitteln Eltern auch Fertigkeiten und Wissen, beeinflussen
deren Wandel an Ansichten (z.B. über Personen, Politik) und Normen. Beispielsweise
Thema Ausgeherlaubnis konfrontiert Eltern mit „abweichenden“ Ansichten und Wertungen.
So geht es oft um Privilegien, Aufhebung von Verboten und mehr Freiheiten von den Eltern.
Pauls und Johann (1984) trugen Methoden zusammen, die Kinder zur Beeinflussung ihrer
Eltern verwenden:
 konstruktiv-aktive Steuerung (logisches Argumentieren; Kompromissaushandlungen)
 Vorwürfe und oppositionelle Steuerung (Drohen; Trotzen)
 Steuerung durch Bestrafung (Nerven; unangenehmes Verhalten in Öffentlichkeit)
 Steuerung durch Ignorieren, passiv-resignative Steuerung (demonstrative Hilf- und
Machtlosigkeit)
17
 Steuerung durch Schmusen und Schmeicheln
 Verlangen einer Begründung von Vorschriften führt zur Reflexion und eventueller Revision
der Eltern
Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse
In der Literatur werden Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse unterschieden.
Ersteres ist eher altersnormiert (bedeutet, dass Mehrheit der Population mit denselben
Aufgaben in einer bestimmten Periode des Lebens konfrontiert wird) während letzteres
unvorhersehbar ist und nur in Ausnahmefällen größere Teile der Population betreffen (wie
Krieg, Naturkatastrophen). Diesen Kategorien gemeinsam ist, dass sie Probleme und nicht
selten Krisen verursachen.
Krisen, Risiken und Chancen
Probleme, Krisen und belastende Ereignisse haben in der EP immer eine Rolle gespielt,
allerdings mehr in der Erklärung von Entwicklungsstörungen als in der Erklärung positiver
Entwicklungsverläufe. Beispielsweise Freud (1920): traumatische Erfahrungen der Kindheit > E von Neurosen später. Kritische Lebensereignisse wie Krankheiten, Unfälle, Geburt eines
Kindes schaffen Probleme und bringen Verluste mit sich -> Umstellung von Lebensplänen
und Handlungsroutinen. Krise = Person ist nicht fähig ein Problem zu lösen und ist
gleichzeitig durch das Problem emotional belastet.
Krisen und belastende Ereignisse können auch positive Auswirkungen haben, wenn die
Betroffenen Lösungen finden und die Verluste bewältigen. Es sind Herausforderungen,
deren Meisterung Gewinne an Kompetenz und somit Selbstvertrauen bedeutet und zu neuen
Einsichten und Wertorientierungen führen.
Altersnormierte Krisen und Aufgaben
In organismischen Modellen der E wird angenommen, dass Probleme aus universellen
Reifungs- und Entwicklungsveränderungen innerhalb des Organismus resultieren, die neue
Erfahrungsmöglichkeiten, neue Interaktionen und somit neue Probleme erzeugen.
Beispiele: Freuds (1930) Sequenz der psychosexuellen E und Konflikte in Kindheit und
Adoleszenz
(Ende
des
Jugendalters)
oder
Eriksons
(1973)
Theorie
der
Persönlichkeitsentwicklung, welche 8 Hauptstadien während des Lebens mit ihren Krisen
unterscheidet, die unbewältigt zu Persönlichkeitsstörungen führen (z.B. Generativität vs.
Stagnation (mittleres Erwachsenenalter) → bedeutet, dass das Ziel Förderung der nächsten
Generation ist (=Generativität) und wenn dies fehlt führt das u.a. zur Stagnation).
Entwicklungsaufgaben
Im Unterschied hierzu stehen dialektische, interaktionale und transaktionale Modelle der E.
Grundannahme ist, dass sich das entwickelnde Subjekt und der jeweilige Lebenskontext zur
Entstehung und Lösung von Problemen und Krisen beitragen. Zwischen Subjekten und
zwischen Entwicklungskontexten gibt es große Unterschiede und beide sind im ständigen
Prozess des Wandels -> keine universelle Sequenz von Problemen und –lösungen.
Havighurst (1948) strukturierte den Lebenslauf als eine Folge von Problemen, die er
Entwicklungsaufgaben nennt. Mit seiner dialektischen Position verbindet er biologische,
soziologische und psychologische Perspektiven. Viele Entwicklungsaufgaben sind für jede
Lebensperiode spezifiziert worden, deren Bewältigung E erfordert, wie z. B. Ertragen einer
Trennung von Betreuungspersonen oder Bewältigung des Verlustes sozialer Rollen im Alter > Leben = Abfolge von z.T. geschlechtsspezifischer Entwicklungsaufgaben.
18
Normative und deskriptive Aspekte
Entwicklungsaufgaben sind Mischungen normativer und deskriptiver Elemente.
Gesellschaftliche Festlegung einer Aufgabe ist immer normativ und Bestimmung von
Altersgrenzen für Entwicklungsaufgaben hat empirische Basis: Pubertät und Menopause
sind biologisch determiniert; Festlegung von Altersgrenzen für Ehe z.B. ist sozial bestimmt.
Grad der normativen Verpflichtung variiert: Schulpflicht = Muss in unserer Kultur,
Ehegründung = weniger verpflichtende Normen.
Entwicklungsziele
Entwicklungsaufgaben gliedern Lebenslauf und geben Entwicklungs- und Sozialisationsziele
vor. Einige Entwicklungsaufgaben sind voraussehbar und deshalb ist angemessenen
Vorbereitung möglich (z.B. Schuleintritt, Sexualität, Berufsbeginn, Auszug des letzten
Kindes). Entwicklungsaufgaben sind allerdings nicht ausschließlich vorgegeben, da sie
individuell interpretiert und bewertet werden und man persönliche Ziele und Projekte hat.
Quellen für Entwicklungsaufgaben
Havighurst konzeptualisierte
Lebenslaufes:
3
Quellen
für
Entwicklungsaufgaben
während
des
1. biologische Veränderungen innerhalb des Organismus wie Pubertät und Menopause
2. Aufgaben, die durch die Gesellschaft, etwa in Bildung und Beruf gestellt werden
3. Werte, Strebungen und Ziele des sich entwickelnden Individuums selbst.
Zur Erfüllung dieser Aufgaben sind individuelle Potentiale und individuelle und soziale
Ressourcen und Gelegenheiten von Bedeutung. Beispiel sozialer Aufstieg hängt von vielen
Faktoren ab: biologische wie geistige und physische Gesundheit, soziale wie
Berufsbestrebungen der Herkunftsfamilie und des Partners, psychologische wie individuelle
Fähigkeiten, gesellschaftliche wie Stellenmarkt und soziale Privilegierungen, kulturellen wie
der generellen Wertschätzung sozialen Aufstiegs. So können Chancen für optimale E
zwischen Geburtskohorten, Familien und Individuen beträchtlich variieren.
Diese Sicht entspricht modernen Konzeptionen der menschlichen E und die Konzeptionen
beinhalten, dass die E differentielle und individuelle Verläufe nimmt.
Kritische Lebensereignisse
Kritische Lebensereignisse wie Scheidung, Arbeitslosigkeit oder Tod sind nicht-normative
Einschnitte im Lebenslauf. Diese Ereignisse erzeugen Probleme und Verluste, die als
Herausforderung / Chance für positive E oder als Risiken für Fehlanpassungen / Störungen
wirken.
Folgen kritischer Lebensereignisse
Um die Folgen kritischer Lebensereignisse zu erfassen, wurde eine Vielzahl von Kriterien
entwickelt.
In
der
klinisch-psychologischen
Perspektive
stand
das
Risiko
psychopathologischer oder psychosomatischer Störungen im Vordergrund. Negative
Emotionen (z.B. starke Angst nach traumatischen Erfahrungen), Hilflosigkeit, Verluste an
Selbstwertgefühl sind zu beobachten. Andauernde Effekte dieser Art werden als Indikatoren
beeinträchtigender seelischer Gesundheit oder als Indikatoren für Persönlichkeitsstörungen
gewertet. Andererseits sind positive E durch eine Problembewältigung zu erwarten (z.B.
Anstieg des Selbstwertes, neue Problemlösungsstrategien).
19
Langfristige pathogene Effekte kritischer Lebensereignisse sind weniger häufig als erwartet
(10%) -> zeigt, dass Menschen kritische Lebensereignisse meistern. Dies wurde z.B.
nachgewiesen für Tod nahestehender Personen, schwere Verletzungen und Krankheiten.
Die Rolle subjektiver Bewertungen
Entscheidend sind nicht die Ereignisse und ihre objektiven Folgen, sondern die subjektiven
Bewertungen -> Tod des Ehemannes kann Verlust oder Befreiung bedeuten. Wenn viele
durch ein Ereignis ähnlich betroffen sind, wie etwa Krieg oder Katastrophen, ist die Erfahrung
eine andere, als wenn man einzeln betroffen ist. Hier wird „Warum-Ich-Frage“ nicht gestellt.
Auch ist Altersperiode in der ein Ereignis eintritt von Belang: altersgemäße Schwangerschaft
wird z.B. als normal angesehen, während wenn es „unzeitig“ ist zu Vorwürfen kommt.
Bei Bewertung und Verarbeitung der Ereignisse spielen Ansichten über Verantwortlichkeiten
eine große Rolle. Schwerer Unfall: Wer wird verantwortlich gemacht? Gott, Schicksal, andere
Person oder Opfer selber. Erleben die Bertoffenen nun Ärger über sich, andere oder
Schicksal, dann stellen diese Gefühle zusätzliche Belastungen dar. Eine fatalistische
Grundhaltung (Schicksalsergebenheit) kann hilfreich sein, die belastenden Emotionen
Empörung und Bitterkeit zu vermeiden.
Bewältigungs- und Meisterungsmöglichkeiten
Menschen, die ihr Schicksal selbst kontrollieren möchten, sind verunsichert, wenn sie
Schicksal oder Zufall verantwortlich machen, da sie unkontrollierbar sind. So müssen sie sich
selbst eine Mitverantwortung zuschreiben, um nicht hilfloses Opfer zu sein.
Wichtige Bewältigungsstrategie ist Suche nach Sinn der Verluste. Zufall ist sinnlos.
Menschen suchen und finden oft Sinn, indem sie rechtfertigen, weshalb sie sich auf Risiken
eingelassen haben. Versöhnung mit Schicksal, wenn sie auf resultierende Gewinne
schauen. Sinn in: Problemmeisterung, Unterstützung im sozialen Umfeld oder neue
Erkenntnisse was wirklich wichtig im Leben ist.
Erfolgreiche Suche nach Sinn hilft, belastende Gefühle zu bewältigen; auch positive
Illusionen über Zukunft, positive Vergleiche mit anderen, denen es noch schlechter geht, „es
hätte noch schlimmer kommen können“ dämpfen diese Gefühle. Damit sind belastende
Gefühle bewältigt, aber Problem noch nicht gelöst.
Konstruktive Problemlösung wird als ideale Strategie der Bewältigung angesehen aber in
vielen Fällen ist es besser, Verluste und Einbußen hinzunehmen, die Lebensprioritäten so zu
reorganisieren, dass sie zu den eigenen Kapazitäten, Ressourcen und Möglichkeiten
passen.
Weitere wichtige Anpassungsstrategie besteht in Gestaltung des Selbstbildes, welches
verschiedene Überzeugungssysteme beinhaltet, wer man ist, sein möchte, sein könnte, sein
will. Markus und Nurius (1986) sprachen von multiplen Selbstbildern, was Optionen für Wahl
eines Selbstbildes eröffnet, wenn veränderte Lebensumstände bewältigt werden sollen, die
dem bisherigen Selbstbild nicht entsprechen.
Folgerungen für die Entwicklungsberatung
Entwicklungsperspektive = rasche Behebung des Problems durch konsequente soziale
Unterstützung oder Senkung der Anforderungen und neue Strategien entwickeln, die helfen
zukünftige Probleme zu meistern. Erfahrung, eine Krise selbst bewältigt zu haben, stärkt
Selbstvertrauen. Aufbau verschiedener Bewältigungsstrategien wirkt im Sinne einer
Stressimmunisierung. Der Lebenslauf kann auch als eine Sequenz von Problemen
verstanden werden und jedes Problem ist Herausforderung und Gelegenheit, neue
Einsichten und Kompetenzen zu entwickeln oder neue Wahlen zu treffen.
20
Zusammenfassung von Anonym
21
Theoretische Ansätze
Piaget - die Theorie der kognitiven Stadien
Jean Piaget (09.08.1896 - 16.09.1980)
Allgemeiner Überblick über die Theorie
Genetische Erkenntnistheorie
Erkenntnistheoretische Fragen können nur beantwortet werden, wenn man die Entwicklung
(„genetisch“ hier im Sinne von Epigenese) des Wissenserwerbs untersucht. Piaget
untersucht hier vor allem wie sich das Denken in den Kategorien der traditionellen
Erkenntnistheorie entwickelt: Zeit, Raum, Kausalität und Quantität. Er gilt als experimenteller
Erkenntnistheoretiker. Piagets Erkenntnistheorie: Wissen ist kein Zustand, sondern ein
Prozess (eine Beziehung zwischen dem Wissenden und dem Gewussten); der
Wissenserwerb ist aktiv, das Wissen wird in gewissem Sinn „konstruiert“ und ist damit
subjektiv gefärbt. Aktiv Wissen erwerben bedeutet auch, dass Kinder lernen, indem sie auf
etwas einwirken.
Biologischer Ansatz
Piaget entlehnt zwei Konzepte aus der Biologie: 1. Genau so, wie Organismen sich
biologisch an die Umwelt anpassen, so passen auch Menschen ihre psychischen Funktionen
ihrer Umwelt an. Intelligenz ist also das Ergebnis der Anpassung (Adaptation, diese ist
universal) der Psyche an die Umwelt. 2. Die Entwicklung der Kognition gleicht der
embryonalen Entwicklung. Piaget bezeichnete seine Theorie auch als „geistige
Embryologie“. Solche Begriffe und auch im Folgenden beschriebene wie Adaptation,
Organisation, Struktur, Äquilibration, Assimilation, Akkomodation sind nur als Analogien
aufzufassen, nicht als Beschreibung der Physiologie des Denkens.
Strukturalistischer Ansatz
Die Vielfalt der Denkprozesse ist das Ergebnis einer kompliziert strukturierten Anordnung
einiger weniger elementarer geistiger Operationen. Interessant sind also die Zusammenhänge,
die zwischen diesen einfachen Operationen bestehen und wie sich diese im Laufe der
Entwicklung verändern. Das Denken baut sowohl bei älteren als auch bei jüngeren Kindern
auf dieselben Elemente auf, jedoch besteht bei älteren Kindern eine weitaus differenziertere
und vielfältigere Struktur dieser.
Der Ansatz der Entwicklungsstadien
Künste und umstrittenste Behauptung Piagets: Die kognitive Entwicklung vollzieht sich in
Stadien. Ein Stadium ist ein Zeitabschnitt, in dem das Denken und das Verhalten eines
Kindes eine spezifische geistige Grundstruktur widerspiegelt. Man kann sich die Stadien als
Aufeinanderfolge von Ebenen der Anpassung vorstellen.
 Ein Stadium ist ein strukturiertes Ganzes in einem Zustand des Gleichgewichts: In den
einzelnen Stadien verändern sich die Strukturen des Denkens. Dadurch ergibt sich in
jedem Stadium ein grundlegend verschiedenes Weltbild. Die strukturellen Veränderungen
von Stadium zu Stadium sind qualitativ, nicht quantitativ. Am Ende jedes Stadiums
22




befinden sich die kognitiven Strukturen in einem ausgeglichenen Zustand („Äquilibration“,
s.u.).
Jedes Stadium geht aus dem vorangegangenen Stadium hervor, integriert und
transformiert es und bereitet das Nachfolgende vor (hier Gegensatz zu Freud: Regression
in ein früheres Stadium nicht möglich, weil dieses gar nicht mehr existent ist).
Die Stadien bilden eine invariante Sequenz, d.h. alle Stadien werden in der festen
Reihenfolge durchlaufen.
Die Stadien sind universell, gilt für alle Menschen, lediglich Tempo kann unterschiedlich
sein
Jedes Stadium schreitet voran vom Werden zum Sein: Eine anfängliche Periode der
Vorbereitung leitet jedes Stadium ein, eine abschließende Periode der Vervollkommnung
schließt sie ab.
Methodologie
Im Wesentlichen wandte Piaget 3 Methoden an: 1. Die einfache Verhaltensbeobachtung, die
auch für das 2. klinische Gespräch (einer kettenartigen verbalen Interaktion zwischen
Versuchsleiter und Kind) und für die 3. Anwendung kleinerer Experimente (durch
Manipulation von Objekten) bedeutsam war. Die Erkenntnisse aus diesen Beobachtungen
abstrahierte
er
stark,
so
dass
der
Zusammenhang
zwischen
Piagets
Beobachtungsprotokollen und seiner postulierten Theorie z.T. nur schwer nachvollziehbar
ist.
Die Stadien
Charakteristik der Stadien: (Dieser Abschnitt folgt eigentlich auf die Darstellung der
sensumotor. Phase, ist hier aber vorangestellt, weil diese Kriterien für alle Stadien gelten.)
 Erkenntnisgewinn geschieht über das Erkennen von Objekteigenschaften und über die
Beziehung zwischen diesen.
 Kognitive Strukturen werden zunehmend straffer organisiert. Schemata werden
koordiniert und auf neue Situationen angewandt.
 Das Verhalten von Kindern wird zunehmend intentional.
 Das Selbst differenziert sich allmählich in Abgrenzung von der Umwelt (Identität).
Das sensumotorische Stadium (0-2 J.)
Angeborene Reflexe werden schrittweise den Erfordernissen der Umwelt angepasst und
differenziert. Es zeigt sich die Tendenz des menschlichen Denkens sich zu strukturieren und
an die Umwelt anzupassen. 6 Stufen, in denen sich das sensumotorische Denksystem
aufbaut:
Reflexmodifikation (0-1 M.)
Das Kind passt die angeborenen Reflexe in kleinen Schritten leicht unterschiedlichen
Umweltgegebenheiten an. Z.B. wird der Saugreflex bei verschiedenen zu saugenden
Gegenständen etwas anders ausgeführt. Verhaltensweisen wie das Saugen können spontan
produziert werden. Aus dem Saugreflex (angeboren) wird das Saugschema (verstärkte,
generalisierte und differenzierte Verhaltensweise, die mit Reflex begann). Aber diese
Verhaltensweisen können nur eingeschränkt als Schemata bezeichnet werden, weil die
Reflexe noch kaum modifiziert sind.
23
Primäre Zirkulärreaktionen (1-4 M.)
Zirkulärreaktion = Verhalten, das ständig wiederholt und dadurch zirkulär wird. Wenn ein
Kind bei der Ausübung eines Schemas ein interessantes Ergebnis feststellt, so wird es
versuchen dieses Ergebnis erneut hervorzubringen, indem es die Verhaltensweise
wiederholt. Es bildet sich eine Gewohnheit aus. In dieser Stufe interessiert sich das Kind nur
für Auswirkungen auf den eigenen Körper (Beispiele: Daumenlutschen, Spiel mit der eigenen
Stimme), deshalb der Name „primäre“ ZR.
Sekundäre Zirkulärreaktionen (4-8 M.)
Wiederholte Verhaltensabläufe, deren Auswirkungen auf die Umwelt nun für das Kind
interessant werden. War bisher das Schütteln der Rassel interessant, weil das Kind sich
dabei bewegt, ist es nun interessant, weil die Rassel sich bewegt und Geräusche macht.
Wenn ZRs generalisiert sind, dann nennt sie Piaget: „Vorgehensweisen, die dazu dienen,
interessante Erscheinungen andauern zu lassen.“ Das „motorische Erkennen“ ist eine
reduzierte, vereinfachte Version des ursprünglichen Verhaltens, d.h. ein Kind muss eine
gewohnte Handlung nicht mehr ausführen, sondern begnügt sich damit, sie nur anzudeuten.
Ab dieser Stufe werden bisher isolierte Schemata kombiniert (z.B. Blick- und
Greifbewegungen). Diese Koordination der Schemata setzt sich in den folgenden Stufen fort,
die kognitiven Strukturen werden somit zunehmend komplexer strukturiert.
Koordination der sekundären Verhaltensschemata (8-12 M.)
Hier entwickeln sich Planung und Intentionalität. Nun unterscheiden Kinder zwischen Mittel
und Zweck. Bisher zeigte das Kind aus „Funktionslust“ irgendein Verhalten, das zufällig
irgendein interessantes Ergebnis hervorbringt; nun werden in einer bestimmten Situation
erworbene Zirkulärreaktionen auf neue Situationen angewandt mit dem Ziel, das in der
damaligen Situation aufgetretene Ereignis auch in der neuen Situation hervorzurufen. Ist ein
bestimmtes Schema in einer neuen Situation erfolglos, so setzt das Kind nun Schemata ein,
die es in einer mitunter gänzlich unähnlichen Situation erworben hat, um an sein Ziel zu
gelangen. Nicht nur Verhaltensschemata, sondern auch der Einsatz von Gegenständen als
Mittel führen zum Ziel. Dennoch ist das kindliche Verhalten ein Versuch-und-IrrtumVerhalten.
Tertiäre Zirkulärreaktionen (12-18 M.)
Das Kind (als Wissenschaftler) variiert absichtlich seine Handlungen, um zu erforschen,
welche unterschiedlichen Konsequenzen dies hat. Bälle werden aus unterschiedlichen
Höhen fallengelassen oder mit verschieden großer Kraft auf den Boden geworfen. Neue
Mittel werden hier nicht durch Kombination von Schemata erreicht (das kann das Kind
bereits), sondern durch systematische Variation dieser Schemata. Das Mittel-ZweckVerhalten wird durch absichtliche Versuch-und-Irrtum-Exploration erweitert.
Die Erfindung neuer Mittel durch geistige Kombination (18-24 M.)
Diese Stufe schließt das erste Stadium ab und leitet das präoperative ein. Das Denken wird
immer mehr verinnerlicht. Das Kind kann Objekte geistig abbilden (Verwendung mentaler
Symbole) und ist somit in der Lage, das Experimentieren der vorigen Stufe vor seinem
geistigen Auge durchzuführen, um die meistversprechende Alternative dann auch tatsächlich
auszuführen. Ein in der Vorstellung repräsentiertes Phänomen kann später erinnert werden.
Eines der wichtigsten Konzepte, das im ersten Stadium erworben wird ist die
Objektpermanenz (Es gibt eine von den Handlungen des Kindes unabhängige Realität).
24
Das präoperative Stadium (2-7 J.)
In diesem Stadium übertragen Kinder ihre Konzepte auf die mentale Repräsentation und
damit auf eine höher organisierte Struktur. Das Kind ist in der Lage, ein Objekt durch ein
anderes zu ersetzen (semiotische Funktion: ein Signifikant – Worte, Gesten… bezeichnet ein Signifikat). Es gibt zwei Arten von Signifikanten: Symbole (haben gewisse
Ähnlichkeiten zum Objekt) und Zeichen (bezeichnen ein Objekt, weil die Kultur es diesem
Objekt zugeordnet hat, z.B. Namen und Bezeichnungen). Sprache ist also eine Sammlung
von Signifikanten, und erst die Fähigkeit, die willkürlichen Bezeichnungen den passenden
Objekten zuzuordnen, ermöglicht den Gebrauch von Sprache. Das repräsentative Denken ist
schneller und flexibler als das sensumotorische. Nach Piaget geht das repräsentative
Denken dem Sprechen voraus. Rückwirkend kann die Sprache wiederum die kognitive
Entwicklung fördern, indem sie z.B. die Aufmerksamkeit von Kindern auf neue Objekte lenkt
oder abstrakte Informationen vermittelt. Das Kind ist in diesem Stadium aber noch nicht in
der Lage reversible, „konkrete“ geistige Operationen durchzuführen.
Geprägt ist das präoperative Stadium von folgenden Merkmalen:
1. Egozentrismus: (meint hier nicht Selbstsucht) Das Kind neigt dazu, die Welt nur aus der
eigenen Perspektive zu sehen. Es ist nicht in der Lage zu begreifen, dass andere
Personen die Welt aus anderen Blickwinkeln betrachten, und dass anderen Personen
eventuell Wissen fehlt, das zum Verständnis der in dieser Phase so häufigen Sätze wie:
„Er hat mich damit geschlagen“ notwendig ist. Das Kind geht davon aus, dass der
Gesprächspartner die gleiche Perspektive hat wie das Kind selbst, dass er also weiß, wer
„er“ und was „damit“ ist. Dennoch denken Kinder immerhin schon weniger egozentristisch
als im sesumotorischen Stadium als sie noch nicht zwischen dem eigenen Handeln und
den Eigenschaften von Objekten unterscheiden konnten.
2. Rigidität des Denkens: Das Denken ist starr, Kinder richten die Aufmerksamkeit nur auf
eine herausragende Dimension eines Objekts (Zentrierung), wie z.B. den Wasserspiegel
in einem schmalen Gefäß. Darum scheitern Kinder in diesem Stadium an den
„Umschüttaufgaben“ (Aufgabe zur Invarianz der Mengen), da sie die Dimensionen
„Durchmesser des Gefäßes“ und „Höhe des Gefäßes“ und „Höhe des Wasserspiegels“
nicht integrieren können, um auf die kompensierenden Funktionen dieser Variablen zu
kommen. Außerdem richten präoperative Kinder ihre Aufmerksamkeit eher auf Zustände
als auf Transformationen, so dass sie den Akt des Umschüttens von einem ins andere
Glas ignorieren und somit die Paradoxie des Schlusses, es wäre mehr Wasser
geworden, nicht erkennen. Auch die fehlende Reversibilität zeichnet Kinder in diesem
Stadium aus: sie können einen beobachteten Vorgang nicht in Gedanken umkehren, so
dass sie nicht erkennen, dass das Wasser im schmaleren Gefäß, wenn es ins breitere
Gefäß zurückgeschüttet wird, dort wieder den gleichen Wasserstand erreicht, den es
zuvor dort hatte.
3. Prä-logisches Schlußfolgern: (hierzu: Piaget führte mit Kindern Interviews zu ihren
Weltansichten durch, z.B. „Wie hat die Sonne angefangen?“) Kinder schließen vom
Besonderen auf Besonderes. Sie ahnen, dass eine Tatsache eine Ursache haben muss,
aber ihre Versuche, diese zu erklären scheitern noch an dem vorherrschenden
Egozentrismus. Es schneit, damit ich im Schnee spielen kann, und die Sonne fing zu
scheinen an, weil sie wusste, dass das Leben begonnen hatte. Dinge werden also oft
personifiziert, nur lose verknüpft und noch nicht logisch in Beziehung zueinander gesetzt.
4. Begrenzte soziale Kognition: Für Piaget gelten die aufgezeigten Denkprozesse
gleichermaßen für physikalische und soziale Objekte und Phänomene. Bei
Schuldsprüchen spielt beispielsweise der angerichtete Schaden eine größere Rolle als
die dahinterstehende Intention. Interne Variablen einer Person werden noch ignoriert.
25
Zu den Errungenschaften dieses Stadiums gehören: (diese bereiten den Übergang zur
mentalen Reversibilität im konkret-operationalen Stadium vor)
 Funktion: Je-(mehr/weniger/größer/...)-desto-Beziehungen werden zwar erahnt, aber
nicht in vollem quantitativen Ausmaß erkannt.
 Regulierung: Dies ist ein teilweise dezentrierter geistiger Akt. Kinder sind immer mehr in
der Lage, zwischen mehreren Dimensionen eines Phänomens hin- und herzupendeln. Sie
erkennen, dass ein Glas mehr Wasser enthält, weil der Wasserstand höher ist, aber
weniger Wasser enthält, weil es schmaler ist. Allerdings kommen die Kinder nicht zu dem
korrekten Schluss, dass das Glas gleich viel Wasser enthält, weil die Faktoren Schmalheit
und Höhe sich kompensieren.
 Identität: Das Kind erkennt, dass ein Objekt das selbe bleibt, auch wenn es sein äußeres
Erscheinungsbild verändert. Jetzt ist Papa auch dann noch Papa, wenn er sich als
Weihnachtsmann verkleidet
Das konkret-operative Stadium (2-11 J.)
Regulierungen, Funktionen und Identitäten entwickeln sich zu Operationen, indem sie
vollständiger, differenzierter, quantitativ und stabil werden. Operationen sind verinnerlichte
Handlungen, diese sind Teile einer organisierten Struktur. Repräsentierte Vorgänge
gewinnen an Eigenleben zum Beispiel sind sie nun reversibel. Repräsentationen von
Objekten hängen mehr und mehr logisch zusammen. Das Hin- und Herpendeln zwischen
mehreren Dimensionen wird nun zur gleichzeitigen Verrechnung dieser Dimensionen. Die
Aufgabe zur Erhaltung der Mengen dient als diagnostisches Instrument, an ihr liest Piaget
ab, ob ein Kind schon geistige Operationen nutzt oder nicht. Dazu muss es zur richtigen
Lösung (In beiden Gläsern ist gleichviel drin) auch die richtige logische Erklärung liefern
(Durch bloßes Umschütten kann sich eine Wassermenge gar nicht verändern). Nach Piaget
kann ein Kind den Erhaltungsbegriff erst haben, wenn es schon über bestimmte Operationen
verfügt (Reversibilität, Integration zweier Variablen – hier die Höhe und die Breite des Glases
– sowie Addition und Subtraktion). Weitere solche Operationen wären: Multiplikation,
Division, Ordnen, Substituieren usw.
Einige Errungenschaften durch die Anwendung solcher Operationen: Inklusion von
Klassen: das Kind erkennt, dass eine Menge eine Teilmenge einer größeren Menge sein
kann. Braune Holzperlen und weiße Holzperlen sind zwei Klassen von Holzperlen.
Beziehungen: Kinder schließen daraus, dass Hans größer als Peter ist und dass Peter
größer als Klaus ist, dass Hans größer als Klaus sein muss. Auch soziale Beziehungen
werden dem Kind nun deutlicher (vor allem die eigenen Familienverhältnisse), und bei der
Beurteilung von Schuld spielt nun die Absicht des Schuldigen eine größere Rolle.
2 wichtige Beobachtungen: Konzepte und Operationen bilden sich nicht gleichzeitig aus.
Jeder kognitive Entwicklungsschritt tritt zunächst nur zeitweilig auf, wird dann zunehmend
stärker und stabiler und verallgemeinert sich letztendlich auf eine Vielzahl von Situationen.
Zusammengefasst wird das Denken zunehmend dezentrierter, dynamischer, reversibler und
spiegelt immer mehr die Gesetzmäßigkeiten der Welt wider.
Allerdings bleiben die kognitiven Leistungen auf dem Niveau des Anschaulichen, des
Konkreten stehen. Das Kind beschäftigt sich mit dem, was ist (das Faktische), nicht mit dem,
was sein könnte (das potentiell Mögliche). Auch können Kinder für die oben genannten
Personen Hans, Peter und Klaus keine Platzhalter wie A, B und C verwenden.
26
Das formal-operative Stadium (11-15 J.)
Nun können Kinder Hypothesen aufstellen. Sie beobachten einzelne konkrete Phänomene
oder Objekte, gewinnen Erkenntnisse über sie aufgrund ihrer Fähigkeit konkrete Operationen
durchzuführen und stellen nun mithilfe dieser Kenntnisse Behauptungen über mögliche
Zusammenhänge auf und über ihre Anwendung in anderen Situationen. Die Realität ist die
„ist“-Menge einer „könnte sein“-Totalität. Piagets Aufgaben zur Diagnose der kognitiven
Reife stammen aus der Physik (Pendelaufgabe) und Chemie. Im Fokus stehen die
Problemlöseprozesse. Piaget definiert 16 binäre geistige Operationen, die für das formaloperative Denken grundlegend sind (bsp. Konjuktion: x und y & Diskonjunktion: x und y; x
und nicht y; y und nicht x).
Auch auf sozialer Ebene zeigen sich diese Fortschritte: Kinder unterhalten sich über die
Zukunft und stellen sich ihre eigenen zukünftigen Rollen vor, unterhalten sich über Politik,
Moral etc. Allerdings überschätzen Kinder in diesem Alter noch oftmals die Macht der Logik
und unterschätzen die Probleme, die bei der Umsetzung ihrer Ideen entstehen können. Die
nunmehr jugendlichen Kinder können auch über das Denken (ich eigenes und das der
anderen) reflektieren.
Das Denken ist nun logisch, abstrakt und flexibel. Von nun an sind die kognitiven
Veränderungen nur noch quantitativer Natur.
Horizontale Betrachtung: Wie verhält sich ein typisches Kind aus diesem oder jenem
Stadium (Querschnitt)? z.B.: Was ist ein Objekt für ein Kind aus der Sensumotorischen
Phase, was ist es für ein Kind in der Präoperativen Phase usw.?
Vertikale Betrachtung: Wie verhält sich ein Kind, während es die Stadien durchläuft
(Längsschnitt)? z.B.: Wie geht ein Kind in den einzelnen Stadien ein spezifisches Problem
an?
Gedächtnis
Gedächtnisinhalte bleiben nicht so, wie sie waren, als sie gespeichert wurden, sondern sie
verändern sich entsprechend der Fähigkeiten, die das Kind beim Durchlaufen der Stadien
gewinnt. Damit kann man an den Gedächtnisinhalten die kognitive Struktur ablesen, wie sie
zu einem Zeitpunkt besteht.
Mechanismen der Entwicklung:
Organisation und Adaptation (funktionale Invarianten)
Die Entwicklung des Denkens vollzieht sich nach Piaget nicht in großen Schritten, die
Entwicklungsstadien sind vielmehr die Summe einer Vielzahl von „Mini“-Veränderungen.
Letztere werden durch 3 sogenannte funktionale Invarianten (während der Entwicklung
gleichbleibende geistige Funktionen) vorangetrieben:
Kognitive Organisation
Tendenz des Denkens, integrierte System auszuformen, deren einzelne Teile sich zu einem
Ganzen verbinden. Die Struktur des Denkens wird immer komplexer, aber auch immer
integrierter. Es ergibt sich im Laufe der Entwicklung ein zunehmend zusammenhängenderes
Weltbild. Parallele zum menschlichen Organismus  Verdauungs-, Kreislauf-, Nervensystem
usw. Verändern sich die Denkstrukturen, so auch die kognitive Organisation. Das Denken
organisiert sich erst in Schemata, dann in Regulierungen, Funktionen, konkreten und
27
schließlich formalen Operationen. Das Verhalten und die entsprechenden Denkergebnisse
spiegeln die Organisation der Kognition in jeder Phase wider.
Kognitive Adaptation
Die kognitive Adaptation ist die Interaktion zwischen Organismus und Umwelt. Die
angeborene Tendenz sich der Umwelt anzupassen führt zu intelligentem Verhalten.
Aufteilung in Assimilation und Akkomodation:
Assimilation
Ist der Prozess, in dem das Individuum seine aktuelle kognitive Organisation einpasst. Es
gibt 3 Arten von Assimilation: Die Reproduktive Assimilation (Kinder üben Schemata, indem
sie sie wiederholen und dadurch konsolidieren.), die Generalisierende Assimilation (Die
Spanne der Stimuli, die zu einem Schema assimiliert werden können, vergrößert sich.), die
Wiedererkennende Assimilation (Objekte werden gleichzeitig zu den Generalisierungen
differenziert. Bei der Anwendung unterschiedlicher Schemata merkt das Kind, dass diese
unterschiedlichen Schemata sich offensichtlich auf unterschiedliche Objekte beziehen. Das
Kind erkennt ein Objekt also insofern wieder, als es das passende – differenzierte - Schema
anwendet.) und die Gegenseitige Assimilation der Schemata (Schemata assimilieren –
koordinieren - sich gegenseitig, so dass umfassendere, stärker organisierte Schemata
entstehen.).
Akkomodation
Ist die Anpassung der Denkstruktur an die Erfordernisse der Umwelt und somit eine
Neuorganisation des Denkens. Sie tritt immer dann auf, wenn sich ein bestimmtes
Phänomen oder Objekt nicht mit den vorhandenen kognitiven Strukturen verstehen lässt. Die
Akkomodation kann jedoch nur bei geringfügigen Diskrepanzen wirksam werden.
Assimilation und Akkomodation sind eng verbunden, denn jede Assimilation bedingt auch
eine Akkomodation. Adaptation wird in diesem Sinne auch als Gleichgewicht zwischen den
beiden definiert. Durch jeden kleinen Assimilations- und Akkomodationsschritt wird ein
geringfügig höheres kognitives Niveau erreicht.
Kognitive Äquilibration
Entsteht aus den funktionalen Invarianten Organisation und Adaptation und bezeichnet
Prozess eines Organismus aus einem Ungleichgewicht ein Gleichgewicht (mit der Umwelt
und mit sich selbst; dieses ist nicht statisch sondern dynamisch) herzustellen. Auf eine
Periode des Gleichgewichts folgt wegen Veränderungen der Umwelt oder des Organismus
selbst ein Ungleichgewicht, daraufhin folgt eine Äqulibration, die wieder einen GG-Zustand
herstellt. Hier dient als Beispiel wieder die Aufgabe zur Invarianz der Mengen: Erst wenn ein
Kind die Merkmale Höhe und Breite der Gläser integrieren kann, gelangt es zu einem
unverzerrten Urteil, weil es verschiedene Informationen in ein GG bringt. Äquilibration kann
verschiedene Zeitspannen umfassen:
 Ä. von Moment zu Moment entsteht durch ein Zusammenwirken von Assimilation und
Akkomodation.
 Ä. Von Stadium zu Stadium durch Konsolidierung der kognitiven Strukturen. Zu Beginn
eines Stadiums besteht ein Ungleichgewicht, da die für dieses Stadium typische kognitive
Organisation noch erst im Aufbau begriffen ist.
 Ä. Über die gesamte Entwicklung hinweg. Das Gleichgewicht am Ende eines Stadiums ist
noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Das Gleichgewicht am Ende der nächsten Stufe
ist ein besseres. Erst wenn formale Operationen vollständig vorhanden sind, besteht ein
Gleichgewicht zwischen dem Beobachteten und dem Gedachten.
28
Die Äquilibration spielt insgesamt eine zentrale Rolle als Entwicklungsmechanismus, weil sie
die anderen 3 Hauptfaktoren der kognitiven Entwicklung (s.u. Kasten) reguliert.
Piagets Standpunkt zu grundlegenden Fragen
Die menschliche Natur
Piagets Weltsicht ist eher orgasmisch als mechanisch. Das zeigt sich darin, dass der
Mensch sich aus sich selbst heraus, ohne externe Motivation, aktiv entwickelt. Die
Angeborene Tendenz zur Aktivität bewirkt, dass der Mensch/das Kind sich ständig
weiterentwickelt bzw. verändert, getrieben vom Streben nach einem Zustand des
Gleichgewichts in sich selbst und mit seiner Umwelt aufrechtzuerhalten.
Qualitative versus quantitative Entwicklung
In Bezug auf längere Zeiträume zeigen sich in Piagets Theorie eher qualitative
Veränderungen (wenn sich etwa die kognitiven Strukturen über die einzelnen Stadien hinweg
entwickeln und dabei verändern), bezogen auf kürzere Zeiträume, in denen man ein Kind
beobachtet (Minuten, Tage, Wochen) ist eher eine quantitative Entwicklung des Denkens
festzustellen. Qualitative und quantitative Entwicklungen bauen aufeinander auf: qualitative
Veränderung (Kind versteht das Prinzip der Klasseninklusion) => quantitative Veränderung
(Kind kann dies nicht nur bei beispielsweise der Kategorisierung von Tieren, sondern auch
bei Fahrzeugen, Farben… anwenden) => neue qualitative Entwicklung => usw.
Vererbung versus Umwelt
Piaget ist ein Interaktionist! Sowohl angeborene Faktoren (anatomische, physiologische wie
Reflexe, die körperliche Reifung und invariate Funktionen) als auch die physische und
soziale Umwelt bestimmen die kognitive Entwicklung bzw. alle psychologischen Phänomene.
Formel zur Beschreibung der Entwicklung nach Piaget:
Entwicklung = Körperliche Reifung + Erfahrung mit der physikalischen Außenwelt + soziale
Erfahrung + Äquilibration
Es stellt sich die Frage, wie die genannten Komponenten interagieren.
 Die körperliche Entwicklung (Nervensystem, Muskelapparat,…) ist die Voraussetzung
dafür, dass eine kognitive Entwicklung stattfinden kann. Durch einzelne
Veränderungsschritte ergeben sich neue Möglichkeiten für das Kind (z.B. das Sprechen
oder Laufen lernen).
 Durch die Erfahrungen mir der physikalischen Umwelt - diese Erfahrungen finden durch
das Nachdenken über das eigene Einwirken auf physikal. Objekte statt – werden kognitive
Operationen und Konzepte erworben.
 Soziale Erfahrungen, d.h. die Auswirkungen des kulturellen und erzieherischen Umfeldes,
ergänzen den Wissenserwerb, indem ein Kind aus Erfahrungen anderer lernt.
Diese drei Punkte ermöglichen Rückschluss auf die Universalität der kognitiven Entwicklung:
Die einzelnen Stadien sind in ihrer Folge für alle Kulturen gleich. Unterschiede im Tempo der
körperlichen Reifung, der Erfahrung mit der physikalischen und der sozialen Welt innerhalb
der Stadien sind aber denkbar.
 Die Äquilibration verbindet und bestimmt die Interaktion von angeborenen Faktoren und
Erfahrungseinflüssen, denn beiderlei Faktoren erzeugen immer wieder vorübergehend ein
Ungleichgewicht, das durch Äquilibration wieder in Einklang gebracht wird. Dadurch
erreicht das Kind ein höheres kognitives Niveau.
29
Wichtig ist vermutlich auch der Zeitpunkt, zu dem ein Kind eine bestimmte Erfahrung macht.
Wenn es „bereit“ ist, d.h. im Übergangsbereich zwischen 2 Stadien, dann kann es durch
diese vier Faktoren angeregt werden sich weiterzuentwicklen.
Was entwickelt sich?
Die kognitive Entwicklung beruht auf grundlegenden strukturellen Veränderungen (wie z.B.
der Schemata, der Funktionen und verschiedener logisch-mathematischer Strukturen). Mit
diesen strukturellen Verränderungen gehen Veränderungen der Denkinhalte einher.
Metatheoretische Klassifikation
Die Theoriebildung bei Piaget ist teilweise deduktiv, teilweise auch induktiv, modellierend
und beschreibend.
Modellierende Komponente: Piaget wendet zwei Modelle an, 1. das Modell der Äquilibration
und 2. das logisch-mathematische Modell. (Ein Modell ist eine Rahmenstruktur, die auf
einem Gebiet entwickelt wurde und auf andere übertragen wird. Dabei muss eine
modellhafte Darstellung nicht zwangsläufig der Realität entsprechen) Die Funktion der
beiden Modelle hinsichtlich Piagets Theoriebildung: (zu 1.) Dem Gleichgewichtszustand
kommt bei Piaget eine zentrale und integrative Rolle zu. Integration insofern, weil die
Äquilibration die Faktoren der Entwicklung integriert (wie oben beschrieben), weil sie die
Übergänge von einem Stadium zum anderen erklärt und weil sie den Vergleich zwischen
erworbenem Wissen und Denkstrukturen der jeweiligen Stadien ermöglicht. (zu 2.) Piaget
vergleicht das Denken von Kindern ab der konkret-operativen Phase mit logischmathematischen Strukturen.
Piagets Theorie ist insofern deduktiv, als dass sich beispielsweise vom logischmathematischen Modell Voraussagen darüber ableiten lassen, wie das Denken von Kindern
zu bestimmten Zeitpunkten und in Bezug auf bestimmte Aufgabentypen funktioniert.
Insgesamt betrachtet liefert die Theorie aber wenige solcher Möglichkeiten zur Deduktion,
denn sie stellt allenfalls eine Reihe lose miteinander verknüpfter verbaler Aussagen zur
Verfügung, von denen sich nur schlecht Hypothesen ableiten lassen. Es besteht aber
durchaus die Möglichkeit, dies nachzuholen und die Theorie soweit zu formalisieren, dass
sie deduktiver wird (dies schien jedoch nicht Piagets primäres Ziel gewesen zu sein).
Piagets Theorie kann zwar durchaus als funktionalistisch bezeichnet werden (?), weniger
kann man sie jedoch induktiv nennen, denn Piaget abstrahiert seine Beobachtungen zu
stark, er fasst sie nicht einfach nur deskriptiv zusammen wie es Vertreter induktiver Theorien
tun würden.
Kritik
Stärken der Theorie
Erkenntnis der zentrale Rolle der Kognition
Die Entwicklungspsychologie war in den 50er und 60er Jahren für Piagets Theorie bereit,
denn in der Behaviorismus und die Lerntheorie waren bereits an ihre Grenzen gekommen
und man war sich einig, dass diese Sichtweise für den Menschen nicht auszureichen
scheint. Nicht nur die praxisnahen Entwicklungspsychologen kamen zu diesem Ergebnis,
auch die theoretischen Psychologen mussten dies einsehen. Piaget war der Auslöser für
neue Fragen in der Entwicklungspsychologie. Es folgte eine Flut von
Wiederholungsuntersuchungen mit dem Versuch, Piagets Theorie mit der damaligen
theoretischen Psychologie übereinzubringen und beispielsweise in der Lerntheorie den
30
Erwerb von Konzepten mit Kindern zu üben. Später wurde die Theorie auch auf andere
Bereiche als nur die Kinderpsychologie ausgedehnt: Sozialarbeit, klinische Psychologie und
die Erziehungswissenschaften.
Es ist zu betonen, dass Piagets Theorie unheimlich großen Einfluss hatte, sie ist damit die
erste Theorie, die so ausdrücklich die Kognition ins Zentrum rückt. (Piaget war also der
Einflussreichste mit dem Versuch in die „Blackbox“ hineinzuschauen).
Integrativer und heuristischer Wert der Theorie
Der integrative Wert der Theorie wurde bereits weiter oben erwähnt. Der Theorie gelingt es
eine Spanne scheinbar unzusammenhängender Handlungen zu organisieren und eine
Kontinuität in der Entwicklung dieser Handlungen zu beschreiben (z.B. Stadienbegriff).
Außerdem ist die Theorie ein heuristisches Instrument, denn von ihr kann neue Forschung
ausgehen. Beispielsweise hat die Auffassung, ein Kind erwerbe sein Wissen aktiv, die
gesamte Entwicklungspsychologie sowie Teilgebiete dieser (Gedächtnis, Aufmerksamkeit,
Lernen…) beeinflusst. Des Weiteren wird auch heute noch bei der Erforschung der
Mechanismen wie sich ein Konzept beim Kind entwickelt, immer wieder der Stadienbegriff
angewandt, man geht davon aus, dass es eine invariante Abfolge von Stadien gibt, in der
spätere Stadien auf frühere aufbauen. (Weitere Grundaussagen in Piagets Theorie, die in
der folgenden Forschung übernommen wurden: Kinder warten nicht passiv auf einen
stimulierenden Reiz, sondern suchen diesen aktiv; Grundschulkinder denken in logischmathematischen Strukturen; das präoperative, komplex forschende Denksystem zeigt sich in
sog. „falschen“ Vorstellungen der Kinder; die kognitive Entwicklung ist abhängig von der
Fähigkeit zur Sprachverwendung; Kinder bringen sich selbst viel bei)
Entdeckung überraschender Merkmale im kindlichen Denken
Piaget hat umfassend dargestellt was sich entwickelt und dabei viele Dinge aufgedeckt, die
man vorher noch nicht einmal geahnt hat. Z.B. braucht die Entwicklung von Konzepten nicht
nur länger als vermutet, sie durchläuft auch interessante Schritte (siehe Vorlesung: die Erde
ist rund). Insgesamt denken Kinder über eine enorme Vielfalt von Dingen nach. Solche
Erkenntnisse sind zudem bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Piaget hauptsächlich
alltägliches Verhalten beobachtet hat.
Der breite Anwendungsbereich
Mehr Bereiche als bei allen anderen Entwicklungstheorie: Nicht nur die kognitive Entwicklung
des Kindes wie sie sich in Stadien vollzieht ist angesprochen, Piagets Theorie enthält auch
viele Denkanstöße in Richtung soziale, affektive Entwicklung sowie das soziale und affektive
Lernen. Disziplinen wie die Erkenntnistheorie, die Wissenschaftsphilosophie und die
Pädagogik werden angesprochen. Dadurch wird die Theorie besonders attraktiv aber auch
angreifbar.
Die ökologische Validität
Der Anspruch, dass eine Theorie zur kognitiven Entwicklung etwas über die wirkliche Welt
der Kinder aussagen muss, ist dadurch erfüllt, dass Piaget Kinder nicht im Labor, sondern in
ihrer natürlichen Umgebung untersucht und das, ohne die Bedingungen stark zu
manipulieren. Die ökologische Validität nimmt aber mit steigendem Alter der untersuchten
Kinder ab, denn die Aufgaben werden zunehmend komplexer. Das Eingreifen des
Versuchsleiters durch nachfragen bzw. durch das Aufgabenstellen an sich, wird hier aber
notwendig, denn das Denken der älteren Kinder äußert sich nicht mehr in ihren Handlungen,
ist also nicht so einfach zu beobachten wie bei jüngeren Kindern.
31
Schwächen der Theorie
Kommt noch.
32
Wygotskis Theorie und die Kontexttheoretiker
Lew Semjonowitsch Wygotski (1896-1943)
Einleitung
Im Westen haben sich aufgrund der politisch-philosophischen Weltsicht verschiedene, eher
das abgetrennte Individuum betrachtende psychologische Theorien herausgebildet, im Osten
eher den einzelnen in einen Kontext einbettende.
 Vertreter: Markus und Kitayama, wichtigster: Wygotski
Neuere Einflüsse haben auch im Westen für ein verstärktes Interesse für die
Kontexttheoretiker gesorgt
 Verhaltenspsychologie: Aufmerksamkeit auf Zielgerichtetheit und Zusammenhang
zwischen Fertigkeiten und ökologischer Nische
 Neo-Piagetianer: kontextspezifische Entwicklung
 Kontextspezifische Entwicklung bisher zuwenig beachtet worden
Zusammenfassung
Verschiedene Ansätze im Westen und Osten
Langsame Verschmelzung mit westlichen
Vorstellungen
Wichtige Begriffe und Daten
soziale Matrix
Kontext
Biographischer Abriss
1. Geboren wurde Lew Semjonowitsch Wygotski 1896, im selben Jahr wie Piaget, in einer
russischen Intellektuellenfamilie.
2. Ausgezeichnete Erziehung, Jurastudium, äußerst gebildet und belesen, starkes Interesse
für Sprache und Literatur.
3. Beginn der Laufbahn in der Provinz, ab 24 aufgrund seiner Brillanz in Moskau
4. Wygotski, Luria und Leontjew versuchen neue psychologische Schule auf der Grundlage
des Marxismus zu gründen
• Kulturhistorische Darstellung der Entwicklungspsychologie; Betonung höherer geistiger
Aktivitäten: Denken, Erinnern und Schlussfolgern
5. Intensive Forschung, auch in Pädagogik und Medizin, viel Arbeit für geistige und
körperliche Behinderungen
6. Opfer politischer Auseinandersetzungen, schwarze Liste bis weit nach seinem Tod
7. Starb 1934 an Tuberkulose
8. Nur 10 Jahre als Psychologe tätig, trotzdem riesiger Einfluss
• Mozart der Psychologie
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• In letzter Zeit starkes Interesse und großer Einfluss von W.s Theorien
Zusammenfassung
1. Aufstieg von Provinz in anerkannte Kreise
Moskaus
2. Versuch von marxistischer Psychologie
3. Später starke Differenzen mit pol. Führung
4. Heute großer Einfluss auf Psychologie
Wichtige Begriffe und Daten
• *1896(gleich wie Piaget)
• †1934 an Tuberkulose
Allgemeiner Überblick über die Theorie
Das aktive Kind in seinem Kontext als Untersuchungseinheit
1. Kind als Untersuchungseinheit steht nicht abgetrennt von seiner Umwelt, d.h. von seinem
Kontext. Kontext als formende Kraft, die u.a. für Ausbildung von Klassifikation,
Konzeptbildung, Schlussfolgerungen und Problemlösefähigkeit verantwortlich ist
2. Kontext schließt das ganze umgebende System mit ein, d.h. die gesamte Kultur sowie das
soziale und materielle Umfeld
3. Alle Abgrenzungen des einzelnen von seinem Kontext wirken auf Kontexttheoretiker
künstlich und verzerrend. Kontext und Individuum bilden eine untrennbare Einheit
• Zeitlicher Aspekt: Zu jedem gegebenen historischen Zeitpunkt ist eine Kultur einerseits das
Produkt ihrer eigenen Geschichte, bringt zugleich aber auch Kontexte hervor, die die
Entwicklung von Kindern und damit die Zukunft der gesamten Kultur prägen.
4. Kultur umfasst u.a. gemeinsame Überzeugungen, Werte, Kenntnisse, Fertigkeiten,
strukturierte Beziehungen, eine bestimmt Art Dinge zu tun, symbolische Systeme,
physikalische Anordnungen oder Objekte
5. Bronfenbrenner(1989) beschreibt in seiner ökologischen Psychologie vier Arten von
Systemkonstellationen, die mehr die untereinander mehr oder weniger wechselwirken:
• Mikrosystem: Muster von Aktivitäten, Rollen und Beziehungen in unmittelbarem
Lebensbereich.
Bsp: Familie, Schule, Peergroup
• Mesosystem: Koppelung und Prozesse zwischen zwei oder mehr Anordnungen, in die die
sich entwickelnde Person eingebunden ist; System von Mikrosystemen
• Exosystem: Wechselbeziehungen und Prozesse zwischen zwei oder mehr
Lebensbereichen, wobei in zumindest einen dieser Lebensbereiche die sich entwickelnde
Person in der Regel nicht eingebunden ist. Bsp: Familie und Arbeitsplatz der Eltern
• Makrosystem: Übergreifendes Muster von Mikro-, Meso- und Exosystmen, die für eine
gegebene Kultur, Subkultur oder einen anderen weiteren sozialen Kontext charakteristisch
sind
6. Bisherige Forschung sieht nur Kulturelle Unterschiede: emphCulture-as-difference,
während Cole auf universelle kulturbildende Eigenschaft des Menschen hinweist. Kultur als
formende Kraft: emphculture-as-medium
34
Zusammenfassung
1. Individuum und Kontext nicht trennbar, beides beeinflusst sich
gegenseitig fundamental
2. Bronfenbrenners ökologische Psychologie
Wichtige Begriffe und Daten
• kontextualistische Weltsicht
• Mikro-, Meso-, Exo-, und Makrosystem
• culture-as-difference und culture-as-medium
Die Zone der proximalen Entwicklung
1. Zone der proximalen Entwicklung: Distanz zwischen dem aktuellen Entwicklungsniveau
eines Kindes, bestimmt durch seine Fähigkeit, Probleme selbständig zu lösen, und der
höheren Ebene als potentieller Entwicklung, die durch seine Fähigkeit bestimmt wird,
Probleme unter Anleitung Erwachsener oder fähigerer Kameraden zu lösen
2. Bedeutung des Prozesses der Veränderung, in dem durch Entwicklungsprozesse nur in
Interaktion des Kindes mit Menschen seiner Umgebung interagiert. Dabei sind sowohl
Vorbild als auch Kind aktiv in einen gegenseitigen Prozess integriert. Wichtig ist auch die
aktive Rolle des Kindes bei seiner eigenen Entwicklung
3. Unterstützung durch Stichworte, Hinweise, Modellbildung, Erklärungen, Leitfragen,
Diskussionen, Mitwirkung, Ermutigung, Steuerung der Aufmerksamkeit des Kindes u.a.
Besonders wichtig: Intersubjektivität, d.h. gemeinsamer Verstehenshintergrund auf der Basis
eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und eines gemeinsamen Zieles
4. Rogoff erweitert Idee der prox. Entwicklung: Instruktion kann implizit oder explizit
vonstatten gehen. Einführung der Lehrzeit Metapher: Solche kulturellen Lehrzeiten eröffnen
dem Anfänger den Zugang zu den manifesten Aspekten einer Fertigkeit und zugleich zu den
eher verborgenen inneren Prozessen des Denkens. Erwachsene sorgen für
benutzerfreundliche Kontexte, in denen die Kinder ihre Fertigkeiten vervollkommnen können.
Damit besitzt jede Kultur ihren ”Kulturellen Lehrplan“
5. Bonfenbrenner (1989) definiert vier verschieden Arten, in denen die Natur des Kindes
aktiv auf seinen sozialen Kontext einwirkt:
• Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale rufen bei anderen Menschen Reaktionen hervor,
durch die die psychologische Entwicklung gefördert oder gehemmt wird
• Schon früh in ihrem Leben zeigen Kinder individuelle Unterschiede in ihrer Tendenz, auf
spezifische Aspekte ihrer sozialen und physikalischen Außenwelt zuzugehen oder sie zu
meiden. Auf diese Weise entwickeln sich auch unterschiedliche Fertigkeiten und Lernstile
• Kinder unterscheiden sich auch in ihrer Tendenz, zunehmend komplexere Aktivitäten
aufzunehmen und fortzuführen. Auch Unterschiede in Hinblick auf Kreativität und das
Bedürfnis nach Veränderung haben Einfluss darauf, welche Kontexte sich ein Kind aussucht
• Altersbedingte (und individuelle) Unterschiede zeigen sich darin, wie Kinder ihre
Fähigkeiten einschätzen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen und Erfolg und Misserfolg zu
steuern. Z.B. kann übertriebener Optimismus bei Vorschulkindern sinnvoll sein, denn er führt
dazu, dass Kinder mit ihren begrenzten Kompetenzen neue Tätigkeiten ausprobieren, selbst
wenn deren Anforderungen in Wirklichkeit ihre Fähigkeiten weit übersteigen. Auch solche
Erfahrungen führen dazu, dass sie die nötigen Fertigkeiten entwickeln.
6. Wygotskis sieht Zone der proximalen Entwicklung viel weiter, jeder Kontext, in dem Kinder
durch eine Aktivität über ihren Entwicklungsstand hinausgeführt werden. Besondere Rolle
35
des Spiels, da hier auf ungefährliche und symbolische Weise ein erweiterter Kontext
geschaffen wird.
Zusammenfassung
1. Zone der proximalen Entwicklung als Spanne zwischen
Fertigkeiten des Kindes und den sich in sozialer Interaktion
entwickelnden potentiellen Fähigkeiten
2. Rolle der sozialen Interaktion
Wichtige Begriffe und Daten
• Zone der proximalen Entwicklung
• Rogoff (1990)
Sozio-kulturelle Ursprünge der individuellen geistigen Funktionsweise: Das
Intermentale konstruiert das Intramentale
1. Kognitionen (z.B. Denken, gezielte Aufmerksamkeit, logisches Gedächtnis, Bildung von
Konzepten, Wille) entstehen nach Wygotski, indem das Kind die Interaktion mit dem
kompetenten Partner auf der intermentalen Ebene internalisiert und in seine intamentale
Ebene integriert.
2. Kind als kleinstmöglichste Untersuchungseinheit, da intermentale und intramentale
Aktivität sich nicht trennen lassen.
3. Die Idee, dass die sozialen Verhältnisse das Bewusstsein bestimmen, stammt aus der
marxistischen Philosophie; Widerspruch zu westlichen Psychologien, die Kognition
”innerhalb“ eines autonomen Individuums ansiedeln
4. Die Verschiedenen Kontexttypen in denen wir uns bewegen, sorgen dafür, dass wir eine
ganze Reihe verschiedener Kognitionen entwickeln und im entsprechenden Kontext
anwenden können
5. Wichtiger Aspekt: Sprache. Interpersonelle Kommunikation führt zu intrapersoneller
Kommunikation
6. Prozesse werden nicht einfach
Internalisierungsprozess transformiert
stumpfsinnig
übernommen,
sondern
im
7. Rogoff (1990) spricht eher von Aneignung als von Internalisierung, da dieses Wort
weniger Grenzen zwischen Individuum und interpersonellem Aspekt suggeriert
36
Zusammenfassung
1. Kognitionen entstehen, indem interpersonelle Aspekte zu
intrapersonellen Aspekten internalisiert werden
2. Nähe zu marxistischer Philosphie
3. bestimmt die Art der Kognition
Wichtige Begriffe und Daten
• Itermentale Ebene
• Intamentale Ebene
• Internalisierungsprozess
• Aneignung (Rogoff)
Der Einfluß psychologischer Werkzeuge einer Kultur auf das
Denken
1. Wygotski betont die Rolle so genannter ”psychologischer Werkzeuge“. Damit sind
Mechanismen gemeint, die elementare geistige Funktionen, die wir mit den Tieren
gemeinsam haben und die durch externe Reize gesteuert werden, zu höheren geistigen
Funktionen, die Sprache und andere symbolischen Systeme einsetzen, um willentlich über
Dingen nachzudenken.
2. Psychologische Werkzeuge sind kulturspezifisch und stellen eine Art internen
Werkzeugkasten dar, mit dem eine Kultur ihre spezifischen Aufgaben möglichst optimal
bewältigen kann.
• Psychologische Werkzeuge erzeugen eine Verbindung zwischen dem aktiven Kind und
seiner materiellen und sozialen Umwelt
• Beispiele sind: Sprachsysteme, Zahlensysteme, Diagramme, Landkarten, konventionelle
Zeichen, Kunstwerke. Außerdem Strategien zum Lernen, zur Aufmerksamkeit oder zum
Behalten
• Psychologische Werkzeuge erzeugen kontextspezifisch die verschiedenen Kognitionen.
Dabei spielen z.B. technische Hilfsmittel wie Schriftsprache, Rechenmaschinen oder
Computer eine bedeutende
Rolle, da sie die Anforderungen und damit die Art der von der Kultur geforderten Kognitionen
verändern.
3. Wygotski sieht die Sprache als das zentrale psychologische Werkzeug an. Es ermöglicht
die verschiedensten Inhalte zu repräsentieren und dadurch als Einheit mit Denken und
Handeln die gesamte geistige Struktur zu formen.
• Moderne Kontexttheoretiker haben in kulturvergleichenden Untersuchungen nachgewiesen,
dass Sprache in anderen Kulturen nicht eine so dominante Rolle spielt, wie sie es bei uns
tut.
• Die Betonung Sprache als soziales Werkzeug steht in vermutlich in direktem
Zusammenhang zu Wygotskis sehr sozialinteraktionistischen Theorie
Methodologie
1. „Ein Kind ist, was es sein kann.“
Entscheidend ist die dynamische Beurteilung der Lernbereitschaft bzw. Lernpotentials und
weniger das Produkt des Lernens. Zudem hängt das geistige Potential eines Kindes
entscheidend davon ab, was es mit Unterstützung zu leisten vermag und nicht was es alleine
bewältigt.
37
2. Mikrogenetische Methode
Beobachtung von Veränderungen und qualitative Beschreibung von Verhaltenstypen
innerhalb einer Versuchssitzung, durch:
 Hinzugabe von Hinweisreizen und Denkanstößen
 Einbau von Hindernissen beim Problemlösen
 Unterstützung durch den sozialen Kontext und Motivation
3. In der heutigen Forschung
Will man Verhalten verstehen, muss der Kontext des Kindes genauso gut untersucht werden,
wie das Kind selbst.
 Variation von Kontextsituationen
 Stichproben aus verschiedenen Ländern, Schichten, ethnischen Gruppen
 Multikontextuelle Forschung
Wichtige Begriffe:
 Dynamische Beurteilung
 Mikrogenetische Methode
Beispiele für Wygotskische und Kontextualistische Forschung
1. Forschungsbereiche von Wygotski: Retardierung, Taubheit, Spiel, Emotion,
Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Schizophrenie, Negativität im Erwachsenenalter, Kunst,
Kreativität, Schauspiel
2. Forschungsgebiete der Kontextualisten: Planung, Unterricht, Intelligenz, Interaktion in
Peergroups, Mutter- Kind- Interaktion
Egozentrisches und inneres Sprechen




