DER SAUERTEIG

Werbung
DER SAUERTEIG
Eine theologische Erzählung
Mathias Graul
Inhaltsverzeichnis
Böses Erwachen
Das Projekt
Der Beschluß
Sabotage
Die Versuchung
Die Verschneidung
Selbst denken
Das Gewand
Neuroplast
Das Buch
Rationalismus
Böses Erwachen
Die Bambushütte am Südseestrand lag friedlich da und Oskar hörte das rythmische
Rauschen der Brandung. Er blinzelte ein wenig und versank dann wieder in seinem
Traum. Wunderbar entspannt lag er im Bett und hörte seinen Atem am Rand der
Bettdecke entlangstreichen. Für ein paar Sekunden wurde das rythmische und
beruhigende Geräusch seines Atems wieder zu der Brandung in der Südsee. Die roten
Zahlen an der Zimmerdecke glichen den Signalleuchten einer Segelyacht, die sich der
Lagune einer Südseeinsel näherte. Oskar blinzelte wieder. Langsam nahmen die roten
Lichter stärkere Konturen an. Rechtwinklig angeordnete Figuren mit spitzzulaufenden
Enden. Ziffern.
Wie schön, der Radiowecker geht wieder, dachte Oskar. Die neuen Batterien scheinen
zu taugen.
Acht Uhr fünfunddreissig.
ACHT Uhr fünfunddreissig?
Oskar glaubte seinen Augen nicht zu trauen!
Bambushütte, Segelyacht und Südseeinsel versanken nun blitzartig in den Tiefen des
Meeres. Eine krampfartige Lähmung breitete sich brennend im Körper aus, wie heisses
Wachs, das in eine Tonfigur gegossen wird.
Bevor Oskar es sich versah, hatte dieses heisse Wachs seinen eben noch wohlig
entspannten Körper aus dem Bett herauskatapultiert und schon stand er auf wackligen
Füssen und hüpfte hysterisch herum, als wenn er auf Glasscherben getreten wäre.
Radiowecker! Batterien!
Keine Zeit jetzt für technische Überprüfungen.
Statt dessen hektische Suche nach Unterwäsche, Hose, Hemd, Schlips. Schnell noch
etwas Spray unter die Achseln. Eine Tasse kalter Kaffee vom Vortag - und schon hatte
Oskar den Zündschlüssel im Schloß und drehte.
Acht Uhr siebenundvierzig - "... nicht zu fassen..." raunte Oskar sich selbst zu. "Diese
sinnlosen Vorstandssitzungen. Nie hält man sich an die Tagesordnung. Jedes Mal wird
es spät Abends, man kommt ganz aus dem Rhythmus. Und dann immer nur das gleiche
Gequassel und Gestichel.
Das gleichmäßige, gefällige Brummeln des Sechszylinders vermittelte ein Gefühl der
Ruhe und Sicherheit inmitten der Hektik. Oskar schnaufte tief durch und hörte seinen
nun wieder einigermassen entspannten Atem durch die Nase ein- und ausstreichen.
Draußen flogen die Pappeln der Route Nationale Nr.19 still vorbei.
"Wenn ich die D 51, dann die A 4 und dann die A 86 nehme, komme ich vielleicht
schneller nach Bobigny. Ich spare die Ampeln von Créteil.
"Verflixt - schon NEUN Uhr drei - um neun sollte ich da sein. Bis alle da sind, wird es
sowieso neun Uhr fünfzehn.
Oskar bog nach rechts auf die D 51 ein.
"Neun Uhr dreissig – ja das könnte ich vielleicht schaffen - zwar immer noch peinlich
genug, aber nicht ganz so katastrophal... Wenn ich bloß wüßte, wie diese Abfahrt
heißt..."
Endlich hatte die Karte ihre Eigenwilligkeit aufgegeben und war unter der nervös auf
ihr herumpatschenden Hand zu einem einigermaßen flachen Stück Papier auf dem
Beifahrersitz geworden.
"St. Denis - ja, das wird dort wohl ausgeschildert sein."
Weiter konnte Oskar die Karte nicht mehr studieren - es hupte genau neben ihm. Es war
ihm, als wenn er das wütende Schreien des Fahrers hören konnte, als dieser ihm wild
gestikulierend einen Vogel zeigte. Oskar war zu weit auf die linke Fahrbahn geraten.
Ein bleiernes Gefühl der Ernüchterung machte sich über Oskar her. Ganz klein und
hilflos war er auf einmal.
"Jetzt bloß keinen Unfall, das hätte gerade noch gefehlt."
Oskar wäre am liebsten ganz langsam mit 80 weitergefahren. Aber er wußte, er mußte
die vierspurige Strecke ausnutzen, um wirklich einen Vorteil zu haben. Auf die Karte
schaute er jetzt nicht mehr. "Auf die A 86 fahren und dann Richtung St. Denis - ich muß
dann in Bobigny ’rauskommen."
Oskar sah auch nicht mehr auf die Uhr.
"Wenn nur diese Verhandlung schon vorbei wäre...!" jammerte er leise.
Baustelle, Fahrbahnverengung. Oskar schob den Unterkiefer vor und hielt die Luft an "da vorne ist's schon wieder vorbei", dachte er. Zwei Meter Fahrbahnbreite sind
ziemlich eng bei einer Geschwindigkeit von 90 Stundenkilometern. Oskar blies die Luft
wieder durch die Zähne aus und beschleunigte, als er das Ende der Baustelle schon kurz
vor sich sah. Aber was kam da vorne auf ihn zu, was war das?
"Neiiiin!"
Bremsen quietschten.
Der Wagen drehte sich leicht.
Das Achterbahnkribbeln in den Füßen.
Und Bruchteile von Sekunden später schließlich der herannahende, unausweichliche
Rums.
Oskar verlor das Bewußtsein. Ein paar Sekunden lang schien er zu spüren, wie etwas in
ihm rumorte, Schläuche oder Drähte. Stimmengewirr und monotones Piepsen. Dann
wieder dieses die Luft abschnürende Drücken - als wenn er im Ozean versenkt würde.
Tiefer und tiefer schien es hinabzugehen...
Das Projekt
"Oskar! Aufwachen!", tönte eine wohlklingende Baritonstimme. Oskar fühlte sich wie
im Traum. Es war alles so hell um ihn herum! Dann war alles wieder weg. "Oskar!",
rief die gleiche Stimme noch einmal. Oskar wußte nicht, wie viel Zeit vergangen war
zwischen dem ersten und dem zweiten Aufwachen. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren.
"Wo bin ich? Was ist passiert? Wer sind Sie?"
Sein Gegenüber war ziemlich groß, weiß gekleidet, hatte ein freundliches, rundes
Gesicht. Wie ein überdimensionerter Lausbub, dachte Oskar. Allerdings war die
Hautfarbe recht seltsam – eine Art olivgrün. Oskar war sich sofort im klaren darüber,
daß er es hier nicht mit einem Menschen zu tun hatte. Dabei wunderte er sich, daß alles
genau so wirklich schien, ja nicht schien, sondern war, wie unter normalen Menschen
und bekannter Umgebung. Freundliche, braune Augen musterten Oskar neugierig und
belustigt von oben bis unten.
"Was ist passiert, wo bin ich?", hörte sich Oskar fragen. Eine leicht hallende und
zugleich gedämpfte Akustik herrschte in diesem Raum - ja es war eigentlich schwer zu
sagen, inwieweit es sich um einen Raum handelte. Oskar konnte keinen Fußboden,
keine Decke ausmachen. Merkwürdige Tunneleingänge waren ringsumher zu erkennen.
Der "Raum" war eine Verdickung innerhalb eines Netzwerks von überdimensionalen
Nervenzellen, ein Labyrinth von Tunneln und Verdickungen. Erstaunlicherweise wirkte
diese "Zelle" ganz und gar nicht unheimlich, sondern recht heimelig. Oskar kam sich
vor, wie an einem Ort, an den man nach langer Zeit zurückkehrt; man fühlt sich wohl,
weiß aber nicht warum; man versucht, sich zurückzuerinnern, aber vergebens, man
kommt nicht darauf, an was man sich zu erinnern meint, wie man sich auch anstrengen
mag.
"Die Handbremse...", sagte die Gestalt und hielt die Hände leicht gefaltet vor sich, wie
ein verlegenes Kleinkind, das etwas ausgefressen hat. "Ich mußte die Handbremse
lösen, von diesem Baustellenfahrzeug, damit es zurückrollt auf die Fahrbahn und du
dann hineinfahren würdest. Wir haben natürlich genau alles vorher berechnet, damit du
auch wieder zurückkommen kannst. Die nachkommenden Fahrzeuge konnten
rechtzeitig bremsen. Du hattest ja einen guten Vorsprung, so mit 90 Sachen. Keine
Angst, lieber kleiner Oskar, in zehn Minuten holen dich die Mediziner wieder zurück."
"Soll das etwa heißen, ich bin - tot!? Aber wer sind Sie?"
Oskar wunderte sich, daß er nicht so sehr verblüfft war darüber, tot zu sein, sondern
eher darüber, daß ihn eben diese Tatsache nicht in helles Entsetzen verfallen ließ. Als
wäre es das Selbstverständlichste der Welt, tot zu sein. Oskar begegnete seiner Situation
mit einer noch nie gekannten Stimmungslage eines distanzierten Humors, eines
entspannenden Gefühls des Über-den-Dingen-Stehens. Er wunderte sich auch darüber,
daß er keine Art von Zorn verspürte für das, was sein Gegenüber ihm gerade bekannt
hatte. Er fand es im Gegenteil recht amüsant. In eine Planierwalze war er also
hineingedonnert! An was man doch alles sterben kann... Oskar war überhaupt nicht böse
auf den Auslöser seines Ablebens.
Doch plötzlich erinnerte sich Oskar an die Erzählungen klinisch Toter, die er als
Wissenschaftler immer in Frage gestellt hatte. Mit einem Mal fühlte er sich auf die
übelste Weise verschaukelt. Vulkanartig fuhr sein Trotz hoch:
„Nein! Nein! Das gibt es nicht. Das ist alles nur meine Einbildung. Ich bin tot, und
damit basta. Ein Leben nach dem Tode gibt es nicht.“
Die olivgrüne, weißgekleidete Gestalt sagte nichts, sondern setzte sich auf einen
stuhlartigen Vorsprung in der weichen, unförmigen Wand des merkwürdigen
Nervenzellen-Raumes. Er schien sagen zu wollen: Na gut, wenn dies hier alles nur
Einbildung ist, brauche ich ja nichts mehr zu reden. Mein Gerede wäre ja sowieso nur
die Einbildung eines anderen.
Oskar schwieg trotzig. Er wartete darauf, bewußtlos zu werden oder sonst irgendwie
aufzuhören, zu phantasieren. Es geschah aber lange Zeit nichts.
„Wahrscheinlich funkt mein Gehirn noch irgendwie herum und produziert diese Fata
Morgana“, sagte Oskar schließlich, wie zu sich selbst. Sein Gegenüber hatte aufgehört,
von ihm Notiz zu nehmen. Die Gestalt hatte die Beine lässig übereinandergeschlagen
und wippte gemächlich mit einem Fuß.
„Erstaunlich, wie klare Halluzinationen noch erzeugt werden können, das muß ich
schon sagen“, fuhr Oskar fort, aber mit weniger Überzeugungskraft in der Stimme. Wie
aus einem für sich selbst geschriebenen Referat vorlesend brummelte er weiter:
„Deswegen ist dies alles trotzdem nur Chemie. Fehlgeleitete Neurotransmitter. Von
einem Aufprall gereizte, noch gellende Nervenzellen. Ein noch aufflammendes,
aufloderndes Hirnmagnetfeld. Aber damit wird gleich Schluß sein. Dann wird alles
wieder schwarz und ich bin mausetot. Ausgelöscht. Nicht mehr existent. Null. Nichts.
Verstanden?“
Die olivgrüne Gestalt zuckte mit den Schultern und lächelte. Beide schwiegen wieder
für scheinbar lange Zeit. Schließlich beschloß sich Oskar, wieder zu einem Angriff
überzugehen.
„Was sitzen Sie da noch herum und grinsen? Ach, mit wem rede ich! Mit meinem
eigenen Hirngespinst! Erstaunlich, wie sehr die kulturelle Konditionierung ausgerechnet
auch bei mir doch noch drinsitzt! Ja, ja, das christliche Abendland - der jüdischchristliche Kulturkreis. Da wird man endlich erwachsen und lernt rational zu denken und nach dem Tod wird man doch noch von solchen Grenzerlebnissen verfolgt. Nicht
zu fassen. Nun ja, neunzehn Jahrhunderte Menschheitsgeschichte lassen sich wohl nicht
so einfach wegwischen. Auch nicht durch die Erkenntnisse der modernen
Humanbiologie.“
Sein Gegenüber zog die Augenbrauen hoch und nickte höflich.
„Übrigens, mein liebes Hirngespinst, für Sie bin ich außerdem kein kleiner, lieber
Oskar, sondern Herr Dr. Oskar von Linnewitz, falls Sie erlauben. Dr. von Linnewitz,
Doktor der Psychiatrie. Spezialgebiet Neurologie. Gehirnforschung, falls Sie mit dem
Wort Neurologie nichts anfangen können.“
Der olivgrün Gesichtige saß hell erfreut da, mit wie zum Lachen halbgeöffnetem Mund.
Zwei Reihen makelloser weißer Zähne blitzten auf. Er schien darauf gefaßt gewesen zu
sein, daß Herr Dr. Oskar von Linnewitz alles anzweifeln würde, was nun geschah und
geschehen sollte und überhaupt sehr bissig reagieren würde. Kein hochnäsiges
Kopfschütteln, kein diplomatisches falsches Lächeln, durch das verdeckt werden soll,
daß man sein Gegenüber in Wirklichkeit schon abgeschrieben hat. Statt dessen
freundliches Interesse, ja geradezu eine aufrichtige Anteilnahme.
„Genau so einen wie dich brauchen wir, Oskar. Das heißt, wie Sie, Herr Doktor von
Linnewitz. Einen, von dem weit und breit bekannt ist, daß er ganz und gar nicht an ein
Leben nach dem Tod, an Engel oder eine unsichtbare Welt glaubt. Wundersüchtige
UFO-Fans und religiöse Fanatiker gibt es ja genug. Denen glaubt ja keiner mehr, wenn
sie in Hypnose waren oder Mitglieder ihrer Sekte in psychiatrische Behandlung
kommen. Du kennst ja das Problem und bist in dieser Sache auf unserer Seite, ob du's
glaubst oder nicht. Du glaubst ja gar nicht, wie sehr du der Menschheit helfen kannst.