ab 2 Jahren beginnen Sprechen und Denken miteinander zu verschmelzen
ab 3 Jahren: Kommunikatives Sprechen mit anderen
Egozentrisches Sprechen (hörbar) mit sich selbst um Denken und Verhalten zu steuern
ab 7 Jahren wird egozentrisches Sprechen zum inneren Sprechen
=> Interpersonale Kommunikation (im geistigen Austausch mit anderen) wird zur
Intrapersonalen Kommunikation (verinnerlichte Form)
(Differenzierung zwischen dem Sprechen mit anderen und dem mit sich selbst)
=> Sprache beschleunigt die kognitive Entwicklung (bei Piaget: Kognition geht der Sprache
Voran)
=> Um das Sprechen eines anderen zu verstehen genügt es nicht seine Worte zu verstehen,
wir müssen sein Denken und seine Motivation verstehen
Entwicklung von Begriffen
Mikrogenetische Methode: „Methode der doppelten Stimulation“ am Beispiel der
Wygotskiblöcke:
1. ein Stimulus mit symbolischer Eigenschaft ( z.B. Wort)
2. ein nicht symbolischer Stimulus, bei welchem Eigenschaften wahrgenommen werden
können (z.B. Block)
Drei Stadien konzeptueller Entwicklung:
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1. Unorganisierte Kategorien
2. Komplexe
3. Begriffe (korrekte Zuordnung möglich, da man mit Hilfe der Nonsensewörter
Dimensionen abstrahieren kann und Ähnlichkeiten entdecken kann)
Wissenschaftliche Begriffe: Logisch definierte Wörter, die einen sozialen, wissenschaftlichen,
mathematischen Inhalt haben können. Ein bewusster und gezielter Gebrauch dieser Wörter
ist möglich, da man Distanz zu ihnen hat.
Spontane Begriffe: Intuitiv, konkrete Begriffe aus der Alltagserfahrung
 Zunehmend werden die zwei Begriffsarten miteinander verflochten: Wissenschaftliche
Begriffe werden konkreter und Spontane Begriffe werden logischer und abstrakter
Gelenkte Partizipation in der Zone der proximalen Entwicklung
Methode: Gegenstände in Räume sortieren mit Unterstützung (dem kognitiven Niveau des
Kindes angepasst) bzw. ohne Unterstützung
 Erforschung gelenkter Partizipation und kindlicher Leistung entsprechend seines
Entwicklungsstandes
Interkulturelle Forschung
1. Bestimmung universeller Merkmale der Entwicklung und Bestimmung von Mechanismen,
über die eine spezifische Kultur Entwicklung beeinflusst
2. Aufzeigen von bestimmten nicht universellen Verhaltensweisen, Entwicklungsstadien und
Erziehungsmethoden als Ergebnis spezifischer kultureller, sozialer und histologischer
Umstände
 Entwicklung wird eindeutig von der jeweiligen Kultur bestimmt
Wichtige Begriffe:
 Kommunikatives Sprechen
 Egozentrisches Sprechen
 Inneres Sprechen
 Methode der doppelten Stimulation zur Untersuchung der Begriffsentwicklung
 Wissenschaftliche Begriffe
 Spontane Begriffe
 Gelenkte Partizipation
 Universelle versus nicht universelle Merkmale der Entwicklung
Mechanismen der Entwicklung
Dialektischer Prozess der Entwicklung: Nach Wygotski ist Entwicklung ein Prozess von
These, Antithese und Synthese. Es entsteht ein Konzept höherer Ordnung oder eine weiter
entwickelte Funktion.
Beispiele:
 Spontane Konzepte
 Ohne Hilfe
 Das Kind
 Vererbung
versus
versus
versus
versus
Wissenschaftliche Konzepte
Mit Unterstützung
Das zu lösende Problem
Umwelt
39
Prozesse der Veränderung im dialektischen Prozess (Beispiel: Eltern- KindInteraktion)
 Internalisierung (Intermentales wird zu Intramentalem)
 Gelenkte Partizipation (aktives Übernehmen von immer mehr Verantwortung)
 Sprache und Beobachtung
Vergleich Wygotski und Piaget:
1. Entwicklung ist eine von stabilen momentanen Strukturen unterbrochene Abfolge von
Konflikten => entspricht dem Äquilibrationsprozess von Piaget
2. Ursache des Ungleichgewichts stellen die veränderte Gesellschaft und die Umwelt dar
=> Piaget dagegen sieht einen aktiven Organismus, aber eine passive Umwelt
3. Betonung auf das Zusammenwirken von Menschen oder Vorstellungen => Piaget hebt
dagegen den Konflikt zwischen den Konzepten eines Kindes und denen der
Erwachsenen hervor
Nach Klaus Riegel (1976) gibt es vier Quellen der Entwicklungsbedingten Veränderung im
dialektischen Prozess
1. Innerlich- Biologische Dimension
2. Individuell- Psychologische Dimension
3. Kulturell- Soziologische Dimension
4. Äußerlich- Physikalische Dimension
 Jede der vier Faktoren unterliegt Veränderungen, beeinflusst die andere und wird von
allen anderen beeinflusst
 Leben als Sequenz konkreter Interaktionsereignisse, durch die ein Individuum in einen
sozialen Kontext hineinwächst
Wichtige Begriffe:
 Dialektischer Prozess der Entwicklung
 Klaus Riegel „4 Quellen im dialektischen Prozess“
Standpunkte der Theorie zu grundlegenden Fragen in der
Entwicklung
Die menschliche Natur
 Die menschliche Natur lässt sich nur kontextbezogen verstehen
 Das Kind als aktiver inhärent (zusammenhängend) sozialer Organismus innerhalb eines
umfassenden Systems von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
 Die Aktivitäten eines Kindes verändern die Kognition, wodurch sich wiederum die Natur
seiner künftigen Aktivitäten ändert
Qualitative versus Quantitative Entwicklung
Die Entwicklung ist sowohl qualitativ:
 Erwerb des inneren Sprechens,
 Übergang von intuitiven spontanen zu wissenschaftlichen Begriffen,
 Fortschritt geistiger Funktionen
als auch quantitativ, von Perioden der Ruhe, Perioden der Krise und spezifischen
Wendepunkten durchbrochen.
40
Obwohl Kontexttheoretiker keine Entwicklungsstadien definieren entstanden:
1. Stadienorientierter Ansatz der Kontexttheoretiker Cole und Coles: „Theorie allgemeiner
biologischer sozialer und verhaltensmäßiger Übergänge“
2. Wygotskis Entwicklungsstadien:
 Affiliation
 Spiel
 Lernen
 Aktivität in Peergroups
 Arbeit
 Theoretisieren
Vererbung versus Umwelt
Wygotski und die Kontexttheoretiker erkennen die Bedeutung der Biologie zwar an, befassen
sich aber überwiegend mit Umwelteinflüssen und besonders mit kulturellen Einflüssen
Außerdem ist der Mensch in der Lage seine Umwelt durch den Gebrauch von technischen
und psychologischen Werkzeugen zu verändern
Was entwickelt sich?
1.
2.
3.
4.

Eine Kultur (Sozio- kulturelle Geschichte)
Einen Art (Phylogenese)
Ein Kind (Ontogenese)
Eine kognitive Fertigkeit (Mikrogenese)
Entwicklung hat keinen idealen und universellen Endpunkt; vielmehr wird ein Endpunkt
durch die Ziele der jeweiligen Kultur definiert
Metatheoretische Klassifikation
1. Kontextualistische Theorien sind in der Regel Funktionalistische Theorien
2. Besonderheit bei Wygotski:
 Theorie gestützt auf der Theorie des Marxismus
 Gebrauch von räumlichen Metaphern als informelle Modelle (z.B. Zone,
Distanz)
 Spezifische Metaphern (Werkzeuge, Gerüst, Webteppich, etc.)
Kritik der Theorie
Stärken der Theorie
Berücksichtigung des sozial- kulturellen Kontexts
 Integration von Geschichte, Soziologie, Ökonomie, Politik, Linguistik, Kunst und Literatur
in die Psychologie
 Entwicklung vollzieht sich weniger im einzelnen Kind als mehr an der Grenze zwischen
Kind und Gesellschaft
Integration von Lernen im Alltag und Entwicklung
 Lernen als Motor der Entwicklung
 Kognitive Entwicklung besteht darin Probleme mit Hilfe von Werkzeugen und sozialen
Ressourcen herauszufinden, zu verstehen und mit ihnen umzugehen
41
Sensibilität für die Vielfalt der Entwicklung
 Entwicklung hat kein universelles Ziel sondern ist von Kultur zu Kultur verschieden.
 Unterschiedliche soziale und materielle Umstände und Gebrauch von verschiedenen
Werkzeugen eröffnen unterschiedliche Entwicklungswege und führen zu spezifischen
Ideen, Denkweisen und Verhalten.
Schwächen der Theorie
Die vage Definition der Zone der proximalen Entwicklung
 Auch wenn man die Ausdehnung der Zone kennt, besitzt man noch kein präzises Bild der
Lernfähigkeit, der Lernstile und des aktuellen Entwicklungsniveaus von Kindern und ihres
Motivationsgrades.
=> Somit kann eine weite bzw. enge Zone proximaler Entwicklung sowohl wünschenswert
oder nicht wünschenswert sein
 Wie misst man die Zone der proximalen Entwicklung ohne verbindliche Messinstrumente?
 Unklarheit bei den psychologischen Prozessen der Internalisierung oder der Aneignung
einer angemessenen Aktivität
 Was kann man über die Allgemeinheit und Stabilität dieser Zonen aussagen?
 Wissen beruht hauptsächlich auf Mutter- Kind- Dyaden (einseitige Erfassung)
 Unabdingbar ist eine allgemeine Vertiefung über das Wissen der Zone
 Weitere Schwierigkeiten ergeben sich die Reaktion und das Verhalten des
Versuchsleiters zu standardisieren
Unzureichende Berücksichtigung des Entwicklungsaspekts
1. Zu wenige Beschreibungen über die Unterschiede von Kindern in ihrem Kontext auf
unterschiedlichen Altersstufen bzw. Entwicklungsniveaus
2. Welcher Art sind die Entwicklungsprozesse der proximalen Entwicklung und sind sie in
jedem Lebensalter gleich?
3. Welche kognitiven Fertigkeiten sind erforderlich, damit ein Kind auf Denkanstöße bzw.
andere unterstützende Hinweisreize, Aufmerksamkeit, Lernen durch Beobachtung und
kooperativen Dialog reagieren kann und wie wirken sie sich auf den Entwicklungsstand
des Kindes aus?
 Das Entwicklungsniveau beeinflusst, welcher Kontext bevorzugt wird, welcher Art die die
sozial- kognitiven Prozesse innerhalb der dynamischen Interaktion sind und welche
Auswirkungen sozio- historische Ereignisse auf das Kind haben.
 Das Entwicklungsniveau umfasst, das Wissen, die Motivation, die sozialen, sprachlichen
Fähigkeiten, die Richtung der Aufmerksamkeit, das Selbstbild und vieles mehr
Probleme bei der Untersuchung kulturell- historischer Kontexte
 Praktische Schwierigkeiten
 Zeitaufwand
 Schwer beobachtbar
 Intensives Studium einzelner Kulturen nötig
 Sprachliche Barrikaden
 => Ein historischer Zeitpunkt lässt sich niemals direkt mit einem anderen vergleichen und
es ist zudem schwer vorstellbar, welcher der vielen Aspekte verschiedener historischer
Zeitpunkte für Unterschiede im Verhalten verantwortlich ist
42
Fehlen prototypischer Aufgaben zum Nachweis interessanter
Entwicklungsphänomene
Der Kontexttheorie ist es nicht gelungen, der heutigen entwicklungspsychologischen
Forschung durch prototypische Aufgaben Abregungen zu geben.
Wygotski legte summarische, skizzenhafte oder aber nur wenige bzw. keine Daten vor, mit
Hilfe derer man neue Arbeitmethoden entwickeln könnte.
 Die Kontexttheoretische Forschung wird immer bruchstückhaft und ohne klare
Ausrichtung erscheinen, und durch die Vielzahl der verwendeten Aufgabentypen schwer
überschaubar und vergleichbar bleiben.
Abschließende Bemerkung
Wygotskis Theorie zeichnet sich durch drei Hauptaspekte aus:
1. Wie beeinflusst der Kontext das Kind
2. Der interaktive Lernprozess in der Zone der proximalen Entwicklung als Ausdruck des
Kollektivismus
3. Die Natur des Denkens ist kulturell vermittelt und insbesondere durch von der Kultur
bereitgestellte psychologische Werkzeuge erschaffen
Forschung im Sinne Wygotskis bedeutet:
1. Sowohl das Verhalten des Kindes aus auch das Verhalten des Erwachsenen beobachten
und feststellen, wie es sich der jeweiligen Reaktion des anderen anpasst
2. was ein Kind alleine und mit Unterstützung erreicht
3. Auf die Verschiebung der Verantwortung achten
4. Bewerten wie Erwachsene den Lernprozess strukturieren, und sich an das Niveau des
Kindes anpassen
5. Wie formt die jeweilige Kultur die Interaktion
43
Die Theorie der Informationsverarbeitung
Historische Entwicklung der Theorie
Informationsverarbeitung beim Erwachsenen
Die Theorie der Info-verarbeitung war die erste wichtige Kognitionstheorie, die nach der
Wandlung der Entwicklungspsychologie zur experimentellen Wissenschaft aufkam. Zum
einen befand sich der Neobehaviorisumus in der Krise und zum anderen brachte der
technologische Fortschritt auch in der Psychologie unwiderrufliche Veränderungen mit sich.
Durch den Zweiten Weltkrieg veränderte sich das Weltbild der Psychologen: Der Mensch
wurde nun als Vermittler von Information und als Entscheidungsträger aufgefasst. Mensch
und Maschine (Flugzeug oder Waffe) operieren als Einheit. Weitere Anstöße kamen von der
Kommunikationstechnik und Info-Theorie. Die Psychologen sprachen nun wie Ingenieure
von „Kanälen mit begrenzter Kapazität“, „seriellen“ und „parallelen“ Prozessen. Eine neue
Generation von Psychologen machte den menschlichen Geist zu ihrem Thema und
entwickelten Modelle einer menschlichen Info-Verarbeitung.
Weitere neuere
Forschungsrichtungen, die daraus entstanden, sind die Kognitionswissenschaft, welche eine
Verschmelzung von kognitiver Psychologie, Computerwissenschaft, Neurowissenschaft und
Linguistik darstellt, sowie die Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Denken
steht nun im Mittelpunkt und nicht mehr nur das Verhalten.
Der Infoansatz hat sich mittlerweile zu einem ausgereiften Forschungsbereich entwickelt; die
70er und 80er Jahre waren so gesehen ein Zeitalter des menschlichen Geistes.
Informationsverarbeitung bei Kindern
Ende der der 60er Jahre gab es Zweifel am Wert der lerntheoretischen Untersuchungen und
implizit auch an Piaget. Der Informationsverarbeitungsansatz dagegen schien viel
versprechend, da er kontrollierte Experimente ermöglichte, um die Entwicklung des Denkens
zu untersuchen. Dadurch haben Untersuchungen zum Gedächtnis des Kindes exponentiell
zugenommen.
Allgemeiner Überblick über die Theorie:
Der Mensch wird als ein informationsverarbeitendes System betrachtet, Entwicklung als
Selbstmodifikation verstanden, Probleme werden analytisch beschrieben und die
Methodologie der Ino-Verarbeitung zugrunde gelegt.
Der Mensch als Informationsverarbeitendes System
In unserem Computerzeitalter tritt der Vergleich zwischen Mensch und Maschine immer
mehr in den Vordergrund; beide verarbeiten in irgendeiner Form Information. Wahrnehmung
entspricht dem Input, das Denken entspricht einem Computerprogramm, die
Speicherkapazität, dem Speicherplatz in Kilobyte, das Gedächtnis einer Datenbank, eine
Entscheidung dem Output und mentale Operationen den Unterprogrammen.
Ein Erwachsender kann Millionen von Einzelinformation effizient organisieren. Wie konnte
ein solches System sich entwickeln? Aus der Sicht des Info-verabeitungsansatzes erlaubt
44
der Zusammenhang zwischen Input und Output Rückschlüsse auf den jeweiligen
Wissensstand. So ist jedes entwicklungsspezifisches Niveau durch eine spezifische InputOutput-Beziehung gekennzeichnet.
Aus dem Verhalten und unter Umständen auch aus den Beschreibungen, die Kinder selbst
über ihr Verhalten geben, lässt sich ableiten, welche Regeln sie in welchem Stadium oder
Alter anwenden.
Schließlich versuchten die Psychologen, anhand ihrer Analysierungen der Reaktionen der
Kinder ein Computerprogramm abzuleiten um festzustellen ob sich die Handlungssequenz
der Kinder damit erzeigen lies.
Das Flussdiagramm-Modell von Atkinson und Shiffrin (1969):
Flussdiagramme heißen auch Modelle und sie veranschaulichen die theoretischen Aussagen
zur menschlichen Info-verarbeitung. Dieses Modell ist ein typisches für die Info-verabeitung,
da es sensorischen Speicher, Kurzeitspeicher und Langezeitspeicher mit einbezieht.
Sensorischer Speicher enthalten für kurze Zeit sämtliche Infos die bei Sinnesorganen
eingehen (wenige Sekunden, Kapazität bei Kindern gleich groß wie bei Erwachsenen).
Jede weitere zur Verarbeitung ausgewählte Info wird an den Kurzzeitspeicher weiter
gegeben. Dieser hat auch einen begrenzten Umfang und speichert Infos für etwa 15-30
Sekunden. (Kapazität beim Erwachsenen: ca. 5-9 Items) Infos aus Langzeitspeicher und
sensorischem Speicher können dort zusammengeführt werden, weswegen es auch oft
Arbeitsspeicher genannt wird.
Der Langzeitspeicher mit seiner großen Kapazität hält Infos für unbegrenzte Zeit abrufbar.
Überall kann dabei Info verloren gehen, so dass keine weitere Analyse mehr möglich ist.
Steuerungsund
Organisationsprozesse
helfen
dem
Menschen,
strukturelle
Einschränkungen der Verarbeitungskapazität zu überwinden.
Entwicklung als Selbstmodifikation
Im Hinblick auf die Entwicklungspsychologie gehörten Computerprogramme, die sich selbst
korrigieren und modifizieren zu den wichtigsten Durchbrüchen in der Computerwissenschaft.
Diese Selbstmodifikationen treiben das Simulationsprogramm von einem Stadium zum
nächsten. Viele Psychologen, die den Computer als Metapher aufgreifen, gehen beim
Menschen von einer Selbstkorrektur durch Feedback aus. Indem Kinder wenig sinnvolle
Methoden verwerfen und Erfolg versprechende beibehalten entwickeln sie ein immer
effizientere Informationsverarbeitung.
Problemanalyse
Ein Charakteristikum des Info-Ansatzes ist die sorgfältige, fast schon penible Analyse der
experimentellen Aufgabe oder des Alltags-Problems, mit dem ein Kind oder Erwachsener
konfrontiert ist. Der Forscher analysiert die jeweilige Aufgabe im Hinblick auf die
verschiedenen notwenigen und hinreichenden kognitiven Fertigkeiten, die zu ihrer
Ausführung erforderlich sind. Die einzigartigen Anforderungen einer jeden spezifischen
Aufgabe lösen unterschiedliche Verarbeitungsaktivitäten aus. Bei der Analyse einer Aufgabe
kann man zwei Klassen von Verhaltensweisen unterscheiden: solche, die Kinder als
notwenige Anpassung an die Aufgabe entwickeln, und solche die auf unzureichenden
Fertigkeiten bei der Info-Verarbeitung beruhen. Informationstheoretiker neigen zu der
Annahme, dass ein Kind einen Satz von bereichsspezifischen Regeln erwirbt, die auf eine
bestimmte Aufgabe oder eine bestimmte Gruppe von Aufgaben begrenzt sind.
45
Methodologie
Bereiche des Info-verarbeitungsansatzes: Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Textverarbeitung,
Sprache und Problemlösen. Solche Studien erfassen oft zeitliche Variablen, wie Dauer der
Reiz-Darbietung und die Reaktionszeit, erfassen also oft nur mikroskopische Ausschnitte.
Vorausgesetzt wird, dass jede mentale Aktivität eine gewisse Zeit braucht und zwischen
Kinder verschiedener Alterstufen und geistiger Entwicklungen verschieden Reaktionszeiten
benötigt werden.
Weitere wichtige Methode ist die Regelbewertung auf der Basis der Fehleranalyse. Das
Muster der richtigen und falschen Antworten über verscheiden Typen von Versuchen hinweg
zeigt, welche Regeln Kinder anwenden, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Eine weitere
Bewertungsmöglichkeit bietet die Analyse der Augenbewegungen.
Weitere Methode ist Vygotskis mikrpogenetische Methode, bei der den Kindern die
Möglichkeit geboten wird für einen allgemeinen Problemtyp viele verschiedene
Lösungsversuche zu machen. Die mikrogenetische Methode ermöglicht es, den Zeitpunkt
abrupter Veränderungen oder kognitiver Einsichten zu erfassen.
Abgesehen von den traditionellen experimentellen Methoden gibt es im Info-ansatz zwei
weiter Forschungsinstrumente: Modelle und Computersimulation. (Modelle siehe
Flussdiagramm weiter oben) Computerprogramme gelten als Testinstrumente für Theorien
des menschlichen Denkens. Sie sollen dem menschlichen Denken möglichst nahe kommen
und präzise, spezifisch und vollständig sein. Ein gutes Modell lässt sich für mehrere
Verhaltensweisen verallgemeinern, ist aber andererseits spezifisch genug, um durch
empirische Belege bestätigt oder widerlegt werden zu können.
Die wichtigsten entwicklungspsychologischen
Forschungsrichtungen
Gedächtnis
Einerseits wird weithin angenommen, dass kleine Kinder nur ein sehr schlechtes Gedächtnis
haben, dennoch wissen Eltern und Lehrer von Vorschulkindern, dass sich Kinder an
Geschichten oft im Wortlaut erinnern, wenn man sie ihnen nur wenige Male vorgelesen hat.
Vier
Hauptfaktoren
werden
als
Urasche
der
entwicklungsbedingten
Gedächtnisveränderungen vorgestellt:
Strategien:
Einige Gedächtnisaktivitäten laufen mühelos und scheinbar automatisch ab, z.B. erkennt ein
Baby das Gesicht seines Vaters. Solche Gedächtnisakte geschehen „von allein“. Es handelt
sich eher um ein simples Wieder erkennen als um ein aktives Erinnern. Das einfache
Weidererkennungsgedächtnis ist auch schon bei kleinen Kindern sehr gut ausgeprägt. Wenn
allerdings das zu erinnernde Material nicht in einem Kontext steht, der für das Kind
bedeutsam ist, sondern das bloße Erinnern als Ziel verfolgt als primäres Ziel verfolgt werden
muss, zeigt sich tatsächlich eine erhebliche Verbesserung der Gedächtnisleistung im
Verlaufe der Entwicklung. (z.B. Telefonnummern) Um zusammenhanglose Info speichern zu
können, müssen sie mit dem vorliegenden Material etwas Bestimmtes unternehmen. Dieses
etwas ist eine Strategie. Diese sind Hilfsmittel, die der Mensch in seinem ständigen
evolutionären Kampf mit den Grenzen seiner Verarbeitungskapaziät entwickelt hat. Z.B.
reproduzieren Kinder, die spontan memorieren mehr Items als andere Kinder. Sie sind also
in der Lage Memorieren als Gedächtnisstrategie einzusetzen. Allerdings wenden sie diese
46
Strategien nicht in jedem Fall von sich aus an. Flavell bezeichnete diesen Sachverhalt als
Produktionsdefizit.
Es hat sich gezeigt, dass ältere Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit Beziehungen höherer
Ordnung zwischen verschiedenen Reizen, also etwa Kategorien heranziehen als jüngere
Kinder. Im Alter von 10 Jahren können Kinder in der Regel eine Strategie auswählen, di
einer Aufgabe angemessen istund sie können diese Strategie rasch, spontan und effizient
anwenden. Bestimmte Strategien werden aber auch noch bis zu Adoleszens weiter
entwickelt.
Drei neuere Forschungsrichtungen:
1. Es wurden rudimentäre Strategien nachgewiesen.
2. Gedächtnisstrategien werden untersucht, dabei verbraucht die Strategie bei älteren
Kindern weniger Kapazitätsreserven.
3. die Ursachen, die zur Strategieentwicklung führen werden untersucht.
Wissen:
Das Gedächtnis ist kein isolierter mentaler Prozess, der sich von der übrigen Kognition
trennen ließe, sondern es ist in ein umfassendes Denksystem eingebunden. Die Beispiele in
denen vorhandenes Wissen den Abruf von Infos aus dem Gedächtnis erleichtert, lassen sich
auf verschiedene Weise erklären: Die erste Möglichkeit wäre dass Kinder mit einer
umfassenden Wissensbasis auf die zu erinnernden Items zurück greifen können, weil diese
Items in einem Assoziativen Netzwerk mit anderen Items und mit übergeordneten Konzepten
verbunden sind.
Nach einer zweiten Erklärung wächst mit der Wissensbasis auch die Wahrscheinlichkeit
dass eine geeignete Strategie angewandt wird, was wiederum den Abruf aus dem
Gedächtnis erleichtert. Zusätzlich zu den beiden genannten wichtigsten Erklärungsansätzen
wird vermutet, dass eine umfangreichere Wissensbasis den Abruf möglicherweise dadurch
erleichtere, dass sie die Motivation des Kindes verstärkt oder zu einem besseren
Verständnis im Hinblick auf das Ziel der Aufgabe führt. Die Struktur der Wissensbasis
besteht im wesentlichen aus dem Verknüpfungsmuster de semantischen Netzwerks. Die
Zuname des Wissens ist wichtig für die Gedächtnisentwicklung, aber vielleicht noch wichtiger
ist die Frage, wie Wissen repräsentiert wird, genauer gesagt in welcher Form es organisiert
ist. Eine letzte Beobachtung zum Zusammenhang zwischen Wissensbasis und Gedächtnis
zeigt, dass sich Kinder primär an ganz andere Dinge erinnern als Erwachsene, da sich ihre
Interessen und ihre Wissensbasis deutlich unterscheiden. Mit wachsender Wissensbasis
neigen Kinder zunehmend dazu, Schlussfolgerungen zu ziehen, die über die dargebotene
Information hinausgehen. Das konstruktive Gedächtnis von Kindern spiegelt auch ihre
sozialen Überzeugungen, Einstellungen, und Erwartungen wider.
Außerdem Kopiert kindliche Erinnerung nicht einfach die Welt, vielmehr konstruieren sich
Kinder ihre Erinnerungen aus Schlussfolgerungen auf der Basis ihrer verfügbaren Wissens.
Metagedächtnis.
Metagedächtnis ist das Wissen über das Gedächtnis und ein Sonderfall der Metakognition,
des Wissens über alle Aspekte des menschlichen Denkens. Während der Entwicklung lernen
wir, dass manchmal eine zusätzliche Anstrengung oder eine außergewöhnliche Handlung
notwendig ist, um uns an etwas zu erinnern, und dass bestimmte Faktoren der Erinnerung
förderlich oder hinderlich sind. Zu diesen Faktoren gehören personelle aufgabenspezifische
oder strategische Variablen. Die feinere Facetten de Metagedächtnisses entwickeln sich
beim Menschen erst später. Vermutlich wird Kindern immer stärker bewusst, dass das
Kurzeitgedächtnis ziemlich flüchtig ist. In der Grundschulzeit begreifen Kinder im
47
allgemeinen dass Strategien nützlich sind. Ein schlecht entwickeltes Metagedächtnis kann
die Ursache für die bereits erwähnte Produktionsschwäche (nach Flavell) bei Strategien sein.
Der Zusammenhang zwischen dem Wissen über das Gedächtnis und der
Gedächtnisleistung scheint jedoch nicht ganz so einfach zu sein. Wissen hat nicht
zwangsläufig zur Folge, dass es auch angewendet wird.
Kapazität:
Eine nahe liegende Erklärung der Gedächtnisentwicklung wäre, anzunehmen, dass die
Gedächtnisspanne zunimmt. Und es gibt auch tatsächlich Belege dafür, dass mit
zunehmender Reifung des ZNS die Kapazität zunimmt. Kognitive Fertigkeiten werden durch
Übung immer stärker automatisiert und beanspruchen dadurch immer weniger Kapazität.
Folglich dürfte die Entwicklungsabhängige Kapazitätszunahme zum Teil auch die
zunehmende Effizienz widerspiegeln mit der die gleiche Kapazität genutzt wird und nicht
ausschließlich auf strukturelle neurologische Veränderungen zurückgehen. Reifung UND
Übung tragen also dazu bei, dass ältere Kinder eine größere Gedächtnisspanne haben, als
jüngere. Interessanterweise scheint diese Zunahme der Gedächtniskapazität
bereichsspezifisch zu sein.
Repräsentation
Als Repräsentation bezeichnet man die mentale Form in der Informationen dargestellt
werden. Wissen kann auf unterschiedliche Weise repräsentiert werden, in Form von Wörtern
oder Sätzen, Handlungen, Vorstellungsbildern und abstrakten Propositionen. Da
Erwachsene ihr Wissen im wesentlichen über Sprache repräsentieren, haben sich die
Psychologen egozentrisch auf das Bedeutungssystem der Sprache konzentriert – d.h. auf
die Frage wie Objekt oder Phänomene verbal enkodiert und innerhalb eines semantischen
Netzwerks interpretiert werden. Ein besonders interessanter Repräsentationstyp sind
Skripte. Skripte sind generalisierte Repräsentationen einer geordneten zeitlichen Abfolge von
Ereignissen, wie sie im täglichen Leben vorkommen. Anhand von Skripten können Kinder
alte und neue Objekte oder Phänomene verstehen oder interpretieren. Skripte zeichnen sich
durch drei bemerkenswerte Merkmal aus:
1. Sie werden wahrscheinlich sowohl aus sprachlichen Repräsentation, als auch aus nonverbalen Vorstellungsbildern gebildet.
2. Der Skriptansatz scheint die Art, wie Kinder komplexe Ereignisse ihres Alltages
repräsentieren in viel genauere Annäherungen zu beschreiben, als viele andere Ansätze
3. Dieser Ansatz lässt sich unmittelbar auf das soziale Umfeld von Menschen und
Ereignissen anwenden.
All diese verschiedenen Typen von Repräsentationen lassen sich in 2 Kategorien einteilen,
je nachdem, ob Information über das WIE eines Vorgangs (prozedurales Wssen), oder das
DASS (deklaratives Wissen) repräsentiert werden soll.
Problemlösen
Bei den Forschungen zum Problemlösen der Kinder geht es vor allem darum
herauszufinden, nach welchen Regeln die Kinder in den entsprechenden Altersstufen beim
Problemlösen vorgehen. Ziel ist es charakteristische Produktionssysteme zu entwickeln
und auf dem Computer zu simulieren, um so Verhalten vorherzusagen. Wichtige
diesbezügliche Namen sind SIEGLER und KLAR.
SIEGLER (1978) entwickelte vier Regelmodelle zum Lösen von Balkenaufgaben, denen 89%
der Kinder entsprachen (s. S. 249). Bei seinem Vorgehen wird ihm allerdings zu
48
eingeschränkte Versuchsanordnung vorgeworfen, die den Kindern eine forced-choice, eine
erzwungene Antwort, nahe legen würde.
KLAHR versucht Computerprogramme zu erstellen, die die Entwicklung von Kindern in
spezifischen Bereichen nachvollziehen. Voraussetzung dafür sind die schon erwähnten in
Flußdiagramme umgesetzte Produktionssysteme: eine Zusammenstellung von Produktionen
(“Wenn das..., dann tue das...”) samt einem Konfliktlösungsprinzip, daß bei mehreren
Möglichkeiten entscheidet, welche Produktion umgesetzt wird. Zusätzlich müssen diese
Programme Informationen über allgemeine Problemlösefähigkeiten des Kindes und seines
semantischen Wissens enthalten, sowie Reaktionen auf Feed-Backs oder andere Stimuli
während der Anwendungsphase integrieren.
Intelligenz
STERNBERGS triarchische Theorie der Intelligenz (1985) verbindet die Beachtung von
kognitiven Prozessen, deren Kapazität und zeitliche Abläufe, Problemanalysen, individueller
Unterschiede und der Entwicklung logischer Operationen. Sie charakterisiert Intelligenz als
Zusammenwirken von drei Komponenten, die als elementare Prozesse, innere
Repräsentationen verändern. Das sind die Komponenten des Wissenserwerbs, die
Performanzkomponenten und Metakomponenten.
Performanzkomponenten sind z.B. Encodierung, Schließen, Abbilden, Anwenden,
Vergleichen, Abgleichen, Reagieren o.ä. Die Metakomponenten dirigieren die beiden
anderen und weisen Kapazitäten und Aufmerksamkeiten zu.
Überdurchschnittlich begabte Kinder und Erwachsene weisen besonders gute
Fähigkeiten in den Wissenserwerbkomponenten auf (vor allem beim zielgerichteten
Selektieren). Bei retardierte Kindern verlangsamt sich die fortschreitende Automatisierung
und Metakomponenten werden nicht ausgereift, so daß falsche Strategien ausgewählt und
nicht aufgegeben werden.
Wichtig für STERNBERG bleibt auch die Einordnung von intelligentem Verhalten in seinen
entsprechenden Kontext: “Es paßt sich an natürliche Gegebenheiten an und wird von soziokulturellen Einflüssen mitbestimmt.
Kommentar
Ein adäquates Entwicklungsmodell muß:
 verbale und nonverbale Reaktionen erklären
 Operationen des willentlichen und nicht-willentlichen Erinnerns erklären
 Steuerungsprozesse einschließlich der Strategien erklären
 das Zusammenspiel mit Regeln und Organisationsstrukturen erklären
 grundlegende mentale Komponenten spezifizieren
 selbstmodifizierende Prozesse und ihren Bezug zu biologischen und umweltbedingten
Einflüssen spezifizieren.
So beschreiben die vier entstandenen Sprachen je andere Aspekte am besten:
1. Semantische Netzwerke: Fakten- und deklaratives Wissen
2. Produktionssysteme und Flußdiagramme: Problemlösen
3. Scripte: Sequenzen abstrakter Probleme (z.B. Alltäglichem)
Mechanismen der Entwicklung
Entscheidend für das Entwicklungsmodell aus Sicht der Informationsverarbeitung ist die
Theorie des selbstmodifizierenden Systems: Das System erzeugt, indem es auf sich
49
selbst wirkt, Veränderung bei sich selbst. Für die Mechanismen des Übergangs werden noch
spezifische und allgemeine, allerdings explizite und formale Erklärungen gesucht.
Dabei sollen empirische Schnappschüsse einen Vergleich der Verarbeitungsprozesse in
unterschiedlichen Lebensaltern geben, die wiederum Aufschluß über Veränderungen und
ihre Ursachen zulassen können:
Allgemeine Ursachen sind
 allgemeine kognitive Fertigkeiten wie Informationsverarbeitung, Wissen über die Umwelt
und geistige Phänomene, Fähigkeiten zur mentalen Repräsentation oder höhere kognitive
Fähigkeiten (s. Piaget)
 sowie eine Zunahme der Verarbeitungskapazität und -schnelligkeit (Je mehr eine
Funktion automatisiert ist, desto weniger Kapazität beansprucht sie und desto mehr
“Platz” läßt sie folglich für andere)
Spezifische Ursachen sind:
 auf spezifische Erfahrungen zurückzuführen, so mit widersprüchlichen Vorhersagen,
das Ausprobieren einer erfolgreichen Strategie, neues Wissen und steigende Vertrautheit
mit dem Material...
KLAHR nimmt an, daß Lernen auftritt, sobald Kinder ihr gespeichertes Protokoll von
früheren Handlungen und deren Ergebnisse analysieren und diese auf Ähnlich- und
Regelmäßigkeiten, Redundanzen oder mögliche Subsysteme überprüfen.
Der Standpunkt des Informationsverarbeitungsansatzes zu
grundlegenden Fragen der Entwicklung
Die Natur des Menschen
Dieser Ansatz trägt mechanistische und organistische Züge.
Steuerungsprozesse, die die unterschiedlichen kognitiven Komponenten organisieren und
koordinieren. Allerdings ist kein so eng verknüpftes, organisiertes System elemantarer
logischer Operationen zugrunde gelegt wie bei PIAGET.
Es sind zwei Flußrichtungen der Information festzustellen, eine zu höheren Ebenen des
kognitiven Systems „aufwärtsgerichtete“ oder „datengesteuerte“ Verarbeitung und eine aus
dem Langzeitgedächtnis kommende „abwärtsgerichtete“ oder „konzeptgesteuerte“
Verarbeitung. Im ersten Fall reagiert der Organismus auf einen Input (Reiz) und ist bei rein
automatischem Ablauf als passiv zu charakterisieren. Im zweiten Fall allerdings wird u.a. der
Input interpretiert und über Regeln und Strategien neue Information gezielt gesucht. Der
Mensch ist so also auch ein aktives selbstmodifizierendes kognitives System.
Qualitative versus quantitative Entwicklung
Qualitative Entwicklung steht nicht im Mittelpunkt, ist weniger vertreten als bei FREUD und
PIAGET, aber mehr als in sozialer Lerntheorie.
 Ausbildung neuer Strategien zu Speicherung oder Abruf
 Erwerb von Problemlöseregeln
 Erwerb neuer Repräsentationsformen (z.B. beim Spracherwerb)
quantitative Entwicklung:
 Zunehmende Anzahl erinnerter Items
 wachsender Umfang des semantischen Netzwerkes
 wachsende Zahl der verfügbaren Strategien
50
Beide Entwicklungsformen wirken oft zusammen.
Vererbung vs. Umwelt
Es wird nur implizit auf Umwelt und Veranlagung eingegangen, da hauptsächlich die exakte
Spezifizierung des Zusammenwirkens von Umweltinformation und Zustand des
Informationsverarbeitungssystems interessiert. Umwelteinflüsse sind offensichtlich, da hier
die Quelle des kontinuierlichen Inputs zu finden ist, Vererbung spielt auf der Ebene der
neurologischen Entwicklung eine wesentliche Rolle, da hier die physischen Voraussetzungen
für die Informationsaufnahme geschaffen werden.
Was entwickelt sich?
Allgemein ausgedrückt entwickelt sich die
unterscheidet feiner in die Entwicklung von
a) „Wissen“ (über die Welt)
b) Metakognition („Wissen über das Wissen“)
c) Strategien („Wissen, wie man weiß“)
kognitive
Verarbeitung.
Brown(1975)
Metatheoretische Klassifikation
Der Computer bildet das wesentlichste formale theoretische Modell dieses Ansatzes im
Sinne einer freien Metapher. Es muss zwischen drei Formen der Theoriebildung
unterschieden werden, die sich gegenseitig beeinflussen können:
1. induktiv: das Hauptaugenmerk liegt auf Daten aus vergleichbaren Studien und den
beobachtbaren Tatsachen
2. deduktiv: die in eine formale Sprache übersetzten Annahmen generieren Implikationen
und leiten daraus Deduktionen ab
3. funktionalistisch: hypothetische Konstrukte werden immer wieder vor dem Hintergrund
der Tatsachen überprüft und korrigiert. Es wird also immer wieder auf induktives
zurückgegriffen, kann aber auch deduktiv werden.
Kritik der Theorie
Stärken der Theorie
1. Wiedergabe der Komplexität des Denkens: Eine Vielzahl kognitiver Prozesse werden
exakt spezifiziert und es wird versuch, die komplexe Organisation des Denkens zu
beschreiben.
2. Spezifische Erklärung von Performanz: Es sind spezifische Voraussagen zum
Verhalten beim Problemlösen in bestimmten Situationen beschreibbar, da von von einer
detaillierten Aufgabenanalyse und dem spezifischen kognitiven Entwicklungsstand
ausgegangen wird.
3. Streng methodisches Vorgehen: Den überprüfbaren Vorhersagen liegen strenge und
exakte Methoden zugrunde. Beim Beurteilungsverfahren der Fehleranalyse konnten
zwei Einschränkungen festgestellt werden:
a) einfachere und unvollständigere Regeln bei jüngeren Kindern (SIEGLER, 1976)
b) fehlerhafte Anwendung richtiger Regeln (BROWN & BURTON, 1978)
Schwächen der Theorie
Unzulänglichkeit des Computermodells
zwei grundlegende Probleme:
51
1. selbst bei identischem Output eines Computermodells im Vergleich zu menschlichem
Verhalten kann es sich trotzdem in wichtigen Aspekten menschlicher Denkformen
unterscheiden (z.B. parallele statt seriell)
2. unterschiedliche Programme können bestimmte Performanz gleich gut vorhersagen
(Mangel an Überprüfbarkeit)
Alle Modelle sind lediglich Metaphern und als solche nur zeitgemäße Bilder, die die
Wirklichkeit nur bedingt beschreiben. Zwar öffnen sie neue Perspektiven, umfassen aber
auch oft breitere Bedeutungen als gewünscht. Daneben können Modelle aber auch die
Bandbreite unserer Überlegungen erheblich einschränken.
Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Entwicklung
Allgemein werden drei Aufgaben für ein Entwicklungssystem postuliert:
1. Veränderungen innerhalb eines oder verschiedener Verhaltensbereiche beschreiben
2. Veränderungen in den Beziehungen zwischen verschiedenen Verhaltensweisen
beschreiben
3. Verlauf der beschriebenen Entwicklung erklären
Hier müssen in Bezug auf die Informationsverarbeitung einige Abstriche gemacht werden:
Zu 1.: Trifft für die Theorie weitgehend zu, wenn auch eingeschränkt werden muss, dass
bisher nur wenig Untersuchungsmaterial zu präverbalen kognitiven Reifungsprozessen
vorliegt, somit keine Entwicklung vom Säuglingsalter an beschrieben wird.
Zu 2.: Bisher wurden nur Beziehungen zwischen Gedächtnis, Sprache, kognitiven Prozessen
und Wahrnehmung skizziert. Dagegen gibt es im Bereich Kognition und sozio-emotionaler
Komponenten (Emotion, Motivation,...) kaum hinreichende Untersuchungen. Erste Ansätze
finden sich bei Arbeiten zu Erinnerungsverzerrung durch Scripte und Stereotype.
Zu 3.: Die Erklärung der Entwicklung wirft große Probleme auf. Zwar kann sehr genau
dargestellt werden, was im informationsverarbeitenden Bereich alles geschieht und welche
Mechanismen wirken, warum es so geschieht und warum es sich verändert kann allerdings
nicht erklärt werden.
Zusammenhänge zwischen den hier beschriebenen kurzfristigen Veränderungen und
langfristigen qualitativen Veränderungen (z.B. zwischen PIAGETs einzelnen Stadien) sind
ebenfalls unklar. Eine neue Richtung des Informationsverarbeitungsansatzes wäre hier die
Einbeziehung größerer qualitativer Veränderungen der kognitiven Organisation. Neue
Modelle, die sich am „Konnektionismus“ und Ansatz „neuronaler Netze“ orientieren, gehen in
diese Richtung (MCCLELLAND & JENKINS, 1991). Parallelverarbeitende Systeme aktivieren
bzw. desaktivieren Verbindungen und entwickeln sich auf diese Weise.
Wenig Berücksichtigung des sozialen Verhaltenskontextes
Computer verfolgen keine Absichten und Zwecke und befinden sich nicht in Zusammenspiel
mit einem ökologischen Kontext, sind daher auch nur ein wenig ergiebiges Modell für
menschliche Kognition (SHAW & BRANSFORD, 1977). Dieser Ansatz nahm seinen Anfeng in
künstlichen Laborsituationen und sucht erst langsam nach realistischeren und ökologisch
valideren Materialien und Aufgaben (RESNICK, LEVINE & TEASLEY, 1991)
52
Psychoanalytische Ansätze
Sigmund Freud
(1956-1939)
Biographischer Abriss
FREUD (1956-1939) lebte die meiste Zeit seines Lebens in Wien. Er begann sein
Medizinstudium mit großem Interesse an der Wissenschaft, mußte aber nach seinem
Abschluß aufgrund seiner finanziellen Situation und der Aufstiegsbarrieren für Juden in der
Wissenschaft eine private Praxis eröffnen. Dort interessierte er sich vornehmlich für die
Behandlung nervöser Störungen. JEAN CHARCOT und JOSEF BREUER machten ihn mit der
Hypnose als Therapieform der Hysterie bekannt. Von Breuer stammte auch die „Redekur“,
die für Freud zusammen mit seiner „Traumdeutung“ (1900) von zentralem Interesse war.
Breitere Anerkennung fand er erst nach seinen „Fünf Vorlesungen zur Psychoanalyse“,
einem von G. STANLEY HALL veranlassten Gastvortrag in den USA. Zahlreiche Vertreter der
Psychoanalyse wandten sich im späteren Verlauf von Freuds strengen Psychoanalytischen
Vorstellungen ab (u.a. JUNG und ADLER, die trotz dem vehemente Einflüsse auf allen Ebenen
gesellschaftlichen Lebens hatte.
Allgemeiner Überblick über die Theorie
Trotz teilweise widersprüchlicher Darstellungen der Theorie in unterschiedlichen Quellen und
Veränderungen im Laufe der Jahre, lassen sich 6 allgemeine Charakteristika ableiten: (1)
Dynamischer Ansatz, (2) Strukturalistischer Ansatz, (3) Topographischer Ansatz, (4)
Entwicklungsstadien, (5) Kontinuum Normal – Abnorm, (6) Psychoanalytische Methode
Der dynamische Ansatz
Nervöse Energie (=psychische Energie =Triebenergie =Libido =Triebspannung) wird
aufgebaut, verteilt sich, bindet sich an Vorstellungen, wandelt sich um und entlädt sich.
Dabei wird psychische Arbeit verrichtet. Die Energie gleicht einer allgemeinen Energiequelle,
die unterschiedlichst verwendet werden kann. Energie geht nicht verloren, entlädt sich wann
immer möglich sofort (Lustprinzip) und folgt dem Prinzip des kleinsten
Innervationsaufwands (Realitätsprinzip).
Wird sie nicht verbraucht, wandelt sie sich entweder in Angst um, die sich in eine organische
Struktur überträgt und ein Symptom hervorruft, oder in eine psychische Struktur (z.B.
Zwangsvorstellung).
Instinkte (=biologische Triebe) lösen körperinnere Reize (biologische Energie) aus, die den
Geist stimulieren und ein „Bedürfnis“ auslösen (psychische Energie). Somit herrscht ein
beständiger Austausch zwischen „Seele“ und „Körper“.
Die beiden elementaren menschlichen Triebe sind Eros (Sexual-, Selbsterhaltungstrieb,
Lebenstriebe, Streben nach Einheit) mit der Libido als verfügbarer Erosenergie und
Destruktionstrieb (Todestrieb, Aggression, Auflösung, Haß)
53
vier Merkmale eines Instinkts:
1. Quelle (z.B. physiologische Bedürfnisse)
2. Ziel: Befriedigung des Bedürfnisses und Zustand der Abwesenheit von Erregung; wird
erreicht über Unterziele, z.B. Suchen und Investition von Energie
3. Objekt, über das sich die Spannung entlädt (Person, Objekt oder Repräsentation); die
Energie bindet sich und „besetzt“
4. Drang: die Stärke hängt ab vom Maß zu befriedigender Energie
Triebe können sich miteinander vermischen, lassen sich partiell oder über Umwege
befriedigen oder lassen sich ersetzen (Substitution). Diese Objektsubstitution kann u.a. in
zwei Formen auftreten, (1) der Sublimierung (ersetzten durch ein Kulturell oder moralisch
„höherwertiges“ Ziel, z.B. malen gewalttätiger Bilder) und (2) der Kompensation (Ausgleich
durch Verlagerung auf ein anderes Gebiet).
Der strukturalistische Ansatz
Nach Freudscher Vorstellung ist die Psyche aus Strukturen aufgebaut, die von Seelenkräften
durchsetzt sind und die zwischen Trieben und Verhalten vermitteln. Die drei wichtigsten
Strukturen ("Seelenprovinzen") sind:
a) Es (Sitz der biologisch begründeten Triebe; Primärvorgang; Lustprinzip; "organische
Vergangenheit")
b) Ich (Mechanismus zur Anpassung an die Realität; sekundäre Bearbeitung;
Realitätsprinzip; "Macht der Gegenwart")
c) Über-Ich ("Gewissen"; "kulturelle Vergangenheit")
Das Es entspricht dem Lustprinzip und verlangt unmittelbare Befriedigung. Hier zeigt sich
der dunkle, unzugängliche Teil der Persönlichkeit. Befriedigung kann entweder direkt oder
über Wunschphantasien (primäre Bearbeitung) erreicht werden. Sind ab dem Kleinkindalter
auch ein Ich und Über-Ich vorhanden, bleibt das Es trotzdem ein Leben lang in Träumen,
Phantasien und impulsivem Verhalten vorhanden.
Die meisten Kenntnisse FREUDs über das Es entstammen seiner Traumanalyse, die
versucht, verschleierte Bedürfnisse, die als zu bedrohlich erscheinen, aufzudecken.
Das Ich entwickelt sich aus der Erkenntnis des Es, dass über die primäre Verarbeitung keine
generelle Wunscherfüllung möglich ist (später sprach Freud von einem anfänglichen
undifferenzierten Ich-Es). Zum Überleben trägt es über die sekundäre Verarbeitung mittels
organisierter geistiger Tätigkeiten bei (Denken, Problemlösen, Gedächtnis). Hier herrscht
das Realitätsprinzip, das die Energieentladung verzögert und bei der Entscheidungsfindung
hilft.
Das Ich steht beständig zwischen den „drei gestrengen Herren“ Es, Über-Ich und Außenwelt,
wodurch Angstgefühle entstehen und die Bedrohlichkeit bestimmten Verhaltens
signalisieren. Bei zu starker Angst kommen Abwehrmechanismen ins Spiel. Sie machen
über eine gewisse Verzerrung der Realität zumindest eine partielle Triebbefriedigung
möglich, behindern aber gleichzeitig kreatives Denken oder Problemlösefertigkeiten. Die fünf
wichtigste Abwehrmechanismen sind:
a) Verdrängung: Angsterregende Gedanken (Verlust der Selbstkontrolle oder Frustrationsund Schuldgefühle) werden nicht ins Bewußtsein gelassen. Wir leugnen oder vergessen,
was eine Gefahr zu sein scheint (laut FREUD u.a. auch Erinnerungen an kindliche
Sexualität). In schweren Fällen entstehen verdrängte Persönlichkeiten mit Verlust des
Realitätsbezugs
54
b) Reaktionsbildung: dem ursprünglichen Triebimpuls oft in übertriebener Form
entgegengesetze Verhaltensweise (z.B. Sauberkeitszwang oder Keuschheit)
c) Projektion: Verlagerung von eigenen, unerwünschten Triebimpulsen auf Menschen oder
Objekte außerhalb
d) Regression: Rückfall in Verhaltensweisen früherer Entwicklungsstadien, wenn die
aktuelle Angst allzu bedrohlich wird (Sehnsucht nach einfacheren Zeiten, z.B. in Form
kindischen Verhaltens).
e) Fixierung: Verharren in einem dem Lebensalter inadäquaten Entwicklungsstadium (der
Befriedigungsform, eines Objekts oder einer Denkform), einzelne Komponenten der
Persönlichkeitsentwicklung kommen zum Stillstand. Sie entsteht, wenn (a) eine
gegebene Befriedigungsform zu lustvoll ist, um aufgegeben zu werden, oder (b) wenn
der nächste Schritt zu furchterregend, schwierig oder unbefriedigend erscheint. Eine
frühere Fixierung erleichtert eine spätere Regression.
daneben gibt es:
f) Sublimierung eines inakzeptablen Triebimpulses in eine sozial akzeptierte Aktivität
g) Identifikation mit dem Aggressor
h) Verschiebung von Triebimpulsen
Das Über-Ich entwickelt sich aus einem bewältigten Ödipuskomplex und
Elternidentifikation heraus. Es entsteht aus zwei Komponenten:
a) Das negative Gewissen besteht aus elterlichen Verboten, die den Erwachsenen
Schuldgefühlen strafen. Dabei ist es oft strenger als es die Eltern waren und ist
stärker moralisch-idealistisch als realistisch.
b) Das positive Ich-Ideal besteht aus Verhaltensnormen, denen man gerecht werden
und die mit hohem Selbstwertgefühl und Stolz belohnen.
der
mit
viel
will
Das Über-Ich versucht sowohl Lustprinzip als auch Realitätsprinzip zu überwinden und die
gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Eine Unterscheidung zwischen subjektiver
Erfahrung und Realität gibt es nicht, Gedanken des Ich sind genau so schlimm wie eine
ausgeführte Tat.
Strukturelle Zusammenhänge ergeben sich in Form ineinander übergehender Gebiete der
drei Strukturen, die gegeneinander nicht scharf abgegrenzt sind. Ebensowenig läßt sich
deren jeweilige Energie voneinander abgrenzen, die zur Spannungsabfuhr auch zwischen
den Instanzen übertragen werden kann. Jede Persönlichkeitsstruktur bildet ein
geschlossenes Energiesystem. Zufuhr in einem Teil bedeutet Schwächung des anderen.
Auch Verhalten oder Gedanken werden gemeinsam bewirkt, was im Regelfall harmonisch
abläuft. Die zentrale Rolle des Ich liegt im Kompromiß zwischen den „gestrengen Herren“
(s.o.).
Die drei Instanzen sind in ihrer menschlichen Bildhaftigkeit lediglich zur Unterstützung eines
intuitiven Verständnisses gedacht, nicht als tatsächliche derartige Gestalten. Außerdem sind
sie nicht spezifischen Gehirnbereichen zuzuordnen, sondern stellen eine Differenzierung der
menschlichen Persönlichkeit dar.
Der topographische Ansatz
Die Seele läßt sich in drei topograpische Gebiete unterteilen:
1. Unbewußtes: verdrängte und unbekannte Gefühle, die nicht ohne weiteres ins
Bewußtsein dringen können. Bestimmt einen großen Teil unseres Verhaltens
2. Vorbewußtes: ist nicht aktiv aus dem Bewußtsein ausgeschlossen, wird über die
Gerinnung zu inneren Bildern oder die Verbindung mit Wortvorstellungen bewußt
55
3. Bewußtsein (Warnehmungs-Bewußtsein): das aktuell Bewußte, das leicht ins
Vorbewußte überwechselt; bewußt können immer nur wenige Gedanken gleichzeitig
sein.
Die Strukturen der Seele hängen auf bestimmte Weise mit deren Topographie zusammen.
Das Es sitzt insgesamt im Unbewußten, Ich und Über-Ich erstrecken sich über alle drei Teile.
Das Unbewußte bleibt immer der größte Teil, auch wenn im Laufe der Entwicklung
Vorbewußtes und Bewußtes zunehmen. Alle drei Teile sind Aspekte einer psychischen
Funktion, die ganzheitlich Verhalten erzeugt.
Die Stadien der Entwicklung
Zwei zentrale Behauptungen FREUDs zur menschlichen Entwicklung sind
1. Die ersten Lebensjahre sind die wichtigsten für die Persönlichkeitsentwicklung
2. die Entwicklung vollzieht sich in psycho-sexuellen Stadien oder Phasen
FREUD betont (wie PIAGET) die qualitative Veränderung im Entwicklungsverlauf.
Die vier distinkten Phasen, die sich über Körperregionen und deren Triebimpulse definieren,
sind:
1. orale Phase
2. anale Phase
3. phallische Phase
4. Latenzperiode
5. genitale Phase
PIAGET
Stadium müssen jeweils
abgeschlossen sein
FREUD
vor nächstem Übergang
ist
biologisch
determiniert,
geschieht auch bei Nicht-Abschluß einer
Phase
invariate Ordnung der Stadienfolge durch:
Reifung, äußere und soziale Erfahrung, körperliche Reifung
angeborene geistige Aktivität
jede Phase eng verknüpftes, strukturiertes lediglich
durch
dominante
Merkmale
Ganzes
charakterisiert
Neuorganisation
bereits
vorhandenen Schichtartigkeit
der
Phasen,
weniger
Wissens
Neuorganisation
jede Phase enthält Keim der nächsten
Phasen bauen auf der vorhergehenden auf,
keine Phase wird jedoch vollständig
aufgegeben
Das Kontinuum Normal-Abnorm
Abnormale und normale Persönlichkeiten verhalten sich nach den selben Prinzipien nur von
unterschiedlichen Positionen aus. In der abnormen Persönlichkeit sind die normalen
psychischen Prozesse übertrieben oder verzerrt.
Methodologie
Freud untersuchte erwachsene Patienten, deren Persönlichkeit das Residuum ihrer Kindheit
ist, auf verschiedene Arten (keine kontrollierten Experimente):
 Freie Assoziation: Patient fasst seinen Gedankenfluss möglichst unzensiert und
vollständig in Sprache; alle Gedanken und Gefühle haben eine Ursache und sind nicht
zufällig.
56
 Traumdeutung: mehr unbewusstes Material kommt zum Vorschein (verschlüsselt,
symbolhaft), da die Kontrollmechanismen „schlafen“.
 Übertragung: Patient erkennt im Therapeuten eine wichtige Person seiner Kindheit
wieder, Interaktion verläuft entsprechend der Beziehung zu dieser Person.
Die einzelnen Phasen
Der Übergang von einer Phase zur nächsten ist biologisch determiniert und tritt demnach
auch dann ein, wenn die vorhergehende Phase noch nicht vollständig bewältigt ist.
Die Orale Phase (bis zu einem Jahr)
Orale Aktivitäten (Berührung von Lippen, Mundschleimhat und Zunge) verschaffen dem
Säugling angenehme sinnliche Gefühle. Solche oralen Aktivitäten müssen nicht unbedingt
den Hunger stillen, weil sie in sich bereits befriedigend sind. Die orale Phase ist durch fünf
Funktionsmodi gekennzeichnet:
 Sich einverleiben (viel essen  Einverleibung von Macht, Wissen etc.)
 Festhalten (Festhalten an der Brust  Entschiedenheit, Hartnäckigkeit)
 Beißen ( Sarkasmus, Zynismus, Herrschaftsstreben)
 Ausspucken ( Ablehnung)
 Verschließen (Verschließen des Mundes  Introversion, Negativität, Ablehnung)
Der wichtigste Vorgang dieser Phase ist die Mutterbindung. Die Mutter wird zum obersten
Liebesobjekt, da es die oralen Bedürfnisse des Säuglings direkt befriedigt.
Die anale Phase (ein bis drei Jahre)
Das physiologische Bedürfnis der Defäkation erzeugt Spannung, die sich durch Defäkation
entlädt. In dieser Phase kommt es darauf an, wie die Eltern die Reinlichkeitserziehung
durchführen. Ist diese Sauberkeitserziehung zu streng, so reagiert das Kind mitunter mit dem
Zurückhalten ihrer Ausscheidung, was später zu Geiz führen kann. Andererseits kann eine
solche Erziehung auch dazu führen, daß das Kind genau dann defäkiert, wenn es
unangebracht ist (z.B. in der Kirche), was sich im weiteren Leben zur Neigung zu
Wutausbrüchen oder zu hartem körperlichen Training entwickeln kann. Die Funktionsmodi
dieser Phase sind also:
 Geben und
 Zurückhalten.
Die phallische Phase (drei bis fünf Jahre)
Wichtig ist bei Jungen das Vorhandensein und bein Mädchen das Fehlen eines Penis. Bei
Jungen führt dies zu Kastrationsangst (sie beanspruchen die Mutter als Liebesobjekt, sehen
im Vater einen Konkurrenten und befürchten, von ihm kastriert zu werden) und bei Mädchen
zu Penisneid (sie haben das Gefühl, kastriert worden zu sein und machen die Mutter für
diese „mangelnde“ Ausstattung verantwortlich). Jungen lösen diesen Konflikt, indem sie den
Vater internalisieren, und Mädchen distanzieren sich zur Mutter. Jungen erleben diese
Phase als bedrohlicher, da sie einen Verlust befürchten, während Mädchen nichts zu
verlieren haben. Allerdings bleibt die Bindung zur Mutter nach wie vor wichtig, da diese in
den ersten Lebensjahren für Kinder beiderlei Geschlechts bevorzugtes, weil einziges
Liebesobjekt.
57
Die Latenzperiode (fünf Jahre bis zur Pubertät)
Während dieser Zeit werden Sexualtriebe verdrängt beziehungsweise vergessen, und die
Kinder wenden sich Dingen wie Schule und Spielen mit Geschlechtsgenossen zu. Es werden
kognitive und soziale Fertigkeiten erworben, wodurch sich Ich und Über-Ich stärken. Freud
schenkte dieser Zeit nur wenig Beachtung.
Die genitale Phase (Adoleszenz)
Die körperlichen Veränderungen dieser Zeit bewirken, daß das Kind seine sexuellen Impulse
(geprägt durch die ersten drei Phasen) auf gegengeschlechtliche Personen richtet. Das Ziel
ist nun die reife, erwachsene Sexualität mit dem biologischen Ziel der Reproduktion. Je nach
den Erfahrungen, die das Kind in den ersten drei Phasen gemacht hat, sind die Ansprüche
und Wünsche an den zukünftigen Partner unterschiedlich. Eine wichtige Errungenschaft
dieser Phase ist das ausgewogene Verhältnis zwischen Liebe und Arbeit.
Mechanismen der Entwicklung