Wir freuen uns wirklich sehr, dich hier zu haben, Oskar, äh, ich meine, Sie, lieber Herr
Doktor von Linnewitz. Mit so einem wie dir können wir den Lauf der Wissenschaft
entscheidend beeinflussen."
Oskar saß einen Augenblick verdutzt da. Dann polterte er los:
"Sie, Sie, Sie! Sie unverschämter Schelm! Erst verfrachten Sie mich ins Jenseits, indem
Sie am Eigentum der Straßenwacht herumspielen und meinen neuen Jahreswagen
ruinieren und dann machen Sie sich auch noch über meine Eigenschaft als
Wissenschaftler lustig.“
„Wieso?“ fragte die olivgrüne Gestalt verwundert.
„Wieso? Also, das ist doch... ihr habt mir ja gerade meine wissenschaftliche Karriere
verpatzt! Es ist nicht zu fassen...! Gerade auf dieser meiner letzten Autofahrt war ich zu
einem großen Pharmakonzern unterwegs, der sich für meine neuesten Entdeckungen
interessierte und mit mir einen Vertrag abschließen wollte. Mein neues Buch wollten
die außerdem sponsern!“
„Ich weiß!“ sagte der olivgrün Gesichtige ruhig.
„Sie brauchen außerdem gar nicht erst versuchen, mir irgendwelche falschen
Hoffnungen auf eine sogenannte Rückkehr aus dem Jenseits unterzujubeln. Ja, ja, das
hättet ihr wohl gerne, daß ich dann aufwache und Engelsgeschichtchen zum Besten
gebe!“
Oskars Gegenüber winkte ab. „Nein, wir wollen doch nur...“
„Nein!“ unterbrach ihn Oskar. „Nein und nochmals nein! Mich könnt ihr nicht kaufen
mit solchen billigen Tricks. Ach, übrigens, wie wollt ihr mich denn innerhalb von den
zehn Minuten, von denen ihr geredet habt, überzeugen? Da bleibt ja nun wohl nicht
mehr viel Zeit übrig! Na, los beeil dich, mal, grünes Hirngespinst! Wir wollen doch
einmal sehen, was du so kannst! Ha ha, schwingen die hier große Reden über die
Wissenschaft, und dann läuft ihnen die Zeit ab!"
"Aber, aber, Oskar, wir haben jede Menge Zeit. Da unten in der Intensivstation sind's
nur zehn Minuten. Ach, was sage ich: Zehn Sekunden, nein, nicht einmal das, sieben
Sekunden! Aber hier - hier haben wir jede Menge Zeit - oder besser gesagt, es gibt hier
eigentlich gar keine Zeit.
Oskar merkte, daß sein Gegenüber Recht hatte. Er konnte nicht ausmachen, ob er
mehrere Stunden mit seinen Gegenüber gesprochen hatte oder nur wenige Sekunden.
Dieses unbekannte Gefühl der Zeitlosigkeit war irritierend und beruhigend gleichzeitig.
Die olivgrüne Gestalt merkte Oskars Verunsicherung und nahm Oskars Hand.
"Keine Sorge. Es wird alles gut werden. Nun zu dem, was wir mit dir vorhaben, mein
lieber Oskar.“
Oskar war irritiert darüber, daß sein Gegenüber ihn dauernd duzte und mit „lieber
Oskar“ anredete. Aber er merkte, daß es keinen Sinn hatte, weiter auf dem „Sie“ zu
beharren.
„Wir werden dir verschiedene Sachen zeigen aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten,
Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit.“
Na, das kann ja heiter werden, dachte Oskar. Ich habe ja jetzt schon jegliches Zeitgefühl
verloren.
„Aber du wirst dich an nichts erinnern können nach Ablauf der sieben Sekunden
Erdenzeit! An gar nichts, auch nicht an mich.“
„Wieso?“ fragte Oskar.
„Wir haben es nicht nötig, uns auf solch eine platte, einfallslose Art zu offenbaren. Du
würdest es dir ja auch nicht so wünschen. Es ist auch nicht in dieser Art und Weise
zulässig.“
„Ach ja, aber Handbremsen lösen von Planierwalzen, dagegen gibt es keine
Bestimmung?“ Oskar spürte einen Drang, sich nichts gefallen zu lassen. Wer weiß,
dachte er, am Ende bringen die mich dazu, einfach alles ohne Kritik zu glauben, aber
nicht mit mir!
Sein Gegenüber schien Oskars Gedanken zu lesen und lächelte.
„Nein, wir haben es nicht nötig, die Menschen zu überrumpeln. Nun zu unserem Projekt
mit dir. Die Informationen, die du hier bekommst, dürfen nicht so einfach mir nichts dir
nichts an Erdenbürger weitergegeben werden. Strenges Verbot von oberster Stelle. Man
läßt sich nicht in die Karten schauen. Statt dessen werden wir dir hier, aber nur hier, zu
dem, was wir dir zeigen werden, alles erklären, was du wissen willst. Am Ende kannst
du dann eine Entscheidung fällen.“
„Ach, das ist so wie in so einer frommen Veranstaltung, wo man auf der Gefühlsebene
manipuliert wird, bis man seinen eigenen Willen in den Wind schlägt und dann brav
nach vorne geht, um sich von so einer religiösen Vogelscheuche die Hand auflegen zu
lassen oder sich auf andere Art und Weise lächerlich zu machen“, konterte Oskar
lakonisch.
„Sehe ich aus wie eine Vogelscheuche?“, kicherte das grüne Gesicht.
„Nein, aber ich würde trotzdem Reißaus nehmen, wenn ich eine Krähe wäre!“ röchelte
Oskar bissig. Er war froh darüber, daß er sich ganz frei fühlte, mit dieser Gestalt so zu
reden und nicht von einer erzwungenen religiösen Ehrfurcht erfüllt wurde. Das gab ihm
die Gewißheit, er selbst und kein anderer zu sein.
„Na ja, Krähen sind ja auch kluge Vögel,“ stellte der Grüngesichtige fest. „Also, was
ich meine ist, wenn du „nein“ sagst, wäre alles vergessen und du würdest wieder ein
ganz normaler Neurologe werden. Wir wären dir dann auch nicht böse und würden dir
ganz bestimmt keinen Streich mehr spielen, Ehrenwort.“
„Und wenn ich „ja“ sage, werde ich mir eine riesige schwarze Bibel zulegen, und von
Haus zu Haus gehen, um Leute zu einer Sekte zu bekehren!“ hörte sich Oskar sagen.
Die hochgewachsene Gestalt mit den kindlichen Zügen lächelte. „Hm, Ja, daran habe
ich gar nicht gedacht, das wäre vielleicht gar nicht mal so verkehrt!“
Oskar spürte wieder seinen Trotz hochfahren.
„Also, los, laßt die Katze aus dem Sack, was habt ihr mit mir vor, ihr
Schicksalsspezialisten? Soll ich Weihwasser vertreiben oder als Guru nach Kaschmir
auswandern? Oder soll ich eine neue Sekte gründen, die an grüngesichtige
Außerirdische glaubt? Los, erzählen Sie, was steht auf dem Programm?“
Das olivgrüne Gesicht lächelte. „Also, was ich sagen wollte, wenn du „ja“ sagen
solltest, wirst du auch alles vergessen und wirst zuerst wieder ein ganz normaler
Neurologe – aber...“
„...aber ich werde jeden Morgen zwei Stunden lang meine Eingeweide in grünem Tee
waschen!“ frötzelte Oskar.
„Kann man das? Also, in frommer Extragymnastik sind wir jedenfalls nicht interessiert.
Aber wenn du „ja“ sagen solltest, würden wir uns erlauben, dich zu ganz bestimmter
Literatur zu führen.“
„Also, ich soll Archäologe werden und alte Schriftrollen ausbuddeln?“ fragte Oskar
verdutzt.
„Nein, so umständlich wird es nicht werden. Jedenfalls würde dich diese Literatur dann
zu Überzeugungen führen, die zumindest deinen Zweig der Wissenschaft vor
bestimmten bösen Einflüssen ein Stück weit bewahren könnte.“
„Oha ja, es gibt da schon eine ganze Reihe Bösewichte unter uns Neurologen, davon
kann ich ein Liedchen mitsingen, lieber Freund!“ prustete Oskar los.
„Also, wir würden dir helfen, ohne daß du es merken würdest, zu nützlichen Quellen zu
finden,...“
„Ach! Das wäre ja mal ’was für einen faulen Studenten, immer gleich die richtige
Quelle finden!“, winkte Oskar ab.
„Nein, nein, harte Arbeit würdest du trotzdem leisten müssen. Wir werden keine
vorgefertigten Informationen in dich einspeichern, wie in einen Computer.“
„Wieso nicht, was habt ihr gegen Computer?“
„Nein, das wäre, aus menschlicher Perspektive gesehen, nicht fair anderen Menschen
gegenüber.“
„Ja, ja, seid fair zu anderen Fahrradfahrern im Straßenverkehr und tut jeden Tag eine
gute Tat und gebt jedem Tierchen sein Pläsierchen“, sang Oskar. Er wunderte sich, daß
sich sein Gegenüber nicht aus der Fassung bringen ließ durch seine zynischen
Zwischenbemerkungen.
„Also, du würdest von uns bestimmte Informationen zugespielt bekommen, die du
selbst interessant finden würdest, mit oder ohne Fahrrad. Bei den Pfadfindern brauchst
du nicht Mitglied zu werden deshalb.“
„Und was soll ich dann machen, mit diesen Informationen?“
„Nun, du würdest Verschiedenes schreiben und dann in bescheidenem Rahmen an die
Öffentlichkeit gehen. Deine Veröffentlichungen würden sich nicht mehr ausschließlich
mit Randgebieten der Humanbiologie befassen, sondern auch das ganze Fundament der
Wissenschaft mit im Auge haben. Du würdest philosophische Grundsatzfragen stellen,
auf ethische Konsequenzen hinweisen und so weiter. Aber wie gesagt, wir wollen Dir
nicht das Gefühl geben, wir überrumpeln Dich, wenn es auch so aussieht, unter diesen
Umständen, mit dem Unfall.“
„Na, ihr seid mir ja Schicksalsspezialisten! Ihr überrumpelt mich, das es nur so rumpelt,
und dann wollt ihr mir das Gefühl geben, es rumpelt nicht, ach wie gut, daß niemand
weiß, daß ich armes Stilzchen überrumpelt wurde...“, hörte Oskar sich wieder kontern.
Insgeheim war er aber fasziniert von dem Projekt, das man für ihn geplant hatte.
„Ja, es kann schon so aussehen, als ob wir mit dem Schicksal anderer russisches
Roulette spielen. Aber wir sind nicht für die Schicksale der Menschen verantwortlich,
nur ab und zu dürfen wir etwas mit Hand anlegen. Schließlich wissen auch wir so oder
so nicht, was, unter dem Strich gesehen, in deinem Leben geschehen wird. In dieser
Sache geht es nicht um dein letztendliches Schicksal, denn dieses liegt in Händen, die
über uns sind.“
„Was soll dann also das Ganze?“
„Es geht hier darum, dich mit einzuspannen für eine Arbeit, die nicht nur sehr
notwendig ist, sondern dir selbst auch viel Freude machen wird. Und da du nun schon
mal hier bist, werden wir uns erlauben, dir ein Mitentscheidungsrecht zu geben in dieser
Sache.“
„Sehr demokratisch!“, konterte Oskar.
„Nun, lieber Oskar - äh, ich meine, lieber Doktor von Linnewitz - machen wir uns auf
die Reise! Bevor wir starten, erlaube mir noch eine Bemerkung am Rande: Glaube
nicht, daß du hier wärst, wenn du zum gleichen Zeitpunkt eines endgültigen Todes
gestorben wärst! Du wärst dann an einem schrecklichen Ort. Aber damit möchte ich
dich jetzt nicht einschüchtern. Statt dessen wollen wir gleich in den ersten dieser Tunnel
steigen, zu unserer ersten Lektion.”
Oskar fand nun sein Gefühl bestätigt, das er hatte, als er anfangs neugierig gemustert
wurde, nämlich, daß sein Gegenüber in Wirklichkeit schon alles über ihn wußte und
seine Neugierde nur aus Höflichkeit vorgespielt hatte, um nicht altklug zu wirken.
Langsam wurde Oskar die olivgrün-gesichtige Gestalt sympathisch, obwohl er den
Gedanken haßte, sich möglicherweise eingestehen zu müssen, es hier mit einer Art
Engel zu tun zu haben. Allerdings vermochte dies nicht seinen Ärger über den
Ausdruck "Randgebiete der Humanbiologie" auszulöschen. Was für eine eklatante
Mißbilligung der Neurologie! Nichts desto trotz war Oskar jetzt auch neugierig auf die
angebotene Tunnelreise geworden.
"Nun, was soll's. Verlieren kann ich ja dabei wohl nichts. Ich will ja auch nicht in alle
Ewigkeit in dieser wattierten Stube herumsitzen. In den Tunnel dort soll ich mit
hineingehen?"
Schon waren beide in dem ersten Tunnel verschwunden.
Der Beschluß
Kaum waren sie aus dem ersten Tunnel heraus, da griff Oskar instinktiv nach dem
weißen Gewand des Engels. Ein gähnender Abgrund tat sich vor ihnen auf. "Keine
Angst, Oskar", sagte der Engel. "Wir fallen nicht." Oskar bemerkte, daß sie sich in
einem kleinen, transparenten, halbschalenförmigen Balkon befanden, der hell leuchtete,
so wie fluoreszierendes Holz nachts im Wald leuchtet. Plötzlich öffnete sich ein
Himmel über ihnen. Oskar versuchte vergeblich hinaufzublicken. Etwas wie ein
Kräftefeld ließ ihn unweigerlich beim Erreichen einer gewissen Höhe des Sichtfelds
seinen unsichtbaren Kopf wieder nach unten bewegen. So mußte sich Oskar damit
begnügen, die sich in ihrer Intensität und Farbe ständig verändernden Strahlen eines
gewaltigen Lichtes ausmachen zu können, das von dort oben kam, wo Oskar nicht
hinsehen konnte. Plötzlich erscholl es wie von einem riesigen Chor: "Die Sitzung ist
eröffnet. Tretet ein." Gleichzeitig gingen überall in der Ferne gigantische Vorhänge
hoch. Eine ganze Armee von wundersamen Wesen begann sich durch die so
entstandenen Öffnungen zu drängen. Sie waren von verschiedenartigem Aussehen und
in Gruppen geordnet. Oskar fielen vor allem seltsame Kreaturen auf, die mehrere Köpfe
hatten, mit tierischen und menschlichen Zügen, und die sich auf merkwürdigen
Radkonstruktionen bewegten, deren technische Beschaffenheit zu entschlüsseln ihm
unsichtbare Kopfschmerzen bereitete. Überall gab es Kreaturen zu sehen, deren
Beschaffenheit die kühnste Phantasie überflügelt hätte. In der Ferne, an den Eingängen,
konnte Oskar die Silhouetten von besonders großen Gestalten ausmachen, die einer
Vielzahl von Heeresformationen unterschiedlichster Wesensart Plätze zuzuweisen
schienen. Schließlich trat für eine lange Weile absolute Stille und Bewegungslosigkeit
ein. Oskar hätte gerne gefragt, was jetzt los sei, aber nicht einmal er wagte, auch nur
einen Schnaufer zu tun und hielt den Atem an. Er bemerkte, daß jedes der Wesen in
einer schwach leuchtenden Schale saß oder stand. Jedes hatte seine ganz bestimmte Art
von Schale und es schien, als ob jede der Schalen ganz speziell für das jeweilige Wesen,
das nun darin seine bequeme Stellung gefunden hatte, angefertigt war. Oskar wagte
nicht, sich von seinem Platz zu rühren.