Reifung (biologische, hormonelle, neuronale Veränderungen)
Frustration von außen (Andere verhindern die Bedürfnisbefriedigung)
Innere Konflikte (zwischen Es, Ich und Über-Ich)
Persönliche Unzulänglichkeiten (z.B. Schüchternheit beim Wunsch, mit anderen Kindern
zu spielen)
 Angst (Antizipation von physischem oder psychischem Schmerz)
Nach Freud entwickeln sich Es, Ich und Über-Ich, die gemeinsam die sexuelle Energie
kanalisieren beziehungsweise umwandeln. Diese Strukturen und ihre Prozesse sind sowohl
kognitiver wie auch affektiver Natur.
Freuds Standpunkt zu grundlegenden Fragen der Entwicklung
Die menschliche Natur
 Konfliktbeladen, widersprüchlich, triebgeleitet
 Emotionen als Triebkräfte der Entwicklung von Persönlichkeit und Kognition, die
menschlich Wahrnehmung ist zeitlebens davon beeinflusst (vgl. Piaget)
 Ich als stärkster Akteur der Persönlichkeit, aktiver Umgang mit Trieben und Herstellen
eines Gleichgewichts
Qualitative versus quantitative Entwicklung
 Hauptsächlich qualitative Veränderung (Dominanz verschiedener Aspekte des
Sozialtriebs, neue Errungenschaften wie Abwehrmechanismen und das Über-Ich)
 Quantitativ: zunehmende Stärkung des Ich’s, des Über-Ich’s und verschiedener
Abwehrmechanismen.
Vererbung versus Umwelt
 Triebe stammen aus der biologischen Natur des Menschen, die Ausprägung wird aber
durch das jeweilige soziale Milieu modifiziert.
 Kulturelle Anforderungen so real wie die des eigenen Körpers.
 Unterschiede in der Ausbildung der Persönlichkeit durch Variationen der sozialen Umwelt
und der körperlichen Konstitution.
58
Was enteickelt sich?
Es, Ich und Über-Ich als Strukturen (affektiver und kognitiver Natur) zur Umwandlung,
Kanalisierung und Verdrängung der sexuellen Energie.
Metatheoretische Klassifikation
Freuds Theorie ist von einer Sammlung von Modellen und deren Anwendung geprägt.
Sie ist ansatzweise funktionalistisch, da sie aufgrund von Beobachtungen erstellt und
modifiziert wurde, jedoch keinesfalls deduktiv.
Vier Modelle sind in Freuds Theorie implizit enthalten:
 das Reflexbogen (-oder topographische) Modell [z.B. Triebspannung als Reiz],
 das energetische (oder ökonomische) Modell [Physikalischer Energieerhaltungssatz],
 das Darwinistische (oder genetische) Modell [Versuche des Organismus sich in Phylound Ontogenese an seine Umwelt anzupassen]
 das Jacksonsche (oder neurale Integrationshierarchie-) Modell [höhere Ebenen = ich
kontrollieren tiefere Ebenen = es].
Kritik der Theorie
Stärken der Theorie
Durch ihre Breite und die These, daß die Persönlichkeit von starken unbewußten Trieben
beeinflußt ist hatte sie Auswirkungen auf die Gesellschaft,
Der Phasenbegriff, die psychischen Strukturen, die unbewußter Motivation und die
Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen werden heute in vielen anderen Theorien angetroffen.
Weiterhin, ist sie nach wie vor in der Kinderpsychiatrie, der Erziehungsberatung, und
klinischen Kinderpsychologie lebendig, insbesondere die Konzepte des kontinuierlichen
Spektrums von normal bis abnorm, die Unterscheidung zwischen bewußt und unbewußt
und die psychischen Strukturen Es, Ich und Überich.
Freud gab Anregungen zur Geschlechtertypisierung, Moralentwicklung, Identifikation, ElternKind-Beziehung, der Bindung, der Aggression und der Abhängigkeit.
Obwohl viele Einzelheiten falsch sind hat Freud entscheidende Faktoren aufgezeigt und zur
Untersuchung dieser Komponenten angeregt.
Schwächen der Theorie
Freud: „Und doch mussten wir erkennen (…), dass niemand das Recht hat, in die
Psychoanalyse dreinzureden, wenn er nicht eine bestimmte Erfahrung erworben hat, die
man nur durch eine Analyse an seiner eigenen Person erwerben kann.“
Unzureichende Methodologie zur Untersuchung von Entwicklungsprozessen
Freuds Methodologie führt zu drei Hauptschwierigkeiten:
1. Nur Psychoanalytiker können psychoanalytische Thesen überprüfen. Diese sind jedoch
nicht unvoreingenommen und ein objektives Urteil ist nicht zu erwarten.
2. Anfälligkeit für Fehler des „Versuchsleiters“: Selektives Erinnern (des Therapeuten) und
Beeinflussung des freien Assoziationsflusses durch Räuspern usw.
3. Introspektion: Erinnerungen von Patienten an Kindheit und Träume sind weder präzise
noch objektiv.
59
Mangelnde Überprüfbarkeit zentraler Behauptungen zur Entwicklung
Es ist fraglich, ob sich die Kindliche Entwicklung allein durch die Befragung von
Erwachsenen klären lässt. Außerdem sind Freuds Begriffe teilweise nur sehr unpräzise
definiert. Er benutzt hauptsächlich Analogien, um seine Theorie darzustellen.
Die Schlussfolgerungen in Freuds Theorie sind teilweise sehr weit hergeholt und stehen in
sehr losem Zusammenhang zu Beobachtbarem. Problematisch ist auch, dass „in Freuds
System dasselbe psychologische Merkmal verschieden Verhaltensweisen auslösen kann
und umgekehrt“.
Während sich Prozesse der Informationsverarbeitung ohne weiteres in einem
experimentellen Setting überprüft werden können, ist dies mit den zentralen Behauptungen
der Freudschen Theorie nicht möglich. Ein Großteil der freudschen Forschungsergebnisse
begründet sich auf eine sehr beschränkte „Stichprobe“ (hysterische Wiener Frauen des 19
Jh.). Über Signifikanzwerte oder dergleichen ist nichts bekannt.
Überbetonung der kindlichen Sexualität
In den Forschungsarbeiten der letzten 20 Jahre wird das Kind als neugieriges, intrinsisch
motiviertes und soziales Wesen gesehen und nicht als nur Es gesehen. Dass Kinder sich für
Sexualität interessieren steht außer Frage, aber kann mit dem Sexualtrieb jede menschliche
Motivation, Gefühlsäußerung usw. erklärt werden? Auch führt die Überbetonung des
Sexuellen zu einer Vernachlässigung von sozialen Faktoren.
„Die psychischen Strukturen (Es, Ich, Über-Ich) können ihren Wert auch dann behalten,
wenn sie mit anderen Inhalten (als den Sexuellen) besetzt werden.
Erikson
Biographischer Abriss
„Seine Wanderlust und sein Wunsch Künstler zu werden hinderten ihn daran eine formale
Ausbildung abzuschließen.“
Allgemeiner Überblick über die Theorie
Aus Freuds Theorie übernimmt Erikson die Konzepte der psychischen Strukturen (Es, Ich
und Über-Ich), die Unterscheidung zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, die Triebe, die
psychosexuelle Phasen, das Kontinuum von normal bis abnorm und die Methodologie.
Erikson ergänzt Freuds psychosexuelle Phasen um 8 psychosoziale Phasen, in denen sich
die Identität des Menschen entwickelt. Diese Identitätsentwicklung ist das zentrale Thema
seiner Forschung.
Psychosoziale Phasen
Erikson Betont den sozialen Kontext, in dem das Kind aufwächst. Das Kind ist Teil einer
kulturellen Gemeinschaft (bestehend aus sich entwickelnden Individuen) an die sich das
Kind anpasst und die sich dem Kind anpasst. Die Entwicklung ist kulturspezifisch (Bsp. Sioux
Mütter).
Die psychosoziale Entwicklung folgt dem „epigenetischen Prinzip“ (epi-„auf“, genisis„Werden“). Dazu Erikson: „Etwas verallgemeinert besagt dieses Prinzip, dass alles was
wächst, einen Grundplan hat und dass die Teile aus diesem Grundplan heraus erwachsen,
60
wobei jeder Teil seinen Zeitpunkt der speziellen Aszendenz besitzt, bis alle Teile entstanden
sind, um ein funktionierendes Ganzes zu bilden.“
Die Identitätsentwicklung wird verglichen mit der fötalen Entwicklung, in der sich der
Organismus immer weiter differenziert und schließlich „ein funktionierendes Ganzes bildet“.
Der „Weg zur Identität“ führt über 8 psychosoziale Krisen, die gelöst werden können, oder
auch nicht. Auch im Erwachsenenalter ist eine Lösung noch möglich.
Bei der Frage inwieweit die vorherige in der nächsten Phase integriert wird, ist Erikson
zwischen Piaget und Freud anzusiedeln.
Die zentrale Rolle der Identität
Identität heißt sich selbst und die Gesellschaft erkennen und akzeptieren. Das Streben
danach ist das wichtigste Lebensziel. Ab dem Säuglingsalter ist die Identität im Wandel
(„neue Ebenen“ mit dem Höhepunkt Adoleszenz). Die Identitätskrise ist ein Verlust der
Identität, wie Erikson ihn bei Weltkriegssoldaten oder verhaltensaufälligen Kindern
beobachtete.
Die Erweiterung der psychoanalytischen Methodologie
Zur tiefenpsychologischen Forschung hat Erikson drei Methoden beigesteuert:
 die unmittelbare Beobachtung von Kindern,
 interkulturelle Vergleiche und
 das psychologische Porträt historischer Persönlichkeiten.
Psychosoziale
Krisen
Umkreis der
Beziehungspersonen
Mutter
Elemente der
Sozialordnung
Psychosoziale
Modalitäten
Psychosexuelle
Phasen
Kosmische
Ordnung
Gegeben bekommen
Geben
Familienzelle
„Gesetz und
Ordnung“
Ideale Leitbilder
Festhalten
Loslassen
Tun
„Tun als ob“ (Spielen)
Etwas „Richtiges“
machen, etwas mit
anderen zusammen
machen
Wer bin ich (nicht),
das Ich in der
Gemeinschaft
Sich im anderen
verlieren und finden
Oralrespiratorisch,
sensorisch
kinästhetisch
Anal-urethral
Muskulär
Infantil-genital
Lokomotorisch
Latenzzeit
1
Vertrauen vs.
Mißtrauen
2
Autonomie vs.
Scham, Zweifel
Initiative vs.
Schuldgefühl
Werksinn vs.
Minderwertigkeitsgefühl
Eltern
Wohngegend
Schule
Technologische
Elemente
Identität und
Ablehnung vs.
Identitätsdiffusion
Intimität und
Solidarität vs.
Isolierung
„Eigene“
Gruppen, „die
Anderen“
Freunde,
sexueller
Partner,
Rivalen,
Mitarbeiter
Gemeinsame
Arbeit,
Zusammenleben in der Ehe
Die Menschheit,
Menschen
meiner Art
Ideologische
Perspektiven
3
4
5
6
7
Generativität vs.
Selbstabsorption
8
Integrität vs.
Verzweiflung
Arbeits- und
Rivalitätsordnung
Zeitströmungen
in Erziehung
und Tradition
Schaffen
Versorgen
Weisheit
Sein, was man
geworden ist; wissen,
daß man einmal nicht
mehr sein wird
Pubertät
Genitalität
61
Die einzelnen Phasen
Urvertrauen versus Misstrauen (0-1 J.)
Das Kind gewinnt Vertrauen durch Zuwendung und Verlässlichkeit seiner Mutter. Es macht
die Erfahrung, dass es von der Mutter zwar allein gelassen wird, sie aber immer wieder
zurückkommt. In der Interaktion mit anderen gewinnen Kinder Selbstvertrauen, das mit
einem religiösen Glauben an eine „kosmische Ordnung“ beschrieben werden kann. Es
braucht jedoch auch ein gewisses Maß an Misstrauen um Gefahren abzuwehren und
„Feinde“ zu erkennen. Psychosozialer Modus: Nehmen und Geben mit oralen Erfahrungen
als Prototypen.
Autonomie versus Scham und Zweifel (2-3 J.)
Die körperliche Reifung des Kindes bringt ihm eine neue Unabhängigkeit, die neue
Möglichkeiten der Identitätsentwicklung eröffnet. Das neue Können bringt jedoch auch die
Angst vor Versagen (Scham und Zweifel) mit sich (z.B. Stuhl nicht halten können). Gefördert
wird diese Angst durch ungenügendes Selbstvertrauen (Phase 1) oder zu strenge Eltern.
Wie überall bei Erikson spielen auch hier die jeweiligen kulturellen Normen eine große Rolle.
Analog zur Sauberkeitserziehung ist der Modus Festhalten/Loslassen. Aus den
Bestimmungen wo und wann es auf die Toilette gehen darf internalisiert das Kind einen
Begriff von Recht und Ordnung.
Initiative versus Schuldgefühl (4-5 J.)
Die Identifikation mit den Eltern erfolgt über einen „psychosozialen Ödipuskonflikt“ (siehe
Freud). Diese Phase ist geprägt durch die Initiative des Kindes („Machen“). Es sucht Vorund Leitbilder und erschließt sich Raum, sowie seine soziale Umgebung. Daneben
entwickeln sich ödipale Schuldgefühle (s. Freud) – das Gewissen entwickelt sich.
Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (6 J. – Pubertät)
Mit dem Eintritt in die Schule oder andere größere soziale Strukturen beginnen Kinder
Konzepte ihres Wissens und ihrer Arbeit zu entwickeln. Sie versuchen kompetent zu sein
und dem entsprechend eingeschätzt zu werden. Der Konflikt besteht zwischen Erfolg und
Misserfolg im Umgang mit der „Technologie einer Gesellschaft“, wie sie z.B. in der Schule
präsentiert wird. Besonderheit dieser Phase ist, dass sie von außen eingeleitet und
entscheidend bestimmt wird.
Identität und Ablehnung versus Identitätsdiffusion (Adoleszenz)
Der „Höhepunkt“ der Identitätsentwicklung: alle Identifikationen (Rollen) aus der Jugendzeit
müssen in einer vollständigen Identität integriert werden. Besonders wichtig sind hier zwei
Aspekte: 1. der neue, geschlechtsreife Körper und 2. der Zwang sich für einen Beruf zu
entscheiden. Die Identität (das Ganze) ist mehr als die Summe der Identifikationen (der
Teile). Die gesellschaftliche Ideologie gibt vor, welche Rollen positiv besetzt sind. Gelingt die
Rollenintegration nicht droht Identitätsdiffusion.
Intimität und Solidarität versus Isolierung (Beginn des Erwachsenenalters)
Nur gut integrierte Persönlichkeiten können intime Beziehungen eingehen, die die
Identitätsbildung wiederum fördern. Durch Austausch mit ihrem sozialen Umfeld gelangen
junge Erwachsene zu ihren innersten Gefühlen, schaffen ein Wir-Gefühl und erfahren so
Solidarität und Intimität. Misslingt der Versuch Intimität herzustellen oder bleiben die
Interaktionen stereotyp und hohl, so droht Isolation.
62
Generativität versus Stagnation und Selbstabsorbtion (mittleres
Erwachsenenalter)
Vorraussetzung für psychisches Wachstum und Identitätsentwicklung ist „Vertrauen in die
Zukunft und der Glaube an die Menschheit“ sowie die Fähigkeit sich für andere einzusetzen.
Wird dies nicht erreicht, so droht Stagnation, Selbstverwöhnung (Oder auch: Ziellosigkeit).
Integrität versus Verzweiflung (spätes Erwachsenenalter)
Ist man im Rückblick zufrieden mit seinem Leben, so kann man die Begrenztheit des
menschlichen Lebens akzeptieren (Integrität). Trauert man um das, was man im Leben nicht
getan oder geschafft hat kommt Angst vorm Tod auf (Verzweiflung).
Kommentar: Neuere Forschungsarbeiten zum Phasenkonzept Eriksons
Marcia (1980): Krise und „innere Verpflichtung“ (Maß des persönlichen Engagements)
entscheiden über den Identitätsstatus des Einzelnen:
1. Identitätsdiffusion: kein Engagement, keine Krise,
2. In Ausschließlichkeit verhaftete Persönlichkeit: Engagement ohne Identitätskrise,
3. Moratorium: im Zustand der Krise – kann sich noch nicht engagieren,
4. Die Abgeschlossene Identität hat Identitätskrisen erfolgreich hinter sich gebracht und
engagiert sich.
Auch in neueren Forschungsarbeiten wird immer wieder betont, wie sehr der Verlauf der
Identitätsentwicklung von kulturellen Einflüssen abhängt.
Snarey et al.: Drei verschiedene Arten von Theorien zur Ich-Entwicklung:
1. Strukturell definierte Stadien (z.B. Piaget)
2. Definition über das Alter
3. Interaktion von strukturellen in kulturellen Faktoren (Erikson)
Mechanismen der Entwicklung
Innerhalb der biologischen Grenzen ist die Entwicklung stark geprägt vom Einfluss aller
gesellschaftlichen Ebenen. Entwicklung ist weniger Spannungsreduktion wie bei Freud, als
vielmehr die Lösung von Konflikten. Weitere Mechanismen: Spiel (im weitesten Sinne) und
Rituale.
Eriksons Standpunkt zu grundlegenden Fragen der Entwicklung
Wie Piaget hat Erikson eine optimistischere Auffassung vom Wesen des Menschen als
Freud. Wie Freud nimmt er eine biologisch determinierte Abfolge der Stadien an, betont aber
weit mehr den Einfluss von Kultur und Kontext auf die Entwicklung des Kindes. Entwicklung
ist für ihn qulitativ (Stadien) und quantitativ (Ausbildung der Identität) zugleich und vor allem
ein lebenslanger Prozess.
Metatheoretische Klassifikation
„Seine Gedanken sind allenfalls eine lose Aneinanderreihung von Gedanken und
Beobachtungen.“, geprägt durch zwei Modelle:
1. Darwins Evolutionstheorie: Entwicklung sozialer Institutionen sichern das Überleben der
Spezies und
2. ein dialektisches Geschichtsverständnis: Auf jeder Stufe gelangen gegensätzliche Kräfte
zur Synthese und integrieren die vorherigen Stufen.
63
Kritik der Theorie
Auch Erikson ist Psychoanalytiker, weswegen die Kritik, die an Freud geübt wurde, auch für
ihn gilt.
Stärken der Theorie
Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie
Viele Begriffe aus Freuds Theorie werden von Erikson erweitert, andere hinzugefügt:
Freud
Psychosexuell
Biologie
Ich-Abwehrmechanismen
Abnormes
Kulturspezifisch
Kindheitserinnerungen
Entwicklung des Kindes
Erikson
Psychosozial
Kultur
Ich-Identität
Normales
Interkulturell
Beobachtung von Kindern
Entwicklung des Erwachsenen
Die breite Perspektive
Das Verhalten des Kindes wird sowohl von der Entwicklungsgeschichte der gesamten
Menschheit (historische Perspektive), als auch von allen sozialen Ebenen (kulturspezifische
Perspektive) beeinflusst. Das ist selten in der Entwicklungspsychologie.
Schwächen der Theorie
Mangelnde Systematik
„Methodologische Unzulänglichkeiten“ führen wie bei Freud zu mangelnder Überprüfbarkeit
der Postulate. Außerdem gibt es Probleme mit nicht hinreichend definierten oder
irreführenden Begrifflichkeiten.
Fehlende Spezifizierung der Entwicklungsmechanismen
Zwar wird festgestellt was die Entwicklung beeinflusst, jedoch nicht wie.
64
Biologische Grundlagen der Entwicklung
Jens B. Asendorpf
In der Entwicklungspsychologie wird „biologisch“ in 3 unterschiedlichen Zusammenhängen
verwendet:
1. Evolutionsbiologie: Individualentwicklung ist Gegenstand eines Jahrmillionen
andauernden Entwicklungsprozesses, der Evolution  einige Aspekte der menschlichen
Entwicklung lassen sich als Anpassung der Individualentwicklung an die
Umweltbedingungen unserer evolutionären Vorfahren verstehen.
2. Entwicklungsgenetik: Das genetische Erbgut (Genom) variiert innerhalb bestimmter
Populationen von Individuum zu Individuum. Genetische Unterschiede  untersch.
Individualentw.  u. a. Ursache für Persönlich-keitsunterschiede
3. Neurobiologie + Psychobiologie: welche Beziehung besteht zwischen neuronalen und
psychischen Entwicklungsprozessen? (in diesem Kapitel nicht behandelt!)
Achtung, falsch!: Gegenüberstellung von „biologisch bedingt“ (gemeint: genetisch bedingt)
mit „erlernt“! Weder hat das Lernen keinen Einfluss auf die genetische Entfaltung, noch hat
die Genetik keinen Einfluss auf das Lernen! Beides falsch!
Sinnvolle Schlangenangst
Wir haben genetische Prädisposition zum erlernen von Angst gegenüber Reizen, die in der
evolutionären Vergangenheit Gefahr signalisierten  Rhesusaffen, die im Zoo aufwachsen
lernen schnell Angst vor Schlangen, nicht aber vor Blumen oder Hasen (ein Videofilm zeigte
den Affen einen Artgenossen der auf alle 3 Reize ängstlich reagierte) Genetischer Einfluss
und Lernen können nicht unabhängig betrachtet werden!!!
Evolutionspsychologie der Entwicklung
Allgemeine Prinzipien der Evolutionspsychologie
Evolutionspsychologie = Die Spezialisierung der Evolutionsbiologie auf menschliches
erleben und Verhalten.
 Evolutionsbiologie geht auf Darwin zurück, er erklärte die Vielfalt der heutigen Arten durch
einen Entwicklungsprozess, der im Kern auf Variation der Erbanlagen und natürlicher
Selektion beruht.  auch auf Individualentw. innerhalb der Arten anwendbar.
 Entwicklungsgemeinsamkeiten und –unterschiede = Anpassungsleistungen unserer
evolutionären Vorfahren!
 Innerhalb einer Art variieren die Allele (d.h. Varianten eines best. Gens), Gene variieren
mit wenigen Ausnahmen (Mensch + Schimpanse 98% gleich) nur zwischen Arten.
Variationsquellen: Mutation + sexuelle Rekombination !
 Allele weisen eine unterschiedliche Fitness für ihre Umwelt auf  werden natürlich
ausgelesen (nat. Selektion), je nach Ansprüchen der Umwelt.
65
 Fitness = Funktion eines Gens und seiner Umwelt - ändert sich Umwelt, kann sich Fitness
ändern.
 Natürliche Selektion beruht auf Reproduktionserfolg von Genen! Statt „Survival of the
fittest” (Darwin), “Reproduction of the fittest”!
 Selektion wirkt sich am stärksten auf körperliche und Verhaltensmerkmale aus, da diese
die Reproduktion direkt betreffen.
 Intra- und intersexuelle Selektion (bereits von Darwin, 1871, diskutiert). Intra: Rivalität
innerhalb der Geschlechter bei der Gewinnung eines Sexualpartners, Inter: sexuelle
Attraktivität beim anderen Geschlecht. Gene, die Rivalitätsfähigkeit od. Attraktivität fördern
haben einen Reproduktionsvorteil!
 Soziobiologie nach Wilson (1975) = Evolutionsbiologie des Sozialverhaltens. Kritik an
Soziobiologen: Sie spekulieren nur über optimal angepasstes Verhalten, der
angenommene genetischer Einfluss auf das Verhalten sei nicht nachgewiesen.
 Ultimate + proximate Erklärungen: ultimat: Überlegungen zum Selektionsdruck  Wie
hätten sich Individuen unter den angenommenen Umweltbedingungen der evolutionären
Vergangenheit verhalten sollen? proximat: Mechanismen, die sie dazu gebracht haben,
sich tatsächlich so zu verhalten.
 Evolvierte psychologische Mechanismen. EPM (Cosmides et al., 1992) = proximate
evolvierte psychologische Mechanismen, bereichs- und kontextspezifischer proximater
Mechanismus, der als Anpassungsleistung an die Umwelt unserer Vorfahren (ultimat)
verständlich ist und vererbt wird. EPMs sichern gute Anpassung an Umweltbedingungen,
die in der evolutionären Vergangenheit variierten.
 EPM zur Abgrenzung der Evolutionspsychologie von einer nur zu ultimaten Erklärungen
verpflichteten Soziobiologie.
 Ultimate Erklärungen müssen in durch nat. Selektion in evolutionspsychologischen
Erklärungen durch Angabe von EPMs ergänzt werden.
 Entwicklungsrelevante EPMs:
Verhaltensatavismen
körperlicher Atavismus: körperliche Abnormitäten, die Normalitäten unserer Vorfahren waren
(z.B. Pelzgesichter).
Die Ontogenese (die Individualentwicklung) wiederholt die Phylogenese (Entwicklung
der Arten) der frühen Ontogenese. Damit ist gemeint, dass der Mensch in den
verschiedenen Stadien seiner embryonalen Entwicklung, den Embryonen der Arten die in
seiner Stammesentwicklung auftraten ähnlich sieht.
Ein Beispiel für Verhaltensatavismen ist der Klammerreflex bei Säuglingen, kann als EPM
verstanden werden: hochgradig bereichsspezifisch (betrifft nur Handbewegungen),
kontextspezifisch (Auslöser: Berührungen der Handinnenfläche), genetisch fixiert (alle
Säuglinge zeigen ihn) und ultimat gut verständlich (Anpassungsleistung an Umweltbedingungen unserer Säuglingsvorfahren, ins Fell der Mutter klammern).
Entwicklung der sexuellen Orientierung
sexuelle Orientierung: Disposition, durch Menschen des anderen Geschlechts, des eigenen
Geschlechts oder beider Geschlechter sexuell erregt zu werden Heterosexuelle, Homosexuelle, Bisexuelle.
Homosexualität genetisch mitbedingt, keineswegs aber rein genetisch erklärbar. Schwule
interessieren sich in Kindheit mehr für Mädchen und deren Aktivitäten, entsprechendes für
Lesben konnte nicht nachgewiesen werden.
66
Theorie der Homosexualität von Bem (1996), evolutionspsychologische Sicht: In allen
Kulturen Inzest totales Tabu (ultimat gut verständlich, weil Inzest selektive Nachteile hat).
Nach Westermarck (1891) wird das Inzest-Tabu proximat durch einen EPM gesichert, der
sexuelles Interesse an Unvertrautheit in der Kindheit bindet  was exotisch ist, wird
erotisch  kein sexuelles Interesse an Verwandten. Zur Homosexualität komme es nach
Bem dann, wenn Kinder, die aus genetischen oder anderen Gründen gleiche Interessen wie
das andere Geschlecht entwickeln, und deshalb auch bevorzugt mit diesem spielen, in der
Pubertät dann das eigene Geschlecht für sie exotisch und damit erotisch wirkt.
Problem: In kleinen sozialen Gruppen theoretisch alle miteinander vertraut, also nicht
exotisch evtl. keine Fortpflanzung. Mögl. Lösung: Geschlechtertrennung bis zur Pubertät.
Tendenz zur Geschlechtertrennung prädisponiert (auch wg. Inzestvermeidung!).
Bewertung von Bem´s Theorie:
Richtig, dass er genetische Einflüsse zwar vermutet, jedoch keine direkte Erblichkeit von
Homosexualität annimmt. Denn homosexualitätsfördernde Gene würden schnell durch
Selektion verschwinden!
Theorie basiert auf empirisch gut gesicherten abweichenden Geschlechtsrollenentwicklung
späterer Homosexueller in der Kindheit.
B.´s Theorie ist mit vorliegenden Ergebnissen zur Entwicklung männlicher Homosexualität
gut verträglich, nicht jedoch mit manchen Ergebnissen zur Entwicklung weiblicher
Homosexualität.
So geht man von verschiedenen Entwicklungspfaden der Homosexualität aus (Bem´s nicht
der einzig mögliche).
Bedingungen und Konsequenzen väterlicher Fürsorge
Intensive väterliche Fürsorge nur bei 3-5 % der Säugetiere der Fall, hohe Variabilität von
Kultur zu Kultur und zwischen den Familien.
Elterlicher Aufwand = Zeit + Energie, die in leibliche Kinder gesteckt wird.
Paarungsaufwand = Zeit + Energie, die in Zeugung von Kindern investiert wird (incl.
Partnersuche und werbungsverhalten).
Beides dient der Förderung der Reproduktion der eigenen Gene!
Da Frauen weniger Kinder kriegen können als Männer, ist ihr Aufwand höher und weniger
variabel.
Die hohe Variabilität der väterlichen Fürsorge beruht darauf, dass eine väterliche Investition
in die Kinder nicht immer deren Reproduktion fördert. Ihre Investition hängt aus
evolutionspsyc. Sicht vor allem von 2 Faktoren ab:
1. Der Reproduktionsfähigkeit der Kinder ohne väterl. Fürsorge (können sie überleben, sind
sie gesund?)
2. Der Erreichbarkeit potentieller Geschlechtspartnerinnen.
Die Bedingungsfaktoren werden durch genetisch fixierte EPMs vermittelt, die das
Fürsorgeverhalten affektiv steuern.
Nach der Hypothese von Draper und Harpending entwickelt sich das Reproduktionsverhalten individuell in Form einer bedingten Entwicklungsstrategie; eine proximate
Bedingung ist die väterliche Fürsorge.
67
Ellis et al.(1999) : Wiesen in einer Studie nach, dass Töchter, deren Väter sich wenig um sie
Kümmern, früher in die Pubertät kommen. Beziehung zur Mutter nicht so gut zur Vorhersage,
da ihre Fürsorge weniger variiert und daher kein guter Indikator für zu erwartende Umwelt ist.
Ellis et al. (1999) : Beschleunigung der weiblichen biologischen Reifung durch Geruchsstoffe
nicht verwandter männlicher Artgenossen. Reifung kann evtl. auch durch Geruchsstoffe des
eigenen Vaters gehemmt werden.
 der Pubertätszeitpunkt bei Mädchen wird möglicherweise proximat durch Geruchstoffe
des Vaters und/ oder nichtverwandter Männer i. d. Familie mitbestimmt.
Weitere Erklärung: die beobachteten Unterschiede sind bei Vätern als auch bei ihren
Töchtern durch dieselben Gene bedingt.
Entwicklungsgenetik
Allgemeine Prinzipien der Entwicklungsgenetik
! Entwicklung beruht nicht auf einem genetischen Programm, sondern auf der ständigen
Wechselwirkung zwischen Genaktivität, neuronaler Aktivität, Verhalten und Umwelt.
Gene wirken nur indirekt auf die Entwicklung durch die Proteinsynthese und beeinflussen
dadurch die neuronale Entwicklung. Wirkung eins Gens kommt nur im Kontext mit anderen
zustande. Gene stehen untereinander mit ihren Produkten ( z.B. Enzymen) in
Wechselwirkung.
 Phenylketonurie:
=
Stoffwechselstörung
(rezessiv
homozygot
vererbt),
Phenylalaninüberschuss beeinträchtigt die Entwicklung des ZNS, verursacht
Intelligenzminderung. Bevor Schäden auftreten, kann in der Kindheit durch Phenylalaninarme Diät der Überschuss beseitigt werden.
 kumulativ-stabilisierende Genwirkung: Gene können Prozesse in Gang setzen, die zum
„Selbstläufer“ wird, falls nicht wie bei Phenylketonurie behandelt wird. Behandlung muss
im Kindesalter erfolgen, um Schäden vorzubeugen, später bringt Behandlung nichts mehr.
 Destabilisierende Genwirkung: Gene können sich zu bestimmten Zeiten an-+ abschalten,
wie z.B. die Gene für die körperliche Reifung nur in der Pubertät aktiv sind. Die
Gehirnerkrankung: Chorea Huntington tritt erst in den Mittvierzigern auf.
! Die Genaktivität variiert im Verlauf der Entwicklung; sie kann sich kumulativ- stabilisierend,
aber auch destabilisierend auswirken.
Genetischer Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede
Relativität des genetischen Einflusses auf Persönlichkeitsunterschiede:
Es ist möglich den Beitrag von Genen und der Umwelt an der Entwicklung individueller
Persönlichkeiten zu bestimmen. Genom und Umwelt feilen zusammen am Charakter von
Menschen. Genom bestimmt die Blutgruppe, die Umwelt den Dialekt einer Person. Der
genetische Einfluss auf Merkmale kann 0%-100% sein.
! Viele genetische Einflüsse auf Persönlichkeitsunterschiede sind höchst indirekt vermittelt,
d.h. sie beruhen auf genetischen Einflüssen auf andere Persönlichkeitseigenschaften, die mit
diesen Merkmalen korrelieren.
 Genetische Variabilität: Wenn Gene homogen verteilt in der Population = beeinflussen
Merkmalsunterschiede nicht.
Hat man genetisch identische Klone,
sind
Persönlichkeitsunterschiede umweltbedingt.
68
 Umweltvariabilität: Wenn Umwelt homogen ist, ist der genetische Einfluss auf die
Persönlichkeit stärker. Jedes Kind hat gleichen Unterricht: Leistungsunterschiede sind
genetisch bedingt.
 Altersabhängigkeit: Genetischer Einfluss auf 1 Merkmal kann mit Alter variieren. (An- +
abschalten der Gene)
Schätzungen des genetischen Einflusses
Die Zwillingsmethode:
! Bei der Zwillingsmethode schätzt die doppelte Differenz der Korrelationen eines
Persönlichkeitsmerkmals zwischen ein- bzw. zweieiigen Zwillingen den gentischen Einfluss
auf dieses Merkmal.
Vergleich des IQ: Eineiige- (genetisch identische) mit Zweieiigen (50% identische)
Zwillingen. IQ- Werte bei eineiigen korrelieren um .80, bei zweieiigen um .60.
.80 - .60 = .20 ( halbe genetische Einfluss) und verdoppelt: .40 ist der ganze genetische
Einfluss.
Die Adoptionsmethode:
! Bei der Adoptionsmethode schätzt die doppelte Differenz der Korrelationen eines
Persönlichkeitsmerkmals zwischen leiblichen und Adoptivgeschwistern den genetischen
Einfluss auf dieses Merkmal.
IQ zwischen leiblichen Geschwistern korreliert um .50, bei Adoptivgeschwistern um .25.
.50 - .25 = .25, verdoppelt: 50% ist wieder der genetische Einfluss.
Die Kombinationsmethode:
Daten aus Zwillings-, Adoptiv- und Elter- Kind Ähnlichkeiten werden ausgewertet. Man
bekommt gute Schätzungen, da methodische Probleme miteinander verrechnet werden.
Reaktionsnorm:
= Schwankung des tatsächlich beobachteten Merkmals um den rein genetisch geschätzten
Wert herum => genetische Diagnose für den Einzellfall wertlos.
! Genomanalysen sind zur Vorhersage von Persönlichkeitsunterschieden nur schlecht
geeignet, weil sie Umwelteinflüsse nicht berücksichtigen.
Kovariation und Interaktion von genetischen und
Umweltunterschieden
Genom- Umwelt- Interaktion:
Genetische und Umweltwirkungen hängen voneinander ab.
Beispiel: Adoptivkinder mit antisozialen Eltern, jedoch in anderen Familien lebend, wiesen
ein nur minder erhöhtes Risiko für antisoziales Verhalten auf. Wuchsen sie jedoch in ihren
biologischen Familien auf war das Risiko für das negative Verhalten 4 mal höher, da
biologische und soziale Risiken zusammen kamen.
! Adoptionsstudien legen nahe, dass sich genetische und Umweltrisiken wechselseitig
verstärken können.
69
Genom- Umwelt- Kovarianz:
Intelligenzförderliche Genome können sich in intelligenzförderlichen Umwelten häufen, da
Eltern und Schule dies fördern und intelligente solche Umgebungen aufsuchen.
! Dass der genetische Einfluss auf manche Persönlichkeitsmerkmale mit wachsendem Alter
ansteigt, kann u.a. durch die Zunahme der aktiven G.-U.-K. erklärt werden.
Evolutionspsychologisch
sind
sowohl
universelle
als
auch
differentielle
Entwicklungsphänomene erklärbar. Umweltbedingte Entwicklungsunterschiede sind oft eher
evolutionspsychologisch erklärbar als genetisch bedingte.
70
Entwicklung von Funktionsbereichen
Sprachentwicklung
Hannelore Grimm & Sabine Weinert
Sprache und Spracherwerbsaufgabe
 gehört zu den besonders wichtigen Entwicklungsaufgaben im frühen Kindesalter
Verständnis
Hineinwachsen in menschl. Kultur
Ausdrucksmittel für Intentionen und Wünsche
Ausbildung einer gesellschaftl. und
Darstellungsmittel für Bedeutungen
persönlichen Identität
Steuerungsmittel in Interaktion
 Aufgabe weit komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint
Komponenten der Sprache: Was muss das Kind erwerben?
Sätze sind hoch-strukturierte Objekte mit vielen verschränkten Komponenten
Suprasegmentale Komponente
= prosodische Strukturierungen
 Sprachrhythmus
 Sprachmelodie
 Sprachtypische rhythmische Betonungs- und Dehnungsmuster
Bsp.
 Dehnung des letzten Vokals vor Phrasengrenze
 Kennzeichnung der Frage durch ansteigende Sprachmelodie
Phonologie
= Lautstruktur der Sprache
 Kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit = Phonem (z.B. Hut – Wut)
 Kind muss lernen, welche Lautklassen in seiner Sprache bedeutungsunterscheidend sind
 Und nach welchen Regeln diese kombiniert werden dürfen
Morphologie
= Regeln der Wortbildung
 Kleinste bedeutungstragende Einheit = Morphem (z.B. Hund – e)
 Zwischen Sprachen unterschiedlich, welche Bedeutungskategorien morphologisch
markiert werden müssen
Bsp.:
 Im Deutschen: Anzahl, Geschlecht, Fall und Bestimmtheit (den Hund)
 Im Englischen: nur Bestimmtheit (the dog)
71
Syntax
= Kategorien und Regeln, die die Kombination von Wörtern zu Sätzen erlauben
 Unterschiedliche Bedeutung durch unterschiedliche Wortstellung ausgedrückt
 Formaler Charakter der Wortordnungsregeln (sinnloser, aber grammatisch richtiger Satz
vs. sinnvoller, aber grammatisch falscher Satz)
 Ableitung der Strukturen beruht nicht nur auf oberflächlicher Analogiebildung (bereits ein
Wort kann die Bedeutung und Struktur eines ganzen Satzes verändern)
Bsp.:
 sinnlos, aber grammatisch richtig: „Der Luch, der die Plabeln verummelt, krielt“
 sinnvoll, aber grammatisch falsch: „Kratzen Katze Hund“
 „Manche Menschen sind schwer zu verstehen“ – „Manche Menschen sind unfähig zu
verstehen“
Lexikon und Semantik
a) Lexikon = Wortsemantik, Bedeutungsstruktur des Wortschatzes
 Unterschiede zwischen Sprachen in Bezug auf die kategorialen Unterscheidungen, die
durch ein Wort ausgedrückt werden
 Kind muss ein abstraktes System solcher Zusammenhänge erwerben
b) Satzsemantik = Satzbedeutung
 gleiche Wörter können je nach Kontext verschiedene Bedeutungen haben
Sprechakte und Diskurs
 zusätzlich zu linguistischen Kompetenzen auch pragmatische Kompetenzen nötig, um
Sprache angemessen im Kontext verwenden zu können
 über
Sprechhandlungen
werden
sozial-interaktive
Beziehungen
zwischen
Kommunikationspartnern hergestellt
Zusammenfassung der einzelnen Komponenten
Komponenten
Funktion
Suprasegmentale Intonationsstruktur, Betonung,
Komponente
rhythmische Gliederung
Phonologie
Organisation von Sprachlauten
Morphologie
Wortbildung
Syntax
Satzbildung
Lexikon
Wortbedeutung
Semantik
Satzbedeutung
Sprechakte
Sprachliches Handeln
Diskurs
Kohärenz der Konversation
Erworbenes Wissen
Prosodische Kompetenz
Linguistische Kompetenz
(Wissen über die der Sprache
zugrunde liegenden Strukturprinzipien)
Pragmatische Kompetenz
(Verständigungsfähigkeit, Wissen
darüber, in welchem sozialen Kontext,
in welcher Weise und mit welcher
Erwartung welchem Gesprächspartner
etwas zu sagen oder zu verschweigen
ist)
 Sprache kann sowohl primär aus grammatisch-struktureller Sicht als auch primär aus
kommunikativ-funktionaler Sicht betrachtet werden
 Dennoch in Kommunikationssituation keine Trennung dieser Bereiche möglich
 Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig (durch Kommunikation wird Struktur erworben,
die wieder bessere Kommunikation ermöglicht usw.)
 Erwerb jeder einzelnen Komponente stellt besondere Anforderungen an das Kind
72
 Aufgliederung erscheint aufgrund von Beobachtungen des gestörten Spracherwerbs und
Sprachgebrauchs sinnvoll
 Es können Störungen bei einer Komponente auftreten, während andere ganz gut
funktionieren
Spracherwerbsaufgabe: Fragen und ungelöste Probleme
Frage: Wie schafft es ein Kind innerhalb weniger Jahre, das hochkomplexe Sprachsystem zu
erlernen?
Aktiver Induktionsprozess
 Sprache wird nicht durch Imitation von Gehörtem gelernt
 Sondern das Kind muss auf der Grundlage des Sprachangebots Regeln abstrahieren und
so selbst neue Sätze produzieren
 Aktiver Induktionsprozess: Speicherung von Daten, Ableitung von Regeln und Bildung
neuer Sätze
 Kein bewusster Prozess, sondern implizites Lernen
 Metalinguistische Bewusstheit erst auf der Basis von bereits erworbenem Sprachwissen
möglich
Unterschiedliche Auffassungen
 Kernelemente grammatischen Wissens angeboren oder im Verlauf der Entwicklung
erworben?
 Sprachbereichsspezifische Mechanismen oder generelle kognitive Prinzipien?
 Erwerb der Sprache einfache Folge der senso-motorischen Entwicklung?
 Welche Merkmale der sozialen Sprachumwelt notwendig?
 Reicht nur Hören der Sprache oder braucht man besondere Formen der sprachlichen
Interaktion?
Die wichtigsten Meilensteine der Sprachentwicklung
Phonologisch-prosodische Entwicklung
Erwerb der Sprache beginnt schon lange vor dem ersten Wort, sogar schon vorgeburtlich
Rezeptive phonologisch-prosodische Entwicklung
Säugling ist mit sehr spezifischen Fähigkeiten ausgestattet, die es ihm ermöglichen, die
Sprache seiner Umwelt zu verarbeiten
Phonologische Kategorien
Bereits direkt nach der Geburt können Säuglinge:
 menschliche von anderen Lauten unterscheiden
 Laute in phonologische Kategorien einordnen (ba/pa)
Entwicklungsveränderungen
Kategoriale Lautunterscheidung verändert sich mit dem Alter
 mit 6 Monaten: Säuglinge können auch zwischen Lauten unterscheiden, die in ihrer
Umweltsprache nicht unterschieden werden (z.B. r/l in Japan)
 mit 10 Monaten haben sie diese Fähigkeit nicht mehr
 Repertoire erfahrungsabhängig eingeengt und teilweise umstrukturiert
73
 Im selben Alter können sie aufgrund phonetischer Information die Muttersprache von
anderen Sprachen unterscheiden
 Die wichtigsten Regeln der Lautkombination ihrer Sprache sind bereits erworben
Prosodische Merkmale
 von Anfang an Sensitivität für suprasegmentale Merkmale der Sprache
 Unterscheidung Muttersprache – fremde Sprache bereits vier Tage nach der Geburt (nicht
aber zwei fremde Sprachen)
 Wiedererkennen eines Textes, den Mutter während letzter Schwangerschaftswoche oft
laut gelesen hat