Plötzlich nahm das Licht von oben an Intensität zu. Ein gewaltiges Rauschen erfüllte
den Raum und kündigte die darauf folgende Chorbotschaft an: "Der Beschluß vom
Anfang und vom Ende wird bekannt gegeben."
Wieder eine kurze Weile lang absolute Totenstille. Danach ein allgemeines Summen
und Rascheln von der wie in einem riesigen Stadion angeordneten Zuhörerschaft, das
sich aber im Vergleich zu dem Rauschen von oben wie ein penetrantes Papierrascheln
anhörte.
"Der Beschluß... bekannt... . Vom Ende... Beschluß... Anfang... gegeben...", tuschelten
die zuhörenden Gestalten durcheinander. Danach wieder Stille und Bewegungslosigkeit.
"Der Beschluß lautet”, dröhnte es wieder von oben "Es wird ein Wesen ins Sein gerufen
und ist schon da, das UNSERE Züge trägt! Es ist zwar schwächer als ihr alle, aber dafür
loyal UNS gegenüber! Es wird ganz wie WIR handeln und denken und von allem
weglaufen, das nicht UNSEREM Wesen entspricht! Es wird alle anderen Kreaturen
beherrschen und über sie richten. Ihr werdet auf sie aufpassen. Ihr seid zwar alle ganz
vortreffliche Geschöpfe. Aber diese Art von Wesen übertrifft alles. Dies ist der
Beschluß. Irgendwelche Einwände?"
Oskar wunderte sich, daß diese gewaltige Chorstimme dazu aufforderte, Einwände
verlauten zu lassen. Wer würde es wohl wagen, solch einer Stimme etwas zu antworten,
ja ganz davon zu schweigen, ihr gegenüber irgendwelche Einwände verlauten zu lassen?
Wieder durchlief eine Kettenreaktion von Getuschel und Geraune die riesige
Zuhörermenge unten. Einige Satzfetzen konnte Oskar aufschnappen:
"... Wie viele Dimensionen die wohl zugeteilt kriegen? Ob wir die wohl überhaupt je zu
begreifen kriegen? Wie dumm und beschränkt wir doch sind. Mehr Horizont sollte man
haben..."
In diesem Moment durchzitterte ein dumpfes Krachen die halbsichtbaren
Zuschauertribünen mit ihren hell leuchtenden Schalen. Wie ein gewaltiges Seebeben
begann sich etwas Gigantisches im tiefsten Dunkel unterhalb der Tribünen zu regen.
"Der Lichtblitzdonnerbomber... der Lichtblitzdonnerbomber!", riefen alle
durcheinander. Wieder wollte sich Oskar am Gewand seines Begleiters festhalten, als er
mit einem Mal durch einen gewaltigen, Mark und Bein erschütternden Donner
erschreckt wurde und wie elektrisiert stehenblieb. Da wurde die Zuschauertribüne durch
ein schreckliches Reißen und Stöhnen in zwei Hälften geteilt. Eine riesige engelhafte
Gestalt quoll aus der Öffnung nach oben. Sie war von einem unangenehm künstlichen
Licht durchleuchtet und hatte eine bestechende Form und Schönheit. "Der
Lichtblitzdonnerbomber", flüsterte Oskars Begleiter. Er hatte bisher nichts gesagt.
"Immer muß er so angeben."
"So, wieder einmal zu spät. Immer eine extra Einladung nötig. Wohl wieder unterwegs
gewesen", orgelte die Chorstimme von oben. Sie schien unbeeindruckt durch das
Auftreten des Lichtblitzdonnerbombers. Der Lichtblitzdonnerbomber lächelte
ungerührt. Er hatte feine, intelligente Gesichtszüge, die nicht menschlich waren, aber
doch in ihrer Ausdrucksweise mit denen eines Menschen vergleichbar waren. Oskar
meinte eine Sekunde lang, den gewieften und sphinxhaften Diplomaten eines korrupten
Landes wiederzuerkennen, den er einmal im Fernsehen gesehen und über den er sich so
aufgeregt hatte. Aber nur für eine Sekunde. Danach starrte er nur noch fassungslos auf
das faszinierende und abwechslungsreiche Mienenspiel des Lichtblitzdonnerbombers.
"So, so, ein neues Wesen, höre ich, belieben die Herrschaften auf den Markt zu bringen.
Wie soll denn die neue Création heißen? Super-Über-Engel? Orgel-Gigant? Das wollen
wir mal sehen, ob es noch etwas Höheres als uns Über-Engel gibt", zischelte der
Lichtblitzdonnerbomber.
"Du, ein Über-Engel?", rauschte die Chorstimme von oben zurück. "Wo ist denn deine
Schale? Ein Über-Engel, der seine Schale verlassen hat! Ein Über-Engel, der nicht
weiß, wo er hingehört! Das wollen wir doch erst einmal klarstellen, daß ein Über-Engel,
der ohne Schale umherschwirrt, von Rechts wegen kein Über-Engel ist! Das war das
Erste. Und zweitens: Das Neue Wesen heißt Humus. Es ist ganz aus totem,
abgestorbenem Pflanzen- und Tiermaterial. Leben bekommt es dann aber von UNS.
Gerade dadurch, daß dieses Humus-Wesen von sich aus nur Pflanzen- und Tierkompost,
nur biologischen Tod in sich hat, und somit ganz auf UNSER Leben angewiesen ist,
wird es über alle anderen Wesen herrschen! Wer nicht in seiner Schale bleibt, so wie
du, wird das aber nie begreifen können. Diese Wesen, diese Humusse - sie allein sind
würdig, UNSERE Wesensart in sich tragen zu dürfen. Und für euch alle anderen gibt es
nur eines - entweder ihr bleibt in euren Schalen und steht den Humussen bei. Oder aber
ihr wollt es nicht wahrhaben und wollt den Humussen nicht beistehen. Dann fliegt ihr
aus euren Schalen heraus! Fällt eine weise Entscheidung."
Einen Moment lang herrschte wieder Stille. Dann fingen die Wesen an, untereinander
zu tuscheln:
"... Ein Wesen aus totem, organischen Material! Uns richten! Ohne eigenes Leben, nur
Leben von oben!"
Das Antlitz des Lichtblitzdonnerbombers begann sich zu verfinstern. Wie ein
ungezügeltes Pferd schwenkte er sein Haupt herum und fauchte:
"Macht was ihr wollt, mit diesen Kompostwesen! Ich jedenfalls werde euch beweisen,
daß ich doch höher bin! Und zwar ohne Schale! Ohne Schale, bin ich nicht nur ein
Über-Engel - jawohl, ihr habt richtig gehört, ich bin immer noch ein Über-Engel! - aber
nicht nur das, nicht nur ein Über-Engel, sondern ein Anti-Über-Engel, das ist noch
höher, das ist das Höchste, ich bin der Höchste, folgt mir nach, verlaßt eure Schalen,
glaubt nicht dieser Orgel da oben! Es gibt etwas höheres, ihr werdet es nicht bereuen!
Ha, ha! Auf dämliche Humusklopse aufpassen, da hätte ich ja gleich Gärtner werden
sollen! Mich jedenfalls werden diese verschimmelten Kartoffeln nicht richten können!"
Die Intensität des Lichtes von oben verstärkte sich, während auch das künstliche Licht
des Lichtblitzdonnerbombers greller und greller wurde. Die zwei sich
entgegenwirkenden Lichtarten begannen sich furchtbar zu beißen, wie zwei sich
beißende Farben, nur schlimmer. Oskar mußte wegsehen, seine unsichtbaren Augen
begannen zu schmerzen. Er hörte nur noch, wie die Orgelklänge mächtiger und
mächtiger wurden und wie der Lichtblitzdonnerbomber in unverständlichen und
unbeschreiblichen Lauten anfing zu feixen und zu kreischen und schaurig zu brummen.
Dann bemerkte Oskar, wie das grelle, unnatürliche Licht des Lichtblitzdonnerbombers
plötzlich erlosch. Der Lichtblitzdonnerbomber hatte sich nun in einen riesigen
schwarzen Tyrannosaurus Rex verwandelt, der mit blutunterlaufenen Augen böse und
frech grinste, mit dem Kopf zuerst nach hinten zurückschwappte und sich mit einem
genüßlichen Grunzen und weit hinaushallendem Donnerkrachen in den sich unter ihm
öffnenden Abgrund hinunterstieß.
Der Gegensatz zwischen den wohlangeordneten Zuschauertribünen mit den schönen
und erhabenen Gestalten darin und diesem Lichtblitzdonnerbomber-Monster war so
überraschend, daß Oskar unwillkürlich "huch" ausrief. Auch die Wesen unter ihm
schienen entsetzt zu sein. Eine tumultartige Stimmung breitete sich aus, wie in einem
Parlament nach Bekanntwerdung eines Staatstreiches.
"... Anti-Engel... ohne Schale... der Höchste...", riefen einige, "... Komposthaufen...".
"... Hoch sollen sie leben, die Humusse! ...", tönte es von anderen.
"Die Sitzung ist geschlossen", kam es von oben. "Fällt eine weise Entscheidung. Bleibt
in euren Schalen. Prüft genau, was ihr tut!"
"Komm!", sprach die wohlklingende Baritonstimme neben Oskar. Und schon hatte er
Oskars Hand ergriffen und sie glitten in den hinter ihnen liegenden Tunnel zurück.
"Was war das?", fragte Oskar den Engel, als sie wieder in dem NervenzellenVerdickungs-Raum angekommen waren, von dem aus sie den Tunnel betreten hatten.
"Eine Begebenheit aus der Gegenwart der großen Orgel. Für Sie, lieber Herr Doktor von
Linnewitz, anschaulich und begreifbar gemacht. Sie liegt lange Zeit zurück, das heißt,
wenn man dies in Zeitbegriffen ausdrücken will. Wir haben Ihnen einen Einblick in
diese Begebenheit gewährt, damit Sie die weiteren Lektionen im großen
Zusammenhang verstehen und am Ende die richtige Entscheidung fällen können."
"Wer sind diese Humusse? Warum konnte ich diese Orgelmaschinerie nicht sehen? Was
hat es mit diesen Schalen auf sich?", sprudelte es aus Oskar heraus.
"Die große Orgel ist das einzige Wesen, das keiner Schale bedarf", erklärte der Engel.
"Sie ist das einzige Wesen, das nicht die Möglichkeit hat, von seinem Platz zu weichen.
Dabei ist sie doch gleichzeitig überall. Die große Orgel weist allen anderen Wesen
Schalen, das heißt, Plätze oder Behausungen zu. Über-Engel helfen ihr dabei. Niemand
kann ihr einen Platz zuweisen oder sie verstimmen. Sie ist immer richtig gestimmt und
kann sich nicht verändern. Alle anderen Wesen aber haben die Fähigkeit, die ihnen von
der Orgel zugewiesenen Plätze oder Schalen zu verlassen. Dann erzeugen sie aber nur
noch Mißtöne, denn sie stimmen nicht mehr mit der großen Orgel überein. Auch beißt
sich ihr Licht mit dem der Orgel, denn es liegt nicht mehr auf der Wellenlänge des
Orgellichts. Da die anderen Wesen sich verändern können, passen sie schließlich nicht
mehr in ihre Schalen hinein, für die sie ursprünglich geschaffen waren. Sie sind dann
dazu verdammt, sich eine Lebensform fern vom Orgellicht aufzubauen. Das Fatale
dabei ist, daß alles Leben von der Orgel kommt. So bewegen sich jene schalenlosen
Wesen schließlich in einer Lebensform, die nur scheinbar eine ist, in einer AntiLebensform. Alle ihre Lebensenergie ist eine Energie, die auf der Unwahrheit, auf dem
Anti-Leben aufgebaut ist. Die Seinswirklichkeit gemäß der Wahrheit, gemäß dem, was
wirklich etwas sein kann und darf und dabei gut ist, ist nämlich die Seinswirklichkeit,
die den Platzanweisungen der Orgel entspricht.
Da nun viele der vortrefflichen Engelswesen, die du gesehen hast, ihre Schalen
verlassen haben beziehungsweise verlassen werden, allen voran der
Lichtblitzdonnerbomber, hat die Orgel beschlossen, allen einen Denkzettel zu
verpassen. Sie will beziehungsweise wollte nämlich beweisen, daß viel niedrigere
Wesen, aus totem Kompost hergestellt, den Platzzuweisungen der Orgel gegenüber
weitaus besser eingestimmt sein werden als jene vortrefflichen Engelswesen. Leider
haben auch die Humusse versagt und sich zur Schalenlosigkeit überreden lassen.
Deswegen konntest du, lieber Oskar, die Orgel nicht sehen, denn nur Humusse, die die
Schale des Orgelhumusprototyps angenommen haben, können die Orgel sehen. Für alle
anderen hätte ein Blick hinauf zur Orgel vernichtende Folgen. Der Orgelhumusprototyp
ist der ursprüngliche Humusentwurf aus dem Zentrum und unveränderlichen Sein der
Orgel. Er ist Teil der Orgel und verkörpert gleichzeitig das Ideal des Humuswesens und
den Beschluß der Orgel, Humusse herzustellen. Er wird auch Brotmensch genannt. Von
ihm später mehr."
"Moment mal", warf Oskar ein, "soll das etwa heißen, ich bin auch so eine Création aus
Kompost? Aus verfaulten Apfelschalen, mit Ungeziefer und Würmern besiedelt, feucht
und muffig? Nun macht aber einmal einen Punkt!"