Vorgeburtliche Erfahrung spielt bereits eine Rolle
alles aufgrund von Merkmalen wie Tonhöhe, Betonung, Lautheit, Schnelligkeit und
Pausengebung (also Prosodie)
Nachweis der Bedeutung der Prosodie zur Unterscheidung von Mutter- und
Fremdsprache: Mehler et al., 1988 (s.a. Vorlesung)
Allerdings nur bei natürlicher kindorientierter Prosodie (nicht bei monotonem
Sprechen)
Präferenz für stark prosodische Sprache (auch wenn nicht Muttersprache)
Funktion dieser Präferenzen:
 Prosodie erleichtert Strukturierung und Unterscheidung von Sätzen mit verschiedenem
Inhalt („the cat chased white mice“ vs. „the rat chased white mice“)
 Prosodie wichtig für Sprachverarbeitung und Erinnerung
Grammatikerwerb
Auch hier Prosodie wichtig!
 7-10 Monate alte Säuglinge können prosodische Hinweisreize ihrer Muttersprache für das
Erkennen syntaktisch relevanter Einheiten nutzen
 Hirsh-Pasek et al., 1987: Sätze mit Pausen an Phrasengrenzen vs. Sätze mit Pausen in
Phrasen („Cinderella lived in a great big house…“)
Zusammenfassung:
 Säuglinge sind von Geburt an (und sogar schon vorgeburtlich) sensitiv gegenüber
prosodisch-phonologischen Regularitäten
 Während dem ersten Lebensjahr wird differenziertes Wissen über die Regularitäten der
Muttersprache aufgebaut
 Nicht nur auditive sondern auch visuell-soziale Information wird verarbeitet („Lippenlesen“:
Präferenz für Mundbewegung, die zu gleichzeitig präsentiertem Ton passt)
Produktive phonologische Entwicklung: Von den Sprachlauten zur
Wortproduktion
 im Vergleich zu rezeptiver Entwicklung im ersten Jahr noch recht eingeschränkt
 läuft in 5 Schritten ab:
6 - 8 Wochen:
Gurren
2. – 4. Monat:
Lachen und Lautbildung
Nachahmung vorgesprochener Vokale
6. – 9. Monat:
Lallstadium
Reduplikation von Silben = kanonisches Lallen
74
CVC – Verbindungen (baba / dada) mit satzähnlicher Intonation
 Hinweis auf zunehmende Kontrolle über Sprechwerkzeuge
 Früherkennung von gehörlosen Kindern (kein kanon. Lallen)
 wenige unterschiedliche Silben als Prädiktor für spätere
Störungen der Sprachentwicklung
10. – 14. Monat:
erste Wörter
18. Monat:
50-Wörter-Marke
 neue Wörter werden jetzt sehr viel schneller gelernt (wenige
Monate später schon ca. 200)
 oft ungenauere Aussprache: Aufmerksamkeit eher auf
grammatikal. Prinzipien gelegt, also eigtl. kein „Rückschritt“
sondern „Fortschritt“
Aussprachefehler
Normalerweise nach 4 Regeln:
 Wiederholung von Silben
 Auslassung unbetonter Silben
 Reduktion von Konsonantenclustern
 Vorwärts und rückwärts gerichtete Assimilation
 am Ende der Vorschulzeit in der Regel korrekte Aussprache gelernt
Drei Hauptschritte in der lexikalischen Entwicklung
innerhalb von 16 Jahren Grundwortschatz von ca. 60000 Wörtern  ca. 9 neue Wörter / Tag
 komplexer
Prozess:
Zuordnung
von
phonologischen
Sequenzen
zu
Bedeutungsrepräsentationen
 Unterscheiden sich kindliche Bedeutungszuweisungen von denen der Erwachsenen?
 Welcher Bedeutungswandel findet statt?
 Wie lässt sich schnelles Wortlernen erklären?
Die ersten Wörter
zwischen 10 und 18 Monaten: Wechsel der Funktion des Wortgebrauchs
 erste 30 Wörter: soziale Wörter, Namen für ein bestimmtes Objekt (z.B. das Auto des
Vaters), Wort als Ereignisrepräsentation
 Erreichen der 6. Stufe der sensomotorischen Stufe nach Piaget: intrapersonale,
regulative, kognitive Qualität des Wortgebrauchs
 abstrakte Beziehungen, Verschwindens-, Erfolgs-, Misserfolgswörter
 1 ½ Jahre: Benennungsexplosion
 schneller Zuwachs von Benennungen
 beruht auf Erkenntnis, dass alle Dinge benannt werden können
 Wunsch, alle Objekte zu benennen
 „late talkers“: nach 24 Monaten noch keine 50 Wörter  Risiko der Störung!
Übergeneralisierungen und Überdiskriminierungen
Übergeneralisierung: ein Wort auf mehrere Worte und Objekte angewandt (z.B. Hund für alle
kleineren Tiere)
Überdiskriminierung: Geltungsbereich eines Wortes viel enger beschränkt als bei
Erwachsenen (z.B. Ente nur für Badeente, nicht für das Tier)
75
 diese Fehler nicht mehr, wenn Kind die jeweilige hierarchische Organisation des
semantischen Wortfeldes erkannt hat (wenn es erkannt hat, dass die gleiche Sache
mit verschiedenen Wörtern bezeichnet werden kann)
Schneller Erwerb für Objekte und Eigenschaften
Wie kann das Kind so schnell neue Wörter lernen?
 nicht Umwelt (da benennende Eltern-Kind-Interaktion nach 2 Jahren stark abnimmt)
 Ursache liegt im Kind selbst
Fast mapping: schnelle Zuordnung eines Wortes zu einer (wenn auch noch nicht vollständig
bekannten) Bedeutung
 Kind erwirbt Unterscheidung zwischen Ereignissen und Objekten bevor es sprachliche
Bezeichnung kennt
 Auch Auffassen einer Bezeichnung kann zu konzeptueller Unterscheidung führen
 reziproke Beziehung zwischen Sprache und Kognition
Bsp.: „chromium“ Tablett  Kinder merken sich Wort nach einmal Hören, wissen, dass es
Farbe bezeichnet, nicht aber genau welche
Induktionsproblem
 viele mögliche Bedeutungen für ein Wort, wie wird richtige herausgefunden?
Markman & Mitarbeiter:
Annahme von „constraints“ = Vorannahmen, die die möglichen Bedeutungen von Wörtern
auf wenige reduzieren
 wird in Zeit um Benennungsexplosion bedeutsam
 andere Qualität des Sprachlernens (nicht langsamer assoziativer Prozess wie anfangs)
Ganzheits- und Taxonomieconstraint
Ganzheitsconstraint: neue Wörter beziehen sich auf ganze Objekte (nicht auf Teile oder
Eigenschaften)
Taxonomieconstraint: neue Wörter beziehen sich auf Dinge gleicher Art und nicht auf
thematisch verbundene Dinge
dazu Experiment: Markman & Hutschinson, 1984
Bedingung ohne Benennung 
Bedingung mit Benennung

Ordnung nach thematischer Verbindung
Ordnung nach taxonomischer Verbindung
 die beiden Constraints sind „Ausgangsconstraints“ für schnelles Wortlernen
Disjunktionsconstraint
= neue Wörter beziehen sich immer auf unbekannte Dinge (wenn also Objekt bekannt, muss
Wort sich auf Teile bzw. Eigenschaften beziehen)
durch Markman & Wachtel experimentell bestätigt
 nötig, damit Eigenschaften und Objektteile gelernt werden können
Offene Fragen
 Constraint-Ansatz macht deutlich, wie Mapping-Problem zu lösen ist
 Das kann weder die klassische Lerntheorie noch der kognitionspsychologische Ansatz
lösen
 Dennoch bleiben Fragen:
76
1. Erwerb von Nomen erklärt, aber Verben?
2. Wie spezifisch sind Constraints? (spezifische linguistische Konventionen oder
generelle kognitive Lernmechanismen)
3. Echte Beschränkungen oder eher Bevorzugung, Vorannahme, Strategie?
4. Woher kommen Constraints? (Erfahrung, angeboren)
Schneller Erwerb von Verben
Syntaktische Constraints
 Syntax besonders wichtig für Erwerb von Verben
Gründe:
 verschiedene Wörter /Wortpaare beziehen sich auf gleiche Ereignisse (aus
unterschiedlicher Perspektive), für das Kind schwer zu erkennen, was genau gemeint ist
 verschiedene Verben beschreiben Ereignisse auf unterschiedlichem Spezifikationsniveau
(z.B. verschiedene Wörter für visuelle Wahrnehmung)l, die Situation gibt über die
Differenzierung keine Information
 manche Verben beziehen sich auf nicht beobachtbare Ereignisse
d.h. schon verfügbare kognitive Konzepte
Induktionsprozess, syntaktischer Constraint nötig
bzw.
Constraints
reichen
nicht
für
Syntaktischer Constraint:
 Nutzung von Satzrahmen (Anzahl der Objekte, transitiver bzw. intransitiver Satzrahmen,
präpositionale Verbindungen usw.)
 Bezeichnet als „syntaktisches Steigbügelhalten“ („syntactic bootstrapping“)
Drei Hauptphasen der lexikalischen Entwicklung
Phase
Merkmale
Pragmatischer Gebrauch:
Früher Worterwerb ab ungefähr
soziale Wörter, spezifische
dem 10. Lebensmonat
Benennungen
Benennungsexplosion: schnelles
Wortlernen für Objekte und
Übergeneralisierungen,
Objektmerkmale ab ungefähr
Überdiskriminierungen
dem 18. Monat
Schnelles Wortlernen für Verben Verwechslungen wie
und andere relationale Wörter ab zwischen „geben“ und
ungefähr dem 30. Lebensmonat „nehmen“
Theoretische Erklärung
Assoziative Verknüofungen
im sozial-interaktiven
Kontext
Ganzheits-, Taxonomieund Disjunktionsconstraints
Syntaktische Merkmale als
Steigbügelhalter
Von den Wörtern zur Satzproduktion
 produktive Grammatik beginnt mit ersten Wortkombinationen (wie Wortschatzspurt ab 18.
Monat)
 Verständnis jedoch schon vorher vorhanden
 Nutzung der Wortordnung für das Verständnis von Sätzen
 Unterscheidung von transitiven und intransitiven Satzmustern
Zwei- und Dreiwortäußerungen
 Kindliche Aussagen sind regelhaft strukturiert
 Kinder sind sich der Regeln aber nicht bewusst
Vier Hauptcharakteristika der kindlichen Sprache:
77
Telegraphische Sprache
 Kinder aller untersuchten Sprachen lassen systematisch bestimmte Satzelemente aus
(Artikel, Hilfsverben, Ableitungs- und Flexionsmorpheme, Kopnjunktionen, Präpositionen
o.ä.)
 Vergleich aber trotzdem nicht völlig zutreffend, da kindliche Äußerungen im Gegensatz zu
Telegrammen oft nur aus dem Kontext zu verstehen sind
 Gesprächspartner interpretiert Äußerungen, fragt in grammatisch vollständiger Form nach
Bedeutungsrelationen
Kinder verleihen unterschiedlichen semantischen Relationen Ausdruck
 Handelnder – Handlung: „Papa schläft“
 Handlung – Objekt: „Tür auf“
 Objekt – Lokation: „da ein Schönes“
 Besitzer – Besitz: „Papa Hut“
 Objekt – Attribut: „Kleines Balla“
 Zurückweisung – Handlung: „net schreibe“
 Wiederauftreten – Handlung: „mehr habe“
 langsam beginnt das Kind jetzt auch, sich auf vergangene Ereignisse zu beziehen
Beachtung formaler Regularitäten
 Da Kinder schon Wortstellungsregeln beachten, müssen sie schon ein Gefühl für die
formal-grammatischen Eigenschaften ihrer Umweltsprache erworben haben
 Dies gilt auch für morpho-phonologische Regeln: Kinder beachten den phonologischen
Hinweis bei der Zuweisung des grammatischen Geschlechts (deux bicron – le bicron),
nicht den semantischen Hinweis
Wortordnung
 Kinder halten bei ihren Äußerungen ganz bestimmte Wortordnungen ein
 Sie sind sensitiv gegenüber den formalen Strukturprinzipien ihrer Sprache
z.B. stehen unflektierte Verben zunächst am Satzende, wenn dann die morphologischen
Regelmäßigkeiten erworben sind, rückt das Verb an die richtige Stelle im Satz
 danach schneller Erwerb variabler Wortordnungen (für Fragen, Aufforderungen)
 dies gilt allerdings nicht für sprachentwicklungsgestörte Kinder
Fortschritte der morpho-syntaktischen Fähigkeiten
 mit ca. 2 ½ Jahren: Sätze mit mehreren Phrasen
 mit ca. 4 Jahren: Beherrschung der hauptsächlichen Satzkonstruktionen ihrer
Muttersprache
 dramatische
Veränderungen
des
sprachlichen
Wissens
durch
wichtige
Reorganisationsprozesse
 Fehler können Aufschluss über die Aneignung von Strukturprinzipien geben
Reihenfolge- und Semantikstrategie
 Kinder setzen ganz unterschiedliche Interpretationsstrategien ein, die zu entsprechenden
Fehlschlüssen führen
 Im sog. Manipulationsexperiment zu überprüfen:
 Passivsätze in Handlungen mit Spielobjekten umsetzen
 Interpretation der Reihenfolge der Nomen als Handlungsfolge
 gehörte Sätze in Übereinstimmung mit Weltwissen interpretiert
 Auch bei anderen Satzstrukturen (z.B. Temporalsatz mit „nachdem“)
78
 diese
Interpretationsstrategien
interpretieren!
nicht
fälschlicherweise
als
Erwerbsstrategien
Drei Stufen struktureller Reorganisation
Kind arbeitet hart an der Sprache, erkennt zunehmend abstraktere Strukturprinzipien
Drei Phasen:
1. „rote stage“: Formen als unanalysierte Einheiten im Gedächtnis gespeichert, isolierter
Abruf, Sprachwissen an der Oberfläche
2. „rule stage“: Übergeneralisierungen, Kind hat erkannt, dass Wörter aus Einheiten
zusammengesetzt sind, regelmäßige Formen werden auf unregelmäßige übertragen
3. korrekte Formen: Wortformen in ein neu erworbenes morphologisches Regelsystem
integriert
Drei-Phasen-Modell expliziten Sprachwissens
 zwar können 5jährige Kinder schon viel reden und haben die Satzmuster ihrer
Muttersprache prinzipiell erlernt
 trotzdem noch nicht Abschluss ihrer grammatischen Kompetenz erreicht
Drei-Phasen-Modell:
ab 5 Jahre
ab 6 Jahre
ab 8 Jahre
Phase 1
Implizites Sprachwissen
korrekter Sprachgebrauch, erfolgreiche Kommunikation
Keine Reflexion möglich
Fokus auf Sprachinformation aus der externen Umwelt
Phase 2
System-internaler unbewusster Reorganisationsprozess
Fehler auf Verhaltensebene, spontane Selbstkorrekturen
Lösung von Beurteilungs- und Korrekturaufgaben
Von außen kommende Information teilweise vernachlässigt
Phase 3
Explizites Sprachwissen
Bewusste Reflexion über die Sprache
Erklärung von Sprachregularitäten
Der Weg zur pragmatischen Kompetenz
 Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten des situations- und kontextabhangigen
Sprachgebrauchs
 Aufbau soziokultureller Kenntnisse
 Wissen um Gefühle und Bedürfnisse anderer
 sehr viele unterschiedliche Fragestellungen, hier nur auf einige eingegangen
Von Kommunikation zu Sprache: Drei Phasen
 Kommunikation schon lange bevor Kind zu sprechen beginnt
 Lernt Regeln, weil es kommuniziert und nicht andersherum
Drei Hauptphasen:
8. – 10. Monat:
intentionale Kommunikation mittels Gesten
Protoimperative und Protodeklarative
79
Ab 11. Monat:
systematischer Einsatz der Zeigegeste zur Kommunikation
16. – 22. Monat:
Ausdruck verliehen
Intentionen, die sich auf Diskurs beziehen, wird der erste sprachliche
Ab 2. Jahr:
Länge der Konversationseinheiten nimmt entscheidend zu
30 Monate  ca. 20 zusammenhängende Äußerungen
Frühe pragmatische Kompetenzen und Einschränkungen
 Bereits dreijährige Kinder können sich sprachlich an
Gesprächspartners anpassen (entgegen Piaget)
 Gespräche unter Kindern gewinnen echte soziale Qualität
Alter
und
Status
des
Frühzeitige kommunikative Fähigkeiten und Fertigkeiten (nach Hickmann)
 Anpassung an kommunikative Erfolge und Misserfolge
 Umformulierung von Äußerungen nach Erklärungsaufforderung durch Erwachsene
 Kontextabhängige Variation von Formen des Bittens
 Verständnis und Verwendung verschiedener Typen indirekter Anweisungen
 Anpassung der Sprache an verschiedene Rollenbedürfnisse
Zugleich Defizite in folgenden Bereichen
 gezielte Verwendung bestimmter Ausdrücke zur Unterscheidung von Sprechakten
 pragmatisch korrektes Reden von Dingen, die nicht Teil der Sprechsituation sind
 Ausführung kompetenter argumentativer Handlungen
 jüngere Kinder interpretieren verschiedene Sprechakte eher auf Basis des
Situationskontextes, ältere Kinder nutzen linguistische Hinweise (z.B. erst ab 10
Jahren Nutzung des Futurs als Hinweis auf ein Versprechen)
 im Rollenspiel: erst Nachahmung der Stimmqualität und Prosodie, dann des
sprachlichen Inhaltes und der Wortwahl und erst spät Anpassung der
Äußerungsformen an die Rolle (z.B. Imperativ)
Das Erklärungsproblem
Wie gelingt es dem Kind, abstrakte Spracheinheiten und komplexe Regularitäten zu
erwerben?
 keine rein quantitative Wissenszunahme, sondern qualitativunterschiedliche und hoch
kreative Zwischengrammatiken
 bis heute keine übergeordnete Theorie
 sinnvoll, unterschiedliche Lerntypen für die Ausbildung verschiedener Struktureinheiten zu
verschiedenen Zeitpunkten anzunehmen
Grundüberzeugungen und Unterschiede
In folgenden 4 Punktern sind sich die Forscher einig:
1. Sprache ist humanspezifisch und hat eine biologische Basis
2. Kind ist für Spracherwerbsprozess vorbereitet
3. Ohne sprachliche Umwelt wäre Erwerbsprozess nicht möglich
4. Innere Voraussetzungen des Kindes und äußere Faktoren müssen im Sinne einer
gelungenen Passung zusammenwirken
 Frage, unter welchen Umständen gelungene Passung gegeben ist, wird je nach
Standpunkt unterschiedlich beantwortet
80
 Extrempositionen: sehr spezifisches angeborenes grammatisches Wissen oder Sprache
als reiner Imitationsprozess
 Heute Extrempositionen nicht mehr vertreten, Unterschiede zwischen Theorien in
Annahme sprachspezifischer angeborener Voraussetzungen, Bedeutung der
Informationsverarbeitungsfähigkeiten und Rolle der sprachlichen Umwelt
 Je nach Gewichtung dieser Faktoren unterschiedliche Antwort auf folgende Fragen:
 Wie kann Kind abstraktes Wissen erwerben, das ihm nicht direkt angeboren ist?
 Warum machen Kinder ganz bestimmte Fehler nicht?
 Welche Prozesse sind für Reorganisation verantwortlich?
 Warum nimmt Kind Änderungen vor, obwohl diese die Kommunikation nicht
stören?
Zwei große Theoriefamilien:
„Outside – In“ – Theorien
Annahme genereller Lernmechanismen
Angeborene sprachspezifische
Voraussetzungen werden nicht
angenommen oder minimiert
Kognitive Theorien:
- Spracherwerb als Ergebnis der
kognitiven Entwicklung
- Wörter erst dann erlernt, wenn
zugrunde liegende Konzepte
erworben
Sozial-interaktive Theorien:
- Sprachmuster entstehen direkt aus
den zuvor erworbenen sozialkommunikativen Mustern
- Im Dialog ausgebildete Sprach- und
Kommunikationsmuster haben
primäre Bedeutung für gelungenen
Spracherwerb
„Inside – Out“ – Theorien
Sprachlernen unterscheidet sich zumindest
zum Teil von anderen Lernprozessen
Das Kind ist mit angeborenem
Sprachwissen oder angeborenen
sprachspezifischen Fähigkeiten ausgestattet
Starke Version: Universalgrammatik
- Kind hat von Beginn an hoch
abstraktes grammatisches Wissen
und spezialisiertes sprachbezogenes
Verarbeitungssystem
- Dieses ist unabhängig von anderem
Wissen und verantwortlich für
Lernbarkeit der Sprache
- Umweltsprache und allgemeine
Lernfähigkeiten der Kinder spielen
geringe Rolle
- Dienen nur der Auslösung des
Erwerbsprozesses, der
Spezifizierung nicht genau
festgelegter grammatischer Muster
und der Unterstützung
- Beziehungen zwischen sprachlicher
und kognitiver Entwicklung weil
Output des Sprachmoduls mit
anderen Wissensrepräsentationen
interagiert
Schwache Version
- basierend auf empirischen
Ergebnissen der Säuglingsforschung
- Sicht der meisten
Sprachentwicklungspsychologen
- Passungsgedanke im Vordergrund
- Annahme sprachspezifischer
Bedingungen (empirische Belege)
- Nicht vollständig unabhängig von
Kognition, sondern
bereichsspezifischer Problembereich
- Säugling mit sprachspezifischen
Voraussetzungen ausgestattet, seine
Aufmerksamkeit auf linguistisch
81
relevante Spracheinheiten und
Regularitäten zu fokussieren
Interaktionistische Sichtweise
 Steigbügelhalter – Theorien („bootstrapping theories“)
 Z.B. welche schon erworbenen Konzepte werden für Einstieg in die Grammatik benutzt?
Oder: Nutzung von syntaktischen Hinweisreizen für Erwerb von Wortbedeutungen?
 Haben keinen allumfassenden Anspruch, sondern versuchen, einzelne Teilbereiche der
Spracherwerbsaufgabe präzise zu definieren
Voraussetzungen und Bedingungen für einen erfolgreichen
Spracherwerb
 Welche wahrnehmungsbezogenen, kognitiven und sozial-kognitiven Fähigkeiten?
 Rolle der sozialen Umwelt (motivierende oder sprachlehrende Funktion)?
 Generelle Lernprinzipien oder sprachspezifische Erwerbsmechanismen?
Spracherwerb als biologisch fundierter, eigenständiger
Phänomenbereich
Vier Beobachtungen unterstreichen die biologische Fundierung:
(1) Der Spracherwerb ist humanspezifisch
 Versuche, Primaten die Gebärdensprache beizubringen, führte nicht zu einer der
menschlichen vergleichbaren Sprachkompetenz
 Zwar funktionsbezogene Nutzung der Sprache bei Primaten, nicht aber Nutzung
grammatischer Strukturen
(2) Beim Menschen erweist sich die grundlegende Fähigkeit zum Spracherwerb als
sehr robust
gehörlose Kinder:
 erwerben auch unter sehr eingeschränkten Bedingungen eigenständig sprachähnliche,
morphologisch und syntaktisch strukturierte Zeichensysteme
 beginnen zu selbem Zeitpunkt wie hörende Kinder erste Wörter zu produzieren (anhand
von selbst erfundenen Gesten), dann verbinden sie diese der normalen
Sprachentwicklung folgend zu Zwei- und Drei-Zeichen-Sequenzen
 ebenso vorhanden: grammatische Regularitäten, bestimmte Wortordnungen
 Kinder sind internal mit der Fähigkeit ausgestattet, solche Formen zu erwerben
Studien mit Patienten, denen zu frühem Zeitpunkt linke bzw. rechte Hemisphäre entfernt
werden musste:
 Angemessene phonologische und semantische Fähigkeiten (normale Artikulation,
phonemische Unterscheidungsleistung)
 Weder Worterkennungs- noch Wortfindungsschwierigkeiten
 Entfernung der linken Hemisphäre: Schwierigkeiten bei der Einbeziehung syntaktischer
Merkmale zur Interpretation von Satzbedeutungen
 Intakte linke Hemisphäre: keine solchen Schwierigkeiten
(3) Sprachleistungen in der Kindheit werden nicht in gleicher Weise von denselben
Gehirnregionen vermittelt wie im Erwachsenenalter
 Frühe Lateralisierung bereits bei Neugeborenen (linkslaterale Verarbeitung gesprochener
Silben)
82
 Vergleichbare Läsionen im Kindes- und Erwachsenenalter führen zu unterschiedlichen
Störungsbildern
 Hinweis darauf, dass schnelle modulare Sprachverarbeitung nicht Ausgangspunkt
sondern Ergebnis der Entwicklung ist
(4) Der Erwerb der Sprache ist auch bei eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten
möglich
 Kinder mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten haben in der Regel gravierende
Schwierigkeiten beim Spracherwerb
 Trotzdem einzelne Syndrome, bei denen das nicht so ist:
 Williams-Beuren-Syndrom: deutliche geistige Retardierung, dennoch
vergleichsweise gute, wenn auch nicht ganz altersgemäße Sprache; gutes
Gedächtnis für Gesichter, relativ gute auditive Gedächtnisfähigkeiten, Stärken
im Bereich der „theory of mind“
 Down-Syndrom, Offener Rücken: Einzelfälle mit dennoch elaborierter Sprache
 Jedoch weder sprachliches noch kognitives Leistungsprofil der Probanden
vollständig homogen
Kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs: Wirkungen und
Rückwirkungen
Obiges macht deutlich, dass Erwerb der Sprache keine einfache Folge der kognitiven
Entwicklung ist
 Kinder erwerben das komplexe, abstrakte Regelsystem der Sprache zu einem Zeitpunkt,
zu dem ihre abstrakten Problemlösefähigkeiten noch extrem eingeschränkt sind
 Keine generellen Zusammenhänge zwischen kognitivem und sprachlichem
Entwicklungsstand nachweisbar
 Dennoch Erwerb der Sprache nicht völlig unabhängig von kognitiven Kompetenzen und
Entwicklungsveränderungen
 Kind muss Regeln, die für Muttersprache spezifisch sind (also Wortschatz, Syntax,
Morphologie und Großteil der Phonologie), induktiv aus dem Sprachangebot ableiten
 Es muss also eine Vielzahl von kognitiven, sozial-kognitiven, und sozial-kommunikativen
Fähigkeiten sowie eine abgestimmte soziale Umgebung vorhanden sein:
Bedeutsame lokale Zusammenhänge zwischen kognitiv-konzeptueller
Entwicklung und dem Erwerb sprachlicher Bedeutungen




Kognitive Entwicklung ist nicht einfach „Schrittmacher“ der Sprachentwicklung
Kind beachtet von Anfang an auch sprachliche Regularitäten, die die kognitivkonzeptuelle Entwicklung erleichtern können
Dazu interkulturelle Studien:
 Englische Kinder fortgeschrittener in Objektkategorisierung und Benennungsspurt
 Koreanische Kinder fortgeschrittener in der Lösung von Mittel-Zweck-Aufgaben
und dem Erwerb von Erfolgs-/Misserfolgswörtern
 Differenzen korrespondieren mit Sprachangebot und Struktur der jeweiligen
Sprache (Englisch = nominale Sprache, Koreanisch = verbale Sprache)
zwischen kognitiv-konzeptueller und sprachlicher Entwicklung zwar keine generellen,
aber spezifische Zusammenhänge und Wechselwirkungen
83
Phonologische Gedächtnisfähigkeiten: Voraussetzung und Folge eines
erfolgreichen Spracherwerbs



kapazitätsbegrenztes phonologisches Arbeitsgedächtnis als individuell variable
Voraussetzung für Spracherwerb der Kinder
individuelle Arbeitsgedächtnisleistungen spielen wichtige Rolle beim Wortschatzerwerb
 Wiedergabe sinnfreier Pseudowörter mit 4 Jahren prädiktiv (und vermutlich
funktional) für Wortschatz der Kinder mit 5 Jahren
 Sprachgestörte Kinder Defizite im Bereich des auditiven Gedächtnisses
Jedoch keine Einbahnstraße: im Alter von 5 Jahren scheint sich die dominante
Wirkrichtung umzukehren:
 Fortschreitender Spracherwerb ist nun prädiktiv für Gedächtnisleitungen der
Kinder
Implizite Lernfähigkeiten und Sensitivität gegenüber korrelativen
Zusammenhängen und prosodischen Strukturen







Verarbeitung und Speicherung des Sprachangebots genügt nicht, es müssen auch die
zugrunde liegenden Regularitäten induktiv abgeleitet werden
Säuglinge von Anfang an sensitiv gegenüber im Sprachangebot enthaltenen korrelativen
phonologisch-prosodischen Strukturen
Scheinen somit mit spezifischen Prädispositionen ausgestattet zu sein, um
Sprachangebot in sprachspezifischer Weise zu verarbeiten und zu repräsentieren
Erworbenes Wissen erleichtert Verarbeitung komplexerer Formen, diese wieder als
„Steigbügelhalter“ für Erwerb neuer Sprachkomponenten
Allerdings kann daraus nicht geschlossen werden, dass Kinder Prosodie zur Ableitung
von Regeln benutzen
Dazu ergänzende Befunde zur Nutzung prosodischer Merkmale als syntaktische
Gliederungshinweise nötig:
 Lokalisation von Pausen an Phrasengrenzen oder in Phrasen beeinflusst
Satzverständnis jüngerer Kinder
 Relativsätze besser verstanden, wenn prosodisch und nicht monoton gesprochen
 Prosodische Gliederungen erleichtern bei Kinder und Erwachsenen den impliziten
Erwerb sprachähnlicher grammatischer Regeln
 …
Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen gravierende Defizite in diesen Bereichen
Kinder haben angeborene Prädispositionen für das Sprachlernen, die allerdings im Bezug
auf linguistische Spezifizierung von Universalgrammatik oder Sprachmodul sehr weit entfernt
sind
Sozial-kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs
 bewegtes Gesicht und stimmlicher Ausdruck interessante Reize für Säugling, die seine
Aufmerksamkeit erregen
 besonders wichtige Rolle in Interaktion mit der Umwelt spielen Episoden der geteilten
Aufmerksamkeit
Gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus und Imitation als sozial-kognitive
Vorausläuferfähigkeiten
 je häufiger Episoden der geteilten Aufmerksamkeit und Imitation von Sprachlauten
vorkommt, desto größer ist produktiver Wortschatz mit 21 Monaten
84
 Gebrauchshäufigkeit von Gesten vor/um 1. Lebensjahr und Wortschatz im 16./20. Monat:
r = .50
 Dennoch nicht einfach auf Kausalbeziehung schließen!
 Quasi-experimenteller Befund: Kinder mit späterer Diagnose Autismus: keine
symbolischen Gesten, keine Aufmerksamkeitszentrierung auf mütterliches Gesicht oder
Stimme
 Gemeinsame Aufmerksamkeit zunächst durch Mutter gesteuert, dann beachten Kinder
aktiv die Blickrichtung der Mutter
 Dadurch vermeidet Kind die Herstellung falscher Wort-Referent-Verbindungen (auch hier
bei autistischen Kindern deutliche Defizite)
Gesten als sozial-kognitive Vorausläuferfähigkeiten: Von der Geste zur Sprache
 Kinder verleihen mittels Gesten ihren Wünschen und Zurückweisungen Ausdruck
 Drei Arten von Gesten:
1. Deiktische Gesten des Zeigens, Gebens und Hinweisens:
 Referent nur aus Kontext zu erschließen
 Gesten noch vorsymbolisch
 Protoimperativ, wenn Kind Erwachsenen benutzt, um etwas zu erhalten
 Protodeklarativ, wenn Kind Objekt benutz, um Aufmerksamkeit zu erregen
2. Referentielle Gesten:
 präziser Referent
 symbolische Qualität
3. Konventionalisierte Gesten:
 fest gefügte Bedeutungs-Handlungs-Zusammenhänge
 z.B. Nicken / Kopfschütteln für Zustimmung / Ablehnung
 Zusammenhang zwischen Gesten und Sprachentwicklung theoretisch plausibel und
empirisch belegt
 Dennoch zu verkürzt, Worterwerb ausschließlich auf Gesten zurückzuführen!
 Entwicklung vom vorsprachlichen Handeln zum Sprachausdruck verläuft diskontinuierlich
(neue sprachliche Qualität kommt hinzu)
 Hierzu Studie mit gehörlosen Kindern:
 Zunächst deiktische Zeigegesten (Proto-Ich und Proto-Du)
 Erlernen der Gehörlosensprache: nicht mehr die Gesten für ich und du
 Stattdessen gesten sie vollen Namen für sich und Gegenüber
 Dann Verwechslung von ich und du mit 22 Monaten
 Erst einige Monate später wieder korrekte Verwendung der Zeichen
 zwischen Verwendung vorsymbolischer Zeichen und der von Sprachzeichen kein
einfacher Übergang, sondern spezifische linguistische Fähigkeit kommt hinzu
Sozial-kommunikative Voraussetzungen des Spracherwerbs:
Sprachangebot und sprachliche Interaktionen
 Fähigkeiten des Säuglings können nur in Interaktion wirksam werden
 Dazu positive sozial-emotionale Beziehung zur Mutter nötig
Ammensprache („baby-talk“)
sensitive Anpassungsleistungen im Sprachbereich, intuitives Elternprogramm (an kindliche
Präferenzen, Bedürfnisse und Fähigkeiten angepasst)
 hohe Tonlage  Hörfähigkeiten im Säuglingsalter
 übertriebene Satzmelodie  prosodische Präferenzen des Säuglings
85






deutl. Pausen zwischen Phrasen, Akzentverschiebung  Aufmerksamkeitslenkung
Verwendung von Diminutiven, Wiederholung einzelner Satzelemente
Deutliches Sprechen
keine hoch komplizierten Satzkonstruktionen
diese besonderen Sprachregister weitgehend kulturunabhängig
vom Säugling besonders präferiert und für erste kategoriale Organisation der Sprache
genutzt
Dialog
 schon von Geburt an Dialog zwischen Mutter und Kind
 allmähliches Hineinwachsen in die Rolle des Dialogpartners
 wechselseitiges Agieren und Reagieren zuerst von Mutter gesteuert: ermöglicht
Situationen, in denen Säugling Kontingenzen zwischen seinem Verhalten und
mütterlichen Reaktionen feststellen kann)
 führt so zu eigener Verhaltensorganisation
 wichtig für Spracherwerb: Aufbau einer gemeinsamen Erfahrungswelt
 größerer produktiver Wortschatz mit 12 Monaten, wenn mit 4 Monaten Aufmerksamkeit
häufig auf Umwelt gerichtet
 Lernen = kumulativer Vorgang, von Mutter unterstützt
 Wichtige Rolle für Strukturierung des Bedeutungsraumes: Wiederholungen, Routinen
Stützende Sprache („scaffolding“)
Konventionalisierte soziale Routinen (Formate) enthalten drei wichtige Elemente für
Spracherwerb:
1. „scaffolding“: Mutter begrenzt Information so, dass Kind damit umgehen kann;
überschaubarer Ausschnitt aus der Realität, einfache Dialogstruktur (Vokativ – Frage
– Benennung – Bestätigung); Art Gerüst, das Worterwerb stützt; wenn Kind mit Lallen
beginnt 
2. Mutter insistiert auf eine Antwort; wenn keine Lall-Laute mehr 
3. Mutter weitet Situation der Spracheinführung schrittweise aus; aktive Teilnahme des
Kindes am Dialog
Lehrende Sprache („motherese“)
Im weiteren Entwicklungsverlauf hat sich dieser Sprechstil als förderlich erwiesen
Merkmale:
 Anpassung der durchschnittlichen Länge von Äußerungen und der Anzahl der
Nominalphrasen pro Äußerung
 Anzahl der Ja/Nein- Fragen und W-Fragen
 Wiederholungen, Transformationen, Erweiterungen der kindlichen Äußerungen
 Wiederholung mit oder ohne Modifikation der eigenen Äußerungen






warum und wie diese Merkmale grammatische Entwicklung beeinflussen, ist nur
exemplarisch belegt
keine simple Übertragung vom mütterlichen in den kindlichen Geist
Sprachangebot („Input“) muss verarbeitet und somit zum „Intake“ werden
Nicht über Imitationsvorgang, sondern aktive Auseinandersetzung
Lernen am Modell unterstützt Mutter durch Sprachlehrstrategien (bestätigende und
korrektive Rückmeldung)
Z.B. Expansion:
86



 Mutter bestätigt kindliche Äußerung
 Gibt gleichzeitig korrigiertes Modell vor
Wesentliche lerntheoretische Voraussetzung erfüllt: keine zu große Distanz zwischen
Bekanntem und Unbekanntem
Ganzheitlicher Verarbeitungsmodus spielt wichtige Rolle
 Einerseits Imitation und Verwendung von Äußerungen als fertige Routinen
 Nutzung des Satzrahmens und größerer Einheiten aus der mütterlichen Sprache
als Induktionsbasis zur Ableitung von Regularitäten
sprachentwicklungsgestörte Kinder machen davon kaum Gebrauch, Defizite können
zumindest teilweise auf Fehlen einer ganzheitlichen Sprachverarbeitungsstrategie
zurückgeführt werden
Zusammenfassung
bis 12 Monate
Ammensprache Überzogene Intonationsstruktur,
(„baby talk“)
hoher Tonfall, lange Pausen an
Phrasengrenzen, einfache
Sätze, kindgemäßer Wortschatz
2. Lebensjahr
Stützende
Gemeinsamer
Sprache
Aufmerksamkeitsfokus,
(„scaffolding“)
Routinen, Formate,
Worteinführungen
24 – 27 Monate Lehrende
Modellsprache, modellierende
Sprache
Sprachlehrstrategien,
(„motherese“)
Sprachanregung durch Fragen
Spracherkennung
zentral: Prosodie,
Phonologie
Spracheinführung
im Dialog
Zentral: Wortschatz
Sprachanregend
und –lehrend,
zentral: Grammatik
Wirkung elterlichen Verhaltens
Im Dialog zwar sozial-kommunikative Funktion im Vordergrund, aber auch Prozesse der
Sprachlehrens und -lernens wichtig
 mütterliche Sprachlehrstrategien verantwortlich für 20 – 40 % der Gesamtäußerungszahl
von 2-3-jährigen Kindern
 kindliche Lernstrategien wie z.B. Imitation: 14 %
 kurzfristige Optimierung der Bilderbuchsituation führte zu nachhaltigen Fortschritten der
Sprachentwicklung
 allerdings nicht genau geklärt, wie viel Sprachangebot mindestens nötig, damit
Spracherwerb stattfinden kann
 es kommt auf Sprachangebot an, nicht auf Input
 Beispiel:
 Hörendes Kind Jim wuchs bei gehörlosen Eltern auf
 Hörte im Fernsehen Englisch, spielte nur selten mit anderen Kindern
 Wortschatzzunahme, aber oft falsche Verwendung
 Keine Ausbildung korrekter syntaktischer Strukturen
 Interventionsprogramm: in sprachlicher Interaktion ist es ihm gelungen, den
sprachlichen Code zu knacken und formale Sprachstrukturen zu erwerben
Zusammenfassung von Julia Dürrschmidt (Uni Bamberg)
87
Entwicklung begrifflichen Wissens
Beate Sodian
Begriffliche Repräsentationen
Begriff als Gedächtniseintrag, der mit mehreren Merkmalen verknüpft ist (z.B. Hund – bellen,
Schwanz, Futter, Leine)
Verschiedene Theorien bzgl. der Repräsentation von Begriffen im Gedächtnis:
Merkmalsbasierte Ansätze
Die Einträge der Begriffe im Gedächtnis ähneln Lexikoneinträgen
Anhand der zum Objekt gehörigen Merkmale wird entschieden unter welchen Begriff ein
bestimmter Gegenstand/ Objekt eingordnet wird
Zwischen dem Begriff und den jeweiligen Merkmalen können deterministische
probabilitische Relationen bestehen:
und
Deterministische Relation: Ein Objekt muss bestimmte Merkmale aufweisen bzw.
Definitionskriterien erfüllen, um einem Begriff zugeordnet zu werden
Beispiel: Ein Mann ist ein Onkel, wenn er der Bruder des Vaters oder der Mutter ist
(notwendige Kriterien, die erfüllt werden müssen für die Zuordnung zum Begriff Onkel)
Probabilistische Relation: Ein Objekt muss nicht zwingend bestimmte Merkmale erfüllen, um
einem Begriff zugeordnet zu werden
Beispiel: Die meisten Vögel können fliegen (Flugfähigkeit als wahrscheinliches, nicht aber
notwendiges Merkmal um die Zuordnung zu treffen)
Theoriebasierte Ansätze
Begriffe sind nicht nur durch Merkmalsassoziationen gekennzeichnet, sondern sie sind in
Wissensdomänen eingebettet
Psychologische, physikalische, biologische Wissensdomänen: Annahmen darüber, weshalb
die Welt so ist, wie sie ist
Beispiel: Verschiedene Erklärungen, wie sich ein Hund bewegt oder wie sich ein Auto
bewegt (biologische und technische Wissensdomäne)
Repräsentationale Entwicklung
Kategorisierung im Säuglingsalter
Bereits Säuglinge können kategorisieren: Z.B. Laute, Gesichter, Ausdruck von Emotionen
Im ersten Lebensjahr bilden Säuglinge sowohl Kategorien auf der basalen Ebene (z.B.
Pferde, Katzen) und auf übergeordneter Ebene (Säugetiere, Möbel)
88
Habituationsexperimente, z.B. Zeigen von Kärtchen mit Möbelstücken
Fixationszeiten), dann Zeigen einer Karte mit Tier (Anstieg der Fixationszeit)
(kürzer
werdenden
Entwicklung begrifflicher Repräsentationen
Traditionelle Annahmen über fundamentale Veränderungen begrifflichen Wissens: Man ging
davon aus, dass sich begriffliches Wissen von Kindern vom rein perzeptuellen zu
konzeptuellen Repräsentationen, von thematischen zu taxonomischen Repräsentationen und
von konkreten zu abstrakten Konzepten verändert (domänübergreifende Änderungen)
Neue Erkenntnisse betonen, dass kindliche Begriffe jedoch im hohen Maße domän- und
kontextspezifisch – Deshalb stehen domänspezifische Veränderungen im Begriffssystem im
Mittelpunkt (domänspezifische Veränderungen)
Wissensentwicklung in den grundlegenden Domänen
Theoretische Ansätze
Vgl. oben: Bereichsspezifische Theorien der kognitiven Erntwicklung
Intuitive Physik: Basales Wissen
Nach CAREY beginnen Kinder mit nur zwei bereichsspezifischen Theorien:
Einer intuitiven Physik und einer intuitiven Psychologie, aus denen durch begriffliche
Differenzierungsprozesse die übrigen Theorien hervorgehen
Wichtiges physikalisches Wissen um sich in der Welt zurecht zufinden: Z.B. Objekte sind
unabhängig von unseren Handlungen, Solidität, Dreidimensionalität, Schwerkraft
Haben Kinder dieses Wissen von Anfang an, oder erwerben sie es erst im Laufe der
Entwicklung?
Es gibt Hinweise dafür, dass Kinder bereits im ersten halben Jahr intuitives physikalisches
Wissen besitzen (vgl. SPELKE, 1992: Physikalisch unmögliche Ereignisse – ausführlich:
O/M, 5. Auflage, S. 450)
Kausales Denken:
Bei Vorschulkindern ist deterministisches Denken feststellbar – sie wissen bereits, dass
jedes Ereignis eine Ursache hat (vgl. BULLOCK, 1992, S. 451)
Bereits 6 Monate alte Säuglinge verstehen Aspekte mechanischer Verursachung (LESLIE,
1987, S. 451)
 Objekteigenschaften:
 Wichtig bei der Unterscheidung von Objekten sind für Säuglinge raum-zeitliche
Hinweise und Bewegungshinweise
 Weniger beachtet werden von Säuglingen die Objekteigenschaften (vgl. XU &
CAREY, 1996, S. 452)
Schwerkraft und Trägheit:
 Säuglinge beherrschen die Prinzipien der Solidität und Kontinuität
 Das Prinzip der Schwerkraft und Trägheit verstehen Säuglinge noch nicht
Erklärungsansätze:
Annahme angeborener domänspezifischer Kernprinzipien (SPELKE) und Bereicherung des
intuitiven Wissens durch Lernen und Erfahrung (Expertiseerwerb)
89
Alternativerklärung: Angeborene domänspezifische Lernmechanismen (BAILLARGEON)
Ähnliche physikalische Intuitionen bei Kindern und Erwachsenen:
Schon Säuglinge teilen einige unserer grundlegenden physikalischen Erwartungen über
Eigenschaften physikalischer Objekte
Das physikalische Wissen von Säuglingen ist also sehr viel reichhaltiger als Piaget es
angenommen hat
Entwicklung physikalischen Wissens: Begrifflicher Wandel
Kindliche Fehlvorstellungen bzgl. physikalischer Phänomene halten sich sehr hartnäckig
Mögliche Erklärung: Kindliche Vorstellungen sind in da sie in intuitive Theorien eingebettet
und können somit nicht ohne weiteres geändert werden
Beispiel 1: Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild
VOSNIADOU, 1991, S. 454: Kinder integrieren die Information, die Erde sei rund, zunächst
in ihr naives geozentrisches Weltbild und versuchen, sie innerhalb dieses Rahmens sinnvoll
zu integrieren (z.B. Erde als Hohlkugel, in deren Innenraum wir leben)
Bedeutungswandel zentraler Begriffe:
Kinder haben ganze Systeme von Überzeugungen und Theorien – Daher die Resistenz
gegen punktuelle Änderungen: Neue Informationen werden in einem Interpretationsrahmen
(je nach Theorie) gesehen – Veränderungen sind langwierige Prozesse, denn Änderung der
Bedeutung zentraler Begriff wäre nötig
Beispiel 2: Gewicht, Dichte, Aufbau der Materie
CAREY, 1991, S. 454: Kinder sehen Masse nicht als konstitutives Merkmal von Materie
(Styroporblock-Zerlegungsaufgabe – Jüngere Kinder glauben, dass die ganz kleinen Stücke
nichts wiegen) - Zu dem Probleme mit dem Dichtebegriff und unzureichende Differenzierung
von gewicht und Dichte
Umstrukturierung des Begriffssystems
Der Erwerb des Begriffsverständnisses von Dichte und Gewicht ist keine bloße Anreicherung
von angeborenen oder früh erworbenen Wissensbeständen – denn kindliche Konzepte von
Dichte- und Gewicht können nicht einfach in das Begriffssystem Erwachsener übertragen
werden (intuitive Theorien müssen sich wandeln!)
Erklärungsansätze für Veränderungen im physikalischen Wissen:
Kinder haben schon sehr viel früher als angenommen die Grundlagen unseres
physikalischen Weltbildes
Im Laufe der Entwicklung finden jedoch unumstritten noch wesentliche Veränderungen des
physikalischen Verständnisses statt
Ob diese als Bereicherung eines Wissenskerns
Begriffssystemen zu verstehen sind, ist noch unklar
oder
als
Umstrukturierung
von
Intuitive Alltagspsychologie (theory of mind)
Menschliches Verhalten wird durch das Zuschreiben von Wünschen und Absichten erklärt:
Mentalistische Interpretationen, intuitive Alltagspsychologie = theory of mind
90
Verfügen Kinder von Anfang an über den gleichen mentalistischen Interpretationsrahmen
oder erwerben sie ihn erst im Verlauf der Entwicklung?
Differenzierung zwischen mentaler und physikalischer Welt: Wichtige Voraussetzung für die
theory of mind – Kinder müssen überhaupt erstmal eine mentale Welt kennen
Laut PIAGET kommt es erst mit 7 Jahren zu einer Differenzierung – aber bereits mit 3
Jahren Unterscheidung zwischen physikalischer und mentaler Welt: Kinder wissen z.B. dass
man einen vorgestellten Hund nicht füttern kann
Wünsche, Absichten, Ziele: Bereits 3-jährige Kinder führen Handlungen auf Wünsche, Ziele
und Absichten der Personen zurück
Geschichten nach WELLMAN & WOODY, 1990, S. 457: Kind will Kaninchen mit in den Kindergarten
nehmen, Kaninchen könnte im Garten oder in der Garage sein, Kind sucht z.B. in der Garage und
findet nichts – Frage an das Kind: ‚Was tut das Kind in der Geschichte als nächstes?’
Das Verständnis falschen Glaubens
Neben Wünschen, Absichten und Zielen sind Überzeugungen von Personen für deren
Handeln wichtig
4-5-jährige verstehen, dass sich jemand in einem falschen Glauben über einen Sachverhalt
befinden kann
Maxi-Geschichte nach WIMMER & PERNER, 1983, S. 459:
Maxi legt Schokolade in den grünen Küchenschrank, geht zum Spielplatz. Währenddessen räumt die
Mutter die Schokolade in den blauen Küchenschrank. Maxi kommt vom Spielplatz zurück und sucht
nach der Schokolade. – Frage an die Kinder: Wo sucht Maxi?
4-5- jährige antworten korrekt, 3-jährige dagegen verstehen dies nicht
3-jährige Kinder haben zudem Schwierigkeiten eigene falsche Überzeugungen zu verstehen
(vgl. Smarties Aufgabe)
3-jährige verfügen offensichtlich noch nicht über einen Überzeugungsbegriff, verstehen nicht,
dass sich Überzeugungen von der Realität unterscheiden können
Lüge und Täuschung
Kinder im Alter von 3 Jahren haben Schwierigkeiten zu mogeln oder andere zu täuschen: In
Spielsituationen, in denen sie mogeln sollen, verraten sie, was sie vorhaben – sie verstehen
den Zweck der Täuschung nicht
Theory of Mind - Entwicklung und Theory of Mind - Defizit
Für das Konzept der Überzeugung ist die Differenzierung zwischen Überzeugung und
Realität wichtig – Dies lernen Kinder erst zwischen 3 und 4 Jahren
Etwa zur gleichen Zeit lernen sie die Differenzierung zwischen Aussehen und Realität:
FLAVELL, 1986: Man zeigt den Kindern eine Kerze, die wie ein Apfel aussieht und fragt sie
‚Wie sieht es aus?’ und ‚Was ist es wirklich?’ – Von 3-järigen Kindern bekommt man die
gleiche Antwort, 4-jährige dagegen unterscheiden
Autistische Kinder: Spezifische Defizite in der Theory of Mind Entwicklung – Vermischung
von mentalen und physischen Phänomenen, Schwierigkeit Sein und Schein zu
unterschieden, weniger Symbolspiel
91
Vorläufer in der frühen Kindheit
Erst ab 4 –5 Jahren spricht man von Theory of Mind
Vorläufer für mentalistische Interpretationen gibt es allerdings schon im ersten Lebensjahr
Unterscheidung zwischen Personen und unbelebten Objekten, Triadische Interaktion
(Interaktion Baby – Erwachsener mit Objekt), Babys folgen der Zeigegeste von
Erwachsenen, Unterscheidungen zwischen eigenen und fremden Wünschen
Entwicklung ab dem Alter von 4 Jahren
Wesentliche Erweiterungen und Differenzierungen des Verständnisses der mentalen
Domäne bis zum 6. Lebensjahr:
Verständnis, dass eine Überzeugung über eine Überzeugung einer anderen Person falsch
sein kann (Max glaubt, dass Peter glaubt, dass ...)
Verständnis, dass schlussfolgerndes Überlegen zu Wissen führt
Einsicht in den eigenen Lernprozess
Erklärungsansätze für die Veränderungen in der Theory of Mind :
Modulationstheorien: Mit zunehmenden Alter kommen Kinder besser mit Gedächtnis- und
Aufmerksamkeitsanforderungen zurecht
Simulationstheorie: Philosophischer Grundgedanke ist, dass Menschen unmittelbaren
Zugang zu unserem geistigen Geschehen haben – Kinder wissen also, was in ihnen vorgeht,
müssen deshalb simulieren/ sich vorstellen, was in den Köpfen anderer Menschen vorgeht
Intuitive Theorie: Wissen der Kinder über den mentalen Bereich als intuitive Theorie, mit
zunehmenden Alter erhalten mentale Begriffe ihre Bedeutung durch den Bezug zu anderen
Begriffen
Intuitive Biologie
Vor dem Grundschulalter besitzen Kinder noch keine spezifische biologische
Wissensdomäne (z.B. glauben sie, dass Pflanzen keine Lebewesen sind) und sie besitzen
noch keine biologischen Kausalschemata (vgl. animistische Deutungen)
Ausbildung einer biologischen Wissensdomäne erst ab der Grundschulalter
Biologische Intuitionen können bei Grundschulkindern jedoch schon festgestellt werden: Sie
vermuten, dass biologische Eigenschaften vererbt werden, psychologische dagegen nicht
und sie erwarten, dass Mitglieder der gleichen Tierfamilie gemeinsame anatomische
Eigenschaften besitzen
Erklärungsansätze für die Veränderungen im biologischen Wissen:
Wandel intuitiver Theorien: Biologisches Begriffsystem der Kinder wird radikal umstrukturiert
Expertiseansatz: Zunehmendes Wissen über Biologie durch Schuleintritt
Modularitätstheorien: Spezifisches biologisches Modul
Metabegriffliches Wissen
Metabegriffliches Wissen ist Wissen und Überzeugungen über den Wissenserwerb selbst,
über menschliches Denken und Lernen
92
Unzureichendes metabegriffliches Wissen kann ein Hindernis für den Erwerb
bereichsspezifischen Wissens darstellen (Kinder haben eigene Theorie und naive
Fehlvorstellungen,
die
dem
naturwissenschaftlichen
Unterricht
widersprechen
(epistemologische Naivität)
Entwicklung zum kritischen Rationalismus: Auf einer ersten Ebene werden
Interpretationskonflikte zunächst verneint oder als Missverständnisse abgetan, daraufhin
werden Interpretationskonflikte zur Kenntnis genommen aber als x-beliebige Meinungen
abgetan, ein reifer Umgang mit konfligierendem Standpunkten besteht schließlich im
kritischen Rationalismus, d.h. Prüfen der Standpunkte vor dem Hintergrund der rationalen
Ableitung und Begründung von Argumenten.
Zusammenfassung von Ines Kollei (Uni Bamberg)
93
Moralische Entwicklung und moralische
Sozialisation
Leo Montada
Moralphilosophische Konzepte
Normen existieren in jeder Gemeinschaft als Verbote, Pflichten, Verantwortlichkeiten, Rechte
usw.
Normen sind verschiedenartig: sie existieren als Traditionen, staatliche Gesetze, aber auch
andere Regeln, z.B. Moden.
Über die Legitimität spezifischer Normen divergieren die Überzeugungen, daraus können
Konflikte entstehen.
Die Legitimität von Normen ergibt sich aus ihrer ethischen Begründung oder aus der
Legitimation des Normstifters (z.B. Religionsgründer).
Diesbezüglich gibt es verschiedene wichtige Kriterien:
 Universalisierbarkeit
 Anerkanntestes Kriterium der philosophischen Ethik, z.B. formuliert in Kants
kategorischem Imperativ: „Handle so ,dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“
 Utilitarismus (J. Bentham, J.S. Mill, 19. Jhdt.)
 Maximierung das Gemeinwohls als Kriterium. Weiterentwicklungen achten darauf, dass
dies nicht auf Kosten von Minderheiten geschieht.
 Diskurstheorien (z.B. Habermas, 1983)
 Keine inhaltlichen Kriterien für Normen, sondern Kriterien für die Verfahrensweise bei
ihrer Findung. Ziel = idealer Diskurs (z.B. Verständigungsbereitschaft, Informiertheit,
Verzicht auf Herrschaftsansprüche aller Teilnehmer).
Kulturunterschiede: es sind nicht nur universalisierbare/universelle Normen vorhanden.
So unterscheiden sich z.B. individualistische und kollektivistische Gesellschaften in dem Maß
an Freiheit, dass sie ihren Bürgern gewähren, bzw. im Maß an Normiertheit.
Auch fordern neue Probleme in modernen Gesellschaften ständig neue Lösungen. In
demokratischen Staaten sind deshalb die moralphilosophischen Kenntnisse und
Überzeugungen von großer Bedeutung.
Psychologische Moralforschung
Abgrenzung von moralischem Handeln und prosozialem Handeln aus Sympathie: letzteres
ist nicht moralisch motiviert.
Indikatoren von Moral:
 Nötige Abfolge für Handlungsregulation durch Normen:
1. Wissen über Normen erwerben
94
2. Geltungsanspruch anerkennen
3. Normen befolgen
 (Erfassbare) persönliche Indikatoren von Moral sind Wissen über Normen, moralische
Urteile,
 moralisches Verhalten und moralbezogene Gefühle (z.B. Scham, Schuld, Stolz). Kein
einzelner Indikator liefert jedoch ausreichende Ergebnisse. Also: immer mehrere
verschiedene erfassen!
In den verschiedenen Theorien werden unterschiedliche EntwicklungsSozialisationsziele formuliert. Daraus werden verschiedene Einflussnahmen abgeleitet.
und
Entwicklungslinien, also Veränderungen sind erkennbar bei
 moralischen Urteilen
 ihrer Begründung
 der Unterscheidung zwischen konventionellen (z.B. Mode) und moralischen Normen und
in derHerausbildung eines persönlichen Entscheidungsfreiraumes
 der moralischen Motivation
 der Differenziertheit der Urteile
 der Konsistenz von Urteil und Verhalten
Die Internalisierung moralischer Normen
Internalisierung bedeutet: vorgegebene Normen werden als die eigenen akzeptiert.
Die Vermittlung der Normen kann argumentativ, durch positive und negative Beispiele
(Beobachtung) oder durch Belohnung und Bestrafung (operantes Konditionieren) erfolgen.
Normvermittlung und Konditionierung
Internalisierung wird operationalisiert als Tun oder Lassen ohne Bestrafung/Verstärkung (
Extinktionsresistenz)
Intrinsische Belohnung: extinktionsresistentes Verhalten wird durch Aufbau einer positiven
inneren Wertigkeit erzeugt. Dies ist z.B. durch klassisches Konditionieren von Emotionen
möglich (Koppelung Verhalten – Freude).
Entzug von intrisischer Belohnung bei normabweichendem Verhalten nie möglich, von
extrinsischer Belohnung oft auch schwierig (z.B. Aufmerksamkeit).
Bestrafung soll als Ausgleich zu ex- und intrinsischer Belohnung fungieren, quasi eine
negative Bilanz der Verhaltensfolgen herstellen.
Probleme von Strafen:
 bei seltener Bestrafung: unverhältnismäßige Höhe der strafe nötig, um Bilanz
auszugleichen
 Strafe schafft keine Verhaltensalternativen
 Strafen garantieren keine Einsicht
 Strafen belasten das Verhältnis von Bestraftem und Strafendem
Normvermittlung durch Identifikation und Beobachtung
Wahl von Vorbildern:
 „Identifikation mit dem Aggressor“ (Freud): Übernahme von Forderungen einer
bedrohlichen Autorität (um Bestrafung zu entgehen)
95
 „Identifikation nach Trennung“ (Freud): um eine abwesende Person präsent zu halten,
werden Merkmale von ihr übernommen
 Identifikation mit einer mächtigen Person (Macht durch Status, Beliebtheit,
Sanktionsgewalt, sachliche Kompetenz, Gewährung von Sicherheit oder Liebe ...)
 Zugehörigkeit zu einer Gruppe
Grundsätzlich kann alle die Moral betreffende Information aus Beobachtung gelernt werden.
Normvermittlung durch familiäre Sozialisation
Die Familie ist die erste Instanz moralischer Sozialisation.
Typologie von Erziehungsstilen (Hoffmann und Saltzstein 1967) und Folgen für die
Internalisierung:
Macht ausübender Stil:
Verhindert Internalisierung eher, fördert nur äußere Anpassung. Verhindert Identifikation
durch ein Fehlen von Liebe und Wärme. Durch externe Attribution normkonformen
Verhaltens wird dieses nicht zu einem Teil des Selbstbildes.
Induktiver Stil:
Normen werden argumentativ erläutert, Konflikte angesprochen, der Sinn von Normen
erklärt. Raum für eigene Entscheidungen ist vorhanden; diese werden kommentiert (und als
Werk der Jugendlichen gelobt) und somit zu einem Teil seiner Identität. Führt zu eine
„humanistisch flexiblen Moral“ (es darf nachgedacht werden). Persönliche Verantwortung
wird gefördert (nur Handlungen mit Wahlfreiheit können moralisch/unmoralisch sein).
Liebesentzug als Sanktion:
Wirksamkeit nicht eindeutig ermittelt, hängt vom Bedürfnis der Kinder nach liebevoller
Zuwendung ab. Nicht unproblematisch: führt eher zu einer ängstlich-rigiden Moral
(Klammern an den Wortlaut von Regeln).
Normvermittlung durch Peergruppen
Wichtiger Einflussfaktor für die Moral, der mit dem Verhältnis zu den Eltern variiert. Großer
Einfluss nachgewiesen für Sexualnormen, Alkohol und Drogen, Delinquenz.
Wie entsteht das moralische Selbst?
Ziel der Moralerziehung = Einsicht, das Gebote und Verbote richtig sind, nicht nur ihre
Ausführung.
Förderung „freiwilligen“ moralischen Verhaltens, dezente Anregung, Würdigung als
selbstgewählt
 Zurückführen auf eigene Überzeugungen
 Bem: Selbstwahrnehmungstheorie
Internalisierung oder Selbstkonstruktion von Normen? Es gibt zwei Fälle von
Normabweichungen:
 nicht geteilte Norm – fehlgeschlagene Sozialisation
 in Frage gestellte Norm – in pluralistischen Gesellschaften ist die Reflexion über die
Geltung vonGeboten und Verboten unvermeidbar. Eigene Überzeugungen müssen durch
die Auseinandersetzung mit (konfligierenden) Normen aufgebaut werden.
96
Entwicklung des Denkens über Moral
Piagets Theorie: von der Heteronomie zur Autonomie
Bis 4 Jahre: kein Normverständnis.
Heteronomie: Beginn des Stadiums mit 4-5 Jahren. Regeln/Normen beziehen ihre Gültigkeit
von den Autoritäten, die sie vorgeben; sie werden nicht in Frage gestellt, sind unantastbar.
Konflikt: Einhaltung – Nichteinhaltung.
Verfehlung = Verletzung von Geboten/Verboten.
Autonomie (keine genaue Altersangabe im Buch): Maßstäbe der Gerechtigkeit. Regeln als
Übereinkunft. Konflikt: Sinn und Begründung.
Verfehlung = Verletzung der Vertrauens.
Erforscht anhand von Spielregeln (Murmelspiel)
Gleiche Muster auch bei Urteilen über gerechte Pflichtenverteilung: wenn die Mutter die
Arbeit im Haushalt verteilt, wird sie von fast allen sechsjährigen auch bei sehr ungleicher
Verteilung auf die Kinder als gerecht beurteilt, von zwölfjährigen nicht.
Wenn jedoch Kinder die Pflichten verteilen (z.B. Ballholen beim Fußballspielen) fordern auch
sechsjährige Gleichberechtigung ( keine Autorität).
Was ist eine gerechte Strafe?
 Heteronomie: Sühnestrafen, oft drakonisch
 Autonomie: Strafen, die Wiedergutmachung oder natürliche Konsequenzen der
Verfehlung beinhalten
Altersangaben mit Vorsicht aufzufassen.
Neuere Forschung zu Piagets Themen
Denken über Recht und Gesetze:
 11-13j. definieren Gesetze durch spezifische Beispiele; ihre Funktion ist es, Untaten
einzelner zu verhindern.
 15-18j. definieren Gesetze über abstrakte Funktionen wie Freiheit und Sicherheit, betonen
die hilfreichen Funktionen von Gesetzen. Nur 1/3 sieht sie als modifizierbar an.
 Altersverschiebung im Vergleich zu Piagets Ergebnissen.
Moralische und konventionelle Normen:
 Kinder differenzieren schon früh (4-5j.) zwischen unmoralischem Verhalten (immer
schlecht) und Verstößen gegen Konventionen (nur schlecht wegen den Konventionen).
Unterschiedliche Rechtfertigung:
 Eltern betonen bei moralischen Normen mehr den Schaden, der entstehen kann, und
beikonventionellen Normen mehr ihre Bedeutung für die soziale Organisation, so dass
dieser Unterschied übernommen sein kann.
Normativ regulierte vs. persönliche Bereiche
 4-5j. unterscheiden klar zwischen öffentlicher Sphäre und Privatsphäre (in der die Eltern
auch mehr Freiheiten geben).
 Konflikte zwischen Jugendlichen und Eltern ergeben sich vor allem in Bereichen, die die
Jugendlichen als ihre Privatsphäre, die Eltern eher als konventionsreguliert ansehen.
Privatsphäre und die Entwicklung von Rechten und Freiheiten
97
 Zusammenhang v.a. in westlichen Kulturen gezeigt
 Freiheit wird schon früh als moralisch fundiertes Recht erkannt, Einschränkungen werden
ebenfalls gefordert, wenn Konflikte mit anderen moralischen Prinzipien bestehen
Verantwortlichkeit und Schuld:
Wichtigstes Kriterium für mögliche Verantwortlichkeit ist Handlungsfreiheit (siehe Strafrecht)
Ausreden aus der Verantwortlichkeit (absteigende Reihenfolge):
 Freiheit bestreiten
 Vorhersehbarkeit der Folgen bestreiten
 Absicht bestreiten
 auf Verantwortung anderer hinweisen
Unterscheidung zwischen Verantwortung und moralischer Schuld vor allem aufgrund der
Rechtfertigung, z.B.:
 Verweis auf Verantwortlichkeit Dritter
 auf die Priorität übergeordneter Ziele
 auf die Legitimität eigener Bedürfnisse (z.B. Wahrung des Gesichts in einer Diskussion)
 Hinweis auf den Vergeltungscharakter der Tat
Das Gefühl von Verantwortlichkeit führt zu größerer Hilfsbereitschaft.
Auch das Ausmaß des Ärgers hängt stark von der wahrgenommenen Verantwortlichkeit der
Anderen ab.
Handlungsausgang und Absicht
(Beispiel: heruntergeworfene Teller bei Piaget) Bei Urteilen: Verschiebung der Gewichtung
mit zunehmendem Alter hin zur größeren Beachtung der Absicht. Aber auch viele
Vorschulkinder berücksichtigen bereits beide Informationen.
Verschiebung durch Sozialisation: stärkere Gewichtung der Intention durch Beobachtung von
wenigen entsprechenden Modellen bewirkbar.
Schon Kindergartenkinder urteilen aufgrund der Intention, wenn kein Ausgang berichtet wird.
Verteilungsgerechtigkeit und Fairness:
Entwicklungssequenz zwischen 4. und 11. Lebensjahr bei der Vorstellung von gerechter
Verteilung (Damon, 1980 und 1988):
1. Egozentrische Verteilung
2. Gleichbehandlung
3. Nach Leistung & Beachtung von Reziprozität
4. Konflikte zwischen Aufteilungsmöglichkeiten werden bewusst, Kompromisse
eingegangen
Steigende Anforderungen an die Kognition, da immer mehr Aspekte beachtet werden.
Abhängigkeit vom Arrangement: Schon im Vorschulalter integrieren Kinder 2 dargebotene (!)
Alternativen
Von der egozentrischen zur universalistischen Begründung
normativer Urteile
Lawrence Kohlberg: Studium der Begründungen normativer Urteile anhand moralischer
Dilemmata studiert (Konflikte zwischen Normen, nicht zwischen Konflikt und Neigung).
98
Untersuchung der Prinzipien, die Entscheidungen zugrunde gelegt werden: 3 Niveaus mit
jeweils 2 Stufen von qualitativen Unterschieden; keine Skala
I. Vormoralisches Niveau
1. Begründung durch drohende Strafen bzw. Autoritäten
2. Begründung mit eigenem Interesse
II. Niveau der konventionellen Moral.
Begründung mit dem Erhalt wichtiger Sozialbeziehungen
1. Nur innerhalb der Familie und anderer Primärgruppen (Konflikte zwischen
Bezugsgruppen nicht prinzipiell lösbar)
2. Ausdehnung auf übergreifende Systeme wie Staat oder Religionsgemeinschaft
III. Niveau der postkonventionellen Moral.
Erkenntnis, dass das System nicht unwandelbar ist. Bemühen, Prinzipien und Werte
unabhängig von Autoritäten und der Identifikation mit Gruppen zu finden.
1. System als Gesellschaftsvertrag. Utilitaristische Überlegungen häufig. Neue
Dimension
von
Gerechtigkeit:
Gerechtigkeit
des
Verfahrens
zur
Entscheidungsfindung. Menschenrechte aber unveräußerlich.
2. Suche nach allgemeingültigen ethischen Prinzipien und allgemeinen Verfahren
zur Prüfung normativer Entscheidungen (vgl. Diskursethik).
Weitere Entwicklung im Erwachsenenalter: häufiger Relativierung auf Kontexte und
spezifische Situationen.
Entwicklungsförderung des moralischen Denkens
am besten durch ein Angebot von Problemen und unterschiedlichen Meinungen. Ziel ist der
Aufbau von Kompetenzen zur Lösung moralischer Probleme, nicht die Anpassung an
bestehende Normen.
Optimale Entwicklungsvoraussetzungen: mehrwöchiges Training, viele verschiedene
Problembearbeitungen, aktive Beteiligung, Meinungsstreit. Nachholeffekte beobachtbar.
Ethik- bzw. Sozialkundeunterricht: kein Effekt.
Stufen der moralischen Argumentation und moralisches Verhalten
Auf Niveau III. werden eher Ungerechtigkeiten in der Gesellschaftsordnung entdeckt, da alle
Beteiligten berücksichtigt werden. Stufe III. ist empirisch in politisch aktiven, kritischen
Gruppen überrepräsentiert.
In radikalen politischen Gruppen findet man jedoch vermehrt Stufe I. (z.B. werden Opfer von
Anschlägen gar nicht beachtet).
Gesellschaftskritiker sind auf Stufe 4. Unterrepräsentiert.
Personen auf Stufe III. sind bei Gruppendruck vermehrt nonkonform und lehnen moralisch
verwerfliche Forderungen einer Autorität eher ab (Milgram 1974!).
Männliche und weibliche Moral?
Carol Gilligan 1984: Männliche Moral an Gerechtigkeit orientiert, weibliche an Fürsorge.
Nicht Verteilung nach dem Bedürftigkeitsprinzip gemeint, sondern moralische vs.
altruistische Motivation, also Verantwortlichkeit vs. Mitleid/Liebe/Sensibilität für Not der
Betroffenen
Keine empirische Bestätigung von Geschlechtsunterschieden
99
Moralisches Denken und moralisches Handeln
Das moralische Handeln ist nicht durch das Urteilsniveau determiniert.
 durch das Argumentationsniveau ist die inhaltliche Zielsetzung nicht festgelegt
 in den vorgelegten hypothetischen Konflikten gab es keine persönliche Betroffenheit
Moralisches Wissen vs. moralische Motivation
Etwas für richtig zu halten, bedeutet nicht, sich aktiv dafür zu engagieren.
Trennung zwischen moralischer Norm und der persönlichen Verantwortung, sie einzuhalten.
Performanzfaktoren und moralisches Handeln
Moralisches Handeln ist durch die Akzeptanz von Normen nicht gesichert. Es muss sich
gegen andere Bedürfnisse, Affekte, Vorurteile, soziale Nötigungen, Angst usw. durchsetzen.
Performanzfaktoren sind Selbstsicherheit, Handlungskompetenz (bei sachlichen Problemen),
Wissen um Möglichkeiten und Kompetenzen zur Selbststeuerung.
Diese werden von Kohlberg unter dem Begriff Ich-Stärke zusammengefasst. Sie enthält
Fähigkeiten zu: Aufschub von Bedürfnisbefriedigung, Antizipation längerfristiger
Konsequenzen, Durchhaltevermögen bei langwierigen Aufgaben usw.
Möglichkeiten zum Aufbau von Selbstkontrolle liegen zum Beispiel
 in der Verhaltensmodifikation (Mischel), z.B. sprachliche Wiederholung der zu erfüllenden
Regel.
 in der objektiven Selbstaufmerksamkeit (Wicklund), die zur Aktualisierung relevanter
Selbstkonzeptkomponenten führt.
Konsistenz als Indikator für die integrierende Funktion des Selbst
Es wird keine Einheit von moralischem Urteil, moralischer Motivation und moralischem
Handeln angenommen (Keller und Edelstein).
Das Selbst als Handelnder Akteur. Motivation als wahrgenommene Verantwortlichkeit.
Konstitutiv für das Selbst: Konsistenz in Selbstwahrnehmung und wahrgenommener
Fremdwahrnehmung.
Indikatoren für wahrgenommene Inkonsistenz: Scham, Schuldgefühle, Rechtfertigungen,
Entschuldigungen, Wiedergutmachungen.
Konsistenzherstellung (durch Erklärung, Rechtfertigung, Kompensationen) dient wiederum
der positiven Wahrnehmung durch andere und sich selbst.
Aufbau des moralischen Selbst:
 bewusst werden, dass das eigene Handeln Auswirkungen auf andere hat
 Perspektivenübernahme und Empathie führen zum Nachfühlen dieser Folgen und damit
zur ersten intrinsisch motivierten Normeinhaltung
 bewusst werden von Bewertungen anderer, die Implikationen für die Selbstbewertung
haben
Das Versprechen
Beispieldilemma (Keller & Edelstein 1993) für 7, 9, 12 und 15j. Kürzlich zugezogenes
Mädchen lädt die Vp ins Popkonzert/Kino ein, die gleichzeitig versprochen hat, sich mit einer
Freundin zu treffen, die persönliche Probleme mit ihr besprechen will.
100
Entwicklungssequenzen mit je 4 Stufen für das Verständnis von Versprechen, Freundschaft
und den erlebten moralischen Konflikt:
 Genannte Gründe für die Einhaltung des Versprechens:
0. Keine.
1. Die Regel selbst oder die Legitimierung durch eine Autorität.
2. Persönliche Verbindlichkeiten und Folgen für den Interaktionspartner.
3. Generalisierte Norm der Gegenseitigkeit, Notwendigkeit von Verlässlichkeit.
 Konzept einer engen Freundschaft:
0. Wird nicht verstanden.
1. Kontakthäufigkeit als Kriterium genannt.
2. Kriterien sind wechselseitige Nähe und Vertrauen.
3. Gegenseitige Vertrautheit und Verlässlichkeit, teilen von Erfahrungen und
Gefühlen, gegenseitiges Verständnis.
 Konfliktverständnis:
0. Wird nicht konzeptualisiert. Kein Verständnis.
1. Versprechen wird nicht spontan aufgegriffen, Wünsche aller Betroffenen aber
erkannt.
2. Die Norm des Versprechens rückt in den Mittelpunkt. Wer das Versprechen bricht,
fühlt sich schlecht, muss sich gegenüber der Freundin rechtfertigen.
3. Die Norm des Versprechens wird verpflichtend im Sinne einer generalisierten
Reziprozitätsnorm, die Freundschaftsbeziehung ebenfalls.
Dabei gilt als Kriterium jeweils die tatsächliche Handlungsentscheidung. Die Stufen erlauben
eine bessere Vorhersage der Entscheidung als das Alter.
Außerdem wurden fünf Typen des moralischen Urteils gebildet:
1. Urteil basiert auf Eigeninteresse.
2. Wegen der Freundschaft und dem Versprechen wird dessen Einhaltung als richtig
angesehen.
3. Betonung der Ambivalenz zwischen Freundschaft und Eigeninteresse. Keine
Eindeutige Entscheidung.
4. Freundschaft vs. Altruismus: Man will auf der einen Seite das gegebene Versprechen
halten, auf der anderen Seite dem Kind, das hier noch keine Freunde hat, eine
Freude machen.
5. Altruismus: Man will dem neu zugezogenen Kind eine Freude machen.
Zentrales Ergebnis ist die mit zunehmendem Alter immer größere Übereinstimmung von
moralischem Urteil und Handlungsentscheidung. Bei den Jüngeren urteilt die Mehrheit
inkonsistent, indem sie zwar angibt, dass das Versprechen zu halten auf jeden Fall richtig
sei, es aber trotzdem nicht tun würde.
Entwicklung der moralischen Motivation (Nunner-Winkler 1993)
Grundlegende moralische Regeln ab dem 4./5. Lebensjahr fast allen bekannt. Entwicklung
der Motivation zentral.
Vorlage von Konflikten zwischen Normen und persönlichen Bedürfnissen. Überprüfung von
Normkenntnis, Normverständnis und Begründung. Ermittlung der Motivation anhand der
Zuschreibung von „moralischen“ Gefühlen (Stolz, Schuldgefühle).
Längsschnittstudie an etwa 200 Kindern.
101
 60% der 4-5j. und 50% der 6-7j. erwarten, dass sich jeweils das egoistisch handelnde
Kind gut fühlt, weil es seine hedonistischen Bedürfnisse befriedigen kann. Bei 8-9j. sind
das nur noch weniger als 30%.
 Zuschreibung von Schuldgefühlen spiegelbildlich.
Zuschreibung von Schuldgefühlen guter Indikator für moralische Motivation?
Die Funktion des moralischen Selbst
... ist es, wertorientiertes Handeln auch bei Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten.
Lydon und Zanna haben die Bedeutung des moralischer Aspekte des Selbstkonzepts für
längerfristige prosoziale Engagements nachgewiesen.
Unmoralisches Handeln wird Selbstbildgefährdend.
Fazit: Moralisches Engagement ist dann verlässlich, wenn es der persönlichen Identität
entspricht.
Lasst Euch nicht unterkriegen!
Zusammenfassung von Benjamin Schültz (Uni Bamberg)
102
Entwicklung in ausgewählten Lebensabschnitten
Vorgeburt und frühe Kindheit
Hellgard Rauh
Perspektiven auf die frühe Entwicklungszeit
 Betrachteter Lebensabschnitt: Zeugung bis Ende des 2./3. Lebensjahres
 Kind noch auf die Hilfe Erwachsener angewiesen
 in der Regel keine Erinnerungen an den Zeitpunkt
Soziokulturelle und familiäre Rahmenbedingungen
 Kulturunterschiede: Säuglinge wachsen nicht besser oder schlechter auf, sondern je nach
Kultur „anders“
 Historischer
Wandel:
medizinische
Fortschritte;
entwicklungspsychologische
Erkenntnisse; Wandel der Familie, der Rolle von Kindern, der Einrichtungen für Kinder,
der körperlichen Versorgung, etc.
 Geburt als kritisches Lebensereignis für die Eltern: neue Lebensplanung, neue
Verantwortlichkeit, Rollenveränderungen, etc.
Vorgeburtliche Entwicklung
Kind nimmt zumindest in den letzten Wochen vor der Geburt an der Umwelt teil
(wahrnehmend und lernend)
Definitionen:
 Zeit von der Zeugung (Konzeption) bis zur Geburt: Schwangerschaft bei der Mutter,
Gestationszeit beim Kind (Dauer: ca. 40 Wochen)
 Gestationsalter (GA): intrauterine Zeit des Kindes seit Zeugung
 Lebensalter des Kindes: Rechnung ab Geburt
 korrigiertes Lebensalter: Lebensalter minus Zeit, die Kind zu früh geboren wurde
 Konzeptionsalter: GA + Lebensalter
 Embryo: menschlicher Keim in den ersten 8-12 Wochen der Gestationszeit
 Fötus/Fetus: Bezeichnung für das werdende Kind ab dem 3. Monat
Entwicklung des ZNS
Beginn bereits in den ersten Wochen (Bildung von Nervenplatte und Rückenmarksstrang)
3 Phasen des Gehirnwachstums: 3.-5. Gestationsmonat: rapide Vermehrung der
Nervenzellen und ihrer Verbindungen  Beginn eines 2. Wachstumsschubs einige Wochen
vor der Geburt  im 3. Lebensjahr: Höhepunkt der Myelinisierung
Besonderheiten der Hirnentwicklung beim Menschen: Gehirn mehr Platz als bei nächsten
Primaten, Gehirnreifung langsamer, Formbarkeit bis weit in die postnatale Zeit
3 wesentliche Entwicklungsprinzipien bei der Hirnentwicklung im Lebenslauf:
103
a) Zunahme (Vermehrung + Überproduktion der Zellen)
b) Selektion (funktionsnotwendige Zellen werden ausgelesen, Überzählige für einige
Zeit aufgehoben)
c) Abnahme (Bei Nicht-Benötigung Absterben)
Heterochronie: Gehirn und Sinnesorgane entw. sich unterschiedlich schnell und weitgehend
unabhängig voneinander
Motorische Entwicklung des Fötus
Säugling bereits ab der 8. – 12. Gestationswoche (GW) aktiv
Zyklisierung der Aktivität: ab 14. GW: kurzzeitige Schübe und Ruhepausen  ab 22. GW:
Ruhe- und Aktivitätsphasen im Tagesrhythmus  38.-40. GW: Unterscheidung von je 2
Schlaf- und Wachheitsgraden; Tagesrhythmus der Mutter beeinflusst Gesamtaktivität  2-3
Monate nach der Geburt: Ausbilden eines eig. Schlaf-Wach-Rhythmus
gegen Ende der Gestationszeit Koordination von Atemtempo, Herzrate und motorischer
Aktivität
Funktionen vorgeburtlicher Aktivität:
 Funktionsaufnahme des sich entwickelnden neuronalen Systems
 Feinanpassung der Gehirnstrukturen und Synapsen
 Abbau überschüssiger Neuronen und Verbindungen
 einige Verhaltensmuster sind Vorläufer späterer Verhaltensmuster
Geschlechtsdifferenzierung des Fötus
chromosomale Festlegung: XX bei Mädchen, XY bei Jungen  geschlechtsspezifische
Ausbildung durch Hormone des Embryos/Fötus und der Mutter
als „Basismodell“ weibliche Entwicklung, bei der männlichen Entwicklung zusätzlich
Testosteron  Maskulinisierung
Vorgeburtliche Risiken
bei 2/3 aller befruchteten Eizellen kommt es zu einer Fehlgeburt bis zur 16. GW
genetische Risiken: v.a. bei extrem jungem oder fortgeschrittenem Alter der Mutter
(Untersuchungen möglich)
gesundheitliche
Risiken
z.B.
Infektionskrankheiten,
chronische
Krankheiten,
Medikamentengebrauch, Drogenkonsum, bestimmte Umwelteinflüsse  im ersten
Schwangerschaftsdrittel kommt es zur Schädigung von Organen, später dann zur
Beeinträchtigung der Sauerstoff- und Nahrungsversorgung, was wiederum die
Gehirnentwicklung behindert
psychische Belastungen z.B. Ablehnung aus Umwelt, schwierige Lebensumstände
plazentare Mangelversorgung: am häufigsten in den letzten Gestationsmonaten, führt zur
Frühgeburt
Frühgeburt
Frühgeburt: Kind ist vor der 37. GW geboren oder wiegt weniger als 2500 g
Überlebensrate: 50-60% der Säuglinge, die unter 1000 g wogen (Daten von 1997 aus
Deutschland)
104
Entwicklungsauswirkungen:
 Frühgeborene sind schlechter vorbereitet auf die Umstellung von Atmung, Kreislauf,
Ernährung, Verdauung und Wärmeregulierung  Intensivbetreuung nötig
 Motorik, Sinnesorgane und deren Koordination in Ordnung
 häufig längerfristige Probleme wie z.B. bei der Erregungskontrolle (schwierigere
Besänftigung), bei komplexen kog. Leistungen (z.B. Spracherwerb), bei der Koordination,
Informationsverarbeitung dauert länger
Veränderte Betreuung im Gegensatz zu früher: weniger Apparate, Simulation eines Tag-/
Nachtrythmus, starke Beteiligung der Eltern
Modellvorstellungen über vorgeburtliche Entwicklungsfaktoren
Kein reiner Reifungsvorgang
Entwicklung der verschiedenen Teilbereiche nach unterschiedlichen Zeitplänen 
Einschränkung (constraints) oder Eröffnung (opportunities) neuer Verhaltensmöglichkeiten
(z.B. vor und nach Verschaltung der Sinnesorgane)
Erfahrungen aus eigener Aktivität ( Entwicklung der neuronalen Strukturen und
Funktionen) und Erfahrungen externen Ursprungs ( Lernen)
Einige Forscher unterscheiden zwischen erfahrungsabhängigen Entwicklungsprozessen
(regen Metabolismus entsprechender Hirnregionen an und somit ihr Wachstum) und
erfahrungserwartenden Entwicklungsprozessen (Vorbereitung neuronaler Strukturen durch
Überproduktion von Zellen bzw. Synapsen  Selektion bzw. „Abschleifen“ durch ext,
Erfahrungen)
Probabilistische Epigenese: Zusammenspiel von Reifung und Erfahrung, bidirektionale
Beziehung zwischen Genen, Gehirn und Verhalten
Prognosen aufgrund der vorgeburtlichen Entwicklung
längerfristige Prognosen noch nicht möglich (Ausnahmen: pränatale Schädigungen
genetischer, neurologischer, anatomischer Art)
sinnvoll, das Lebensalter des Kindes bis zum 2. Lebensjahr um die Wochen seiner
Frühgeburtlichkeit zu korrigieren
zunehmende gute Prognosen für normale Entwicklung bei frühgeborenen Kindern ab einem
GA von 32 Wochen, weniger positive Prognosen für extrem frühgeborene Kinder (aber auch
hier gibt es Kinder ohne Beeinträchtigung)
bei Frühgeborenen: erhöhte Vulnerabilität: Probleme v.a. im perzeptuell-motorischen,
kognitiven,
sprachlichen
Bereich
und
in
Situationen
mit
erhöhten
Aufmerksamkeitsanforderungen
Kommen zu biologischen auch soziale Probleme  besondere Vulnerabilität
Als Erklärung der mitunter geringen Spätwirkungen von biologischen Risiken wird die
außerordentliche Plastizität des Gehirns herangezogen. Funktionell vergleichbare
Leistungen können über sehr unterschiedliche Entwicklungspfade und auf unterschiedlich
struktureller Grundlage erbracht werden.
Die Neugeborenenzeit
 termingerecht: vollendete 37. – 42. GW
105
 im Durchschnitt 50-53 cm groß und 3,5 kg schwer
Veränderungen in der Geburtspraxis
 früher: Mutter + Kind 2 Wochen Aufenthalt in Klinik, Mutter sah Baby hauptsächlich zum
Nähren
 heute: Gefahren reduziert  3-5 Tage auf Geburtsstation oder sogar Hausgeburt;
Säugling darf hauptsächlich bei der Mutter bleiben
Zwei psychologische Fragen zur Geburt
Gibt es ein Trauma der Geburt?
 Rank/Bernfeld (Psychanalytiker, 20er): Geburt als Ursituation aller späteren Ängste
 heutige Sicht: unwahrscheinlich, dass Mensch sich an seine Geburt erinnern kann;
außerdem: Geburtsvorgang eher große Anstrengung und anschließende Erleichterung als
Angst
Wie entsteht die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind?
nach Klaus & Kendell:
 es gibt eine Art sensible Phase in den ersten Minuten und Stunden nach der Geburt: tiefe
und unbedingte emotionale Bindung der Mutter (und des Vaters) an das Kind  Bonding
 wichtige Stimuli:
 enger körperlicher Kontakt mit dem Neugeborenen
 Reaktionen des Neugeborenen auf das elterliche Verhalten
 Attachement: emotionale Bindung und Anhänglichkeit des Kindes an seine Bezugsperson
 Befunde zum Bonding:
 Würde die Bonding-These stimmen, müssten alle Menschen, die vor 1980 geboren sind,
ein schweres Bindungsdefizit aufweisen: Das ist aber nicht der Fall!
 Die Effekte zusätzlicher Frühkontakte sind gering und halten nicht an!
 Interpretation als regulärer Lernprozess möglich:
 Früher Erstkontakt und ungestörte Beobachtungs- und Interaktionsmöglichkeiten in den
ersten beiden Lebenstagen erleichtern beiden Seiten einander kennen zu lernen und eine
herzliche Beziehung zueinander aufzunehmen!
Psychologische Kompetenzen und Bedürfnisse des Neugeborenen
Die Geburt ist für das Kind eine enorme physiologische Umstellung und Anpassungsleistung:
erste Prüfung der Lebenstüchtigkeit anhand des AGPAR-Indexes möglich (Beobachtung von
Hautfärbung, Art der Atmung, Muskeltonus, Reflexauslösbarkeit, Herzschlag und
Pulsfrequenz).
In den ersten 2-3 Monaten des Neugeborenen stabilisiert sich sein Verhaltensrepertoire und
somit wird die Voraussetzung für seine enormen Lernleistungen geschaffen.
Frühe Verhaltensregulation und erste Regulationsleistungen
Entwicklungsmodell von Brazelton und Als: Unterscheidung von 4 psychophysiologischen
Teilsystemen in der perinatalen Zeit (späte vorgeburtliche bis frühe nachgeburtliche Zeit):
 autonomes
System
der
physiologischen
Funktionen:
Atmung,
Kreislauf,
Körpertemperatur, Verdauung (erstaunlich stabil, aber bei kleinen Überbelastungen
Spucken, Blähungen, etc.)
106
 motorisches System: Energetisierung, Tonusbalance, Koordination, etc.(schon bei
leichten Belastungen außer Balance)
 System der Bewusstseins- und Erregungsniveaus: Säuglinge haben mit sanften
Übergängen vom Tiefschlaf zum leichten Schlaf Probleme, überbelastete Säuglinge
können plötzlich in Tiefschlaf fallen
 System der kognitiven, interaktiven und sozialen Prozesse: sehr gering ausgebildet,
teilweise kurze Phasen des Schauens und Lauschens, ist aber sehr anstrengend für
Säugling
Diese 4 Systeme werden in der Neonatal Behavioral Assessment Scale (NBAS) erfasst (für
Frühgeborene: APIB)
Befunde: bei Jungen Cortisolanstieg während der Untersuchung, bei Mädchen nicht;
afrikanische Kinder schon bei Geburt motorisch kompetenter, sichere Prognosen auf spätere
Leistungen (18 Mon.) oder auf eine sichere Bindung (12 Mon.) nicht möglich
Motorisches und sensorisches Verhaltensrepertoire in den ersten
Lebenswochen
Motorik und Aktivität
Motorisches Verhaltensmuster: allgemeine Bewegungen ohne Geschmeidigkeit und
Zielgerichtetheit (z.B. Armbewegungen), differenzierte und strukturierte motorische
Verhaltensmuster (z.B. Augenbewegungen)
Aktivitätszyklen: größere vor allem vom Zeitabstand zw. den Mahlzeiten abhängig, kleinere
z.B. beim Saugverhalten
Es gibt Gruppe von Verhaltensweisen. die in bestimmten Situationen in den ersten
Lebenswochen zu beobachten sind und dann wieder verschwinden, um nicht mehr oder viel
später wieder aufzutauchen
Unterschiedliche Meinungen über die Ursachen für den u-förmigen Verlauf:
 keine strukturelle Kontinuität zw. frühen und späten Verhaltensweisen
 Teilkomponenten brechen auf und reorganisieren sich neu
 nur vorübergehendes "Verstummen" der Verhaltensweisen, weil andere Verhaltensweisen
in den Vordergrund rücken
Theoretische Erklärungsmodelle für die frühe motorische Entwicklung:
 Prechtl: Neugeborenes ein um 2-3 Monate zu früh geborener Fötus  erste 1-2 Monate:
Anpassen des fötalen Verhaltensmusters an neue Umgebung  2.-3. Monat: Entwicklung
neuer motorischer Funktionen
 Weiterführung von Towen: Unterscheidung zwischen allgemeiner motorischer Aktivität
(Fötus) und der Fähigkeit zur Reaktivität (ab Geburt);
 plötzliche Rückschritte als Übergangszeiten und Zeiten der Reorganisation
 Gibson: Wahrnehmung, Bewegung, Kognition, Handeln bilden eine Einheit;
 Kind nimmt Umgebung über eigene Körperbewegungen wahr  Verfeinern der
motorischen Handlungen  neue kog. Erfahrungen
Sinnesrepertoire des Neugeborenen
Die Nahsinne
 bereits intrauterine Berührungserfahrungen
 Gleichgewichtssinn schon früh ausgebildet
 besonders gut ausgebildet: Geschmacks- und Geruchssinn
107
Die Fernsinne I: Auditive Wahrnehmung
 bereits ab 24.GW: Reaktion auf Gehörtes
 unmittelbar nach Geburt: Unterscheidung Stimme der Mutter - Stimmen anderer
 andere Reaktionen auf soziale Laute (Sprache) als auf nichtsoziale Geräusche und Töne
 Fähigkeit, Sprachlaute unterscheiden zu können ist ein guter Prädiktor für sprachliche
Kompetenzen im Vorschul- und Schulalter
Die Fernsinne II: Visuelle Wahrnehmung
 Neugeborenes sieht nur auf 20-25cm Entfernung bei mittlerer Helligkeit scharf
 Schwierigkeiten, mit beiden Augen zu fixieren
 Neugeborene können verschiedene einfache Formen (Kreis, Dreieck, Quadrat)
unterscheiden
 Bewegtes hebt sich von Unbewegtem ab
 wl. von Anfang an Wahrnehmung der Welt nach Objekten strukturiert
 erste Lebensmonate: Achten v.a. auf physikalische Merkmale eines Stimulus
 nach den ersten 2-3 Monaten: Vertrautheit und Neuheit als wichtige Kriterien
 bald danach: kog. Kategorien wie z.B. Schwerkraft, Sichtbarkeit, Solidität, etc.
 Gesichterwahrnehmung anfangs selbst bei 25cm Entfernung eher unscharf
 Johnson: 2 Mechanismen:
 CONSPEC: lässt Kind einem gesichtsähnlichen Stimulus folgen, der sich
seitlich bewegt
 CONLERN (erst ab 2.-4. Monat): Wahrnehmung von Gesichtern in frontaler
Ansicht, übergreifender Lernmechanismus
 Präferenz für Gesichter: Neugeborene präferieren runde, ovale, 3-dimensionale,
gemusterte, kontrastreiche, bewegte Formen  einige Forscher nehmen so etwas wie
eine angeborene Idee von einem Gesichtsschema an
Primäres und sekundäres visuelles System
 sekundäres visuelles System: ab 3.-4. Monat Beginn, Teilstimuli aufeinander zu beziehen
 vor allem empfänglich für örtliche und zeitliche Parameter
 primäres visuelles System: Entwicklung leicht zeitversetzt zum sek. System, wird mit
zunehmend fovealem scharfem Sehen wirksam, mit 3-4 Monaten aktives Lösen des
Blickes von einem Stimulus, Gesicht gezielt visuell abtasten
 visuelle Kategorisierung: mit knapp 5 Monaten Beginn der Zusammenarbeit beider
Hemisphären

erste
Gruppierungen
und
Kategorisierungen,
Gesichterunterscheidungen, Wiedererkennen einer Person aus verschiedenen Ansichten,
Differenzieren mimischer Ausdrücke
Soziale Interaktion und Kommunikation in den ersten Lebensmonaten
Einige Forscher sind der Meinung, dass das Neugeborene von vornherein 2 Welten
unterscheidet: Personenwelt und Dingwelt
Schaffer, Prechtl et. al.: keine deutliche Trennung der beiden Welten in den ersten zwei
Monaten  ab 2-3 Monaten markanter Wechsel: Wachphasen länger, Schreien wird
angepasst an Umwelt, Kind sieht schärfer
Interaktion mit zweimonatigem Kind ähnelt Gespräch: Blicke, Mimik, Laute, Gesten; Kind
erwartet sogar aktiven Interaktionspartner, ist das Gegenüber nicht aktiv, werden Kinder
selbst initiativ
Nachahmung bei Säuglingen als bedeutsame Form des Lernens (erst im 2. Lebensjahr als
breites Lerninstrument verfügbar, nach Piaget und Uzgiris)
108
Es gibt schon Nachahmungen bei Neugeborenen, allerdings ist unklar ob dies ein direkter
Vorläufer der späteren Nachahmung ist
Erstes soziales Wiederlächeln ca. 5-8 Wochen nach der Geburt (Sehschärfe verbessert, so
dass Merkmale eines Gesichts deutlicher hervortreten)
Erhebliche körperliche Wachstumsbeeinträchtigungen (z.B. durch zu wenige Mahlzeiten) in
den ersten Lebensmonaten können sich auch ungünstig auf die geistige Entwicklung
auswirken
Neugeborenes hat nach Blass und Ciaramitaro zwei Motivsysteme, die sich beide auf das
motorische System auswirken und belohnenden Charakter haben: das exzitatorische
Motivsystem mit Energieverausgabung (Weiterbildung des Gehirns) und das besänftigende
Motivsystem zur Energieschonung (Neugeborenes braucht viel Kalorien zum Wachsen)
Im System der Nahrungsaufnahme wirken viele Komponenten zusammen und bilden ein
hervorragend abgestimmtes Verhaltenssteuerungsprogramm
Individuelle Unterschiede: Schreien und Irritabilität
Zunahme der Schreiintensität und –dauer in den ersten zwei Monaten, mit vier Monaten
gehen sie auf ein stabiles Niveau zurück
Einige Kinder schreien, weil sie Bauchkrämpfe haben; noch ungeklärt, warum manche
Kinder darunter mehr leiden als andere (nur selten organische Gründe oder
Milchunverträglichkeit)
Längsschnittuntersuchung von Kinder, die mit NBAS getestet wurden und als hoch irritabel
aufgefallen sind: mit großer Wl. entwickeln sie eine unsichere emotionale Bindung und
werden bis ins 6. Lebensjahr hinein von ihren Eltern als „schwierig“ empfunden
Als Interventionsmaßnahme bei exzessivem Schreien hat sich videogestützte Elternberatung
bewährt
Modellvorstellungen über den Entwicklungswandel in den ersten
Lebensmonaten und besondere Vulnerabilität
 zwischen zwei und vier Monaten finden in fast allen Verhaltensbereichen sehr deutliche
Veränderungen statt:
 z.B. Atemtechnik: starre Atemtechnik  neue Atemtechnik: Verringern der Atemfrequenz
im Schlaf, Verlängern der Ausatmungsphase in Wachperioden
 dieser Wandel in fast allen Verhaltensbereichen ist auch besonders störanfällig:
 Beispiel hierfür wäre der plötzliche Kindstod (wird heute überwiegend mit der
Veränderung der Atemtechnik in Verbindung gebracht)
 v.a. verhaltensbiologisch orientierte Forscher halten diesen Übergang nicht nur für
quantitativ, sondern vor allem für qualitativ
Der kompetente Säugling (ca. 4-12 Monate)
Ausbildung grundlegender Kompetenzen, aber immer noch angewiesen auf betreuenden
Erwachsenen
109
Körperliche und motorische Veränderungen
Übersicht
primäre Variabilität: 3./4. Monat bis 1. Lebensjahr: Entwickeln neuer motorischer Funktionen
und Lernen, diese in verschiedenen Variationen auszuführen, ohne dass diese Variationen
von bestimmten Zielen geleitet sein müssen
sekundäre Variabilität: 2- 4 Jahre: im Wesentlichen nur noch qualitative Verbesserungen der
Bewegungsmuster und Automatisierung
Grobmotorik, Greifen, Wahrnehmung, und Erkunden
Grobmotorik und Greifen
 Bewegungen werden flexibler, weicher und variabler
 mit etwa 4 Monaten Erlernen des visuellen Greifens
Freies Sitzen und beidhändiges Greifen mit etwa 6 Monaten
Tiefensehen mit 6 Monaten besser und somit zielsicheres Greifen
Innehalten beim Greifakt, ausgiebige Betrachtung und Betastung  verbesserte kortikale
Gedächtnisleistungen (jüngerer Säugling brauchte als „Gedächtnisstütze“ einen motorischen
Hilfsmechanismus: den vorgeschobenen und zugespitzten Mund)
mit 8-10 Monaten Erproben erster Formen der Fortbewegung (Rollen, Robben, Rutschen,
…); die großen interindividuellen Unterschiede hängen von Kraft des Kindes, kulturellen
Rahmenbedingungen und seiner Motivation ab
die eigene Fortbewegung des Kindes fördert die Raumorientierung des Kindes und verändert
seine Wahrnehmung  neue kognitive und soziale Fähigkeiten
ab ca. 9 Monaten: zwei unterschiedlich schwere Gegenstände unterscheiden, haptische und
visuelle Informationen aufeinander beziehen, aktive Suche nach Gegenständen
Greifentwicklung als Modell für psychologische Entwicklung
Greifentwicklung als Ausdruck und Folge neurologischer und motorischer Reifungsprozesse
Greifentwicklung als Ausdruck und Modell kognitiver Entwicklung
 Piaget: Entwicklung des Greifens als Modell für das Entstehen von komplexen
Handlungs- und mentalen Operationsstrukturen
 Bower: sehr allgemeine kognitive Strukturen beim Neugeborenen werden im 4.
Lebensmonat durch Lernen angereichert und differenziert und spezialisiert
Greifentwicklung als Modell für Problemlösen und intentionales Handeln
 von Hofsten: motorische Entwicklung als Modellfall für das Lösen spezifischer
Handlungsprobleme und den Erweb von „skills“
 Thelen: in den Anfangsphasen einer neuen Fertigkeit sind die Handlungen der Kinder
sehr unterschiedlich und variabel  spricht für Problemlöse- und Lernprozess
 Bruner: Verhalten ist von Anfang an intendiert, aber anfänglich fehlt noch Programm 
intentionale Handlungen sind zuerst diffus-undifferenziert und werden dann artikuliert und
differenziert
Neurologische und kognitive Veränderungen
 erhebliches Gehirnwachstum im ersten Lebensjahr
 Hemisphärenspezialisierung
110