Der Engel lachte. "Nun ja, direkt nicht. Aber indirekt schon. Die Humuserbsubstanz
steckt auch in dir. Und ich muß sagen, ich wünschte mir manchmal auch, ein Humus zu
sein. Denn wenn ihr schon recht niedrig seid, so habt ihr doch Vorrechte - unglaublich.
Aber ich bleibe nun mal an meinem Platz. Es wäre zu riskant, seine Schale zu verlieren!
Man könnte für immer von der Orgel fern bleiben - wie schrecklich!"
"Was ist denn dein Platz, in welcher Schale steckst du?"
"Nun, ich bin so für dies und das zuständig. Meistens muß ich mich um Kinder
kümmern. Es gibt Kinder, denen wir beistehen müssen. Vor allem Kinder, die leiden
oder sogar sterben. Sie sind dann in einer fürchterlichen Finsternis und sehen überhaupt
kein Licht mehr. Darum sehen wir dann für sie zur Orgel hinauf. Aber das gehört
eigentlich nicht zu dem, was wir dir zeigen wollen und es wäre auch zu schwierig, alles
zu erklären, was damit zusammenhängt. Statt dessen wollen wir dir zeigen, wie die
Humusse einmal fast ausgestorben wären. Nachdem sie ihren Platz verlassen hatten,
bekamen sie weitere Möglichkeiten, der Orgel gemäß eingestimmt zu sein. Das paßte
nun einigen vorwitzigen Individuen aus unseren Reihen ganz und gar nicht. Sie
verließen ihrerseits ihre Plätze und vermischten die Humuserbsubstanz mit ihrer
Wesensart. Dadurch wäre fast die ganze Humusnatur ausgelöscht worden und die Orgel
hätte von vorne anfangen müssen. Ein paar wenige Humusse aber blieben
hundertprozentige Humusse und so konnte die Orgel unter Beweis stellen, daß sie Recht
hatte mit der Behauptung, die Humusse würden über alle Kreaturen herrschen. Komm
mit, wir gehen jetzt in den Tunnel dort drüben!"
"Geht es wieder an den Rand solch eines Abgrunds?", fragte Oskar argwöhnisch. "Ich
bin nämlich nicht schwindelfrei."
"Nein", antwortete der Engel, "diesmal werden wir uns etwas auf der guten alten Erde
ansehen."
Oskar und der Engel verschwanden in dem zweiten Tunnel.
Sabotage
Und tatsächlich - der Engel hatte Recht gehabt. Am anderen Ende des zweiten Tunnels
fanden sie sich auf der Erde wieder. Aber irgendwie war diese Erde so ganz anders, als
Oskar sie kannte. Niemals zuvor hatte er solch eigenartige Pflanzen gesehen wie an dem
Ort, an dem er sich nun mit dem Engel befand. Unzählige riesige Blüten in den grellsten
Farben rankten sich an meterdicken Bäumen mit dicken, ledrigen Blättern hoch. Sie
befanden sich am Rande eines Hochplateaus. Vor ihnen breitete sich eine riesige Ebene
aus. Weiter links war eine steinerne Stadt zu sehen, die sich in den Berghang
hineingekauert hatte. Die Dächer waren flach, manche hatten ovale oder runde Kuppeln.
Sie gingen einige hundert Meter, bis hinter den Lianen, Farnen und Orchideen ein
Stadttor auftauchte. Eine bucklige Gestalt in schwerer Rüstung lief schwerfällig davor
hin und her. Behutsam zupfte Oskar seinen Begleiter, der vor ihm herging, am Gewand.
"Ist es nicht gefährlich, was wir vorhaben? Dieser Wächter sieht nicht gerade freundlich
aus!"
"Keine Angst", flüsterte der Engel, "wir sind hier für die anderen unsichtbar. Wir
warten ab, bis sich das Tor öffnet, dann schlüpfen wir schnell mit hinein. Sieh' nur zu,
daß du keinen Lärm machst oder irgendwie anstößt. Alles andere mach' ich schon."
Am Tor angekommen, bemerkte Oskar, daß der Wächter, der davor patrouillierte, gar
keine Rüstung hatte, sondern daß das, was Oskar von weitem für eine Rüstung gehalten
hatte, in Wirklichkeit angewachsene Hornplatten waren. Außerdem hatte er nur ein
Auge - aber was für eines! Oskar fühlte sich wieder einmal verschaukelt.
"Ihr habt mir doch erzählt, wir würden auf der Erde landen. Und jetzt laufen schon
wieder solche Sagengestalten herum. Hat es denn kein Ende mit diesen Fabelwesen?",
sagte er laut tuschelnd zum Engel.
Der Engel machte "psst" und zerrte Oskar hinter einen Busch.
Der einäugige Wächter hatte das aufgebrachte Getuschel Oskars gehört. Wie ein feister
Käfer, der sich über eine Beute hermacht, katapultierte er sich auf die Stelle, an der
Oskar eben noch gestanden hatte und begann sogleich, sie eingehend zu mustern. Er riß
auch etwas Gras heraus und drehte es hin und her vor seinem riesigen Auge. Danach
stampfte er mit einer erstaunlichen Schnelligkeit knöcheltiefe Löcher in die Erde, indem
er wild auf und ab sprang. Leise grunzend trottete er schließlich wieder zum Stadttor.
Als er wieder damit begonnen hatte, vor dem Tor hin und her zu laufen, flüsterte der
Engel Oskar ins Ohr: "Wir sind schon auf der Erde. Aber in einer sehr weit
zurückliegenden Zeit. Du wirst schon noch normale Menschen zu Gesicht bekommen.
Keine Angst, wart's nur ab. Dieser skurrile Bursche ist derzeit hier noch eine
Ausnahme."
Leise kamen sie wieder hinter dem Busch hervorgeschlichen. Da näherte sich eine
kleine Karawane. Ein knappes Dutzend Esel war mit riesigen Stoffballen beladen. In
greifbarer Nähe zogen sie an ihnen vorbei. Die Männer hatten sonnengebräunte,
runzlige Gesichter und reich bestickte Gewänder. Oskar war froh, die zwar sehr
fremdartigen, aber doch wenigstens ganz gewöhnlich menschlichen Stoffhändler zu
sehen. Es kam ihm vor, als hätte er seit Jahren keine Menschen mehr gesehen. Am
liebsten hätte er die Stoffhändler umarmt. Aber er selbst war ja unsichtbar.
"Los, dicht hinter ihnen her" flüsterte der Engel. Unmittelbar vor dem Stadttor
angekommen, hielt die Karawane. Ein Anführer sprach mit dem einäugigen Wächter.
Der nickte schließlich und betätigte einen Hebel. Schnell liefen Oskar und der Engel
dicht hinter der Gruppe her. Kaum waren sie in der Stadt, da rasselte das Tor hinter
ihnen herunter und fiel mit einem dumpfen Schlag zu. Oskar mußte dicht hinter dem
Engel her folgen, um nicht im Marktgetümmel verloren zu gehen. Er bemerkte, daß er
verstand, was die Menschen sagten, obwohl er deren Sprache noch nie gehört hatte.
Überall roch es nach Gewürzen und Seifen.
Plötzlich erscholl von einem Turm in der Mitte des Platzes der laute Gesang einer
Männerstimme gefolgt von einem langgezogenen Ruflaut. Alle hielten den Atem an.