Vertrautheit des Stimulus wird wichtiger als seine physikalischen Eigenschaften
Kind erkennt einfache Muster (wieder)
Kind erlernt Kontingenzen ((Hervorrufen einer Melodie durch verstärktes Saugen)
Beginnende Kooperation der beiden Hemisphären, z-B. beidhändiges Greifen
Aufrechte Körperhaltung  senkrechte Raumorientierung  Differenzieren aufrechter
Gesichter von Gesichtern in anderen Orientierungen
 Form und Textur werden wichtig bei der Identität von Objekten, Berücksichtigung von
Kontinuität, räumlicher Nähe, guter Gestalt, etc.
 Erste Ansätze von physikalischem Wissen
 Kind kann jetzt eine Handlung über eine kleine Zeitspanne hinweg aufschieben und
planen (bedingt durch Reifungsschub)
Lernen, Informationsverarbeitung und Gedächtnis im ersten
Lebensjahr
Indikatoren für Unterscheiden und Lernen
 Können Kinder verschiedene Stimuli unterscheiden?  Untersuchung anhand des
Blickverhaltens des Kindes
 Präferenz für Neues
 Vertrautheit kann durch Habituierung hergestellt werden
 Einflussfaktoren auf Lernen, Behalten und Reaktivieren des Gelernten:
 sehr, sehr an- oder erregender Reiz
 Kind physisch nicht in bester Verfassung
 Überforderung mit anderem Stimulus
 vorzeitig unterbrochene Erkundungsphase
 Frühgeborene, Down-Syndrom-Kinder, …
 verminderte Präferenz für Neues
 Kinder bauen bei Habituierungsexperimenten Erwartungen auf (z.B. ein Bild wird immer
abwechselnd rechts und links gezeigt)
 3- monatige Babys lernen kausalen Zusammenhang (Strampeln  Mobile)  nach 3
Tagen kurze Auffrischung  Erinnerung an Verknüpfung Strampeln - Mobile noch 8 Tage
später:
 Zeitraum zwischen Lernen und völligem Vergessen: Zeitfenster (nach Rovee-Collier 
verlängert sich mit zunehmendem Alter und Lernerfahrung
Lernen und Emotionen
Kinder (ab 2 Monate) lernten, dass bei einer Armbewegung eine Fernsehsequenz (3 sec.)
ausgelöst wurde:
Beobachtung des mimischen Ausdrucksverhaltens:
 zuerst Interesse, dann etwas Furcht, dann Überraschung beim Erkennen der Kontingenz
 Freude am Höhepunkt des Lernens
 abflauendes Interesse bei Habituierung, eher traurig bis weinerlich
 Wurde Kontingenz während Lernphase unterbrochen: ärgerliche Mimik
individuelle Unterschiede bei positiver Emotion ab 4 Mon. und bei negativer Emotion schon
ab 2 Mon. stabil (über eine Zeitspanne von 2 Monaten)
Emotionen als Erinnerungshilfen:
111
Lernen der Verknüpfung Strampeln – Mobile mit mehreren Komponenten
Zeigen eines neuen Mobiles mit 2 Komponenten  Ärgerlichkeit und Weinen
Nach 7 Tagen erneutes Zeigen eines der beiden Mobiles: nur das Mobile wird erinnert, bei
dem sie nicht geweint hatten
Auch Nachahmung beinhaltet eine Erinnerungsleistung, vor allem wenn sie zeitlich
aufgeschoben wird
Individuelle Unterschiede und langfristige Vorhersagen
Zusammenstellung einer Vielzahl von Längsschnittstudien: am häufigsten betrug das
Erhebungsalter der Habituierungs- und Behaltensleistung vier Monate; das Alter, auf das
vorhergesagt wurde, lag zwischen 1 und 8 Jahren.
 Intelligenzleistungen ließen sich besser vorhersagen aus Habituierungsmaßen (35%
Varianzaufklärung) als aus üblichen Säuglingstests und späteren Entwicklungs- und
Intelligenztests.
Objektpermanenz
Piagets Forschung und Theorie
Objektpermanenz = Objekte existieren für das Kind weiter, auch wenn es die mit seinen
Sinnen gerade nicht wahrnehmen kann. Diese Vorstellung wird erst in den ersten 1, 5
Lebensjahren entwickelt
Piaget beobachtete verschiedene Entwicklungsschritte bis zum vollen Verständnis der
Objektpermanenz.
Neue Erkenntnisse und Kritik an Piaget
Andere Autoren: Objektpermanenz bereits bei Neugeborenen, also schon von vornherein
abstrahierende Vorstellungen der Wirklichkeit. Nach Baillargeon beruhen die „Irrtümer“ der
Babys nur auf ungenauer Wahrnehmung oder fehlender Erfahrung.
Spelke: Babys haben von Geburt an ein Kernwissen über Objekte und ihre Bewegungen,
Personen, den euklidischen Raum sowie Zahlhaftigkeit
Objektpermanenz und die Art des Versteckens
Piagets Beobachtung: Babys unter 8 Monaten suchen einen Gegenstand nicht mehr, wenn
er mit einem Tuch zugedeckt wird.
Wishart und Bower: Beschreibung der Entwicklung der Objektpermanenz als Entwicklung
der Objektidentität: Kind hat Schwierigkeiten zu begreifen, dass es sich bei einer Sequenz
von Ereignissen um ein und dasselbe Objekt handelt  allmählich zunehmende
Individuierung der Objekte
Der A-/nicht-B – Suchfehler
Piagets Beobachtung:
Verstecken eines Gegenstandes unter einer von zwei Decken  Kinder suchen Gegenstand
richtig unter Decke A. Sichtbares Verstecken des Gegenstandes unter Decke B  viele
Kinder suchen dennoch wieder unter A.
Piagets Interpretation: für die Kinder sind die Handlung mit dem Gegenstand und sein Ort
eine Eigenschaft des Objektes  konzeptuelles Problem
112
Möglicher Alternativerklärung: Suchfehler bedingt durch ein motorisches Performanz- und
Perseverationsproblem, d.h. durch eine kleine Wartezeit führen die Hände der Kinder nicht
das aus, was sie „wissen“, sondern sie wiederholen die erfolgreiche Reaktion. Bis jetzt wurde
noch keine endgültige Erklärung für den Suchfehler gefunden.
Das Weltbild des Säuglings
verschiedene Fragestellungen: Wie lernen Kinder zwischen Lebewesen und nichtLebewesen zu unterscheiden? Gelangen Kinder von der Wahrnehmung zu den Kategorien?
Verstehen von Kausalität
Leslie und Fodor: Kausalität wird auch schon von Babys wahrgenommen  angeborene
Primitivkategorie oder Basisfähigkeit. Kritik anderer Autoren: wenn es diese Primitivkategorie
gibt, dann nur beschränkt auf sehr engen Bereich von Ereignissen.
Piaget: Erfahren von
Handlungserfahrungen.
Kausalität
in
den
ersten
2
Lebensjahren
durch
eigene
Intentionalität und Theory of Mind
 Intentionalität (Motiviertheit und Zielgerichtetheit) als Beginn eines kindlichen
Psychologieverständnisses, einer Theory of Mind
 Schon mit 6 Wochen eigenes zielgerichtetes Verhalten: Suchen von Blickkontakt,
 später Vokalisieren, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, etc.
 Kinder
können
intentionale
Handlungen
anderer
Personen
aus
dem
Gesamthandlungsfluss heraus als Einheiten erkennen
 Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass Kinder mit 18 Monaten Verständnis für die
psychische Situation anderer zeigen: z.B. Trösten eines Anderen, wenn dieser traurig ist,
weil etwas zerbrochen ist
Fazit: Etliche Forscher gehen davon aus, dass Babys schon früh Personen und Sachen
voneinander unterscheiden können
Kategorien und Dimensionen
Untersuchungsmethoden, ob Kinder bereits im vorsprachlichen Alter Kategorien bilden und
wenn ja, auf welcher Ebene: Präferenzen beim Schauen und Präferenzen bei der
Objektexaminierungsaufgabe (manuelles Erkunden)
 wenn Kinder Kategorienwechsel bei Bild oder Objekt wahrnehmen, dann wird erwartet,
dass sie neues Exemplar länger betrachten
Kinder erhalten Nachbildung von Exemplaren zweier Kategorien
 es wird erwartet, dass sie Exemplare, die zur gleichen Kategorie gehören, nacheinander
berühren (Babys zwischen 7 und 10 Monaten akzeptieren Plastik-/Holznachbildungen als
Stellvertreter für reale Dinge)
Globale Kategorien:
Unterscheidung, also Kategorisierung zwischen
 Lebewesen und Nicht-Lebewesen: ab 5-7 Monaten
 Menschen und Tieren: ab 7 Monaten
 Pflanzen und Artefakten: ab 9-11 Monaten
113
Basiskategorien
Betten/Tische oder Hunde/Katzen: ab ca. 11 Monaten
Da Kinder erst globale Kategorien und dann Basiskategorien bilden, kategorisieren sie
offenbar nach grundlegenden Eigenschaften, d.h. Bewegung (eigenbewegt – fremdbewegt),
Vorhersagbarkeit, Funktionalität
 ungeklärt, warum Babys Nachbildungen als Stellvertreter für reale Dinge akzeptieren
Sozialverhalten und Emotionen
2. Hälfte des 1. Lebensjahres: Kind zunehmend aktiver Kommunikationspartner
(Unterscheidung zw. Personen und Gegenständen; Unterscheidung zwischen Kindern und
Erwachsenen; Achten auf Wirkungen seines Verhaltens auf Umwelt; zunehmendes
Vergnügen an kleinen Spielen und Liedern)
Gegenseitige Aufmerksamkeitsregulation
Joint attention
Mit 8-9 Monaten: Gegenstand wird in Interaktion einbezogen, gemeinsame Aufmerksamkeit
(Kind und Erwachsener) auf Gegenstand, Kommunikation über Gegenstand
Shared attention
Kind lernt, seine Aufmerksamkeit der Aufmerksamkeitsrichtung des Erwachsenen
anzupassen bzw. die Aufmerksamkeit des Erwachsenen auf das zu lenken, was es selbst
gerade interessiert.
Mit 9 Monaten beginnen die Kinder die Zeigegesten des Erwachsenen zu verstehen und
beginnen teilweise selbst mit der Zeigegeste.
 einige Forscher sehen hier schon Beginn der Theory of Mind
Kommunikation
 bis 4 Monate: eher symmetrische Kommunikation zwischen Mutter und Kind, d.h. etwa
gleichzeitiges Anschauen und Vokalisieren
 ab 4 Monaten: häufiger unilaterale Kommunikation: Mutter agiert, Kind schaut und hört zu
bzw. umgekehrt
 Das Kommunizieren über einen Gegenstand gelingt eher als mit 4 Monaten, da das Kind
mit 6 Monaten nun zwischen 2 Stimuli (Mutter, Objekt) wechseln kann.
 Lallspiele nehmen Charakter eines Dialogs an.
 Elterliche Kommunikation mit Kind: stärkeres Eingehen auf Interessen des Kindes, Dinge
der Umwelt werden jetzt öfter in Kommunikation einbezogen  Bildung von Scripts +
Grundlage für Struktur und Basisgrammatik der späteren Sprache
 Kinder entnehmen zunehmend dem Gesichtsausdruck und dem Tonfall der Eltern
Informationen, die sie für ihre Handlungen nutzen (z.B. in unsicheren Situationen
Rückversicherungsblicke)
 (Entwicklungsabfolge des Emotionsverständnisses siehe Kasten S.185)
 Kind unterscheidet zwischen Fremden und vertrauten Personen deutlich in seinen
emotionalen Reaktionen.
Entwicklung des emotionalen Ausdrucksverhaltens
Empfindet das Kind auch die Emotion, die wir aus seiner Mimik ablesen?
114
Kognition und Emotion
2 Thesen:
 Bischof-Köhler: Emotionen als alte Form von Kognition: Kind bewertet Situation
unbewusst und reagiert dann mit Verhalten und Emotionsausdruck
 erst kognitive Erfassung der Situation und daraufhin spezifische Emotionen
In den ersten Lebenswochen zeigt das Kind eindeutige emotionale Reaktionen wie Weinen
und Schreien.
2-4 Monate: zusätzlich Überraschung, Ärger, Lächeln, …
6 Monate: situationsvalide Interpretation von Emotionsausdrücken
Meilensteine der Emotionsentwicklung
Einige Emotionen scheinen in spezifischem Alter neu oder besonders hervorzutreten:
 z.B. das Lächeln
 mit 6 Wochen: soziales Wiederlächeln, bei einigen Kindern sogar verschämtes Lächeln
(Lächeln bei gleichzeitigem Wegschauen)
Sroufes Stufentheorie
 Die meisten Emotionen bilden sich aus 3 Emotionsvorläufern heraus:
 Vergnügen/Freude, Ängstlichkeit/Furcht, Wut/Ärger
 Die Differenzierung ist eng an die kognitive und sozialkognitive Entwicklung gebunden.
 Sroufe unterscheidet 8 Stufen der Emotionsentwicklung
Emotion und Temperament
Interindividuelle Unterschiede in der Emotionalität werden oft als Temperament gefasst
 Unterscheidung von Kagan: Kinder mit hoher vs. niedriger Reaktionsempfindlichkeit
(wachsame Reaktion auf neue Reize, tw. Furcht oder Abwehr vs. Reaktion mit Neugier
und Zuwendung)
 guter Prädiktor für Ängstlichkeitsverhalten mit 14 bzw. 21 Monaten und sozialer
Gehemmtheit/Offenheit mit 4,5 Jahren
Fremdeln (Fremdenangst)
 Meist plötzliches Auftreten um den 8./9. Monat herum
 Kennzeichen: bei Auftauchen einer fremden Person Klammern an Elternteil, stummes und
wachsames Beobachten der fremden Person, immer wieder Abwenden des Blickes
 Kulturunabhängiger Höhepunkt zwischen 8 und 12 Monaten
 in unserer Kultur sehr starkes Fremdeln bei Männern mit dunklem Vollbart und dunkler
lauter Stimme
 Unterschiedlich starkes Fremdeln eines Kindes möglich je nach Befindlichkeit
 unterschiedliche Theorien zum Fremdeln:
 Fremdeln als konditionierte Angst vor Verlassenwerden (Psychoanalyse, frühe
Lerntheorien)
 Fremdeln
als
kognitives
Diskrepanzerlebnis
(Kind
hat
kein
Verhaltensrepertoire parat)
 Fremdeln als Versagen vorsprachlicher Kommunikation (Kinder haben nur
sehr personenspezifische Kommunikationsmuster)
 Fremdeln als misslingendes Wiedererkennen der gestischen Signatur
(spezifisches Verhalten einer Person)
115
Elternverhalten
Intuitives Elternverhalten
Kulturübergreifend lässt sich ein sehr charakteristisches Verhalten gegenüber Babys
feststellen:
 Langsameres Sprechen und Gestikulieren, Hebung der Stimme, Vereinfachung der
Sprache, etc.
 Bezugspersonen reagieren so rasch auf das Kind (z.B. mit der Stimme), dass es
unmöglich bewusst geplant sein kann  intuitiv
Dennoch gibt es Unterschiede in der elterlichen Kompetenz:
 Kinder mit meist guter Stimmung und Interesse an Umwelt machen es den Eltern leichter,
diese Elternfähigkeit auszubilden
 (Gegensatz: Kinder, die oft krank sind; Frühgeborene, irritable Kinder, …)
 ambivalente Einstellung der Eltern zum Kind oder zu ihrer Kompetenz beeinträchtigen
Ausbildung der Elternkompetenz
 Eltern mit hohen Belastungen bzw. psychisch kranke Eltern oft gehemmt
Kindgerechte Sprechweise
Neugeborene: Reaktion auf stimmlich erhöhte, gedehnte Prosodie mit gesteigerter
Aufmerksamkeit
Funktionen der Prosodik:
 verhaltensregulierend (anregend – bestätigend – besänftigend)
 aufmerksamkeitslenkend
Sensitivität
= Fähigkeit der Bezugsperson, prompt und angemessen auf kindliches Verhalten zu
reagieren (vor allem emotionale Qualität). Z.B. erwies sich Depressivität der Mutter als
ungünstiger Prädiktor für die spätere Sprachentwicklung
Das Kleinkind im zweiten Lebensjahr
um den 1. Geburtstag herum erste freie Schritte und erste bedeutungsspezifische Wörter 
Einführung in die soziale und kulturelle Gemeinschaft
Verdopplung von:
 realen Gegenständen durch symbolisierende Gesten, Worte oder Kritzelzeichen (anfangs
sehr starr  Ganzheits- und Disjunktionsannahme)
 der sozialen Realität im Rollenspiel und von Ereignissen durch Nachahmung und im
Symbolspiel  Repräsentationen entstehen
 dem eigenen Ich, wenn es sich im Spiegel, auf Videos und Photos erkennen kann
 dem psychischen Erleben des Kindes mithilfe der Sprache und ihrer grammatischen
Kategorien
Diese verdoppelten Welten können für das Kind auch Gefahren bergen, deshalb stehen dem
Erkundungsdrang auch Absicherungsbedürfnisse gegenüber:
 das erkundende Kind entfernt sich von der Mutter nur bis zu einem bestimmten Punkt
 verliert das Kind die Kontrolle auf geistiger Ebene, in seiner Phantasiewelt (z.B. beim
Träumen), kann dies Angst auslösen. Strukturierenden Halt bieten Bezugsperson,
Sprache sowie die sich entwickelnden logischen Denkwerkzeuge
116
Soziale Welt:
Bedürfnis nach
 Individualisierung: betonte Abgrenzung gegenüber anderen (anfangs unbeholfen und
unbeherrscht, Konflikt zwischen Wollen und Nicht-Können)
 Soziabilität/Gemeinschaft: ausgeprägtes Interesse an anderen Kindern und Bereitschaft,
der Führung durch Erwachsene zu folgen
 Kind muss Gleichgewicht zwischen Individualisierung und Soziabilität finden
Laufenlernen als Problemlösen und Entwicklungsaufgabe
nach Thelen: Laufenlernen als Problemlösen
Multiple Voraussetzungen sind nötig:
Absenken des Körperschwerpunktes, beweglichere Gelenke, Zunahme der Muskelkraft,
Halten aufrechter Balance, Integration von visuellen, vestibulären und propriozeptiven
Informationen
Außerdem wichtig: die Motivation des Kindes, sich im Raum auf etwas hin bewegen zu
wollen  „Erfinden“ einer Lösung (individuelle erste Lösungsversuche), die zunehmend
verfeinert wird
Laufenlernen als Entwicklungsaufgabe
Laufenlernen ist eine sein Leben über Wochen bestimmende Aufgabe  wesentliche
Beeinflussung des weiteren Lebens
Kinder, die früh mit Laufen beginnen, sind unternehmungslustiger (späte Läufer sind
ängstlicher und haben behütendere Eltern)
Bindung und Bindungsqualität
Der theoretische Ansatz von John Bowlby
 Bindungsverhalten aus Evolution hervorgegangen, sichert das Überleben der Spezies 
stabil gegen widrige Umwelteinflüsse
 Jedes Kind entwickelt personenspezifische Bindung, sofern ein Minimum an
Interaktionskontakt zu einer Person vorhanden
 Bindung als psychologisches Konstrukt, das Emotionen, Motivationen und Verhalten des
Kindes je nach Situation strukturiert
Entwicklungsverlauf der sozial-emotionalen Bindung
3 Etappen in den ersten beiden Lebensjahren (nach Bowlby und Ainsworth)
1. keine Bindung an spezifische Person
2. Lernen, seine Interaktionspartner zu unterscheiden  Zuwendung zu einer oder
einigen spezifischen Personen
3. Eigentliche Bindung entsteht mit Lokomotion und Objekt- und Personenpermanenz 
Vermissen der Person möglich, aktive Regulation von Nähe und Entfernung
Vgl. Untersuchung von Harlow: Affen mit Plüsch- oder Drahtmutter
Bindungsqualität
nach Ainsworth
117
Entwicklung eines standardisierten Untersuchungsverfahrens zur Bindungsqualität:
der Fremde-Situations-Test (FST): in 8 Drei-Minuten-Episoden erfährt das Kind in
zunehmender Intensität Unvertrautheit, Neuheit und Fremdheit sowie zwei Trennungen von
der Mutter
 Unterscheidung von 4 Strategien und 3 Bindungsstilen anhand des Verhaltens des Kindes
bei der Rückkehr der Mutter:
Strategien:
Nähesuchen,
Vermeidungsverhalten
Kontakthalten,
Widerstand
gegen
Körperkontakt,
3 Bindungsstile:
Bindungsstil A: unsicher-vermeidend
Kinder zeigen wenig Emotionen, suchen keine Nähe, sondern beschäftigen sich weiter mit
ihrem Spielzeug bei Rückkehr der Mutter
 haben wenig sensitive Fürsorge erfahren
Bindungsstil B: sicher, balanciert
Kinder zeigen direkt ihren Kummer, wenn sie allein gelassen werden; tritt Mutter wieder ein,
kurzes Suchen von Kuschelkontakt, danach fröhliches Weiterspielen mit der Mutter
 sehr einfühlsame, sensitive Mütter oder emotional stabile Kinder, Kinder haben ihre Mutter
als offen, verlässlich und freundlich erlebt
Bindungsstil C: ambivalent-unsicher
Kinder reagieren empfindlich auf Annäherung der Fremden und zeigen lautstark und deutlich
ihren Kummer beim Verlassenwerden; bei der Rückkehr der Mutter suchen sie einerseits
den Kontakt, andererseits widersetzen sie sich ihm
 Aus dem Verhalten der Mutter ergab sich kein vorhersagbares Muster für die Kinder
Main und Solomon: beschreibung einer weiteren Dimension:
D-Komponente: desorganisierte, desorientierte Kinder
Kleinere und größere Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern, die Zuordnung zu den
Bindungsstilen A, B oder C erschweren; kein Verhaltensprogramm für den Konflikt
Annäherung – Angst oder schwankende Reaktionsstile
 besonders ausgeprägt bei Kindern mit Missbrauchserfahrung, aber auch andere Gründe
möglich (z.B. wenig sensibles Mütterverhalten), diese D-Kinder sind besonders gefährdet,
Verhaltensprobleme zu entwickeln
Das Bindungskonzept lässt sich auch auf andere Bezugspersonen anwenden
Der Bindungsstil
personenabhängig.
ist
keine
Persönlichkeitseigenschaft
des
Kindes,
sondern
Längsschnittliche Veränderungen und Vorhersagen aus der frühkindlichen
Bindungsqualität
Bowlby, Ainsworth, Main: die frühen, sozialen Interaktionserfahrungen sind ein
„Arbeitsmodell“ für künftige Beziehungen zu möglichen Vertrauenspersonen; Anreicherung
oder auch Veränderung im Laufe der Zeit
Bindungsqualität als stabiles Merkmal vom 2. Lebensjahr bis ins Vorschul- und Schulalter
118
Deutliche Wechsel in der Bindungsqualität von sicher zu unsicher konnten in
Zusammenhang gebracht werden mit einschneidenden Lebensereignissen (v.a. Trennung
der Eltern), Bindungsstilwechsel von sicher zu unsicher konnten nicht eindeutig mit etwas in
Zusammenhang gebracht werden
Krippenbesuch und Bindungsqualität
Krippenerfahrung für sich genommen hat keinerlei Beziehung zur Bindungsqualität.
Unsichere Bindung ließ sich am ehesten aus geringer Sensitivität der Mütter, pädagogisch
zweifelhafter Krippe oder wechselnden Betreuungsarrangements vorhersagen
geringere Sensitivität der Mutter bei täglich sehr langem Krippenaufenthalt des Kindes,
dagegen prädizierte die Wahl einer pädagogisch guten Krippe größere Sensitivität
Bindungsqualität an Mutter als Prädiktor für die Verarbeitung der Eingewöhnung in der
Krippe
Trotzverhalten
 erstmaliges Auftreten in der Mitte des 2. Lebensjahres
 Milderung mit zunehmender Sprach- und Handlungskompetenz (außer bei ungünstigen
Erziehungserfahrungen)
 Entstehung von Trotz: Kind kann sich jetzt Handlungsziel vorstellen und sieht sich als
Ursprung. Wird die Durchführung unterbrochen, steht dem Kind erstmal kein alternativer
Handlungsplan zur Verfügung
 starke individuelle Unterschiede in der Häufigkeit und Intensität von Trotzreaktionen
 verminderte Aufmerksamkeits- und Emotionskontrolle begünstigen Trotzreaktionen
 GU: Jungen zeigen heftigeres Trotzverhalten  unterschiedliche Interaktionserfahrungen
als Mädchen
 - Längsschnittstudien:
 Jungen, die Trotzverhalten noch mit über 3 Jahren zeigten  mehr Probleme
in der Schule
 Jungen und Mädchen, die lang und heftig trotzten  signifikant häufiger
Eheprobleme, mehr Scheidungen
Die Entdeckung des Ich im Spiegel und Anfänge der sozialen
Kognition
 - Selbsterkennen: um die 18 Monate
 - bis jetzt: diachrone Identität (Kind hat gelernt, dass Dinge auch bei einem Wechsel der
Orte über die Zeit hinweg identisch bleiben), nun: Begreifen der synchronen Identität:
Etwas, was zur gleichen Zeit existiert, kann auch identisch sein (z.B. Gesicht und
Spiegelbild); Vergleichen findet nun statt (die andere Person ist eine wie ich)
 Herstellung einer sozialen Identität (Bischof-Köhler) als Voraussetzung für echtes
Mitgefühl:
 Teilhaben an Gefühlslage einer anderen Person (Voraussetzung: sich selbst von anderen
unterscheiden zu können, Mindestmaß an Kontrolle der eigenen Gefühle und Wissen,
dass man die Emotionen anderer beeinflussen kann)
Gleichzeitig entwickelt sich
 Soziale Kognition: Fähigkeit, die Aufmerksamkeitsrichtung des Partners zu erkennen und
ihr folgen zu können  ähnlich „Lehrer-Schüler-Situation“
119
Sozialisationsbereitschaft
Sauberkeitserziehung: Eltern benötigen ein gewisses Maß an Vertrauen, dass die Kinder
selbst sauber werden wollen und dies zu ihrer Zeit auch anzeigen
Compliance: Bereitschaft, sich die von einem anderen gegebenen Verhaltensziele zu eigen
zu machen  wird dem Kind erleichtert durch ein positives Sozialisationsklima
Entwicklung von Compliance:
 Ursprung in der frühen Interaktion von Mutter und Kind
 hat das Kind viel Gegenseitigkeit, Vertrauen und Empathie erfahren, so wird es mit den
sich eröffnenden kognitiven Möglichkeiten im 2. Lebensjahr eine positive Bereitschaft
zeigen (sichere Bindung wäre günstige Voraussetzung)
2 Formen von Compliance:
 aktives Folgen: Kind übernimmt gut gelaunt Handlungsvorgaben der Mutter
 Sich-Fügen: generell kooperatives Verhalten, aber eher halbherzig, Kind beendet Aufgabe
nur dann, wenn Mutter dahinter bleibt
Fähigkeit, Aufmerksamkeit aktiv auf ein Bild zu richten ( 9 Monate) und Sensitivität der
Mutter als guter Prädiktor für Compliance
Wie wichtig ist die frühe Kindheit für die weitere
Persönlichkeitsentwicklung?
Unterschiedliche Ansichten:
Psychoanalyse: tief greifende Bedeutung
Einige Forscher: der frühen Kindheit darf nicht die alleinige „Schuld“ für spätere
Persönlichkeitsunterschiede anlasten
Vieles spricht dafür, dass die Plastizität der Persönlichkeit und des Verhaltens auch noch in
der Folgezeit sehr groß ist - gewisses Maß an Kontinuität der Persönlichkeitsunterschiede
aus dem ersten Lebensjahr dort, wo Merkmale mit biologischen Einschränkungen
korrespondieren oder soziale Rahmenbedingungen Stabilität sichern
Dennoch frühe Kindheit als Basis für alle späteren Entwicklungen!
Zusammenfassung von Anja König (Uni Bamberg)
120
Jugendalter
(Rolf Oerter & Eva Dreher)
Konzepte, Theorien, Thematiken
Jugend - zur Konstruktion einer Lebensphase
Jugend = Zwischenposition:
„nicht mehr Kind“ und „noch nicht Erwachsener“
Soziohistorische Konstruktion
Idee, dass Jugend eine qualitativ eigengesetzliche Entwicklungsphase ist, reicht bis weit in
die Antike.
Erst im späten 19. bzw. 20. Jh. wird die Phase der Jugend gesellschafts- und sozialpolitisch
verankert: Freisetzung von Erwerbsarbeit, institutioneller Zugang zu Ausbildung und
Vorbereitung auf Anforderungen der Lebensbewältigung ermöglicht.
Verkürzte Pubertät (Lazarsfeld, 1931) und gestreckte Pubertät (Bernfeld, 1923):
je nach Zeitpunkt des Berufseintritts und damit verbunden geringeren bzw. größeren
Bildungschancen.
Jugend als Phänomen multidisziplinären Interesses
Vielzahl von Bedeutungsfacetten des Begriffs „Jugend“ in Soziologie, Politik, Psychologie,
Medizin, Pädagogik, Biologie, Rechtswissenschaft.
Begriffsdimensionen(Weber,1987):
 „Jugend als Entwicklungsstadium im individuellen Lebensverlauf“  Differenzierung
altersspezifischer Entwicklungsaufgaben
 „Jugend als Gleichaltrigengruppe“ Jugendkultur/generationstypischer Lebensstil
 „Jugend als Ideal“ Überbewertung als optimalster Altersabschnitt (Vitalität...)
 Fokus auf geschlechtsspezifischen Anforderungen (z.B. Militärdienst) oder
geschlechtsrollentypischen Erwartungen (z.B. Beruf, Wertorientierung)
 …
Entwicklungspsychologische Kriterien
Beginn der Jugendphase: Eintreten der Geschlechtreife
Drei Phasen zur Differenzierung der Veränderungsdynamik:
1. Frühe Adoleszenz zwischen 11 und 14 Jahren
2. Mittlere Adoleszenz zwischen 15 und 17 Jahren
3. Späte Adoleszenz zwischen 18 und 21 Jahren
Abgrenzung zum frühen Erwachsenenalter erfolgt nicht über Altersmarken, sondern anhand
von Funktionsbereichen, Rollenübergängen und Kriterien sozialer Reife.
121
Adoleszenz im Wandel entwicklungspsychologischer Forschung
Frühe Forschung zu Beginn des 20. Jh. legte v.a. ihr Hauptinteresse auf die Psychischen
Korrelate biologischer Veränderungen: Sturm und Drang-Thematik dominant. Seit den 70er
Jahren Aufschwung in den USA.
Forschungsinteressen im Bereich der frühen Adoleszenz konzentrieren sich auf die
Themen:
 Verlauf und psychische Auswirkungen der Pubertät
 Bedeutung adaptiver und konflikthafter Bewältigungsmuster für psychische Gesundheit
 Pubertärer Wandel
 Veränderung der Familieninteraktion
„Adjustment vs. Turmoil“ ist hierbei der generelle Tenor, der auf die Fortsetzung der
klassischen Sturm- und Drang-Thematik in modifizierter Form verweist:
inter- und intrapersonelle Konflikte gelten nicht mehr als generelles Entwicklungsphänomen
des Jugendalters  Analyse auf Bedingungen und Entstehungszusammenhänge sowohl
konstruktiver als auch beeinträchtigender Verarbeitungsformen in dieser Phase.
Entwicklungspsychologie der Lebensspanne:
Gegenwärtig stärkere Akzentuierung der Adoleszenz als Periode innerhalb der
Lebensspanne  Betonung der Richtung und Funktionalität von Veränderungen (z.B.
Identitätsentwicklung)
Interdisziplinäre Entwicklungsforschung:
Verbindung gesundheits- und entwicklungspsychologischer Thematiken. Ziel: im Jugendalter
langfristig wirksame Entwicklungsressourcen anzubahnen (Förderprogramme....)
Theorien der Adoleszenz
(hierbei Theoriebegriff nicht allzu eng/streng gefasst)
Anlagetheorien der Adoleszenz
Erste Theorie stammt von Stanley Hall (1846-1924), Begründer einer wissenschaftlich
fundierten Psychologie des Jugendalters (biogenetisch):
Ontogenese = Rekapitulation der Phylogenese
Jede Entwicklungsstufe (frühe Kindheit, Kindheit, Jugend, Adoleszenz) repräsentiert ein
Entwicklungsalter, das in Analogie zu Stufen der Menschheitsgeschichte charakterisiert wird
(z.B. Spielformen der Kindheit wie Höhlenbau, Fangen, Werkzeiggebrauch korrespondieren
mit der Epoche der Jäger und Sammler).
Die Stufe der Jugend (8-12 Jhr.), gekennzeichnet durch aufkommende Bereitschaft zur
Übernahme von Ordnungen und Regeln, wird die beginnende Zivilisation zugewiesen, deren
Fortsetzung im Verlauf der Adoleszenz (11/13-22/25) erfolgt: eine Sturm- und-Drang-Periode
mit innerpsychischen Spannungen und interpersonellen Konflikten.
Die theoretische Bedeutung des Hallschen Werks sieht Ewert (1983) in der Einführung
folgender Schlüsselbegriffe:
 Darstellung von Entwicklung als Schichtmodell
 Entwicklung als qualitativer Wandel
 Entwicklungsbedingte Übergänge als Krise
122
 Offenheit von Entwicklungsmöglichkeiten in der Auseinandersetzung mit jeweiligen
Lebensbedingungen
Umwelttheorie der Adoleszenz
 Wirkung von Kultur, Konditionierung und sozialer Modellierung
Kulturanthropologischer Ansatz:
Nach Mead (1971) bedeutet Identität Bindung an Sinnkonzepte, kulturelle Werte und
Orientierung an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft innerhalb der Gesellschaft.
Postfigurative Kultur: statisch, traditionell Kinder übernehmen primär Erfahrungen der
Erwachsenen; biolog. und soziale Reife sind identisch mit der Pubertät
ist der
Erwachsenenstatus erreicht; Identität wird im Zuge der Internalisierung von Sinnkonzepten
und werten erworben , deren universelle Richtigkeit und dauerhafte Gültigkeit nicht in Frage
gestellt wird.
Kofigurative Kultur: der gegenwärtigen Lebensform entsprechend; mobile, durch raschen
Wandel gekennzeichnete Kultur, in der die Lebensbewältigung in hohem Maße an
Orientierungsleistungen gebunden ist.
Präfigurative Kultur: prognostisches Modell als Lösung für zunehmende Umweltgefährdung,
soziale Probleme, Generationendistanzierung...
Wichtig: Erwachsene sollen Bindung lehren und auch bereit sein, von den Kindern zu lernen.
Kritik von Griese (1977): es wird von einheitlicher Jugendgeneration ausgegangen,
subkulturelle Unterschiede in einer Gesellschaft werden nicht beachtet;
Generationenkonflikte werden pauschalisiert (in der vorgegebenen Schärfe empirisch nicht
nachgewiesen).
Lerntheoretische Ansätze:
 Wie kontrolliert soziale Umwelt Verhaltensänderungen (S-R-Theorien)?
Theorie der sozialisierten Angst (Davis, 1944):
Wir erfahren beim Erlernen der Regeln in der Gesellschaft, dass erwünschtes Verhalten
belohnt/gebilligt und unerwünschtes bestraft/missbilligt wird.
Die Antizipation von Bestrafung ist mit unangenehmen Gefühlen -sozialisierter Angstverbunden; um diese zu vermeiden verhalten wir uns in Übereinstimmung mit gesellschaftl.
Rollenerwartungen. Die Rollenerwartungen gegenüber Jugendlichen sind unklar 
Jugendliche wissen nicht welches Verhalten akzeptiert bzw. missbilligt wird und können
somit nur schwer erfolgreich die sozialisierte Angst vermeiden/reduzieren
 Emotionale Beeinträchtigung in dieser Phase.
„Drive theory“ adoleszenten Verhaltens (McCandless, 1970):
Bestimmte Verhaltensweisen werden gelernt, weil sie einen inneren Spannungszustand
reduzieren  Triebreduzierendes Verhalten hat Belohnungscharakter und führt durch
Wiederholungen zum Aufbau von Gewohnheiten.
Die Gesellschaft billigt für Jungen und Mädchen unterschiedl. Verhaltensmuster 
Jugendliche müssen sich im Kontext neuer geschlechtstypischer und per gesellschaftlicher
Vorgabe gebilligter Verhaltensweisen neu definieren.
 Periode unverminderter Triebspannung, die stress und emotionale Belastung mit sich
bringt.
123
Intertraktionstheorien der Adoleszenz
 Anlage-Umwelt-Dynamik!
Schwache Interaktionstheorien:
Anlage ausschlaggebend, Umwelt kann den zugrundeliegenden Reifungsplan
beschleunigen, verzögern oder fixieren, ihn aber nicht verändern (vgl. Sigmund und Anna
Freud, Erikson)
Moderate Interaktionstheorien:
Anlage und Umwelt sind notwendige aber von einander unabhängige Determinanten
jeglicher Entwicklung. (vgl. Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung)
Starke Interaktionstheorien:
Wechselseitige Abhängigkeit zwischen Anlage und Umwelt  dynamischer Interaktionismus
(vgl. Modell des developmental contextualism)
Psychodynamischer Ansatz (Anna Freud, 1958, 1969):
In Jugend gesteigerte Freisetzung libidinöser Energien  Anstieg impulsiver Aktivität
(Neugier, Aggressivität, Egozentrik)  Konflikthaftigkeit. Außerdem werden psychosexuelle
Konflikte der Kindheit reaktiviert  ambivalente Verhaltensformen
Insgesamt: ES wird stärker und gerät in Konflikt mit den vorhandenen Möglichkeiten des ICH
 Ängste  bereits vorhandene Abwehrmechanismen, Entwicklung neuer Formen der
Impulskontrolle
Abwehrmechanismen:
Alte: Sublimation (z.B. im künstlerischen Bereich), Verschiebung (=Verlagerung der Impulse
auf andere Dinge/Personen) und Identifikation (weniger mit Eltern als mit anderen
Erwachsenen oder Gleichaltrigen)
Neue: Intellektualisierung (Rechtfertigung durch logische Argumentation) und Askese
(Leugnung der Triebe); außerdem können bedrohliche oder aggressive Impulse auf
Gedankenebene gehandhabt werden und müssen nicht zur Handlung führen ( größere
Distanz zw. Ideen und Impulsen)
Bewältigung neuer Triebkonflikte:
Der Entwicklungsfortschritt in der Adoleszenz wird im Wesentlichen in der Bewältigung der
neuen Triebkonflikte gesehen, die darauf beruht, dass gestärkte ICH-Funktionen den
Ansturm libidinöser Energien balancieren können. Gelingt dies nicht, so treten Störungen
auf, die zu Regressionen auf frühere Entwicklungsstufen führen. Ebenso wird das ausbleiben
von Konflikten als eine pathologische Störung aufgefasst  Übermaß an Abwehr
Theoretische Weiterentwicklung: Copingkonzepte:
Neoanalytische Konzepte:
z.B. Haan (1977): Bewältigungsstrategien (=Copingstrategien) und Abwehrstrategien
beruhen auf gleichen grundlegenden Ich-Prozessen, erfüllen jedoch unterschiedliche
Funktionen.
Coping Konstruktive, realitätsangepasste, flexible Auseinandersetzung, die emotionalen
Komponenten Raum lässt
Abwehr lässt Affekte nur indirekt zu und zielt auf Angstkontrolle ohne eigentliche
Problembearbeitung.
124
Kognitionspsychologische Ansätze: Vgl. Lazarus (1986)
Copingprozess:
1. Abschätzung der Situation einschließlich kognitiver und affektiver Aspekte (primary
appraisal)
2. Abschätzung der eigenen Problemlösemöglichkeiten/Kompetenzen (secondary
appraisal)
3. Evtl. Neubewertung der Situation bzw. Abwägen alternativer Lösungsmöglichkeiten
im Zuge der Ausführung bei Stagnation, Fehlschlägen oder neuen Infos... (tertiary
appraisal)
Psychosozialer Ansatz (Erik H. Erikson):
Eine der prominentesten Erweiterungen und Modifikationen der Freudschen Theorie.
Generalthema: Erringen der Ich-Identität durch Bewältigung von Anforderungen, die aus der
Einbettung des Individuums in die Sozialordnung resultieren.
Aufbau von Selbstkonsistenz:
Ich = Organisiertes System von Einstellungen, Motiven und Bewältigungsleistungen
Die Bewältigung von Krisen/Wendepunkten kennzeichnet die wachsende Persönlichkeit, die
der Umwelt aktiv begegnet.
Ausbau von Ich-Identität = Aufbau von Selbstkonsistenz, d.h. man weiß, wer man ist und
worin über Zeit, Situationen und soziale Kontexte hinweg die Einheitlichkeit und
Unverwechselbarkeit der eigenen Person (Individualität!) begründet ist.
Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in acht Stadien...
Integrationsleistung:
Hauptaufgabe der Adoleszenz: Integration psychosexueller und psychosozialer
Veränderungen; Finden der eigenen Position in der Gesellschaft (der Erwachsenen);
In Bezug auf die Ich-Entwicklung bedeutet das, die Identifikationen der Kindheit zu
integrieren, um daraus das Potential zu gewinnen, das zur Übernahme neuer Rollen
erforderlich ist.
Moratorium:
Da die Entwicklung der Ich-Identiät sowohl einem zeitlich ausgedehnten Prozess unterliegt
als auch Handlungsspielraum erfordert, gibt es in der Jugend die Periode des selektiven
Gewährenlassens seitens der Gesellschaft, sowie der provokativen Verspieltheit seitens der
Jugend.
Identifikationsverhalten:
 entscheidend dafür, ob und in welcher Form der Jugendliche zu Werten, Zielen und zur
Übernahme gesellschaftlich als relevant erachteter Rollen kommt.
In der frühen und mittleren Phase der Adoleszenz hat das Aufbrechen bestehender
Identifikationen und der Verlust bisheriger Selbstdefinition etwas krisenhaftes/konflikthaftes.
Dynamischer Interaktionismus:
 wechselseitig interaktives Individuum-Umwelt-System
vgl. Entwicklungspsychologie
contextualism“):
der
Lebensspanne
(Lerner
&Lerner:
„Developmental
125
reziprok interaktive Beziehungen zwischen biologischen, physikalischen, psychologischen,
historischen und sozialen und historischen Prozessen im Konzept der Organismus-KontextRelation
Modell der moderierten Effekte (Richards & Peterson):
Sozial-situationale und individuelle Faktoren moderieren (=verstärken bzw. begrenzen) die
Wirkung von hormonellen und physischen Veränderungen auf das Verhalten und weitere
psychische Variablen.
Produzent seiner Entwicklung:
Auf der individuell reziproken Ebene bedeutet die reziproke Dynamik, dass der Jugendliche
den sozialen und physikalischen Kontext, der ihn beeinflusst, beeinflussen kann (Er ist
zugleich Produkt und Produzent in dem System).
Indem er den Kontext beeinflusst, erzeugt er Feedback für sich selbst. Lerner unterscheidet
dabei drei Modalitäten:
1. the adolescent as stimulus: Stimuluseffekte: z.B. körperliche Veränderungen 
Attraktivitätsveränderung  Feedback  eigenes Verhalten
2. the adolescent as processor: Veränderung kognitiver und emotionaler Strukturen in
dieser Phase  Herstellen von Sinnkonstruktionen (=Interpretationen) über
bestimmte Erfahrungen und Ereignisse  kontrollierte, beeinflusste Verarbeitung der
Ereignisse
3. the adolescent as agent, shaper and selecter: Potential zur Herstellung und
Erweiterung von Handlungsräumen/Entwicklungsnischen, z.B. Wahl der Peergruppe
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
(Konzept ursprgl. Von R.J. Havighurst)
Entwicklung als Lernprozess:
Entwicklung = lebenslanger Lernprozess im Kontext realer Anforderungen, der zum Erwerb
von Fähigkeiten führt  zufriedenstellende Bewältigung des Lebens in der Gesellschaft.
Quellen für Entwicklungsaufgaben: Physische Reifung, gesellschaftl. Erwartungen und
individuelle Ziele und Werte.
Physische Reifung: weitgehend universell und invariant
Gesellschaftl. Erwartungen:  Einfluss altersbezogener Normen im Sinne eines sozialen
Zeitrasters, an dem Anforderungen bemessen werden.
Spezifische Aufgaben verändern sich über Kohorten hinweg (z.B. Ausbildungsdauer etc.)
Individuelle Ziele und Werte: Teil des Selbst, das im Laufe der Lebensspanne ausgebildet
wird und zur treibenden Kraft für die aktive Gestaltung von Entwicklung wird.
Zeitliche Dimensionierung:
 Havighurst nimmt „sensitive periods of learning”, “teachable moments” an.
Außerhalb dieser Phasen erfordern Aufgaben größeren Aufwand und externe Hilfestellungen
haben weniger Erfolg.
Unterscheidung zwischen zeitl. Begrenzten Aufgaben (z.B. Erwerb grundlegender
Kulturtechniken) und unbegrenzten Aufgaben (z.B. Aufbau von Beziehungen zu
Gleichaltrigen)
126
Vernetzung von Entwicklungsaufgaben:
Weiterführung von Aufgaben der Kindheit; andere Aufgaben beginnen in der Adoleszenz,
werden aber im frühen Erwachsenenalter fortgesetzt.
 konzentrierte Phase multipler Bewältigungsleistungen
Gültigkeit der Entwicklungsaufgaben:
Siehe S.270 Abb.7.1: „Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz“ nach Havighurst
 mittlere Kindheit (6-12)
 Adoleszenz (12-18)
 Frühes Erwachsenenalter (18-30)
Untersuchungsmethode:
Ergebnisse:
im geschlechtsspezifischen und zeitbezogenen Vergleich sowohl
Entwicklungsaufgaben, für die sich konstante Bedeutsamkeit abzeichnet als auch solche, auf
die unterschiedliche Urteilstendenzen (der Jugendlichen) zutreffen (siehe S.272, Abb. 7.2)
Zeitbezogener Vergleich (im Vergleich der Rangplätze): die Entwicklungsaufgaben Beruf und
Peergruppe sind zeit- und geschlechtsbezogen gleichbleibend in der jeweiligen
Spitzengruppe der Bedeutsamkeit vertreten.
Thematik der Freundschaftsbeziehungen gewinnt, Thematik der Entwicklungsaufgabe
Selbsterkenntnis verliert an Bedeutung.
Geschlechtsspezifischer
Vergleich:
z.B.
ist
geschlechtsrollenspezifischen Verhaltens wesentlich
Jugendlichen
Jungen
die
bedeutender als
Aneignung
weiblichen
Entwicklungsaufgabe als Konstrukt der Veränderung
Ökologische Entwicklungskonzeption(Oerter, 1978, 1986):
 Integration der Entwicklungsaufgabe in den theoret. Rahmen der ökologischen
Entwicklungskonzeption
Relevanz des Konzepts: Entwicklungsaufgaben
 bieten ökologisch valide Zugänge zur Analyse von externen und internen Faktoren
 für Veränderung
 spezifizieren hemmende und unterstützende Umweltbedingungen
 identifizieren die Bedeutung subjektiver Entwicklungstheorien für die Regulation der
eigenen Aktivität
 fungieren als inhaltlich definierter Rahmen für die Nutzung von Konzepten, z.B. Coping,
Handlungskontrolle, Prävention, die zur Operationalisierung von Anforderungsmerkmalen
und Bewältigungsformen im Kontext konkreter Entwicklungsziele dienlich sind
Kritik des Konzepts:
Falls die Tatsache der Wertgebundenheit von Aufgaben und Zielen der Entwicklung
missachtet wird.
Außerdem können Entwicklungsaufgaben von normativen Standards individueller und
gesellschaftlicher Art nicht gelöst werden.
Kognitive Entwicklung
(siehe auch Kap. 10 bis 14)
127
Bedeutung kognitiver Veränderung:
 unmittelbare Erweiterung der Denkoperationen
 qualitative Verbesserung der Informationsverarbeitungskapazität
 Veränderung bewusstseinsbildender Prozesse. Die u.a. auf der Nutzung des Potentials
aus den beiden ersten Punkten beruht
 kognitive Voraussetzungen für besseren Umgang mit Komplexität, für Einnahme von
Meta-Perspektiven...
Charakteristika kognitiver Veränderungen:
Denken in Möglichkeiten: Denken bleibt nicht länger auf das Wirkliche beschränkt.
 Fähigkeit, hypothetisch zu denken
Abstraktes Denken: wird besser und umfassender  z.B. begriffliche Abstraktion, Erfassen
von Sinnstrukturen im Kontext gesellschaftlicher, sozialer, ideeller Sachverhalte, bezogen
auf Politik, Wirtschaft, Moral...
Metakognition: Die eigenen Gedanken werden Gegenstand des Denkens  z.B. Bewusste
Fokussierung der Aufmerksamkeit, Reflexion und Evaluation eines Denkvorgangs.
Möglichkeiten der Organisation und Optimierung kognitiver Aktivitäten
Multidimensionales Denken: Es können zunehmend mehr Aspekte in den Denkprozess
einbezogen und verarbeitet werden  z.B. Argumentation aus versch. Positionen und mit
unterschiedlichen Zielen
Relativität des Denkens: hinsichtlich der Bedeutung von Kriterien als Bezugssysteme in
Bewertungs- und Entscheidungsprozessen
Erklärungen kognitiver Veränderungen:
Strukturgenetischer Ansatz: bis vor 20 Jahren dominierte die Orientierung an Piagets
Theorie der kognitiven Entwicklung  Aufbau formaler Operationen = Erwerb der zur
Generierung mathematisch-logischer Systeme erforderlicher Denkstrukturen
Psychometrischer Ansatz: Erforschung quantitativer Veränderungen kognitiver Fähigkeiten
und diesbezüglicher individueller Unterschiede, die anhand von Intelligenztestverfahren
erfasst werden (z.B.: IQ ab der frühen Adoleszenz zunehmend stabil)
Informationsverarbeitungsansatz:
differenziert Teilfunktionen und spezifiziert deren
Bedeutung für kognitive Fähigkeiten
 Leistungsverbesserung im Bereich der selektiven und distributiven Aufmerksamkeit
 Bessere Gedächtnisleistung sowohl in KZG als auch in LZG
 Metakognition
Soziale Kognition: zunehmende Differenziertheit in der Personenwahrnehmung und
Urteilsbildung; Fortschritte im Erkennen von Perspektivität  Fähigkeit zur Rollenübernahme
Formales Denken:  Möglichkeit der Dekontextualisierung
Chandler (1987) verweist diesbezüglich auf die Notwendigkeit, in Fragen der
Weiterentwicklung des Denkens den Rückbezug auf konkrete Lebensbedingungen
einzubinden
128
Jugendlicher Egozentrismus:
Physische Veränderungen und Veränderungen der sozialen Interaktion sind Anlass, die
Aufmerksamkeit auf die eigene Person zu zentrieren und gleichzeitig eigene Gedanken und
Gedanken anderer zu konzeptualisieren.
Mögliche Folgen:
Imaginery audience: der Jugendliche schreibt den Fokus seiner eigenen Aufmerksamkeit –
nämlich die eigene Person- anderen in gleicher Weise zu und verhält sich deshalb wie für ein
imaginäres Publikum
Personable Faible: Empfinden einer völligen Individuation, die die Vorstellung ausschließt,
dass eigene Gefühle, Handlungen, Entscheidungen für andere in gleicher weise zutreffen
können.
Generell: Führt die erhöhte Selbstaufmerksamkeit im Jugendalter zur Wahrnehmung der
Gefährdung oder Verletzung des Selbst, sowie zur Bildung eines idealen Selbst.
Körperliche und Psychosexuelle Entwicklung
 Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung
Körperwachstum und Motorik
Körpergröße und Gewicht:
Endgültige Größe mit 16 bis 18 Jahren erreicht (Mädchen ca. 2 Jahre früher)
Körpergewicht nimmt auch im Erwachsenenalter noch zu, abhängig von körperl. Belastung
und Ernährung.
Wachstumsschub mit 12/13 Jahren (bei Mädchen) bzw. mit 14/15 Jahren (bei Jungen).
Körperteile wachsen nicht alle mit synchroner Geschwindigkeit:
1. Kopf, Hände, Füße
2. Beine, Arme
3. Rumpf
 vorübergehend schlaksige, ungelenke Bewegungen
Zunahme der Muskelkraft:
v.a. bei Jungen
Geschlechtsreifung (biosexuelle Entwicklung)
verursacht durch eine beträchtliche hormonale Umstellung
Körperliche Veränderungen bei der Geschlechtsreife
Entwicklung der primären und der sekundären Geschlechtsmerkmale in einer ziemlich
festgelegten Reihenfolge (siehe S.278, Tab. 7.1);
Typische Entsprechungen zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen, wobei die
korrespondierenden Entwicklungsabschnitte bei Mädchen um rund 2 Jahre früher stattfinden.
Verhältnis von Schulter- zu Hüftbreite verkleinert sich bei Mädchen und vergrößert sich bei
Jungen radikal.
129
Große individuelle Unterschiede in Reifungsgeschwindigkeit  Entwicklung kann nicht
eindeutig bestimmten Zeitmarken des Lebensalters zugeordnet werden.
Die erste Menstruation bzw. Ejakulation findet immer früher statt.
Veränderungen im Hormonhaushalt
Wachstumshormone:
Hypophysenhormon Somatotropin: unmittelbarer Einfluss auf Gesamtwachstum des Körpers
Schilddrüsenhormon Thyroxin: Erzeugung nur auf Anweisung der Hypophyse; Einfluss auf
Wachstum des Gehirns, der Zähne und der Knochen
Hormone in der Pubertät:
Hypophyse erhält von Hypothalamus den befahl, neue Hormone zu produzieren, die die
Keimdrüsen (gonadotrope Hormone) und die Nebennierenrinde (adrenocortikotropes
Hormon: ACTH) anregen.
Jungen: (ab etwa 11 Jahren) Hoden, Nebennierenrinde  Testosteron und Androgen 
Herstellung von Samenzellen, Wachstumsschub...
Mädchen: (ab etwa 9 Jahren) Eierstöcke, Nebennierenrinde  Östrogen und Progesteron 
Entwicklung der Brüste, Schambehaarung, Fettbildung, Menstruationszyklussteuerung...
Akzeleration und Retardation
 frühere bzw. spätere Reifung im Vergleich zum Altersdurchschnitt
Säkulare Akzeleration:
Biologische Reife setzt im Laufe der Zeit immer früher ein (z.B. durchschnittliches
Menarchealter in Deutschland um 1900: 16.2 Jahre. Heute: ca. 12 Jahre)
Kluft zwischen biologischen und sozialem Erwachsensein wächst immer mehr.
Individuelle Akzeleration und Retardation:
Nirgendwo sonst im Leben unterscheiden sich Gleichaltrige so deutlich voneinander wie im
Jugendalter.
Der kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsstand kann –im Vergleich von körperlich
unterschiedlich weit entwickelten gleichaltrigen Jugendlichen- gleich bei allen drei
körperlichen Reifegrad oder sogar in umgekehrter Reihenfolge liegen, so dass die am
kindlichsten Aussehenden evtl. sozial am weitesten entwickelt sind.
Problem: Umwelt reagiert v.a. auf die äußeren Unterschiede bei Jugendlichen.
Auswirkungen:
Spätreifende  unausgeglichener, unzufriedener, negativeres Selbstkonzept, weniger
Verantwortungsbewusst
Frühreife  leichter Anschluss an ältere Peergroups  höheres Risiko für Drogenkonsum
frühreife (amerik.) Mädchen  Abweichung von kulturellen Normen von Schlankheit und
Grazie für Frauen durch früh erreichte Werte von Körpergröße und Gewicht  weniger
beliebt, Unterordnung... (die verschiedensten Ergebnisse)
Das Körperselbstbild bei Jugendlichen
Acht Dimensionen des Körperselbstbildes bei 12- bis 16 Jährigen (Mrazek, 1987):
130
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Fitness und Sport
Äußeres und Körperpflege
Figurprobleme
Narzissmus (Ich finde meinen Körper schön)
Körperentfremdung und Gesundheitsprobleme
Rauchen und Alkohol
Körperkontakt mit Verwandten
Naschen
Mit zunehmendem Alter wurden Narzissmus und Körperpflege wichtiger.
Geschlechtsunterschiede:
Bei Mädchen dominiert das kulturelle Schönheitsideal der Schlankheit/des Untergewichts
 Vorliebe erwachsener Frauen für Mädchenhaftigkeit
 Unzufriedenheit steigt mit dem Gewicht
 negativeres und differenzierteres Körperselbstbild als Jungen
Bei Jungen wird Gewichtsabnahme fast ausschließlich negativ bewertet
 Ideal des männlichen und nicht des jungenhaften Körpers
Faktoren von Roth (1998):
Roth fand weiter Dimensionen des Körperselbstbildes. Z.B. Vertrauen und Misstrauen in die
eigene Körperdarstellung, private und öffentliche Selbstaufmerksamkeit, externale und
internale Komponente der Kontrollüberzeugung, Zufriedenheit mit Figur vs. Zufriedenheit mit
Physiognomie
Altersbedingte Veränderungen:
Jugendliche der mittleren Adoleszenz zeigen größeres Vertrauen als jüngere in ihre
körperliche Selbstdarstellung und eine geringere externale Kontrolliertheit.
Mädchen werden tendenziell unzufriedener mit ihrer Figur, Jungen zufriedener.
Schlichte Aufklärung kann für die Bewältigung körperlicher Probleme eine gr0ße Hilfe sein.
Sexuelle Orientierung und Sexualverhalten
Die Entwicklung des Sexualverhaltens ist ein kompliziertes Zusammenspiel zwischen
biologischen Faktoren (hormonelle Entwicklung) und den psychosozialen Bedingungen, wie
den erotischen Stimuli, die eine Kultur bereithält (z.B. in den Massenmedien), den sozialen
Kontakten und den Settings, die Gelegenheit zu erotischen Erfahrungen bieten.
Auch die Erfahrung der Eltern im Umgang mit Sexualität und die eigene frühe Erfahrung von
Zärtlichkeit spielen eine Rolle.
Eine Entwicklungstheorie sexueller Orientierung
Die Geschlechtertrennung etwa ab Schuleintritt scheint ein notwendiger Entwicklungsschritt
auf dem weg zur sexuellen Attraktivität im Jugend- und Erwachsenenalter zu sein.
Wie kommt es zu homosexueller Neigung?
Daryl J. Bem (1996) bietet eine Erklärung, die biologische, sozialpsychologische und
entwicklungspsychologische Aspekte vereinigt:
Biolog. Variablen (Gene, pränatale Hormone)  kindliches Temperament  Bevorzugung
typisch männlicher (wild) oder typisch weiblicher (ruhig) Spiele und Aktivitäten 
131
Bevorzugung von Peers mit gleichen Vorlieben  ist das Kind Geschlechtskonform, wird das
andere Geschlecht unähnlich, unvertraut und schließlich exotisch  Gefühl der Fremdheit
und Exotik  Erregung des autonomen Systems 
Zunächst Antipathie und Unbehagen bei Anwesenheit des anderen Geschlechts; später
Transformation der Erregung in erotisch-romantische Attraktion
Das Exotische wird erotisch (auch wenn es sich um das gleiche Geschlecht handelt).
Erklärungen:
Extrinsischer Erregungseffekt: Im Zustand starker Erregung, die nichts mit sexueller
Stimulation zu tun haben muss, wirkt eine Begegnung mit Sexualpartnern erregend.
Vgl. Zweifaktorentheorie der Emotionen von Schachter und Singer (1962):
Der erste Faktor ist die physiologische Erregung, der zweite stellt die inhaltliche
Einschätzung der jeweiligen Situation dar, in der die Erregung auftritt. So kann der gleiche
Erregungszustand unterschiedliche Gefühle von positiv bis negativ auslösen.
Gegenläufiger Prozess: Eine negative Emotion wird durch eine positive aufgefangen und
umgekehrt. So mag sich die negative Emotion gegenüber den exotischen Peers ins Positive
verwandeln.
Prägungseffekt: bei Tieren für Festlegung auf Sexualpartner nachgewiesen.
Würdigung des Modells:
Versuch, Hetero- und Homosexualität durch die gleichen Prozesse und Bedingungen zu
erklären
Primitiven genet. Biologismus vermieden
Kurzzeit- und Langzeitstrategien des Sexualverhaltens
 evolutionäres Modell sexueller Strategien bei der Partnersuche nach Buss und Schmitt
(1993)
Selektionsprobleme:
Siehe S. 286, Tab. 7.3
Kurzzeitstrategien des Sexualverhaltens sind für Männer wesentlich attraktiver als für
Frauen, da Männer biologisch den größten Fortpflanzungseffekt erreichen, wenn sie
möglichst viele Frauen kontaktieren können.
 Frauen suchen nach potentiell langfristigen Partnern
 Männer suchen nach Partnerinnen mit sexueller Bereitschaft bei Minimierung der Kosten
und des Aufwandes
Kulturelle Einflüsse:
In unseren westlichen Kulturen, die eine individuelle Identität hervorbringen bestehen viele
Freiheitsgrade bei der Partnersuche und eine große Variationsbreite an sexuellen Praktiken
und Strategien bei der Partnersuche. Das Leistungsdenken wird auch auf die Sexualität
übertragen.
Befunde:
Bei beiden Geschlechtern Bevorzugung kurzfristiger Strategien, d.h. die Bemühung, mit
vielen potentiellen Sexualpartnern in Beziehung zu kommen.
132
Erste und häufigste Strategie: (zunächst unverbindliches) Dating
Salisch und Oswald (1989): Mädchen wünschen Verstehen, Vertrauen, Rücksichtnahme,
Treue, Liebe; Jungen wünschen gutes Aussehen.
Jaspers und Mosebach (1990): Jungen sehen Sexualität losgelöst von der Beziehung,
unabhängig; Mädchen sehen Sexualität als in die Beziehung eingebettet.
Wenzel (1990): nach Auswertung von Bravo-Leserbriefen
 bei Jungen und Mädchen Leistungsdruck
 Jungen sehen sich eher aktiv, Mädchen finden sich mit passiver Rolle ab
 Bezüglich der Lanzeitstrategien sind Jugendliche beiden Geschlechts eher konservativ:
beide äußern eine klare Langzeitperspektive und betonen die Werte der Bindung, Treue...
Drei Thesen der Sexuellen Entwicklung
nach Schmid-Tannwald und Kluge (1998)
Beschleunigung:
Eindeutige Vorverlagerung sowohl hinsichtlich der Geschlechtsreife als auch in Bezug auf
die erste Koituserfahrung.
Sexualalter: nicht das chronologische Alter, sondern die Jahre der Geschlechtsreife sind
entscheidend für den sukzessiven Anstieg der Koituserfahrung.
Annäherung:
Die Geschlechter nähern sich im Sexualverhalten an. Dies gilt bereits für die Sexualreife:
Fast kein Unterschied mehr zwischen Zeitpunkten der ersten Koituserfahrung.
Religiöser Einfluss:
In evangelischen Familien wird häufiger als in katholischen oder konfessionslosen Familien
über Sexualität und Partnerschaft gesprochen.
Kath. Eltern sind stärker gegen Koitus im Jugendalter. Dennoch berichten kath. Mädchen am
häufigsten über Sexualkontakte.
Jugendliche mit eng religiöser Bindung haben die geringste Koituserfahrung.
Zur Relation zwischen Wissen und Verhalten
nach Erhebungen von Kluge & Schmid-Tannwald
 Mangelhaftes und falsches Wissen als Ursache für ausbleibende Verhütung. Z.B. Können
deutsche Jugendliche zu einem Großteil das Empfängnisoptimum nicht richtig benennen.
Im geschlechtlichen Vergleich erweisen sich Mädchen als kundiger und interessierter.
Die meisten Jugendliche werden nach wie vor von Freunden aufgeklärt oder holen sich Infos
aus Büchern.
Zur Prävention früher Sexualkontakte
nach Schmidt, 1993
Frühe Sexualität ist „bürgerlich“ geworden, und darf von den Jugendlichen im Elternhaus
ausgeübt werden.
 positives Stützsystem
133
Die Verfrühung des sexuellen Interesses und Sexualverhaltens kann durch funktionelle
Äquivalenz anderer Aktivitäten aufgefangen werden., die ebenfalls mit dem
Erwachsenenstatus, der bewussten Abweichung von soziokulturellen Normen, der Befreiung
und Selbstdurchsetzung verbunden sind.
Sexuelle Aktivität ist Teil der gesamten Identitätsformung und muss somit als
Teilkomponente (sexuelle Identität) in den Gesamtentwurf von Persönlichkeit integriert
werden.
Neuerdings gibt es eine Bewegung (=Trendwende oder Modeerscheinung?) zurück zur
Keuschheit bis zur Ehe. Vgl. Britney Spears
Identität: das zentrale Thema des Jugendalters
Zum Begriff der Identität
 wichtige Identitätskomponente im Jugendalter: das eigene Verständnis für die Identität,
die Selbsterkenntnis und der Sinn für das, was man ist bzw. sein will
Abgrenzung zum Selbst:
Definition von Selbst:
1. Das Wesentliche einer Person, Kern des Persönlichkeitssystems
2. Akteur/Agent
3. Selbstwahrnehmung, Selbsterkenntnis Selbstkonzept: affektive Komponente mit
Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl; kognitive Komponente mit dem Wissen und
der Wahrnehmung von sich;
Der Identitätsbegriff geht auf Erikson (1968) und der Begriff des Selbst auf James (1890)
zurück.
Mead (1934): Die Reaktion des Subjekts auf die Gesellschaft = „I“
Andere Autoren unterscheiden zwischen dem privaten/persönlichen Selbst und dem
öffentlichen/sozialen Selbst (Goffman, 1963). Dabei entsteht das soziale Selbst aus dem
Bild, das die anderen sich von einem machen, und das dann wiederum vom Individuum
erfasst wird.
 „Looking-glass-self“ (Cooley, 1922), weil das Individuum durch die Brille der anderen
sieht.
Burns (1982): das selbst, das ich bin (real); das Selbst, das ich sein möchte (ideal), und das
Selbst wie andere mich sehen.
Humanistische Psychologie (Bugental, Maslow, Rogers): wahres Selbst/Zentrum, das
freigelegt werden muss
Existentialphilosophen (Heidegger, Sartre): Selbst als Vakuum. Das Individuum soll
bestehende Konventionen übernehmen, soziale und persönliche Identitäten wählen, die sein
existentielles Vakuum maskieren.
Ausgangspunkt für uns: Identitätsbegriff nach Erikson:
1. Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“
2. Herausbildung einer neuen Ganzheit, in der die Elemente des „alten“ mit den
Erwartungen an die Zukunft integriert sind.
3. fundamentale Erfahrung von Kontinuität und Selbstsein
4. realistische Einschätzung der eigenen Person und Vergangenheit
134
5. sowie der eigenen Kultur und deren Erwartungen an die eigene Person
6. kulturelle und soziale Erwartungen werden kritisch hinterfragt
7. bzgl. fundamentaler Probleme wie die berufl. Zukunft die Partnerbeziehungen und
religiöse und polit. Standpunkte
8. persönliche Verpflichtungen in diesen Bereichen
9. produktive Integration in die Gesellschaft
10. Gefühl der „Loyalität und Treue“
11. tiefes Gefühl der Verwurzelung und des Wohlbefindens, der Selbstachtung und
Zielstrebigkeit
12. Die sensible Phase für die Entwicklung der Identität ist die Adoleszenz
Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung sind die zwei Prozesse, die die Identitätsentwicklung
vorantreiben.
Identitätsentwicklung: Voller Tumulte oder ruhiges kontinuierliches
Wachstum?
Entgegen der allgemeinen Vorstellung (auch lange Zeit in der Psychologie) der Jugend als
eine Zeit des „Sturm und Drang“ gibt die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen an, keine
tiefgreifenden Probleme zu haben und mit den Eltern und Peers gut zurecht zu kommen
(Offer et al., 1988) und sich wohl zu fühlen.
Dabei fühlen sich Mädchen häufig weniger attraktiv, labiler und unausgeglichener.
 Längsschnittstudien: Komponenten des Selbstkonzepts wie allgemeine Zufriedenheit,
Emotionskontrolle, Selbstakzeptanz und Aussehen bleiben im Selbsturteil der Jugendlichen
relativ stabil.
Stabilität des Selbstkonzepts:
Würde es sich, wie früher oft angenommen, um ein Stadium des Tumults oder gar des
Zusammenbruchs aller bisherigen Werteinstellungen handeln, so müsste sich das in einer
sehr schwankenden Selbstbeurteilung bemerkbar machen, die Korrelationen müssten
niedrig oder gleich Null sein. Dieses Resultat ist aber in keiner einschlägigen Untersuchung
aufgetreten.
 Das Selbstkonzept, hauptsächlich gemessen als Selbsteinschätzung, verändert sich im
Jugendalter zu keinem Zeitpunkt dramatisch. Vielmehr bleibt es über die lange Zeitspanne
der Jugend relativ stabil. Die absolute Höhe der Selbsteinschätzung steigt bei wiederholter
Erfassung, also im Längsschnitt, an. Dieses Ergebnis kann aber auch mit der durch die
Untersuchung bewirkten Erhöhung der Selbstaufmerksamkeit zu tun haben.
Im Querschnittvergleich zeigen Kontrollgruppen und Altersgruppen keinen oder nur einen
geringen Anstieg des Selbstwertes mit zunehmendem Alter.
Die Struktur der Identität und ihre Veränderung im Jugendalter
Wachsende Komplexität der Identität
Erfasst man die Selbstbeschreibungen Jugendlicher über längere Zeit hinweg, so zeigt sich,
dass sie differenzierter und zunehmend organisierter werden (Pinquart & Silbereisen, 2000):
 Konstruktion kontextbezogener Selbsts: z.B. gegenüber andersgeschlechtlichen Peers bin
ich unsicher, gegenüber gleichgeschlechtlichen aber selbstsicher.
 Realbild und Idealbild werden immer deutlicher getrennt
 Trennung von authentischem und unauthentischem Selbst.
135
 Jugendliche lernen allmählich, sich auch aus der Sicht anderer zu sehen.
 Einbeziehung der Zeitdimensionen: So war ich, so bin ich, so möchte ich sein. Kinder
beschreiben sich dahingegen gewöhnlich gegenwartsbezogen
Methode der Selbstbeschreibung:
Ermöglicht man Jugendlichen, in umfangreichen Gesprächen über sich zu erzählen, dann
stellt sich Identität als sehr komplexes Gebilde dar (Mey, 1999). Die Selbstbeschreibungen
erweisen sich dabei als Entwürfe oder Konstruktionen der eigenen Identität, die sich nach
der jeweiligen Bedürfnislage und den Erfahrungen richten. Solche narrativen
Selbstbeschreibungen haben wenig mit den Messergebnissen von Fragebögen gemeinsam
und können schon innerhalb eines Jahres drastisch umgeschrieben werden (sowohl
inhaltlich als auch darstellungsstrategisch).
 Identität kann nicht wie Selbstkonzeptmessungen mit Hilfe stabiler Merkmale beschrieben
werden, sondern eher als umfassendes Konstrukt des Selbst in seiner jeweiligen
Erfahrungswelt.
Die vier Formen des Identitätsstatus nach Marcia
 Erfassung des Aktuellen Identitätsstatus von Marcia, 1966, durch Erfassung des
Ausmaßes an Verpflichtung in verschiedenen Bereichen wie Beruf, Religion und Politik.
 Vier Formen der Identität: diffuse Identität, Moratorium, übernommene und erarbeitete
Identität
 Kennzeichnung einzelner Bereiche des Lebens, mit denen sich die Jugendlichen
auseinander zu setzen haben, hinsichtlich dreier Dimensionen:
 Krise: Ausmaß der Unsicherheit, Beunruhigung oder Rebellion, das mit der
Auseinandersetzung verbunden ist
 Verpflichtung: Umfang des Engagement und der Bindung in dem betreffenden
Lebensbereich
 Exploration: Ausmaß der Erkundung des in Frage stehenden Lebensbereichs mit dem
Ziel der besseren Orientierung und Entscheidungsfindung
Keineswegs ist damit zu rechnen, dass alle Jugendliche auch alle vier Identitätszustände
durchlaufen und dass die Identitätsausprägung zwangsläufig bei er erarbeiteten Identität
endet.
Waterman (1982):
 Progressiver Verlauf: über Moratorium zur erarbeiteten Identität
 Regressiver Verlauf: endet bei diffuser Identität
 Stagnierender Verlauf: verweilt entweder bei der übernommenen oder bei der diffusen
Identität.
Siehe S.297, Tab.7.5: „Kennzeichen der 4 Identitätszustände nach Marcia“
Untersuchungsbeispiele zur Identität als Struktur
Meilman (1979): fand einen nahezu idealtypischen Verlauf, bei dem der prozentuale Anteil
an erarbeiteter Identität mit dem Alter steigt.
Archer(1982): Noch in der 12 Klasse besaßen 81% eine diffuse und übernommene Identität
 Erklärung dafür, dass in den Selbstkonzeptfragebögen kaum krisenbezogene oder
problemanzeigende Urteile auftraten.
136
Identitätsformung und Bewältigungskonzepte:
Neuenschwander (1996) bemühte sich um eine stringente Prüfung des Marcia-Ansatzes.
Seine Theorie: Kritische Lebensereignisse  die Identitätsformung kommt in Gang 
Anstieg des Selbstwertes  Neue werte motivieren und werden richtungsweisend 
wachsende Kontrollüberzeugung („ich kann meine Ziele Verwirklichen“) integrierte Identität
Befunde: Offenbar stehen zu Beginn des Identitätsformungsprozesses herausragende
Lebensereignisse; die Steigerung des Selbstwertes steht zeitlich vor der Festigung der
Kontrollüberzeugung
Erweiterung des Identitätsspektrums
Vier Formen diffuser Identität:
Die
Anzahl
der
Jugendlichen
ohne
feste
Wertorientierung,
mit
geringer
Verpflichtungsneigung und geringer Stabilität ist stark angewachsen (= diffuse Identität).
Entwicklungsdiffusion: Übergangsform zum Moratorium oder zur erarbeiteten Identität.
Sorgenfreie Diffusion: Person erscheint angepasst, sozial kontaktfreudig. Die Kontakte sind
jedoch oberflächlich und von kurzer Dauer. Sie hat keine verbindlichen Werte.
Störungsdiffusion: als Folge eines Traumas, das mit einem Mangel an inneren und äußeren
Ressourcen einhergeht  Isolation, Größenphantasien
Kulturell adaptive Diffusion: möglicherweise die Diffusion der Zukunft (in unserer Multi-KultiGesellschaft).
V.a. dann, wenn Unverbindlichkeit, Offenheit und Flexibilität gefordert werden.
Sowohl berufl. Als auch privat erscheint es dann angemessen, sich nicht festzulegen, um
den soziokulturellen Anforderungen gerecht zu werden.
Traditionaler Typ:
= eine Ausdifferenzierung der kulturellen Diffusion bei deutschen Jugendlichen nach Kraus
und Straus (1990)
Man bleibt beim Gewohnten (jedoch ohne Überzeugung  Unterschied zu übernommener
Identität) und schreckt vor Neuem und Fremdem zurück. Man wiederholt die elterlichen
Muster, aber das „Identitätserbe“ ist zu einer bloßen „Identitätshülse“ geworden.
Surfer:
Erfolgreich in einer gefälligen Selbstrepräsentation und in rascher Kontaktherstellung ohne
das Merkmal tieferer Verpflichtung:
„waches, spielerisches Dahingleiten mit ständiger Positionskorrektur“
Isolierte:
v.a. bei diskontinuierlicher Berufsbiographie in Verbindung mit der Konflikthaftigkeit der
Herkunftsfamilie.
Es fehlen äußere und innere Ressourcen. Normalität ist Identitätsziel.
Patchworkidentität:
Elkind (1990): ohne integrative Kraft zusammengesetzt, ohne Identitätskern. Werthaltungen
und Gewohnheiten stehen unverbunden nebeneinander und widersprechen sich teilweise.
137
Patchworkidentitäten sind im Arbeitsleben der modernen Gesellschaft durchaus funktional,
weil man besser mit der Unvereinbarkeit verschiedener Lebensbereiche zurecht kommt.
Identität zwischen Widerspruch und Stimmigkeit
Erst die Fähigkeit zur Selbstreflexion setzt das Ringen um Identität in Gang. Die
Selbstreflexion führt aber auch zum Bewusstwerden der Diskrepanz zwischen Ideal- und
Real-Selbst, was schmerzvoll sein kann
Selbstdiskrepanz-Theorie
 Higgins (1987)
Ideal-Selbst: Zukunftsentwurf/Wunschvorstellung der eigenen Identität
Sollen-Selbst: die innere Repräsentation der Verpflichtungen und Aufgaben, die von
Gesellschaft und Bezugsgruppen herangetragen werden.
Vier Formen der Selbstdiskrepanz:
1) Aktual- Selbst versus Ideal-Selbst:
 Enttäuschung und Unzufriedenheit
2) Aktual-Selbst versus Aktual-Andere:
Selbstbild stimmt nicht mit Fremdbild überein
 Scham, Verlegenheit, Niedergeschlagenheit
3) Aktual-Selbst versus Sollen-Andere:
Der aktuelle Stand der Selbstattribute, so wie sie das Individuum wahrnimmt, stimmt nicht
mit dem Sollen-Zustand überein, wie er von signifikanten anderen gewünscht wird.
 Furcht, Bedrohung, weil Gefahr oder Schmerz erwartet wird
4) Aktual-Selbst versus Sollen-Selbst:
Aktueller Stand der Selbstattribute stimmt nicht mit eigenen Vorstellungen über die Aufgaben
und Verpflichtungen überein.
 Schuld, Unbehagen, Selbstverurteilung
Empirische Überprüfung:
 Lösen unterschiedliche Formen der Diskrepanz tatsächlich unterschiedliche Emotionen
aus? Ja!
Jugendalter:
Für selbstreflexive Jugendliche ist sicherlich die Real-Ideal-Diskrepanz ein zentrales Thema.
Der Selbstdiskrepanzansatz liefert auch Hinweise auf den Identitätsstatus:
Moratorium und erarbeitete Identität lassen sich durch ein hohes Maß, übernommene und
diffuse Identität durch ein geringes Maß an Selbstdiskrepanz kennzeichnen.
Theorie der symbolischen Selbstergänzung
 Ansatz für das Verständnis von Identitätsentwicklung nach Gollwitzer & Wicklund (1985)
Ein Individuum benutzt Indikatoren in Form von Symbolen für seine Selbstdefinition, da das
Psychische selbst ja nicht greifbar ist. Diese Symbole werden so gewählt, dass sie der
sozialen Umwelt die Selbstdefinition vermitteln.
138
Beispiele für Symbole Jugendlicher sind:
a) Kleidung, Accessoires, Frisur. Verbale Ausdrücke, Musikvorlieben... (Symbole aus der
Subkultur)  diese vermitteln ihre Selbstdefinition den Peers gegenüber
b) gute Schulleistungen, beruflicher Erfolg, Drogenmissbrauch... (Symbole aus der
Erwachsenenkultur)  diese Vermitteln ihre Selbstdefinition den Erwachsenen
Erfährt eine Person den Verlust eines Indikators für das Selbst, so trachtet sie danach,
diesen Defekt durch symbolische Selbstergänzung (Vervollständigung) auszugleichen, wobei
sie sich auf ihr Idealbild von sich bezieht.
Problem: die mit der symbolischen Selbstergänzung verbundene Realitätsverzerrung.
 wer sich für seine Identitätsziele entscheidet, will sie als symbolische Selbstergänzung um
jeden Preis realisieren.
Spezifische Bedeutung im Jugendalter:
Die Theorie der symbolischen Selbstergänzung erklärt, sofern man die Wirkung der erhöhten
Selbstaufmerksamkeit mit einbezieht, warum gerade im Jugendalter so starke Bemühungen
um Identitätsformung einsetzen.
Es ist die beginnende Selbstreflexion, die zugleich eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit mit
sich bringt und eine hohe Sensibilität für Defizite bzw. Verletzungen des Selbst erzeugt.
Kompensatorische Bemühungen um die Vervollständigung des Selbst können dabei hohe
oder geringe Realitätsnähe haben. Wenn schulische und berufliche Leistungen sowie
Akzeptanz im sozialen Umfeld erreicht werden können, so dient die Selbstergänzung der
angemessenen Identitätsentwicklung. Wenn andererseits solche Möglichkeiten ausfallen, so
mündet die Bemühung um Selbstvervollständigung in Drogenmissbrauch, Kriminalität und
Suche nach Anerkennung bei Extremgruppen.
Versagen solche Bemühungen gänzlich, kommt es zur Selbstaufgabe, die bis zum Suizid
führen kann.
Zwei Stufen des Identitätsverständnisses im mittleren und höheren
Jugendalter
Riegel (1980): Widerspruch (v.a. in der Phase des Moratoriums) ist der Motor von
Persönlichkeitsentwicklung/Identitätsbemühungen.
Autonome Identität:
Mensch erkennt sich und seine Möglichkeiten richtig, hat feste Lebensziele und
Wertvorstellungen, denen er sich verpflichtet fühlt, und er hat Kontrolle über sich
 Widersprüche werden durch konsequentes Handeln, das sich an den Wertmaßstäben
orientiert, ein für alle mal aufgehoben.
Mutuelle Identität:
Meist erst im frühen Erwachsenenalter: qualitative Strukturveränderung
Der Mensch ist ständig Widersprüchen ausgesetzt (unvereinbare LebensIdentitätsentwürfe), durchlebt permanent Konflikte, z.B. Berufs-Familien- Dilemma.
und
 Das Menschenbild wandelt sich von der autonomen Identität zur mutuellen
(wechselseitigen) Identität: Man erkennt, dass der Widerspruch zum Menschsein selbst
gehört und dass die Identität kein selbstbestimmtes kontrolliertes Ziel ist, sondern von
139
anderen mitdefiniert wird durch die Hereinnahme des Denkens, Fühlens und Strebens
anderer, wobei die Identität des anderen ebenfalls des Austauschs bedarf.
Sozialtheorie der beiden Stufen:
Das Identitätsverständnis hat Auswirkungen auf die Sozialbeziehungen.
Auf der Stufe der autonomen Identität wird der andere ebenfalls als unabhängig,
selbstverantwortlich und einmalig konstruiert  man respektiert diese Andersartigkeit und
Autonomie, versucht nicht, sich einzumischen oder Grenzen zu verwischen.
 Aufbau von Toleranz = Grundlage für das Identitätsverständnis in demokrat. Gesellschaft.
Grundlage: Relativistisches Denken: man erkennt, dass es verschiedene Wahrheiten gibt.
Aber: Auf dieser Ebene können Konflikte nicht durch eine Synthese von widersprüchlichen
Meinungen gelöst werden. Anders auf der Stufe der
Mutuellen Identität: Die Menschen werden aufeinander bezogen konzipiert. Sie hängen
voneinander ab, indem sie wechselseitig aneinander teilhaben.
Durch dialektisches Denken werden Widersprüche aufgearbeitet und aufgelöst.
Gesellschaftl. Identität:
= dritte Stufe der Identitätskonzeption:
Individuum: Träger der Gesellschaft und von dieser bestimmt.
Man erkennt die Austauschbarkeit von Mitgliedern der Gesellschaft und die Funktionalität
des Individuums als Element eines großen, nicht durchschaubaren und nicht direkt
beeinflussbaren Systems.
 schmerzhafter Widerspruch zwischen selbsterlebter und bewusst konzipierter Einmaligkeit
und der gesellschaftlichen Anonymität und Funktionalität.
 oft Wunsch nach gesellschaftl. Veränderung
Suizid im Jugendalter
Einige Fakten zum Suizidverhalten
 bei dt. Jugendlichen zweithäufigste Todesursache
 Im Jahr 2000 begingen ca. 1500 Menschen zwischen 5 und 25 Suizid
 Frauen und Mädchen begehen häufiger Suizidversuch, Männer und Jungen vollziehen
häufiger den Suizid
 Ca. 80% aller suizidalen Akte werden vorher angekündigt; etwa 25 % der Suizidenten
wiederholen ihren Selbsttötungsversuch innerhalb von 2 Jahren
 In Deutschland: Medikamenteneinnahme und Erhängen am häufigsten
 In USA: Erschießen und Erhängen
 die meisten Suizidversuche werden zwischen 15 und 35 Jahren unternommen
Motive:
1. Soziale Konflikte, v.a. disharmonische, feindselige Familienbeziehungen
2. Liebeskummer und Partnerprobleme
3. Beachtung finden
140
Maskierter Suizid:
Z.B. überproportional viele Verkehrstote unter den Spätadoleszenten und jungen
Erwachsenen; Drogentote, die sich den Goldenen Schuss gaben...
Entwicklungsstadien der Suizidhandlung
nach Pöldinger (1968)
Stadium I: Erwägung
Aufgrund psychodynamischer Faktoren wie soziale Isolation, Identitätsverletzung etc. wird
ein Suizid in Erwägung gezogen. Starke Orientierung an Modellen aus der Umwelt (Familie,
Medien): Aufschluss über die verschiedenen Methoden des Selbstmordes. Dieses Stadium
muss nicht unbedingt zum nächsten führen.
Stadium II: Abwägung
Schwanken zwischen Leben- und Sterben Wollen  Hauptgrund für Ankündigung von
Suizidabsichten (leider selten ernst genommen!). Schließlich Fazit-Tendenz für oder gegen
das Vorhaben
Stadium III: Entschluss
Heimliches Vorbereiten des Selbstmordes. Der Betroffene erscheint ruhig. Der Entschluss
bindet die Person an die Intention der Selbsttötung.
Suizidales Verhalten als Identitätsproblem
Ausgehend von der Diskrepanztheorie (Higgins, 1987) kann man annehmen, dass
Selbsttötungstendenzen aus einer Identitätsstörung resultieren: Der Widerspruch zwischen
selbstgesetzten Standards und dem aktuellen Status ist allzu gravierend.
Nach der Theorie der symbolischen Selbstergänzung (Golwitzer & Wickelund, 1985) ist der
Verlust von Indikatoren für ein stabiles Selbst so groß, dass er aus Sicht der Betroffenen
nicht ausgeglichen werden kann.
Suizidtheorie:
Baumeister (1990): Suizid = Flucht vor dem Selbst
Weg zum Suizid = Auseinandersetzung mit sich selbst mit unbefriedigendem Ergebnis
Sechs (notwendige) Schritte zum Suizid:
1. Wahrnehmung einer gravierenden Distanz zw. Real- und Ideal-Selbst
2. (Internale) Selbstattribuierung
3. erhöhte Selbstaufmerksamkeit
4. Angst und Depression
5. kognitive Destruktion des Selbst (Vermeidung einer rationalen Auseinandersetzung)
6. Enthemmung als Folge der Selbstdestruktion
 Suizid
Der Jugendliche im Spannungsfeld verschiedener Umwelten
Identität ist immer Identität im Kontext
141
Marginalisierung:
Nach Kurt Lewin (1936)entsteht der zentrale Konflikt des Jugendalters aus der Stellung des
Jugendlichen zwischen Kindheit und Erwachsenendasein. Diese Zwischenstellung macht ihn
-ähnlich den Angehörigen von Minderheitsgruppen- zur Marginalperson.
Als solche erfährt er von zwei Seiten zusätzliche Belastungen und Unsicherheit:
 Der Übertritt in die Jugend ist der Übertritt in einen noch unbekannten neuen
 Lebensbereich
 dramatische körperliche Veränderungen und körperliche Erfahrungen, auf die auch die
Umwelt reagiert.
Der Konflikt der Jugendlichen als Marginalperson hängt in seinem Ausmaß davon ab
 wie groß die Kluft zwischen Erwachsenenkultur und Kindheit ist
 wie ausgeprägt sich der Jugendliche selbst als Marginalperson wahrnimmt.
 Die berufstätige Jugend nimmt diese Kluft wohl weniger wahr als Schüler, Studenten oder
arbeitslose Jugendliche.
In letzter Konsequenz führt die Marginalisierung zur Entfremdung von der umgebenden
Gesellschaft und zur Wahl alternativer Lebensformen.
Die Familie als Umwelt
Auch in der Jugend spielt Familie noch eine große Rolle!
Die Transformation familiärer Beziehungen im Jugendalter
Eine wichtige Aufgabe des Erwachsenwerdens besteht in der Lösung von der
Ursprungsfamilie und im Aufbau eines eigenständigen Lebens.
Stierlin (1980) unterscheidet drei Beziehungsmodi:
1. Bindungsmodus, der die Kinder festzuhalten versucht
2. Delegationsmodus (Kinder werden zugleich festgehalten und ausgesandt)
3. Ausstoßungsmodus, bei dem das Kind vernachlässigt wird
Dreher & Dreher unterscheiden drei Ablösungsmodi:
1. Distanzierung ohne Erlaubnis  Entfremdung
2. Konfliktvermeidender Regulationsmodus mit instrumenteller Harmonisierung
3. Distanzierung mit Erlaubnis  wachsendes gegenseitiges Vertrauen
Umgang mit Dissens:
 (Fend, 1998, große Konstanzer Längsschnittuntersuchung)
Dissens zwischen Eltern und Kind ist an sich etwas Normales und muss die Beziehung nicht
nachhaltig belasten. Es kommt darauf an wie unterschiedliche Sichtweisen ausgehandelt
werden und wie man sich gegenseitig wahrnimmt.
Allgemein bedenkenswerte Verschlechterung des Wohlbefindens im Elternhaus bei beiden
Geschlechtern zwischen 12 und 16 Jahren. Danach sinkt die Anzahl der Dissenspunkte
wieder ab. Problematisch werden die Kind-Eltern-Beziehungen besonders dann, wenn beide
eine unterschiedliche Einschätzung der Situation im Elternhaus haben
Drei Familienbeziehungs- Typen:
Fend (200) hebt drei Gruppen von Familien hervor:
142
1. mehrheitl. Hoher Bildungsanspruch, viele gemeinsame Unternehmungen; schließlich
zunehmende Schwierigkeiten im Zeitraum von der siebten zur neunten Klasse:
Verringerung der Leistungsbereitschaft, Verschlechterung der Beziehung
 Eltern versuchen mit Strenge und Druck ihre Autorität zu wahren
2. Kinder erlebten die meisten Probleme in der 7. Klasse, hatten sie in der neunten
schon überwunden. Jugendliche fühlten sich zunehmend freier und akzeptierter
 Anpassung der Eltern an das wachsende Selbstständigkeitsgefühl der Kinder
3. Eltern = tolerierend, wenig bestrafend, Kinder = selbstbewusst, leistungsbereit, fühlen
sich akzeptiert
 keine Beziehungsprobleme
Wichtige Indikatoren der Eltern-Kind-Interaktion:
 Bewahrung gegenseitiger Freude aneinander durch Fehlen von Dauerkonflikten und
Aufrechterhaltung konfliktfreier Zonen
 Fairness und Gerechtigkeit durch Aushandeln von Regeln
 Gemeinsame Freizeitaktivität in früher Adoleszenz
 Wenig punitiver und stärker argumentationsorientierter Erziehungsstil
 Vermeidung von Überbehütung, aber Aufrechterhaltung unterstützender Maßnahmen
 Schaffung von Zwischenbereichen der Unabhängigkeit
 Konstruktion eines realistischen Bildes vom eigenen Kind, bei dem einerseits Wunsch und
Wirklichkeit nicht zu sehr auseinander klaffen und andererseits Übereinstimmung
zwischen dem elterlichen Bild vom Jugendlichen und seinem eigenen Bild von sich selbst
besteht
Emotionale Distanzierung und Belastungsdämpfung durch Bindung
Attachmenttheorie nach Steinberg (1989):
Während ihrer körperlichen Reifung Verringert sich die Bindung der Jugendlichen zu ihren
Eltern  Erhöhung von Gefühlen sozialer Angst und Depression
Dämpfungshypothese nach Armsden und Greenberg (1987):
Die Qualität der Bindungsbeziehung zu den Eltern ist ein Puffer für Stress und Angst in der
Übergangsperiode  Schutz vor Gefühlen sozialer Angst und Depression
Befunde:
Papini et al. (1991) haben in einer Studie beide Hypothesen aufeinander bezogen:
Eindeutige Bestätigung nur der Dämpfungshypothese  enge, sichere und warme
Beziehung zu Eltern wichtig!
Exosystem Beruf: Berufstätigkeit der Mutter:
Gerade dann, wenn die Kinder ins Jugendalter kommen, treten viele Mütter wieder ins
Berufsleben ein.
Zwei alternative Hypothesen:
1. Mutter erlebt Doppelbelastung  Stress in der Familie nimmt zu  Kinder stehen
weniger unter Aufsicht, erfahren weniger Zuwendung
2. wegen der statussteigernden und emanzipatorischen Wirkung steigert die
Berufstätigkeit das Wohlbefinden der Mutter  positiv für Familie
Dabei geht man von spillover aus, einem Überfließen der Befindlichkeit der Mutter auf die
Befindlichkeit der Kinder.
143
Als Hauptergebnis dieser Untersuchung kann festgehalten werden, dass für die frühe
Adoleszenz kein negativer Einfluss von der Berufstätigkeit der Mutter auf die Kinder ausgeht.
Familien mit berufstätigen und solche mit nicht-berufstätigen Müttern unterscheiden sich
nicht negativ hinsichtlich der Auswirkungen auf die Jugendlichen.
Erklärungen der positiven Wirkung:
Man kann vermuten, dass die Entwicklungsaufgaben der Ablösung vom Elternhaus und der
Gewinnung von Autonomie leichter bewältigt werden können, wenn die Gefahr einer
Überbehütung und Überkontrolle durch die permanente Anwesenheit der Mutter nicht
gegeben ist.
Außerdem wirkt die Berufstätigkeit der Eltern auch als Modell positiv auf die Kinder.
Die Gleichaltrigen
Die Funktion der Peergruppe
Die Gleichaltrigen gewährleisten besser als Erwachsene die Verwirklichung von Gleichheit
und Souveränität. Souveränität wird in der Peergruppe als Möglichkeit zur Selbstdarstellung
und als Verwirklichung von Zielen, die zugleich Ziele der Gruppe sind, erfahrbar.
So bewältigt die Peergruppe das Kunststück, Unabhängigkeit und wechselseitige
Abhängigkeit zu integrieren.
Bedeutung für wichtige Entwicklungsfunktionen in der Jugend nach Ausubel, Coleman,
Eisenstadt und Erikson:
 Überwindung des durch Selbstreflexion ausgelösten Gefühls der Einsamkeit
  emotionale Geborgenheit
 lässt Formen von sozialen Aktivitäten zu, die außerhalb der Gruppe zu riskant
 wären
 Unterstützung beim Ablösungsprozess von den Eltern durch die normierende Wirkung
einer Mehrheit („die anderen dürfen auch alle länger weg bleiben“)
 bietet Identifikationsmöglichkeiten, Lebensstile und Bestätigung der
 Selbstdarstellung
 Der Jugendegozentrismus kann sich ausleben: Jeder hat die Möglichkeit, die anderen als
Publikum anzusehen und sich selbst zum Mittelpunkt zu machen (z.B. Großsprecherei,
Schreien...)
Peergruppe und Subkultur
Eisenstadt (1966): Die Peergruppe und die durch sie getragene Subkultur (Jugendkultur)
bringt die gesellschaftlichen Konflikte zum Ausdruck, ist also eine von der Gesellschaft
produzierte Einrichtung  neuer Kleidungsstil, Jugendsprache, Musikstile... = Reaktion auf
die Einseitigkeit des Hauptstromes der Kultur
Subkultur: Teilkultur, die neben und mit der Gesamtkultur besteht, wobei die übergeordneten
Züge der Gesamtkultur einer Gesellschaft erhalten bleibt.
Gegenkultur: Wenn die Subkultur eindeutig als Gegengewicht zur Gesamtkultur wirkt
(gegengerichtete Normen...)
Peer-Group Culture: die Subkultur, die durch die innere Angleichung und äußere
Abgrenzung einer altershomogenen Gruppe entsteht. Gewöhnlich bezieht man sie auf die
Peer-Gruppe der Jugendlichen.
Kennzeichen einer Subkultur:
144
 sich von der Gesamtkultur abhebendes Orientierungs- und Normensystem
 deutlich abweichender Lebensstil
 Vorhandensein eines Sozialsystems (Peergruppe) als Träger eines Normensystems und
eines spezifischen Lebensstils
Hinzu kommen räumlich-zeitliche Komponenten bezogen auf die Umwelt, in der Jugendliche
lebt und die er gestaltet.
Dominanz und Altruismus in der Peergruppe: Ein Erzeugnis der Evolution?
Die dominantesten Gruppenmitglieder zeigen das ausgeprägteste prosoziale Verhalten. (vgl.
Studie von Savin-Williams, 1987  biolog.-evolutionäre Basis dieses gruppendynamischen
Phänomens)
Peergruppe: Was ist das Besondere im Jugendalter?
Stile:
Peergruppe begegnet uns meist als Clique mit einer großen Vielfalt von Ausprägungsformen
des jugendlichen Lebensstils.
Typische Merkmale, die denen des Zusammenlebens im Hauptstrom der Kultur entsprechen
(nach Sack, 1987, und Bourdieu, 1987):
 Korpus von Regeln, der
 von einzelnen erworben werden muss
 mit den beteiligten Gruppenmitgliedern abgestimmt werden muss
 wobei ein Interpretationsspielraum besteht
Zugleich ist eine Teilnahme an einer Gruppe nicht verbindlich und man kann auch mehreren
Gruppen angehören.
Auch Jugendliche, die in ihrer Gruppe Verhaltensweisen zeigen, die stark vom Hauptstrom
abweichen, passen sich im Erwachsenenalter dann meist schnell an.
Es gibt allerdings Fälle, in denen Elemente von Stilen beibehalten werden (vgl. 68er
Generation  Ablehnung bestimmter Karrieremuster...)
Die öffentlichen Gruppenstile der Jugendlichen kommen und gehen. Das dahinter liegende
Muster jedoch bleibt gleich.
Kommunikation:
Unterschiedliche Schwerpunkte in versch. Jugendgruppen:
 sprachliche Kommunikation und Argumentation
 solidarisches handeln
 nonverbale Kommunikation über integrale Objekte (z.B. Computer, Musikgruppen,
Motorräder) und homologe Objekte (z.B. Kleidung, Frisur  Symbole der
Zusammengehörigkeit und der Abgrenzung)
Jugendjargon:
Funktionen:
 er drückt Dinge kurz und knapp und oft auch simplifiziert aus und richtet sich damit gegen
den Sprachstil der Erwachsenen
 Er drückt Erlebniszustände aus, deren Beschreibung mit der Erwachsenensprache
angeblich nicht möglich ist
 Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen
145
Freundschaften, Soziale Netze und Cliquen
Cliquen und soziale Netze:
Man darf nicht vergessen, dass manche Jugendliche in keiner Clique, sondern sozial isoliert
sind.
Studie von Fend, 1998:
Isolierte und in kleine Freundschaftsnetze eingebundene Jugendliche zeigten weniger
Risiko- und Problemverhalten, dafür mehr Leistungsverhalten.
Cliquengebundene setzten
Erwachsenengesellschaft ab.
sich
am
meisten
von
den
Leistungsnormen
der
Isolierte zeigten die stärkste Erwachsenenorientierung.
Die Beliebten und Kontaktfreudigen zeigten höheres Selbstbewusstsein.
Es gibt auch deutliche Geschlechts- und Schulzugehörigkeitsunterschiede:
Mädchen lebten weniger in Cliquen als Jungen.
Am ausgeprägtesten sind Cliquenbildungen an dt. Hauptschulen, am geringsten ausgeprägt
bei Mädchen auf dem Gymnasium.
Der Wandel der Freundschaftsbeziehungen:
Freundschaften dienen immer mehr als Medium der Selbstoffenbarung  wechselseitige
Rückmeldung von Verständnis, Vertrauen...  Stabilisierung der Identität
Douvan & Adelson (1966):
In der frühen Adoleszenz sind Freunde einfach Personen, mit denen man etwas gemeinsam
unternehmen kann. In der mittleren Adoleszenz steht das Bedürfnis nach Loyalität und
Wechselseitigkeit im Vordergrund. In der späteren Adoleszenz (ab 17) wird Freundschaft
wieder zu einer entspannteren gemeinsamen Erfahrung, Freundschaft wird nicht mehr so
benötigt wie zuvor.
Auf dem Weg zum anderen Geschlecht:
Peergruppen dienen auch dazu, den Kontakt mit dem anderen Geschlecht aufzunehmen
(siehe Studie von Noack, 1990)
Mehr und mehr werden solche Orte aufgesucht, die es ermöglichen, sich dem anderen
Geschlecht zu nähern. Sowohl die Orte als auch die Peerbeziehungen sind in sofern Mittel
zum Zweck.
Studie von Dunphy (1963) zu den Stufen der Gruppenentwicklung:
Anfänglich gleichgeschlechtliche Cliquen  beginnende Vermischung, eingeleitet von
Gruppenmitgliedern mit hohem Status  heterosexuelle Cliquen, die miteinander in
Beziehung stehen  Desintegration der Mischgruppe  lose verbundene Paare, die
miteinander befreundet sind
Partnerschaft und Selbstwertgefühl:
 Berliner Längsschnittstudie von Silbereisen & Noack (1990):
Den größten Zugewinn an Selbstwertgefühl verzeichneten die Jugendlichen, die in einer
Partnerschaft waren, oder während der Erhebungszeit eine eingingen.
Bischof (1975): Hauptfunktion der Peergruppe: Schaffen des Übergangs von den engen
partikularistischen Beziehungen in der Familie zu den neuen, ebenfalls intimen und
146
partikularistischen Beziehungen zwischen Sexualpartnern, die eine dauerhafte Bindung
eingehen.
Das Mesosystem Familie – Peergruppe: rivalisierend oder komplementär?
Situationshypothese:
Studie von Brittain, 1969:
Jugendliche orientierten sich an den Erwartungen der Eltern, wenn es um Entscheidungen
für die Zukunft ging und an denen der Peers, wenn augenblickliche Status- und
Identitätsprobleme Gegenstand des Konflikts waren
Interaktionshypothese:
Fend, 1998, Walper, 1998:
Für das Mesosystem Eltern-Peergruppe ergibt sich –zumindest aus subjektiver Sicht der
Befragten- ein harmonisierendes Bild, das durch die Generalisierung des Bindungstypus
erreicht wird.
 Ähnliche Art der Bindung zu Eltern wie zu Peers
 deutliche Zusammenhänge zwischen guten Elternbeziehungen und positiven Werten bei
Peerkontakten
Zusammenfassung von Christine Gulde (Uni Bamberg)
147
Frühes Erwachsenenalter
Günter Krampen & Barbara Reichle
Kommt noch.
148
Erwachsenenalter und Alter
Ulman Lindenberger
Einleitung: S. 350
Mittleres und höheres Erwachsenenalter bezeichnen in etwas die Altersbereiche von 35 bis
65 sowie von 65 bis 80 Jahren; die Zeit nach dem 80. Lebensjahr gilt als hohes Alter.
mittleres Erwachsenenalter:
 Differenzierung und Expansion von Aufgaben, Kompetenzen und Ressourcen
 „hineinwählen“ in verschiedene Lebensbereiche (z.B.: Partnerschaft, Beruf)
hohes Alter:
 Einschränkungen erfordern Konzentration auf noch vorhandene Ressourcen
 „Abwählen“ von Lebensbereichen
Zentrale Entwicklungsaufgabe des höheren Erwachsenenalters: von Expansion zu
Konzentration
Entwicklung im Erwachsenenalter
Die generelle Architektur des Lebensverlaufs
S. 350
Aufgabe der allgemeinsten Ebene der Psychologie der Lebensspanne ist die biologische und
kulturelle Architektur des Lebenslaufs in ihren invarianten Grundzügen
Strukturierende Alterfunktionen
Baltes nennt drei interdependente Altersfunktionen:
1. die positiven Auswirkungen des evolutionären Selektionsdrucks nehmen mit dem
Alter ab
2. der Bedarf an Kultur nimmt mit dem Alter zu
3. der Wirkungsgrad von Kultur lässt mit dem Alter nach
Die Abnahme evolutionärer Selektionsvorteile mit dem Alter
 Abnahme nach der reproduktiven Phase deutlich beschleunigt
 wird nur geringfügig durch indirekte Selektionsvorteile, wie Nutzen der Großeltern für die
Enkel, abgeschwächt
 möglicher Grund ist, dass in evolutionären Zeiträumen nur sehr wenig Menschen ein
hohes Alter erreichten, so dass die Evolution nur bedingt wirkt
Die Zunahme des Bedarfs an Kultur mit dem Alter
 Kultur = alle psychischen, sozialen, materiellen und wissensbasierten Ressourcen, die
Menschen hervorbringen
 bis zur Adoleszenz die Entwicklung im Kontext der Reifung des Frontalhirns
149
 ab der Adoleszenz wird Entwicklungszugewinn zur kulturellen Aufgabe unter zunehmen
schwierigeren biologischen Bedingungen
Abnahme des Wirkungsgrads von Kultur mit dem Alter
S. 352
das biologische Potential weist eine negative Beziehung zum Alter auf, daraus folgt:
 mit zunehmenden Lebensalter sind mehr materielle, soziale, ökonomische oder
psychologische Ressourcen erforderlich, um ein hohes Funktionsniveau in einem
bestimmten Gebiet zu erhalten oder neu zu erzeugen (z.B.: mehr Trainingssitzungen um
etwas zu erlernen)
 das maximale Funktionsniveau liegt bei älteren Erwachsenen niedriger als bei jüngeren
(z.B.: die maximale Gedächtnisleistung)
Law of Pracitice
 generell ist es umso schwerer seine Leistung auf einem bestimmten Gebiet zu steigern, je
höher sie bereits ist
 je älter eine Person ist, desto höher ist ihre Wahrscheinlichkeit auf einem Gebiet bereits
sehr viel gelernt zu haben
Veränderung der relativen Ressourcenallokation
S. 353
3 allgemeine Ziele der Entwicklung
1. Zuwachs / Erreichen höherer Funktionsniveaus
2. Aufrechterhaltung
3. Regulation von Verlusten
Funktionserhalt und Verlustregulation werden wichtiger
 übergeordnetes Ziel der psychischen Entwicklung im mittleren und späten
Erwachsensalter: von einer überwiegend zuwachsorientierten zu einer erhaltenden und
verlustregulierenden Allokation von Ressourcen
 das Verhältnis zwischen den verschiedenen Zielen ist interaktiv und dynamisch
 sie können zu einander in Widerspruch geraten
Selektive Optimierung mit Kompensation
S. 354
 Baltes & Baltes (1990): Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK):
erfolgreiche Entwicklung wird durch das Zusammenspiel dreier übergeordneter
Entwicklungsprozesse hervorgebracht
1. Selektion = Auswahl von Entwicklungsbereichen
2. Optimierung = Produktion von Entwicklungsgewinnen
3. Kompensation = Aufrechterhaltung des Funktionsniveaus bei Verlusten
 erfolgreiche Entwicklung = gleichzeitige Maximierung von Gewinnen und Minimierung von
Verlusten
 die Entwicklungsprozesse können aktiv oder passiv, intern oder extern erfolgen (Bsp::
passive, externe Selektion: ein Kind wird auf ein neusprachliches Gymnasium geschickt,
weil dieses das einzige Gymnasium in der Stadt ist > beeinflusst Lebenslauf des Kindes;
externe Kompensation: Verwendung eine Rollstuhls)
150
Handlungstheoretische Ausformulierung
Elektive und verlustbasierte Selektion
S. 355
 elektive Selektion = Auswahl von Handlungszielen, die den eigenen Werten und
Kompetenzen entsprechen
 verlustbasierte Selektion = Veränderung oder Aufgeben von Zielen als Reaktion auf
Einschränkung des Verhaltensspielraums
Optimierung des Handlungsgefüges
 Anwendung von Mittel-Zweck-Relationen bei der Zielverfolgung
 Optimierung: eine Handlung soll zu möglichst vielen Zielen beitragen
Kompensation
widersprechen sich Ziele, weil nicht genügend Ressourcen vorhanden sind, um alle zu
erreichen, werden einige von ihnen abgewählt oder modifiziert und das Investment in andere
erhöht > selektive Optimierung mit Kompensation
Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation aus handlungstheoretischer
Sicht - Beispiele
Selektion
Optimierung
elektive Selektion:
- Bildung von Zielen
verlustbasierte Selektion:
- Fokussierung auf weniger
Ziele
-
Erwerb neuer Fähigkeiten
Übung
Nutzen von
Gelegenheiten
Gebrauch externer Hilfe
Kompensation
- Mobilisierung
latenter Reserven
- vermehrte
Anstrengung
Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren
Erwachsenenalter
Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung
Biologische Grundlagen
S. 356
 das Zweikomponentenmodell von Baltes (1987) unterscheidet zwischen biologischen und
kulturellen Determinanten kognitiver Leistungen
 Grundlage hierfür ist die Konsistenz der Unterschiede zwischen alterungsanfälligen und
alterungsresistenten intellektuellen Fähigkeiten
 alterungsanfällig: v.a. Leistungen, die auf Schnelligkeit , Genauigkeit und Koordination
elementarer kognitiver Prozess beruhen (z.B.: Wahrnehmungsgeschwindigkeit,
Merkfähigkeit) = Fertigkeiten = prozedurales Wissen
 altersresistent: Leistungen, die das Niveau von Fertigkeiten und die Größe und Qualität
von Wissensbeständen betreffen; diese Leistungen nehmen im Erwachsenenalter zu und
fallen erst im sehr hohen Alter ab = Wissensbestände = deklaratives Wissen
Mechanik und Pragmatik
 Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Vermögen bereits 1777 von Johann
Nicolaus Tetens ( = Vorläufer Modell)
 Kurzinfo zu Tetens:
151



1736 in Deutschland geboren
Begründer der Psychologie der Lebensspanne
1777 Hauptwerk: „Philosophische Versuche über die menschliche Natur und
ihre Entwicklung“
Fluide und kristalline Fähigkeiten
S. 361
 Theorie der fluiden und kristallinen Fähigkeiten 1971 von Catell ( =Vorläufer Modell)
 Baltes (1987): Modell der biologisch bestimmten Mechanik und der kulturell geprägten
Pragmatik der Kognition
Die Mechanik der Kognition
 Mechanik der Kognition bezeichnet die biologische Komponente der kognitiven
Leistungsfähigkeit und des kognitiven Entwicklungspotentials
 die Ursachen für den Zuwachs der Mechanik zu Beginn des Lebens sind grundsätzlich
verschieden von den Ursachen für die Abnahme in der zweiten Lebenshälfte
 Ursachen für den Zuwachs: interaktiver Aufbau neuronaler Strukturen
 Ursachen für Abnahme: nachlassender phylogenetischer Selektionsdruck und
alternsbezogene Dysfunktionen
Die Pragmatik der Kognition
S. 361
 Pragmatik der Kognition erfasst die kulturelle Dimension der intellektuellen Entwicklung
 Erwerb des pragmatischen Wissens kann normativ (z.B. allgemeine Schulpflicht),
universell in allen Gesellschaften (z.B. informelle Unterweisung durch Mentoren) oder
idiosynkratisch (z.B. professionelle Expertise) sein
Normativ-pragmatische Wissensbestände
S. 362
 Kinder investieren während der Schulzeit mechanisches kognitives Potential in allgemeine
Wissensbereiche
 pragmatisches Wissen folgt also ontogenetisch dem Mechanischen
 während das mechanische Wissen dem gegenwärtigen Leistungstand entspricht, ist das
pragmatische Wissen stärker mit sozibiographischen Faktoren verknüpft
Personenspezifische pragmatisches Wissen
 aufgrund der geringen Allgemeinheit entgeht dieses Wissen mist standardisierter Testung
Expertise
 ein großer Teil der kognitiven Zugewinne geht im mittleren Erwachsenenalter auf den
Erwerb von personenspezifischem pragmatischem Wissen zurück
 die positiven Auswirkungen der Expertise überschreiten meist nicht die Grenzen des
Entsprechenden Bereichs
 werden jenseits des Inhaltsbereichs der Expertise Effekte beobachtet, so ist eher von
einem Transfer pragmatischen Wissens auszugehen als von mechanischen
Veränderungen
 erworbenes Wissen befähigt alternde Menschen in Beug auf ihren Expertisebereich die
negativen Auswirkungen der alternsbedingten Abnahme der Mechanik abzuschwächen
152
Mechanik und Pragmatik: Evolutionäre und ontogenetische Abhängigkeiten
S. 363
 Menschen entwickeln bereits vor der Geburt Lernmechanismen und bereichspezifische
Constraints (z.B. im Bereich der Wahrnehmungsleistungen von Sprache)
 die Pragmatik der Kognition baut auf dieser vorstrukturierten Mechanik auf
 Menschen erzeugen Wissensformen (z.B. Geometrie) und Verhaltensmuster (z.B. in die
Vorlesung rennen) die nicht als direkte Konsequenz evolutionären Selektionsdruck
gesehen werden können
Interaktion von Mechanik und Pragmatik
 in der frühen Kindheit ist die Pragmatik der Inhalt für den Aufbau der Mechanik, d.h. seine
strukturelle Voraussetzung
 Höchstleistungsalter = Alter in dem ein bestimmter Leistungsbereich (z.B. Turnierschach)
optimal ausgebildet ist
 pragmatisches Wissen schwächt die Grenzen mechanischer Leistung ab
 im Laufe des Lebens verlagert sich das Potential von intellektuellem Zugewinn auf
selektive Pflege und kompensatorischer Erweiterung bestimmter Wissensbestände
Entwicklungszugewinne im Erwachsenalter: Stufenkonzeption und funktionalistische
Zugänge (Unter-der-Lupe-Kasten S. 365)
 Stufenkonzeption: Entwicklungszugewinne im Erwachsenenalter folgen einer stufenhaften
Logik
 hierfür gibt es keine überzeugenden empirischen Belege
 funktionalistischer Zugang: Betonung der lokalen und graduellen Natur des
Wissenserwerbs  Zweikomponentenmodell
Relative Stabilität intellektueller Leistungen über die Lebensspanne
S. 366
drei Aspekte intellektueller Leistungsfähigkeit:
1. Veränderung der relativen Stabilität oder dem Ausmaß, indem interindividuelle
Unterschiede in späteren durch interindividuelle Unterschiede in früheren Abschnitten
der Ontogenese vorhergesagt werden können
2. Veränderungen in der Heritabilität oder dem Ausmaß, in dem interindividuelle
Unterschiede in intellektuellen Leistungen auf genetische Unterschiede zurückgehen
3. Veränderungen im Ausmaß des Zusammenhangs (Kovariation) zwischen
verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten
Beachte: die meisten Befunde beruhen auf IQ-Tests = unspezifisches Maß intellektueller
Leistungsfähigkeit
Verhalten im Säuglingsalter als Prädiktor intellektueller Leistungsfähigkeit
S. 366
Habituations- und Wiedererkennungsverhalten
 im Gegensatz zu früheren Befunden mit standardisierten Maßen der
Säuglingsentwicklung
haben
Arbeiten
mit
Habituationsund
Wiedererkennungsparadigmen (vgl. Kapitel zehn und zwölf) ein beachtliches Ausmaß an
relativer Stabilität zwischen Säuglingsverhalten und Intelligenz im Kindesalter zum
Vorschein gebracht
153
 genauer: Unterschiede im Habituations- und Wiedererkennungsverhalten im Alter
zwischen zwei und acht Monaten korrelieren moderat mit den Ergebnissen von
Standardintelligenztest im Alter zwischen einem und acht Jahren
Inhibition und Bevorzugung von neuem
 Erklärung der Befunde: Säuglinge, die sich schneller an Reize gewöhnen und eine höhere
Präferenz für Neues aufweisen, sind eher in der Lage Handlungstendenzen, die mit
bereits bestehenden Repräsentationen verknüpft sind, zu hemmen
 Annahme: Inhibition und Bevorzugung von Neuem sind übergreifenden Merkmale der
Intelligenz
Relative Stabilität nach dem Säuglingsalter
S. 367
 im Kindesalter (1-12 Jahre) bleibt die Korrelation zwischen den Maßen des
Habituationsverhaltens und der Intelligenz ontogenetisch stabil
 aber die Korrelationen nach dem Säuglingsalter nehmen zwischen den Messungen ab
 gleichzeitig nimmt die Höhe der Korrelation, die sich auf denselben Zeitraum zwischen
den Messzeitpunkten besteht kontinuierlich bis ins späte Erwachsenenalter zu
 die Sieben-Jahres-Stabilität = Messungen mehrer intellektueller Fähigkeiten über sieben
Jahre kann als valider Indikator der generellen Intelligenz im Alter zwischen 25 und 67
Jahren gelten
Interpretation
 interindividuelle Unterschiede verändern sich zu Beginn der Ontogenese relativ schnell
 dies führt zu größeren Mengen an Varianz je Zeiteinheit verglichen mit den nachfolgenden
Lebensabschnitten
 im hohen Alter kommt es zu einer partiellen Neuordnung individueller Unterschiede
Heritabilität
S. 367
Heritabilitätskoeffizient = Ausmaß, in dem individuelle Unterschiede in einem
Verhaltensmerkmal mit interindividuellen Unterschieden in der genetischen Ausstattung
zusammenhängen
Zunahme der Heritabilität in der ersten Lebenshälfte
 genetisch bedingt individuelle Unterschiede kommen unmittelbar in der Mechanik zum
Ausdruck
 die Heritabilität nimmt in der ersten Lebenshälfte zu
 im hohen Alter geht sie auf einen Wert um 60 % zurück
Mögliche Gründe
S. 368
die relative Stabilität im Erwachsenenalter ist aus zwei Gründen besonders hoch:
1. die genetischen Varianzquellen haben sich auf hohem Niveau stabilisiert, d.h. sie
sind hoch und es kommt nur wenig neue Varianz hinzu
2. die individuellen Lebensbedingungen sind unterschiedlicher als in der frühen
Kindheit, mit genetischen Unterschieden korreliert und stabil
154
im hohen Alter könnte die Abnahme der relativen Stabilität, der Heritabilität und des
Leistungsniveaus mit dem weniger wirksamen Selektionsdruck der Genexpression
zusammenhängen
Fähigkeitsstruktur
Differenzhypothese bzw. Gesetz der nachlassenden Gewinne von Spearman: das Ausmaß
an positiver Kovariation zwischen verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten steht in
Gegenläufiger Beziehung zum durchschnittlichen Fähigkeitsniveau einer Population  das
Ausmaß an Kovariation zwischen verschiedenen Fähigkeiten nimmt demnach mit
zunehmendem Leistungsniveau ab
Veränderliches Gewicht des Generalfaktors
 die Differenzhypothese beruht auf der Annahme, dass
 niedrige Leistungen vorwiegend durch ein Ensemble bereichsübergreifender
leistungsbegrenzder Faktoren verursacht wird
 hohe Leistungen hingegen ein intaktes kognitives System voraussetzen und
vorwiegend durch bereichsspezifische Bedingungen begrenzt werden
 die Differenzhypothese legt nahe, dass der Generalfaktor Intelligenz
 im Laufe der Kindheit an Gewicht verliert
 vom Jugendalter bis in späte Erwachsenenalter relativ konstant bleibt
 im hohen Alter aufgrund der Zunahme umfassender Begrenzungen der Effizienz der
Informationsverarbeitung erneut zunimmt
Differenzierung und Dedifferenzierung
S. 369
 intellektuelle Entwicklung über die Lebensspanne kann als Abfolge von Differenzierung
und Dedifferenzierung gesehen werden
 so hat die Berliner Alterstudie für das hohe Alter (Baltes & Lindenberg, 1997) gezeigt:
 die Altersgradienten mechanischer und normativ-pragmatischer intellektueller
Fähigkeiten konvergieren im hohen Alter
 sie ergeben ein Bild des generalisierten linearen Rückgangs
 die Interkorrelationen verschiedener intellektueller Fähigkeiten sind im hohen
Alter deutlich höher und gleichförmiger als im Erwachsenenalter
(intrasystemische Kovarianzdedifferenzierung)
 grundlegende sensorische und sensomotorische Fähigkeiten weisen im
hohen Alter wesentlich stärkere korrelative Beziehungen zu intellektuellen
Fähigkeiten auf als im sonstigen Erwachsenenalter (intersystemische
Kovarianzdedifferenzierung)
Historische und ontogenetische Plastizität
S. 369
 das Leistungsniveau wird von Veränderungen der dinglichen und soziokulturellen Umwelt
beeinflusst
 manche dieser Veränderungen sind historisch und betreffen ganze Gesellschaften
Kohorteneffekte, Periodeneffekte und gesellschaftlicher Wandel
 Kohorteneffekt = zeitlich stabiler Unterschied zwischen Geburtsjahrgängen
 Periodeneffekt = spezifischer Einfluss bestimmter historischer Ereignisse über alle
Altersgruppen hinweg
155
 gesellschaftlicher Wandel = generelle und zeitlich ausgedehnte Veränderung in den
Umweltbedingungen, die alle Mitglieder der Gesellschaft betreffen
Nachweis von historischen Einflüssen
 Kohorten-Sequenzdesigns erlauben querschnittliche und längsschnittliche Vergleiche
sowie Vergleiche unabhängiger, zu jedem Messzeitpunkt neu gezogener, Stichproben
identischer Geburtsjahrgänge
 bestes Beispiel: Seattle Longitudinal Study: derzeit umfangreichste KohortenSequenzstichprobe zur intellektuellen Entwicklung im Erwachsenenalter (Schaie, 1996)
 Vorsicht!: wegen der diversen Effekte führen Längsschnittsuntersuchungen nicht
unbedingt zu genaueren Schätzungen als Querschnittsuntersuchungen
Kognitive Intervention im Alter: Aktivierung des Lernpotentials
S. 370
 kognitive Intervention stellt einen Weg dar, Plastizität in unterschiedlichen Bereichen der
intellektuellen Leistungen zu bestimmen
 zwei Bereiche der Mechanik:
1. fluide Intelligenz = Denkvermögen im Zusammenspiel von Induktion und
Deduktion
2. episodisches Gedächtnis = Fähigkeit zum Einprägen und Abrufen neurer
Informationen
 kognitive Interventionsstudien bestehen meist aus Prätest - Intervention – Posttest
 geistig gesunde ältere Erwachsene zeigen deutliche Leistungszugewinne  kognitive
Plastizität bleibt bis ins hohe Alter erhalten
 Größenordnung der Leistungszugewinne entspricht in etwa dem Ausmaß des Verlustes
der vorangegangen 15 bis 20 Jahre
 Leistungszugewinne sind über mehrere Monate bisweilen bis Jahre stabil
 aber Leistungszugewinne im hohen Alter sind deutlich niedriger als in anderen
Abschnitten des Erwachsenenalters
Reaktivierung von Strategien
S. 372
 die Wirksamkeit der Intervention beruht wahrscheinlich auf Reaktivierung vorhandener
Strategien
 Beleg: selbstgesteuertes Üben ist bei fluiden Testleistungen genauso wirksam wie
Intervention
 interventionsbedingte Leistungsgewinne sind bei fortgeschrittenen dementen
Erkrankungen deutlich reduziert  Ausmaß der kognitiven Plastizität könnte als
Frühdiagnose genutzt werden
 der positive Transfer geübter Leistungen auf ähnliche Fähigkeiten ist gering
 Altersunterschiede zwischen jungen und älteren Erwachsenen nehmen an den
Leistungsobergrenzen zu
 die Intensität von Intervention ist meist zu gering, um zu den Leistungsobergrenzen zu
gelangen (kein Testing-the-limits); erkennt man daran, dass die Leistungszugewinne
linear verlaufen
Testing-the-limits
S. 373
 durch intensive Intervention werden die Obergrenzen der Leistung bestimmt
156
 bei Training der Merkfähigkeit (mit der Methode der Orte) erreicht kein einziger der älteren
Erwachsenen die mittlere Leistung der jungen Erwachsenen
 Altersunterschiede der Leistungsobergrenzen sind sehr stabil und wahrscheinlich
irreversibel
 die Koordination mehrerer Wahrnehmungs- und Handlungsstränge ist für ältere
Erwachsene besonders schwierig
Generalisierbarkeit interventionsbedingter Leistungszugewinne
klassische Frage der Trainingsforschung: Was wird durch Training verändert, Fähigkeit oder
Fertigkeit?
Trainierbar sind Fertigkeiten
S. 374
 Fertigkeiten sind aufgaben- und kontextspezifisch
 Belege: engen Grenzen des positiven Transfers und Interventionsresistenz der
Altersunterschiede an den Leistungsobergrenzen
Steigerung des Kompetenzerlebens
S. 374
aber Trainingsprogramme sind nicht sinnlos, sie steigern das Erleben intellektueller
Kompetenz und wirken sich positiv auf das subjektive Wohlbefinden sowie das Erleben des
eigenen Handlungspotentials
Kognitiver Aufwand neuer Fertigkeiten
bei der Entscheidung, was trainiert werden soll, ist solchen Fertigkeiten der Vorzug zu
geben, die zur kompetenten Bewältigung des Alltags beitragen, insbesondere Fertigkeiten
die die kompensatorische Nutzung externer Hilfsmittel betreffen
Altersunterschiede in der Mechanik: Purifizierung der Messung
S. 375
Personen unterschiedlichen Alters können sich systematisch im Ausmaß an Vorerfahrung
unterscheiden
Messungen werden also von Faktoren beeinflusst, die zwar mit dem Alter zu tun haben aber
nicht unmittelbar mit Altersveränderungen in der Mechanik zusammenhängen (z.B.:
wissensbasierte aufgabenrelevante Strategien, motivationale und emotionale Faktoren)
Vorteile von Messungen an der Leistungsobergrenze
 Testing-the-limits ist nur wenig durch pragmatische und andere Einflüsse kontaminiert
 an den Leistungsgrenzen zutage tretenden Altersunterschiede sind mit größerer
Sicherheit auf die Mechanik der Kognition zurückzuführen als Leistungsunterschiede im
Normalbereich
 in Verbindung mit entsprechenden Theorien kann Testing-the-limits zum Verständnis der
Streubreite der ontogenetischen Veränderung beitragen
 Vorhersage bei Ausweitung von Testing-the-limits auf die gesamte Lebensspanne: im
Bereich der Mechanik Verschiebung der Leistungsergebnisse zugunsten jüngerer
Erwachsener
157
Determinanten der mechanischen Entwicklung im
Erwachsenenalter
S. 376
Ressourcenorientierung
 dieser Ansatz postuliert eine möglichst kleine Anzahl von Determinanten (=kognitiven
Ressourcen) der Altersunterschiede (Bsp. für Ressource: Verarbeitungsgeschwindigkeit)
 Vorteil dieses Ansatzes: sparsam
 Nachteil: Mangel an kognitionspsychologischer und neuropsychologischer Plausibilität
Prozessorientierung
 dieser Ansatz postuliert eine große Anzahl von Ursachen für Altersveränderungen in der
Mechanik
 er geht davon aus, dass jede intellektuelle Leistung auf einer spezifischen Kombination
von Prozessen beruht
 Altersveränderungen in verschiedenen Leistungen bedürfen also jeweils einer eigenen
Erklärung
 Vorteil: größere kognitionspsychologische und neuropsychologische Plausibilität
 Nachteil: Mangel an Sparsamkeit
Übergreifenden und spezifische Ursachen
S. 376
 übergreifende Ursachen = Ressourcen
 spezifisches Ursachen = Prozesse
 die Ressourcenorientierung geht von drei Konstrukten aus:
1. Verarbeitungsgeschwindigkeit
2. Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitspeicher)
3. Inhibition = Fähigkeit irrelevante Informationen automatisch oder intentional zu
hemmen
Verarbeitungsgeschwindigkeit
 wird als Wahrnehmungsgeschwindigkeit gemessen
 allerdings ist Wahrnehmungsgeschwindigkeit wahrscheinlich eine zusammengesetzte
Größe mit hohem Verarbeitungsgeschwindigkeits- Anteil
 Wahrnehmungsgeschwindigkeit ist stärkster Prädiktor von Altersunterschieden der
Mechanik
Arbeitsgedächtnis
S. 377
sein Erklärungsgehalt ist schwer bestimmbar, denn
 Altersveränderungen des Arbeitsgedächtnisses werden of mit der Verarbeitungseffizienz
oder der Verarbeitungsgeschwindigkeit in Verbindung gebracht
 eine wesentliche Funktion des Arbeitsgedächtnisses ist die Kontrolle zielgerichteten
Handelns, damit ist es eher ein wichtiger Bestandteil intelligenten Handelns als eine
seiner Determinanten
Inhibition
 wird mit Aufgaben gemessen, bei der die Pb eine starke Handlungstendenz unterdrücken
müssen
 Bsp.: Test mit Farbwörtern: grün blau rot blau ...
158
 bei älteren Erwachsenen ist die Inhibition nicht mehr handlungsrelevanter Aufgaben
weniger effizient
 es ist aber schwierig Altersunterschiede der Inhibition von solchen der Aktivierung
abzugrenzen
Kognitive Neurowissenschaften des Alterns
S. 377
 es wird untersucht welche anatomischen, neurochemischen und funktionalen
Veränderungen des Gehirns mit Altersunterschieden im Verhalten zusammenhängen
 dies sind wahrscheinlich Veränderungen des Stirnhirns (z.B. der dorsolaterale präfrontale
Kortex) und die Abnahme von Neurotransmittern
 beides hängt zusammen weil die Verarbeitung im Stirnhirn dopamingestüzt funktioniert
Stirnhirn und exekutive Funktionen
S. 378
 Regulation und Koordination von Verhalten beanspruchen bestimmte Areale des
Stirnhirns
 diese Fähigkeiten sind auch besonders von kognitiver Alterung betroffen
Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht
 auf der einen Seite nimmt der Bedarf an kognitiver Kontrolle mit dem Alter zu, da die
Zuverlässigkeit der Sinne und des Bewegungsapparats sinkt
 auf der anderen Seite nimmt aber die Effektivität kognitiver Kontrolle ab
 Kognitives Altern kann als Verknappung einer zunehmend nachgefragten Ressource
angesehen werden.
Zusammenfassende Überlegungen
S. 379
Zweikomponentenmodell
 Gegenüberstellung von biologischer Mechanik und Pragmatik erworbenen Wissens
 empirische Unterstützung: Existenz altersanfälliger und altersresistenter Fähigkeiten
Normatives und personenspezifisches Wissen
 erworbenes Wissen (Pragmatik) sich bis ins hohe Alter steigern
 es wird innerhalb der Pragmatik zwischen normativem und personenspezifischem Wissen
unterschieden
Mechanik und Pragmatik interagieren
 sie sind ontogenetisch miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig
 in späten Phasen des Alters kann der Erhalt der Pragmatik die negativen Auswirkungen
mechanischer Leistungsrückgänge abschwächen
Differenzierung und Dedifferenzierung
S. 381
 Heritabilität, relative Stabilität und normativ-pragmatisches Wissen sowie die
Differenziertheit der Struktur intellektueller Fähigkeiten nehmen von der Kindheit bis ins
späte Erwachsenenalter zu und im hohen Erwachsenenalter wieder ab
 die Parallelität dieser vier Entwicklungsfunktionen stützt das Konzept der Gen-UmweltKorrelation: Synergie zwischen sozialstruktureller und genetischer Differenzierung
159
Plastizität
 Personen aller Altersgruppen können Leistungszugewinne erzielen
 weitgehende Abwesenheit positiven Transfers
 Leistungsverbesserung primär in Pragmatik
Erfassung mechanischer Leistungsveränderungen
 Standardmaße der Mechanik der Kognition sind durch individuelle Unterschiede in
aufgabenrelevanter Vorerfahrung und andere pragmatische Einflüsse kontaminiert
 Merke!: Individualität kontaminiert Wissenschaft 
 Purifizierung der Messung kann durch Testung der Obergrenzen geschehen
Determinanten der mechanischen Entwicklung
 es wird postuliert:
 Verarbeitungsgeschwindigkeit
 Arbeitsgedächtnis
 Inhibition
 aber ist momentan nicht mit neuronalen Erkenntnissen verbindbar
 es wird versucht kognitive Veränderungen mit neuroanatomischen, neurochemischen und
neurofunktionalen in Beziehung zu setzen
Altern: Normal, pathologisch, erfolgreich, differentiell
Unter-der-Lupe-Kasten S. 380
Normales Altern
 zwei Bedeutungen:
1. statistische im Normbereich
2. ohne chronische Krankheiten
 Abgrenzung zwischen normalem und pathologischem Altern ist im Bereich des hohen
Alters empirisch und theoretisch schwierig
 Bedeutung 1) und 2) sind im hohen Alter weit voneinander entfernt
 aber Definition 1) ist wissenschaftlich produktiv, da sie die Frage aufwirft, unter welchen
Bedingungen Altern so krankheitsfrei wie möglich verlaufen kann
Erfolgreiches Altern
 objektive Indikatoren: Gesundheit und Langlebigkeit
 subjektive Indikatoren: Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit
Differentielles Altern
 Menschen altern verschieden
 ab 70 Jahren gibt es allerdings keine starken Hinweise auf eine weitere Zunahme der
interindividuellen Variabilität; möglicherweise deshalb nicht, weil Personen mit besonders
niedrigen Leistungsfunktionen und besonders ungünstigen Entwicklungsverläufen vorher
sterben
 Forschungsstrategie: Verständnis der invarianten und variablen Merkmale der
Entwicklung im Erwachsenenalter durch die Analyse individueller Unterschiede
160
Die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit im
Erwachsenenalter
Forschungsstrategien im Bereich von Selbst und Persönlichkeit
S. 381
drei Forschungstraditionen:
1. Persönlichkeit
2. Selbstkonzept, Selbstdefinition, Identität
3. Selbst-regulative Prozesse
 stehen oft unverbunden nebeneinander
Persönlichkeitsforschung
S. 382
 Personen als Träger von Eigenschaften und Verhaltensdispositionen
 Forschung mittels psychometrischer Methoden, Selbstreport
 Hauptanliegen: Entstehung, Veränderung von Persönlichkeitsstrukturen nachzuweisen
 Schwerpunkt liegt auf struktureller Stabilität, Niveaustabilität und relativer Stabilität
Selbstkonzept, Selbstdefinition, Identität
 Personen als Produzenten dynamischer Selbststrukturen
 Forschung mittels psychometrischer Methoden, Selbstreport; wichtig ist, wie eine Person
„sich selbst“ sieht
 Betonung des Begriffs der Identität und seine soziale Bedeutung
 Annahme: unterschiedliche Situationen aktivieren unterschiedliche Inhaltsbereiche der
Selbststruktur
Selbstregulative Prozesse
 Betonung der Regulation des Selbst im Kontext von Planung, Kontrolle und Bewertung
von Handlungen
 Selbst-regulative Prozesse dienen der Erreichung angestrebter Selbst-Zustände, diese
stehen mit den Konzepten von Kohärenz, Kontinuität und Sinnhaftigkeit in Verbindung
 in Bezug auf die Psychologie der Lebensspanne geht es darum,
 alterskorrelierte Veränderungen in der Funktionalität verschiedener Selbstregulativer Prozesse zu erkunden
 Grenzen und Möglichkeiten Selbst-bezogener Anpassungsleistungen zu
bestimmen; hierfür sind drei Ansätze wichtig:
1. Akkomodation und Assimilation
2. primäre vs. sekundäre Kontrolle
3. handlungstheoretische Ausgestaltung der selektiven Optimierung mit
Kompensation (SOK)
Personale und subpersonale Perspektive
 personale Perspektive: Person wird als Produzentin ihrer Entwicklung gesehen, der
Mensch ist aktiv; Wünsche, Ziele und Absichten sind zentral für Handlungserklärung
 subpersonale Perspektive: Wünsche, Ziele, Absichten, etc. sollen erklärt werden
Selbst-regulative Prozesse und exekutive Funktionen
S. 383
 Fragen der Handlungssteuerung stehen im Vordergrund (Bsp.: Wirkung von Erwartungen
auf die Wahrnehmung)
161
 für Alternsforschung ist die Frage relevant, welche Prozesse Personen dazu befähigen in
der Gegenwart ablenkender Reize an Absichten festzuhalten
 Erforschung der Entwicklung Selbst-regulatorsicher Prozesse könnte konzeptuelle und
empirische Kluft zwischen Kognition/Intelligenz und Selbst/Persönlichkeit überbrücken;
Bsp.: die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Selbst im Alter (Erhaltung des Selbstwerts
trotz körperlicher, kognitiver und sozialer Einbußen) könnte damit zusammenhängen,
dass die entsprechenden Selbst-regulatorischen Prozesse wissensbasiert sind und Teile
des kognitiven Systems nutzen, die mit dem Alter weniger stark nachlassen
Persönlichkeit im Erwachsenalter
S. 383
 die meisten Arbeit hierzu orientieren sich an den Big Five
 die Big Five weisen im Erwachsenenalter hohe Entwicklungsstabilität auf
 vier Arten von Stabilitäten:
1. strukturelle Stabilität = Stabilität der Anzahl, der Variabilität und der Beziehungen
der Persönlichkeitsdimensionen untereinander
2. relative Stabilität = Stabilität von Ausprägungsgraden zwischen Personen
3. Niveaustabilität
=
Stabilität
des
Niveaus
der
Ausprägung
von
Persönlichkeitseigenschaften
 relative Stabilität Profilstabilität können nur durch Längsschnitterhebungen festgestellt
werden
 hierbei ist zu bedenken, dass die in Persönlichkeitsfragebögen enthaltenen Items im
Laufe der Jahrzehnte aus einem ursprünglich weit größerem Pool ausgewählt wurden;
dabei dienten u.a. eine klare Faktorenstruktur sowie eine hohe Test-Retest-Stabilität als
Auswahlkriterien
Strukturelle Stabilität
S. 384
 ein hohes Ausmaß an struktureller Stabilität lässt darauf schließen, dass die untersuchten
Persönlichkeitsdimensionen als Konstrukte Gültigkeit haben
 deshalb ist strukturelle Stabilität Voraussetzung für alle anderen Stabilitätsformen
 ab dem zehnten Lebensalter findet sich ein hohes Ausmaß an struktureller Stabilität
Relative Stabilität
 bei Zeitabständen zwischen 6 und 30 Jahren findet sich hohe relative Stabilität
 die Korrelationen liegen zwischen 0.5 (vorsichtige Schätzung) und 0.6 (Costa & McCrae)
Niveaustabilität
S. 385
 allgemeiner Trend im Laufe des Erwachsenenalters: niedrigere Werte für Offenheit,
Extraversion und Neurotizismus; höhere Werte für Zuverlässigkeit und Umgänglichkeit
 beachte!: Ergebnisse könnten auch auf gesellschaftlichen Wandel zurückzuführen sein
 im hohen Alter sind deutliche Veränderungen der Persönlichkeitseigenschaften zu
beobachten
 die Tendenz des Selbstsystem, Stabilität zu erzeugen, scheint an Wirksamkeit zu
verlieren, wenn Stressoren eine gewisse Grenze der Intensität überschreiten
162
Profilstabilität
 sie setzt sich aus allen Persönlichkeitseigenschaften zusammen
 kann also nicht höher als die instabilste von ihnen sein und ist weit weniger stabil als die
isolierte Betrachtung der einzelnen Persönlichkeitseigenschaften vermuten lässt
Persönlichkeit und erfolgreiche Entwicklung
 den Zusammenhang zwischen beidem zu beurteilen ist methodisch und konzeptuell
schwierig
 die relevanten Daten bestehen meist aus Selbstauskünften und die Items sind sich sehr
ähnlich  Problem der gemeinsamen Methodenvarianz und der Itemähnlichkeit
Kriterien erfolgreicher Entwicklung
 subjektive: Wohlbefinden als zentraler Indikator
 objektive: v.a. Gesundheit und intellektuelle Leistungsfähigkeit
Empirische Befunde
 Extravertierte beschreiben ihre Befindlichkeit eher positiv als Introvertierte
 hohe Werte bei Neurotizismus gehen einher mit negativer Befindlichkeit (aber Problem
der Itemähnlichkeit!)
 Gewissenhaftigkeit weist positive Beziehung zu Wohlbefinden auf
 Offenheit für Neues und Verhaltensflexibilität positiv korreliert mit verschiedenen
kognitiven Leistungen (z.B.: Aufgaben zu Lebenswissen)
Erklärungen
zwei Ansätze:
1. Eigenschaften als Quelle individueller Unterschiede im Verhalten und Erleben
2. Eigenschaften als Resultat Selbst-bezogener Prozesse
Stabilität ist nicht alles
S. 387
 Big Five gehen davon aus, dass das Stabilität eine hinreichende Erklärung individueller
Unterschiede darstellt
 wissenschaftlich ist das wenig hilfreich, denn es könnte auch 2) der Fall sein und die
Stabilitäten sind nicht perfekt
 es gibt Anzeichen, dass einige Personen ihr Persönlichkeitsprofil im Laufe des
Erwachsenenalters verändern
Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Prozesse
Plurale Selbst-Struktur
eine plurale Selbststruktur („mehrere Selbsts“;
Markus: possible selves) erleichtert
Anpassung an veränderte Entwicklungsbedingungen und ist positiv mit geistiger Gesundheit
korreliert
Themen und Motive als Entwicklungsziele: Altersunterschiede in Auswahl und
Priorisierung
S. 388
 bei abnehmenden Ressourcen werden Ziele priorisiert, so dass einige beibehalten und
andere abgewählt werden
163
 Selbst-Strukturen und Persönlichkeitsmerkmale sind personale Ressourcen
Zielverschiebung
Alter
25 – 34
35 – 54
55 – 65
70 - 84
85 - 105
Hierarchie des
Investments
das Investment in Themen, Motivsysteme und Entwicklungsaufgaben verschiebt sich
-Beruf
-Freunde
-Familie
Unabhängigkeit
-Familie
-Beruf
-Freunde
-kognitive
Leistungsfähigkeit
-Familie
-Gesundheit
-Freunde
-kognitive
Leistungsfähigkeit
-Familie
-Gesundheit
-kognitive
Leistungsfähigkeit
-Freunde
-Gesundheit
-Familie
-Nachdenken
über das Leben
-kognitive
Leistungsfähigkeit
Soziale und temporale Vergleichsprozesse
S. 388
 auch in schwierigen Lebenssituationen können die meisten Menschen ein hohes Maß an
Wohlbefinden beibehalten
 Selbst-Konzeption und Motivsysteme werden an alterstypische und personale
Erfordernisse angepasst
 soziale Vergleichsprozesse = Vergleich zwischen einer Referenzgruppe und er eigenen
Person auf einer Selbst-relevanten Dimension
 Aufwärtsvergleiche sind funktional, wenn eine Verbesserung auf der entsprechenden
Dimension möglich ist  Motivation
 Abwärtsvergleiche sind funktional, wenn Verbesserung nicht möglichst und Verluste
reguliert werden müssen
 Temporale Vergleichsprozesse = Vergleich mit sich selbst über die Lebenszeit
 Personengruppen unterschiedlichen Alters schätzen ihr gegenwärtiges Funktionsniveau
(in den Aspekten Autonome und soziale Beziehung) gleich ein
 bei Variation des Bezugspunkts schätzen junge Erwachsene ihre eigene Zukunft positiver
und ihre Vergangenheit negativer als ältere Erwachsene ein
Bewältigungsverhalten
S. 389
 Resilienz gegen Stressoren steigt, wenn Personen über eine
Bewältigungsformen verfügen (ähnlich wie bei plurale Selbst-Struktur)
 Selbst-Definitionen und Bewältigungsformen sind personale Ressourcen
Vielzahl
von
Herausforderungen und Ressourcen
 Stress = Verhältnis von Herausforderungen und Ressourcen
 im hohen Alter steigt Häufigkeit nicht kontrollierbarer Verlustereignisse, wie Tod von
Angehörigen, Abnahme der eigenen Gesundheit, etc.
 aber keine Anzeichen für besonderes Ausmaß an Unzufriedenheit oder Depressivität
Assimilative und akkmmodative Bewältigung
S. 390
164
 assimilatives Bewältigungsverhalten = problemorientiertes Handeln
 akkomodatives Bewältigungsverhalten = Aufgeben nicht erreichbarer Ziel
 bei
dauerhaft
reduzierten
Entwicklungsmöglichkeiten
ist
akkomodatives
Bewältigungsverhalten funktional, es ist nicht mit Resignation oder Depression verknüpft
 Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit sind mit Defiziten in der flexiblen Zielanpassung
verbunden
Zielkongruenz
 je höher die Zielkongruenz desto wirkungsvoller können Ressourcen eingesetzt werden
 Zielkongruenz steigt im Laufe des Erwachsenenalters
 Verbindung des Modells der selektiven Optimierung mit Kompensation und der Theorie
des assimilativen und akkomodativen Bewältigungsverhalten:
 assimilatives Bewältigungsverhalten unterstützt Optimierungsprozesse
 akkomodatives
Bewältigungsverhalten
unterstützt
verlustbasierte
Selektionsprozesse, wie
1. Abwerten schwer erreichbarer Ziele
2. Redefinition der Indikatoren des Zielbereichs
3. Aufgeben unerreichbarer Ziele
 Kompensation ist assimilativ und akkommodativ
 Kompensation spielt ein zentrale Rolle beim Übergang vom mittleren zum höheren
Erwachsenenalter
Zusammenfassung von Anna Madl (Uni Bamberg)
165
Übergreifend
Familienentwicklung
Klaus E. Schneewind
Die familienpsychologische Perspektive von Familienentwicklung
Definition:
Familienpsychologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der familiären
Lebenspraxis, d.h. mit dem Verhalten, Erleben und der Entwicklung von Personen im
Kontext des Beziehungssystem“ Familie“ beschäftigt, und zwar mit der Absicht der
Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Veränderung der dabei auftretenden Phänomene
und ihrer Bedingungen.
Was zeichnet die „Familie“ eigentlich aus?
Personenorientierte Sicht:
Zentrales Kriterium sind die engen persönliche Beziehungen der Mitglieder dieser
Personengruppe. Dieser beziehungsorientierte Aspekt gewinnt in unserem Zeitalter, das sich
weg von der „bürgerlichen Familie“ hin zur „postfamilialen Familie“ entwickelt, immer mehr an
Bedeutung.
Beziehungsorientierte Sicht:
Familie ist qualifiziert dadurch, dass jeder eine Reihe von Funktionen zu erfüllen hat, die der
Daseinsicherung
dienen.
Diese
Familie
ist
unabhängig
von
ihrer
Personenzusammensetzung ein Prototyp für enge und intime Beziehungen.
Entwicklung der familiären Beziehungssysteme erfolgt über Interaktion und Kommunikation.
Durch gemeinsame Interaktion entsteht eine gemeinsame Basis, die sich durch
bedeutungshaltige Kommunikation auszeichnet.
Theoretische Aspekte einer Psychologie der Familienentwicklung
Familiensystemtheorie
Bezeichnet
das
systemische
Familienbeziehungen.
Verständnis
von
Familienentwicklung
und
Definition der Familie:
Familien sind offene, sich entwickelnde, zielorientierte und sich selbst regulierende Systeme,
deren Entwicklung im Kontext historisch gewachsener materieller und sozialer
Gelegenheitsstrukturen stattfindet.
Kernaspekte der systemischen Familientheorie:
Ganzheitlichkeit, Zielorientierung, Regelhaftigkeit, Grenzen, Zirkuläre Kausalität, Positive und
negative Rückkopplung, Selbstorganisation, Hömöo- vs. Heterostase, Wandel erster und
zweiter Ordnung, Familienspezifische interne Erfahrungsmodelle
166
Familienentwicklungstheorie
Beschäftigt sich mit längerfristigen Entwicklungen von Familien, innerhalb eines
“begrifflichen Bezugsrahmen“ (nach Aldous 1996), der auf den folgenden Grundannahmen
aufbaut:
 Familiäres Verhalten in der Gegenwart hängt von der Vergangenheit der Mitglieder ab
und bestimmt der Zukunftserwartungen
 Trotz der Vielfalt verschiedenen Lebensformen, zeigen diejenigen, die in derselben
Lebensphase sind, vergleichbare Verhaltensmuster
 Familien und ihre Mitglieder werden im Laufe der Zeit mit Aufgaben konfrontiert
Carter und McGoldrick (1988) haben sechs Stadien einer normativen Familienentwicklung
mit deren Aufgaben an die Familie entwickelt und sie durch eine nicht normative ergänzt ( für
Alleinerziehende und Wiederverheiratete).
Familienstresstheorie
Bei der Familienstresstheorie steht die Bewältigung von Stress auf der Individual-, Paar-, und
Familiensystemebene im Vordergrund
Integratives Systemmodell der Familienentwicklung
Im diesem Modell von Schneewind (1999) werden grundlegende Aspekte der
Familiensystem-, Familienentwicklungs-, und Familienstresstheorie vereint.
Der
Kerngedanke dieses Modells besteht darin, den Familienentwicklungsprozess als eine
Abfolge von entwicklungsbezogenen Stressoren und Ressourcen zu sehen.
Systemebene:
Schließt den Kontext der familienbegründenden Partner mitein, z.B. ihre vergangene
Erfahrungs- und Beziehungsgeschichte, ihre Partnerschaft selbst, Geschichte ihrer
Herkunftsfamilien sowie extrafamiliäre Systeme wie Beruf, Freizeit, politische und
ökonomische Lage 4 Systeme
Vertikale Stressoren und Ressourcen:
Im Laufe der Zeit werden auf allen vier Ebenen belastende und unterstützende Erfahrungen
gemacht Potential an vertikalen Ressourcen und Stressoren
Horizontale Stressoren und Ressourcen:
Ausgestattet mit vertikalen Stressoren und Ressourcen trifft das Paar auf neue
Herausforderungen  horizontale Stressoren und Ressourcen
Differenzierung horizontaler Stressoren und Ressourcen:
Horizontale Stressoren und Ressourcen lassen sich auf allen vier Ebenen ausmachen und
werden eingeteilt nach:
 Normative und nicht-normative Ereignisse bzw. Übergänge im Lebenszyklus (norm:
Geburt, nicht-norm: unzeitgemäße Tod eines Kindes)
 Dauerhafte und chronische Lebensumstände (Erbe, Krankheit)
 Alltägliche Widrigkeiten bzw. Annehmlichkeiten (Streit mit Chef, Blumen)
(das Modell: Seite 111)
167
Verlauf der Familienentwicklung:
Das Zusammentreffen der vertikalen mit der horizontalen Dimensionen von Stressoren und
Ressourcen und die Art der Auseinandersetzung und Bewältigung dieser kennzeichnen den
Verlauf der Familienentwicklung.
Entwicklung von Familienbeziehungen
Beziehungskonstellationen:
Innerhalb eines Familiensystems bestimmt vor allem die Anzahl der Familienmitglieder die
Art und die Komplexität der Beziehungskonstellationen. Daneben müssten noch
Beziehungen zwischen der Gesamtfamilie, zwischen Einzelpersonen und „Beziehungen
zwischen Beziehungen“ (Kinder vs. Eltern) berücksichtigt werden.
Auf die Paar bzw. Elternbeziehung und die Eltern-Kind-Beziehung soll hier näher
eingegangen werden:
Entwicklung von Paarbeziehungen
Modell nach Levinger und Stock (1972) unterschiedet vier Stadien zwischen den Polen
maximaler und fehlender Kontakt:
1. kein Kontakt
2. einseitige Wahrnehmung des anderen
3. oberflächlicher Kontakt
4. auf Gegenseitigkeit beruhender Kontakt
 nur hier eine enge persönliche Beziehung
Phasen und Aufgaben der Paarentwicklung
Betrachtet man Paarbeziehungen unter einer lebenslangen Perspektive, so lassen sich bei
einem ungebrochenem normativen Entwicklungsverlauf fünf Entwicklungsstadien
prototypisch darstellen, innerhalb derer gewisse Aufgaben von den Paaren bewältigt werden
müssen.
 Paare in der Frühphase ihrer Beziehung, Paare mit kleinen Kindern,
 Paare mit älteren Kindern, Paare in der nachelterlichen Phase,
 Paare in der späteren Lebensphase (Aufgaben siehe Tabelle 4.3)
Nicht normative Entwicklungsverläufe können durch zusätzliche Aufgaben erweitert sein
(z.B. Integration eines Kindes aus früherer Partnerschaft)
Gelingende und misslingende Paarbeziehungen
Karney und Bradbury (1995) haben das pfadanalytische Vulnerabilitäts-StressAdaptionsmodell entwickelt, das der Vorhersage von Paarzufriedenheit und Paarstabilität
dienen soll. Paarzufriedenheit und Paarstabilität werden als konzeptionell und empirisch
weitgehend unabhängige Dimensionen betrachtet (z.T. sehr stabile unglückliche Paarbeziehungen). Dennoch wird unterstellt, dass hohe Paarzufriedenheit mit einer hohen
Paarstabilität einhergeht. In diesem Modell gibt es außerdem die Einflussgrößen
Anpassungsprozesse, belastende Ereignisse und überdauernde Eigenschaften.
Anpassungsprozesse:
Nehmen eine zentrale Stellung im Modell ein und beschreiben die Strategien, die Partner
sowohl für sich, als auch als Paar besonders in krisenhaften Situationen einsetzen. Hierzu
gehören vor allem Emotionsregulation und Stressbewältigung bei paarinternen
168
Unstimmigkeiten und paarexternen Stressoren und
Kommunikationsfertigkeiten und Konfliktlösungskompetenzen.
die
damit
verbundenen
Belastende Ereignisse:
Von
„Makrostressoren“
(politische
Krise),
über
Krankheiten,
„Ministressoren“(intern:Sexualitätsdifferenzen, Haushalt; extern Zeitdruck)
Traumata,
zu
Externe Stressoren können sich belastend auf die Beziehung auswirken
 „Spill -over“ – Hypothese (Bodenmann 2000)
Überdauernde Eigenschaften:
Relativ stabile Persönlichkeitseigenschaften (z.B. Neurotizismus)
Das Modell von Karney und Bradbury hat sich in prospektiven Studien bewährt.
(Modell siehe Seite 114)
Paarbeziehungstypen
von Gottmann (1988) und Fitzpatrick (1988):
 Die Konstruktiven (Traditionellen):
Auseinandersetzungen vermeiden, doch
wichtiges klären, betonen „wir“
Rollenverständnis: Traditionelle Rollenverteilung
 Die Impulsiven (Unabhängigen):
Betonung der Individualität, Konflikte als Chance, gefühlsbetont Rollenverständnis:
modern und gleichberechtigt
 Die Konfliktvermeidenden (Separierten):
interpersonale Distanz, wenig gemeinschaftlich, betonen Auto-nomie in der Wohnung,
Konflikte so weit wie möglich vermeiden
Rollenverständnis ähnlich den Konstruktiven
Gottman-Konstante:
Trotz Verschiedenheit gleiche Paarzufriedenheit der drei Typen
Interaktionen positiv/negativ: glücklich 5/1; unglücklich  1/1
Entwicklung von Eltern-Kind-Beziehungen
Rollenumkehr: Eltern pflegen zuerst Kinder, im Alter dann die Kinder die Eltern
Augenmerk nun aber auf nachwachsende Generation im Kindes- Jugendalter:
Eltern als Interaktionspartner
Bestimmen die Qualität der kindlichen Erfahrungen mit.
Bindungsaufbau:
Charakteristika elterlichen Bindungsverhalten:
 Sensitivität für kindliche Signale
 Positive Haltung gegenüber dem Kind
 Synchronisation im Sinne einer reziproken Interaktion
 Stimulation durch häufige Interaktion
 bewirken enge affektive Bindung des Kindes
169
Bezogenheit und Autonomie:
Affektive Bindung schützt den Säugling vor Gefahren und ermög-licht ihm die sichere Basis
für die autonome Erkundung der Welt
 Interne Arbeitsmodelle:
Personintern repräsentierte Abbilder spezifischer Bindungserfah-rungen, die maßgeblich
die Selbst- und Beziehungsentwicklung einer Person mitbestimmen.
 Bindungsförderndes Elternverhalten (attachment parenting):
Vor allem in den ersten eineinhalb Jahren soll durch BE eine positive emotionale
Beziehungsgrundlage für die weitere kindliche Entwicklung gelegt werden.
Eltern als Erzieher
Eltern nehmen neben der Rolle der Interaktionspartner auch die Rolle der Erzieher ein und
wirken explizit auf ihre Kinder. Eltern vermitteln das „Rüstzeug“ zum eigenständigen Leben,
wobei diese Vermittlungs-beziehung mit dem Spannungsverhältnis von Autonomie und
Heteronomie belastet ist.
 Erziehungsstile:
 Autoritär ( zurückweisend, Macht ausübend)
 Vernachlässigend (zurückweisend,orientierungslos)
 Permissiv (akzeptierend und wenig fordernd)
 Autoritativ (akzeptierend und klar strukturiert)
 Kontextabhängigkeit
Die Erziehungsstile sind vom Kontext und dem Milieu in dem erzogen wird abhängig
 Erfolgskriterien:
Spezifische Erfolgskriterien führen durch elterliche Unterstützung zu spezifischen
Entwicklungszielen. Borba (1999) (siehe Seite120)
Eltern als Arrangeure von Entwicklungsgelegenheiten:
Eltern als „Türöffner“ von sekundären Entwicklungskontexten, in denen die Kinder
selbstständig neue Erfahrungen machen können.
Eltern als Arrangeure einer „Ökologie der Sicherheit:
 Physische Sicherheit: Haushalt und Umwelt sicher gestalten
 Umgang mit anderen Personen:
 Betrifft physische und psychische Sicherheit im Umgang des Kindes mit anderen
Personen
 Elterliche Gewalt: Direkte und indirekte(Kind erlebt destruktiven Elternstreit- “spill-over“Hypothese) Gewalt an Kindern.
Eltern als Arrangeure einer „Ökologie der Entwicklungsförderung“:
 Nicht nur negatives entschärfen (Sicherheit) , sondern auch positives möglich machen
(Möglichkeit)
 Anregende Umwelten: sollen kindliche Entwicklungsgelegen-heiten darstellen.(
passendes Spielzeug, anregungsreiche Orte)
 Förderliche Kontakte: Positive Kontakte für das Kind mit anderen Personen arrangieren
(„tolle“Gleichaltrige ,gute Kindergärtnerin)
 Institutionen: möglichst hohe Qualität bezügl. Kindergarten, Kinderkrippe, Tagesmutter,
Babysitter.
170
 Freundschaften: Eltern tragen auf direktem und indirektem Wege zur Sozialentwicklung
bei, wobei das eigene Netzwerk an Bekanntschaften und Freundschaften der Eltern
Einfluss hat.
 Kontrolle: Überwachung kindlicher Aktivität (“monitoring“) ist Ausdruck der elterlichen
Fürsorge und wirkt sich auf das Kind positiv auf, solange es nicht in zu hohem Maße
geschieht.
Beziehungen zwischen Beziehungen
Aus der familiensystemischen Perspektive gibt es vielfältige Familienbeziehungen
 Einzelne Personen
 Familiensysteme ( mehrgenerationalen Perpektive)
 Einzelne Subsysteme innerhalb eines Familiensystems (zwischen ElternGeschwistersubsystemen
 Familiäre (Sub-)Systeme und außerfamiliäre Systeme (z.B.Freundschaftssystem)
und
Intergenerationale Transmission von Eltern-Kind-Beziehungen
Bezeichnet den Prozess der Übertragung von Bindungserfahrungen aus der Herkunftsfamilie
auf die Paarbeziehung und die Qualität der Beziehungsgestaltung mit den eigenen Kindern.
Übertragung von Bindungserfahrungen:
Haben Längsschnittstudien belegt, deswegen jedoch noch keine schicksalhafte Prägung, die
nicht modifiziert und reflektiert werden kann.
Beziehungen zwischen dem Paar- und dem Eltern-Kind-Subsystem
Relevant bei Scheidung und destruktiven und ungelösten Konflikten, die sich auf die ElternKind-Beziehung auswirken:
 „Spill-over- Hypothese“( „Überschwappen“), die besagt, dass destruktive und offen
ausgetragene Partnerkonflikte nicht nur das psychische und physische Wohlbefinden der
Partner und deren Beziehungsqualität, sondern auch die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung
negativ beeinflusst.
Varianten des „Spill-over“ -Effekts
 Umlenkung des Partnerkonflikts auf das„Problemkind“ (Sündenbock)
 Durch Modell-Lernen übernehmen Kinder die negativen Verhaltensweisen der Eltern und
werden zu „schwierigen“ Kindern
 Koalitionsbildung von einem Elternteil und Kind bei Partnerkonflikten
 Externe und interne Stressoren wirken sich auf Eltern- Kind- Bez. Aus
= erhöhte Feindseligkeit, geringere Kontrolle und geringer Akzeptanz der Eltern
Geschwisterbeziehungen
Destruktive Elternkonflikte können sich auch negative auf Geschwister-beziehungen
auswirken, andererseits können diese auch Ressource sein.
Entwicklung durch Intervention in Paar- und Familiensystemen
Wissenschaftliche, präventive Interventionssätze:
 Erhöhung der Beziehungsqualität
 Prävention bei Risikopaaren oder -familien
171
 Rückfallprophylaxe nach therapeutischer Stabilisierung
Entwicklungsförderliche Stärkung von Paarbeziehungen
Beispiele
sind
PREP,
KEK,
FSPT
und
EPL,
die
vor
allem
Kommunikationsverbesserung konstruktive Konfliktlösungen und Positivität fördern.
durch
Entwicklungsförderliche Stärkung von Elternkompetenzen
STEEP, Familienkonferenz, „Triple P“ und „Positiv Parenting“ sollen vor allem durch
Kommunikationsschulungen die Eltern-Kind-Beziehungen fördern.
Z.T. auch Grenzensetzen, Kontrolle und Förderung von Verantwortlichkeit geübt.
Familiäre Entwicklungsintervention als Public Health Aufgabe
Mithilfe neuer Medien sollen die schwer zu erreichenden Risikopaare und –familien erreicht
werden, um die Paarbeziehung und die Elternkompetenzen zu stärken.
172
Kapitel 8: Frühes Erwachsenenalter
Krampen, G. & Reichle, B. (2002)
Geht von 18 bis 29 Jahren, mit unscharfen, fließenden Altersübergängen.
Ablösung von der Primärfamilie und der beruflichen Orientierung beziehen sich v. a. auf:
 das Privatleben und das Freizeitverhalten (Partnerschaften, Lebensformen, Freundesund Bekanntenkreise)
 die Einbettung in soziale und gesellschaftliche Gruppen (Sport, Hobbies, Religion,
Politik)
 den Berufseintritt und die Berufstätigkeit
1. Frühes Erwachsenenalter:
Transitionskriterien und Entwicklungsprozesse
Forschungsthema: nur 1 – 3 % der Forschung beziehen sich auf das frühe und mittlere
Erwachsenenalter.
Kriterien und Charakteristika des frühen Erwachsenenalters:
1. formale und rechtliche Kriterien (Volljährigkeit, Wahlrecht) – bis 1974 lag die
Ehemündigkeit des Mannes bei 21, der Frau bei 16 Jahren
2. objektive, verhaltensnahe Kriterien (Auszug aus dem Elternhaus, finanzielle
Unabhängigkeit, Heirat, Elternschaft)
3. psychologische Kriterien (Ablösung, emotionale Autonomie, psychologische Reife) –
Steinberg und Silverberg (1986) der Fokus liegt auf der emotionalen Autonomie.
4. subjektive Kriterien (Selbstzuordnung einer Person zu einer Altersgruppe)
Fragt man Jugendliche und junge Erwachsene nach den Merkmalen des Erwachsenseins:
 Verantwortung übernehmen
 Unabhängigkeit von den Eltern
 bleichberechtigter Erwachsener sein
Verhaltensnahe Kriterien (wie Eintritt ins Berufsleben, Abschluss der Ausbildung, Heirat und
Elternschaft) werden von der Mehrheit Jugendlicher und junger Erwachsener abgelehnt.
173
Differentielle Entwicklung im frühen Erwachsenenalter
Interindividuelle Unterschiede berufsbezogener Tätigkeiten
und Privatleben:




Erst-, Zweit- oder Drittausbildung
Berufseintrittsphase
Berufswechselphase
Jobber, Jobhopper, Kurzzeittätige mit Ferienpausen
 Singles
 WGs
 hetero- und homosexuelle Partnerschaften
Patchwork-Identität
ist die biographische Offenheit und Plastizität der Identitätsarbeit.
Körperlich reif, finanziell abhängig.
Säkulare Akzeleration ist die Entwicklungsbeschleunigung im historischen Vergleich.
Säkulare Retardation ist die Entwicklungsverzögerung (Verlangsamung) im historischen
Vergleich.
Es bestehen zwei soziokulturelle Trends:
1. Säkulare Akzeleration der körperlichen Entwicklung in der Pubertät und die damit
verbundene frühere Aufnahme intimer Beziehungen und die biologisch bedingte
„Verkürzung“ der Kindheit und schnellere Annäherung an das Erwachsenenalter.
2. Verlängerung der ökonomischen Abhängigkeit bis weit in das frühe Erwachsenenalter,
folglich die säkulare Retardation der finanziellen Selbständigkeit.
Zusammen führen diese beiden säkularen Entwicklungstrends in den (post-)modernen
Gesellschaften zu einer Verlängerung des Jugendalters und tragen zur Unschärfe in der
Bestimmung des Übergangs zum Erwachsenenalter bei.
Junge Erwachsene als Vergleichsgruppe.
Sie sind sowohl für die
» altersvergleichende experimentelle Entwicklungspsychologie als auch für
» Feld- und Korrelationsstudien
die verwandte Vergleichsgruppe.
174
Entwicklungsthemen.
Es dominieren in der Fachliteratur zum frühen Erwachsenenalter die klassischen Ansätze zu
altersnormierten
- Entwicklungskrisen (Erikson (1959) mit „Intimität und Solidarität vs. Isolation“) und
- Entwicklungsaufgaben (Havighurst (1948) mit Partnerwahl, Familiengründung,
Berufseinstieg, Verantwortungsübernahme, sozialer Integration und
Lebensstilfindung).
Insgesamt dominiert die Einordnung des frühen Erwachsenenalters als Zeit der Beziehungsund Verantwortungsentwicklung.
Bezugsgrößen oder Lebensbereiche sind dabei das Privatleben und die Freizeit, soziale und
gesellschaftliche Gruppen sowie die Arbeit und der Beruf.
175
2. Der Übergang zum frühen Erwachsenenalter
2
Warum wird jeder anders erwachsen?
Mögliche Ursachen sind (1) persönliche Entwicklungsziele, (2) auf die eigene Entwicklung
bezogene Regulations- und Kontrollbemühungen, und (3) familiäre
Hintergrundvariablen wie Familienklima, Erziehungsstil, Re-Manifestation eines
ungelösten Ödipuskomplexes, geschiedene Eltern.
Unter der Lupe: Silbereisen (2000)
 Rasche Angleichungen sind vor allem dort zu beobachten, wo situative Anforderungen für
das persönliche Leben von Bedeutung sind.
 Schnelleres Durchlaufen der Stationen auf dem Weg zu Erwerbstätigkeit, Partnerschaft
und Familiengründung.
Ablösung von der Herkunftsfamilie
Kriterium hierfür: Zeitpunkt des Auszuges aus dem Elternhaus.
Partielle Ablösung:
liegt vor, wenn eine eigene Wohnung vorhanden ist, aber noch regelmäßig und länger bei den
Eltern gewohnt wird.
♂: feste Partnerschaft und deviantes Verhalten sind Prädiktoren für den Auszug
♀: feste Partnerschaft, deviantes Verhalten und Anzahl der Geschwister
Psychologische Auszugskriterien:


Distanzierung zu den Eltern und Aushandeln sozialer (Macht-)Balancen
Selbständigkeit und emotionale Autonomie
Symmetrische Beziehung:
Idealerweise entsteht zu den Eltern eine symmetrische Beziehung auf Ebene des
gemeinsamen Erwachsenenstatus, die nicht durch räumliche Trennung oder materielle
Unabhängigkeit beeinträchtigt wird.
Berufsausbildung und Berufseintritt
Junge Erwachsene bewerten berufsorientierte Werte als weniger wichtig als früher.
176
Einflüsse auf die Berufswahl
Zentrale Einflussfaktoren: Geschlecht, sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie,
Lebensregion (und ihr Arbeitsmarkt) und elterliche Einflüsse.
Studienfachwahl
Wesentliche Determinanten sind Geschlecht, sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie,
Lebensregion und die auf dem Arbeitsmarkt erwarteten Chancen, persönliche Interessen und
persönliche Neigungen.
Phasenmodell der sozio-emotionalen Anpassung beim
Übergang ins Studium (Steward, 1982):
1. Informationsaufnahme und Orientierung:
knüpfen sozialer Kontakte, systematisches einholen von Informationen, erkunden
sozialer Regeln im neuen Umfeld;
Entwicklungsrisiken:
soziale Isolation, Uninformiertheit, hoher Konformismus
2. Autonomiestreben und Selbstbehauptung:
Es entsteht Reaktanz gegen informelle (peers) und formelle soziale Regeln sowie
gegen Konformitätsdruck.
Entwicklungsrisiken:
anhaltender Konformismus, generalisierter Widerstand gegen Strukturen und Regeln
3. Sozial-emotionale Integration:
Entwicklungsrisiken:
weitere soziale Isolation, Außenseitertum, persönlich sozial-emotionale Desintegration
mit gesteigerter Vulnerabilität für einen Studienabbruch
Studienabbruch (Gold & Kloft, 1991)
Rechts- und Wirtschaftswiss: 23%, Naturwiss: 11%, Sprach- und Geisteswiss: 15%,
Gründe: Praxisferne, Lernschwierigkeiten, schlecht Berufsaussichten
Prädiktoren für einen Studienabbruch:
im 2. bis 3. Semester angegebene Lern- und Leistungsprobleme;
erlebte mangelnde Anerkennung durch die Mitstudierenden
Psychologiestudierende:
Antizipation von Arbeitslosigkeit führt zu kognitiv-antizipatorische Bewältigungsstrategien,
die zu einer Verlängerung der Studienzeit führen, einer subjektiven Entwertung des Diploms
und zu Privatisierung der Berufsqualifikation außerhalb der Uni.
177
3. Intensivierung und Differenzierung sozialer Beziehungen sowie
Verantwortlichkeiten
Berufliche Entwicklung
Fünf Stadien:
Exploration - Stabilisierung - Establishment (Konsolidierung und Aufstieg) Aufrechterhaltung - Spezialisierung - Disengagement bis in den Ruhestand
Verschiedene Rollen innerhalb der Stadien:
Azubirolle, Kindrolle, Freizeit, Bürgerpflicht, Rolle der erwerbstätigen Person, Rolle iVm.
Haushaltspflichten
Einflussfaktoren sind die Herkunftsfamilie, das Netzwerk in der Kindheit (peers, Schule,
Jobs), extrafamiliales Netzwerk des Erwachsenen (Beruf, Arbeitsplatz), eigene Familie des
Erwachsenen und Umweltgegebenheiten (Sozial- und Bildungspolitik, Arbeitsmarktsituation,
Gesetzgebung...).
Geschlechtsunterschiede:
Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Bildungsbeteiligung sind verschwunden, aber die
Entwicklungslinien nach dem Schulabschluss zeigen wieder deutliche
Geschlechtsunterschiede.
Frauen:
Bürokauffrau, Arzt- und Zahnarzthelferin, Bankkauffrau, Fachverkäuferin
Akad.: Vet.med, Sprach- und Kulturwiss, Lehramt, Kunstwiss
Männer:
KFZ-Mechaniker, Maler, Lackierer, Tischler, Kauffmann
Akad.: Ingenieur, Mathematik, Naturwissenschaften, Recht, WiWi, Sozialwiss
Einzige Gemeinsamkeit: Einzelhandelskauffrau bzw. -mann
Erklärungen für die eingschränkte Berufswahl
1. situative Faktoren (Widerstände der Eltern, Sexismus bei Arbeitgebern)
2. beruflich und familiäre Doppelbelastung
Frauen und Berufswahl:
Mädchen investieren materiell mehr, und erhalten doppelt so häufig keine Zusage auf
Bewerbungen.
Frauen mit akademischem Abschluss sind häufiger und zunehmend unterwertig beschäftigt.
Frauen werden geringer entlohnt, leisten aber auch im Haushalt und in der Kinderbetreuung
mehr Arbeit.
Ihre Chancen auf berufliche Erfolg steigen u.a. mit ihrer Begabung, der Liberalität ihrer
Geschlechtsrollenorientierung, Androgynität, hohem Selbstwert, androgyner Erziehung,
Ehelosigkeit, später Heirat und Kinderlosigkeit.
178
Partnerwahl
Die Entstehung und Bildung intimer (romantischer) Partnerschaften wird in der
entwicklungspsychologischen Literatur auf den ersten Sexualkontakt datiert.
Mitbestimmende Einflussfaktoren sind
 elterliche Kontrolle bei Verabredungen,
 Qualität der schulischen Sexualerziehung,
 psychosexuelle Einstellungen und Normen der Kultur und Subkultur,
 die Häufigkeit von Verabredungen und Parties, und
 die Häufigkeit risikoreicher und delinquenter Freizeitaktivitäten.
Die Partnerwahl ist in den Phasen der Kontaktaufnahme und des Kennenlernens wesentlich
von der Attraktivität und der Verfügbarkeit potentieller Partner bzw. Partnerinnen abhängig.
Altersangaben (Silbereisen und Wiesner, 1999):
1. mal verliebt ♀ 14,5 (♂ 15)
1. fester Freund ♀ 16 (♂ 16,5)
1. Sex ♀ 16,5 (♂ 16,7)
Feste Partnerschaften im Alter von 18 bis 21: ♂ 3 - 4, ♀ 2 - 3
Attraktivität
Merkmalsähnlichkeit:
Altersgruppe, Wohngegend, sozioökonomischer Status, Freizeitinteresse, Bildungsstand,
Berufs- und Ausbildungsgruppe
Physische Attratkrivität:
 Evolutionsbiologische Erklärung
= Interesse an einer optimalen Reproduktion der Gene auf Basis von Jugend und
Gesundheit
 Der erste Eindruck
Im ersten Eindruck von einem subjektiv attraktiven Menschen werden zahlreiche
Zuschreibungen positiver Eigenschaften manifest, über die zunächst keine Informationen
vorliegen. Dieser erste subjektive Eindruck weist erhebliche interinindividuelle
Unterschiede auf.
Beeinflusst wird er durch:



» Attrakrivitätsstereotype
» kulturelle Schönheitsideale (Jugend, Gesundheit, positiv-emotionaler
Gescihtsausdruck, Schlankheit, Körpergröße) und
» subjektive Attraktivitätsähnlichkeit
Endogamie-Prinzip der Partnerwahl
= Kultur- und Subkulturähnlichkeiten
Homogamie und Heterogamie
"Gleich und gleich gesellt sich gern"
"Gegensätze ziehen sich an"
Woman marry up
Frauen tendieren dazu, stärker den soziökonomischen Status, das Leistungsstreben, die
Intelligenz und den Charakter potentieller Partner zu beachten als Männer. Bei Männern
dominiert die physikalische Attratkrivität als eindeutiges Merkmal.
179
Frühe Partnerschaftsentwicklungen
sind gekennzeichnet durch beginnende Intensivierung der Kontakthäufigkeit und -intimität.
Das eher passiv bestimmte Kennenlernen wird schrittweise durch eine aktivere Abstimmung
und Bearbeitung der Partnerschaft abgelöst.
Phase der Elaboration von Rollen (Lewis, 1973)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Wahrnehmung von Übereinstimmungen
Sympathie durch gegenseitige positive Bewertung
wechselseitige Selbsterhöhung
Übernahme gemeinsam definierter Rollen
aktive Gestaltung der Beziehung
führt zu einer dyadischen Kristallisierung mit Erlebnis von Paaridentität
Von der sicheren Basis zur Bearbeitung von Diskrepanzen
Dauerhafte Partnerschaften sind somit nicht alleine durch einen emotionalen, psychischen und
physischen Austausch sowie in der Regel durch ökonomische und soziale Austauschprozesse
gekennzeichnet, sondern auch und vor allem durch kontinuierliche partnerschaftliche
Abstimmung von Regeln über den Umgang miteinander.
Eifersucht in Partnerschaften
Eifersucht wird als aversive emotionale Reaktion auf eine extradyadische Beziehung des
Partners definiert, die real ist, vorgestellt wird, oder als wahrscheinlich erachtet wird.
Kennzeichnend sind Gefühle darüber, dass eigene Besitzansprüche oder Rechte verletzt
werden, dass man unterlegen ist, dass eigene Bedürfnisse nicht hinreichend Befriedigt werden
können und dass man von Einsamkeit und Ablehnung bedroht ist.
Eifersucht ist ein universelles Phänomen, das in allen Kulturen nachweisbar ist.
Partnerschaft und erste Jahre der Elternschaft
Die weitere Entwicklung vollzieht sich im Kontext der Bewältigung von
Lebensveränderungen.
Merkmale familiärer Transitionen (Übergänge)
 qualitative Veränderungen eher äußerlicher Art (Rollenveränderung, Restrukturierung
der persönlichen Kompetenz zur Lösung neuer Aufgaben, Reorganisation von
Beziehungen)
 qualitative Veränderungen im Selbst- und Weltbild des betroffenen Individuums
Verschiedene Ressourcen
Bei der Bewältigung familiärer Übergänge kommen folgende Ressourcen zum Einsatz:
 personale: Sensibilität für die Gefühle anderer, Selbstwert, Humor ...
 familiale: Einkommen, Wohnen, Kohäsion, Offenheit, gegenseitige Unterstützung ...
 außerfamiliale: soziale Netzwerke, soziale Unterstützung
Problemfokussierte und emotionsfokussierte Bewältigung
1. emotionsfokussierte Bewältigung
» innerpsychische Emotionsbewältigung (Vermeidung, Intellektualisierung)
» positiv bewertete Formen (positives Denken, Hoffen)
» emotionsfokussierte aktionale Varianten (Vermeidung durch Flucht, Suche nach
Entspannung)
» expressive emotionsfokussierte Bewältigungsversuche (Emotionsausdruck)
2. problemfokussierte Bewältigung
» Planung und Durchführung lösungsorientierter Handlungen
» Verstärkter Einsatz
» Aktive Anpassung an die Situation
» Positive Neubewertung der Situation
180
» Einsatz von Humor
» Rückgriff auf spirituellen Glauben
Bewältigungsstile
Stile des Umgangs mit belastenden Situationen sind depressiver Stil, Attributionsstile,
Ärgerventilation vs. Ärgerunterdrückung, und Repression vs. Sensitisierung.
Eine gelungene Bewältigung sollte in positiven Befindlichkeiten der Beteiligten und positiven
Ausprägungen ihrer Beziehungsqualitäten resultieren.
3
Warum heiraten?
Häufigste Antwort: L I E B E
In der soziobiologischen Betrachtung liegt das gesellschaftliche Interesse am Überleben in
weiteren Generationen, wobei eine zuverlässige Versorgung der Kinder sicherzustellen ist.
Dieser Ansatz wird in psychoanalytischen und rollentheoretischen Ansätzen durch eine auf
das persönliche Wachstum und die Selbstaktualisierung von Menschen begründete
Perspektive erweitert.
4
Übergang zur Elternschaft
Durchschnittsalter Westdeutscher Frauen bei der ersten Geburt: 29 Jahre.
Mutter werden
Übergangsprozess von Gloger-Tippelt (1988):
Verunsicherung (bis 12. Schwangerschaftswoche) – Anpassung (bis 20. SSW) –
Konkretisierung (20. – 32. SSW) – Geburt – Erschöpfung und Überwältigung (4 – 8 Wochen
nach Geburt) – Herausforderung und Umstellung (bis 6. Mon.) – Gewöhnung (2. Hälfte des 1.
Jahres).
Neue Beziehungen, vorwiegend zu anderen jungen Eltern werden geknüpft, alte verändern
sich. Daneben gilt es, eine Identität als Mutter oder Vater herauszubilden und eine Weltsicht
aus dieser Perspektive zu entwickeln.
Unterschiedliche Ausgangsbedingungen
Anpassungsleistungen müssen unter unterschiedlichsten Ausgangsbedingungen erbracht
werden: nichtgeplante Schwangerschaft; kurze Partnerschaftsdauer; niedriges Lebensalter;
niedriger Sozialstatus; geringe Partnerschaftszufriedenheit vor der Geburt.
Auch sind nachgeburtlich vor allem situative Belastungen und Belastungen durch eine
problematische Persönlichkeit ungünstig.
Traditionelle Aufgabenverteilung
Unter einer als ungerecht empfundenen Arbeitsverteilung leiden mehrheitlich Frauen, die sich
auch eine egalitäre Verteilung wünschen. Praktiziert wird jedoch meistens die traditionelle
Aufgabenverteilung.
181
Ungünstige Persönlichkeitsmerkmale
Als ungünstige Persönlichkeitsmerkmale haben sich bei Müttern eine geringe soziale
Orientierung, geringe Extraversion und wenig ausgeprägte Fähigkeiten zur Umbewertung
erwiesen, bei Vätern geringere Aggressivität (in der Selbsteinschätzung), geringe Selbstkritik
gegenüber den eigenen Verhaltensweisen in Belastungssituationen, geringe Konformität und
geringe Sensibilität für die Gefühle anderer. Bei beiden Geschlechtern geringe
Beziehungskompetenz, wenig Einfühlungsvermögen und hohe Verletzbarkeit.
Wer verstärkt den Partner die Verantwortung für ungerechte oder unvorhergesehene
Einschränkungen verantwortlich macht, sowie über Ärger, Enttäuschung und Empörung
berichtet, ist mit großer Wahrscheinlichkeit nach vier Jahren weiterer Partnerschaft getrennt
oder geschieden.
Umgekehrt findet man bei verträglichen Beziehungspersönlichkeiten und positiv
wahrgenommener Beziehungsentwicklung nach dem Übergang zur Elternschaft früher und
häufiger weitere Geburten.
Weiter familienbezogene Transitionen (Übergänge) sind jene zur Krippe, Kindergarten,
Schule und weiterführenden Schule.
4. Alternative Lebensformen
... existieren seit der zweiten Hälfte des 20. Jhdts.
Sie kommen als nichteheliche Lebensgemeinschaften Heterosexueller, als Lebensform des
Alleinlebens (Single), als alleinerziehende Eltern, als Lebensgemeinschaft Homosexueller,
und als Wohngemeinschaften vor. Auch die bewusst gewählte Kinderlosigkeit kommt seit ca.
30 Jahren gehäuft vor (Schneewind, 1999).
5. Freizeit, soziale Beziehungen, Ausbildung und Berufstätigkeit
Besonders wichtig für den jungen Erwachsenen ist es, neue Freundschaften zu finden, alte zu
erhalten und zu fördern. Diese gehen über enge, intime Partnerschaftsbeziehungen und engere
Sozialbeziehungen in alternativen Lebensformen hinaus.
Zeitbudget junger Erwachsener
Während bis zum Alter von etwa 20 Jahren ein privilegierter Umgang mit Zeit verbreitet
möglich ist, schränkt sich dies danach sowohl bei studierenden als auch bei berufstätigen
erheblich ein.
Berufstätige
Freizeitaktivitäten pro Tag
Sa, und So je
Arbeitszeit im Schnitt
zusätzliche Arbeit pro Woche
Studenten
4,3 h
4,5 h
9 – 10 h
9 – 10 h
38,5 h
37,3 h
12 h
(50 %)
Damit wird für einen Grossteil der studierenden jungen Erwachsenen ein Wandel in der
traditionellen Studentenrolle belegt, der zu einer Annäherung an das Zeitbudget junger
Berufstätiger geführt hat und deutlich macht, dass das Studium bei vielen nicht mehr im
Tätigkeitszentrum, sondern mit anderen Tätigkeiten in Konkurrenz steht.
Junge Mütter haben sehr hohe Zeitbindungen für Hausarbeit und Kinderbetreuung sowie
besonders geringe Freizeit an den Wochenenden.
182
Private Sozialkontakte
Generell ist das Zeitbudget durch stärkere Verpflichtungen in den Bereichen der
Hausarbeiten, des Studiums sowie der Erwerbs- und Gelegenheitsarbeiten zu Ungunsten
privater Kontakte bestimmt.
Freizeitverhalten junger Erwachsener
1996 bestand noch eine klare Dominanz sozialer Aktivitäten (wie telefonieren, Feste und
Parties feiern, Probleme besprechen, flirten) gegenüber Freizeitaktivitäten, die alleine
realisiert werden (wie lesen, Computer spielen, Gartenarbeit, Tagebuch schreiben).
Dabei zeigt sich die Selbstöffnungsbereitschaft junger Erwachsener besonders gegenüber
Freunden, seltener gegenüber Familienangehörigen. Bei älteren Erwachsenen ist das
umgekehrt.
Durch die Erprobung und Etablierung von Partnerschaften werden so die Lebensläufe und
auch die Freizeitaktivitäten junger Männer und junger Frauen im Übergang vom Jugend- zum
frühen Erwachsenenalter synchronisiert.
Soziale Teilhabe und Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung
Im Übergang vom Jugend- zum frühen Erwachsenenalter finden soziale Platzierungen in der
Gesellschaft statt – hierzu gehören: Familienstand, Berufsausbildung, Berufstätigkeit, aktive
Teilnahme in sozialen und gesellschaftlichen Vereinen, Religionsgemeinschaften, Politik, ...
Zusammenfassung: Robert Ripfl (Freiburg)
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