Einen Moment lang herrschte gespannte Stille. Eine Gruppe Soldaten stürmte im
Gleichschritt heran und machte auf ein Kommando halt. Blitzschnell bildeten sie aus
ihren rechteckigen Schutzschildern eine Tribüne über ihren Köpfen. Ein stark beleibter,
sultanartiger Mann mit auffallend großer und beringter Hakennase, zu Zöpfen
geflochtenem Zottelbart und glitzernden Gewändern wurde auf die Schutzschildtribüne
gehievt. Stürmischer Beifall, Jubelrufe. Der "Sultan" hub an:
"Liebe Bürger von Cuzurucu! Hört, was die Götter dem großen und herrlichen
Herrscher Majschdi von Cuzurucu mitgeteilt haben!"
Der "Sultan" verdrehte vielversprechend seine großen dunklen Augen, wie ein
Zauberkünstler im Variété, der eine Gruppe von Kindern beeindrucken möchte. Er
machte eine theatralische Handbewegung, um Ruhe einkehren zu lassen. Einige
Sekunden lang genoß er sichtlich das Gefühl, die Spannung steigen zu lassen. Dann
erklärte er feierlich, mit übertrieben stark gerollten R-Lauten:
"So hört denn, liebe Bürger! Fithalima, die vielgeliebte Tochter des großen Majschdi
wird mit einem Gott verheiratet werden. Sie werden einen "Sohn der Götter" haben, der
die Herrschaft von Cuzurucu antritt. Unter seiner Herrschaft wird Cuzurucu zu einer
Macht, die sich bis weit über den großen Strom erstrecken wird. Die Götter haben dem
großen Majschdi außerdem das Recht gegeben, sich auch "Sohn der Götter" nennen zu
lassen, obwohl er nur von menschlichen Eltern stammt. Daher heißt er ab heute
'Majschdi, der Zweite, Herrscher von Cuzurucu, Sohn der Götter'. Dieser heutige Tag
soll ein neuer Feiertag sein: Der Tag der Götter!"
Der "Sultan" beschloß seine Rede mit einer weiteren, schwungvollen Handbewegung.
"Hoch lebe Majschdi, Sohn der Götter!" brüllte die Menge wie elektrisiert. Alle warfen
sich nieder und riefen wieder: "Hoch lebe Majschdi, Sohn der Götter! Es lebe
Cuzurucu!" Danach trat eine Gruppe von Musikanten auf, die fröhliche und
ausgelassene Tanzmusik spielten. Alle tanzten, sprangen, drehten sich im Kreise und
klatschten in die Hände.
"O weh, wehe, wehe, wehe!", rief eine laut klagende Stimme von der anderen Seite des
Platzes. Einige drehten sich um.
"O weh, wehe, wehe, wehe!" rief die Stimme wieder. Nun hatten sich alle nach dieser
Stimme umgewandt. Keiner tanzte und jubilierte mehr. Auch die Musikergruppe hatte
aufgehört zu spielen.
"O weh, wehe, wehe, wehe!" klagte die Stimme wieder. Alle blickten nun wie gebannt
auf einen einfach gekleideten, vollbärtigen Mann mit Halbglatze und traurigen,
ausdrucksstarken und ruhigen Augen, die lebhaft die Menge musterten. Mit
angehaltenem Atem vernahmen alle das Gedicht dieses Mannes, der bei seinem Vortrag
gemessenen Schrittes hin und her lief. Nach jeder Zeile drehte er sich um und sah einen
Moment lang auf die entsetzte Menschenmenge:
O, wehe, wehe, wehe, wehe,
den Untergang der Stadt ich sehe.
Erst geht's ihr besser, scheinbar nur,
die Götter schenken Freude pur;
sie siegt und wächst und bläht sich immermehr,
doch - weh! - was wächst, das sind kein' Menschen mehr!
Die Engel, die sie rief, wird sie nicht los!
Erst zeugen Helden sie, das wird famos!
Doch dann, o nein, o Graus, o Schreck, o weh, o weh,
wird ein Getüm daraus, mit sieben Zeh'!
Zum Schlusse dann ist's aus mit Menschen hier,
all' Fleisch verderbt, der Schöpfung edle Zier.
Dir, Herrscher Majschdi, rat' ich drum:
Treib' dich nicht mit den Engeln 'rum!
Die hätten's nämlich gern, daß sie zerstörten
der Menschen Stammbaum, den sie nun betörten.
Ihr lieben Leut' verlaßt euch nicht
auf Engels- und Dämonenlicht.
Wir Menschen sind zwar niedrig, schwach, verschlafen
und doch zum Richten übers All erschaffen.
Der höchste Gott, der wird uns helfen,
wenn wir nur lassen von den Elfen.
Der Weg wird scheinbar schwierig sein,
doch hält er uns vom Bösen rein.
"Sabotage! Staatsbeleidigung! Festnehmen!" zeterte der "Sultan" und sprang auf seinem
Schutzschilderpodest wie von der Tarantel gestochen auf und ab. Schnell und
mechanisch parierten vier Soldaten der Schutzschildgruppe und legten Hand an den
skandalösen Dichter, der keinerlei Versuche machte, sich zu wehren.
"Abführen!", kommandierte der "Sultan", und zu dem Dichter gewandt:
"Du wirst dich vor dem großen Majschdi selbst zu verantworten haben!"
Oskar und der Engel folgten den Soldaten, die den Dichter durch die halbe Stadt, an
großen, quadratischen Springbrunnen und eng aneinandergebauten Häusern vorbei, zu
einem riesigen, tortenförmigen Palast führten.
"So, du schon wieder, Heon."
Der große Majschdi war noch beleibter als der "Sultan". Er war mit einem spitz
zulaufenden goldenen Turban und Unmengen von Ketten aus bunten Steinen
geschmückt. Gelangweilt stopfte er sich eine faustgroße Portion Weintrauben in seinen
breiten Mund. Laut schmatzend und dabei völlig ungeniert blickte er den Dichter Heon
aus zusammengekniffenen Augen an. Schließlich, mit noch halbvollem Mund, fuhr er
fort:
"Wann wirst du endlich aufhören, die Massen zu irritieren? Haben dich die vielen
Verhaftungen immer noch nicht vernünftig machen können? Bisher waren wir sehr
gutmütig und tolerant. Aber das könnte sich eines Tages ändern! Nun, sag an, was hast
du vorzubringen zu deiner Verteidigung?"
Heon warf sich vor dem Weintraubenessser nieder. Dann richtete er sich auf den Knien
auf und begann seine "Verteidigung":
"Großer, ehrwürdiger Majschdi, Herrscher von Cuzurucu. Gestattet mir, Euch zu
danken für Eure Langmütigkeit und Euch auch dieses Mal zu versichern, daß ich in
keinster Weise an Sabotage oder Untergrabung Eurer Autorität interessiert bin, sondern
nur das Beste für unser gemeinsames, schönes Heimatland Cuzurucu im Sinne habe,
Ehrenwort. Genau deshalb kann ich nicht schweigen, wenn ich das Wohl von Cuzurucu
in Gefahr sehe. Ich bin ganz sicher, daß auch Euch, mein lieber Herrscher, nichts
anderes am Herzen liegt. Aber ist es nicht möglich, daß die Art und Weise, in der ihr
Cuzurucu zum Aufblühen bringen wollt, ein Weg ist, der sich schließlich fatal, ja sogar
vernichtend für Cuzurucu auswirkt?"
Der große Majschdi spuckte ein paar Weintraubenkerne in eine goldene Schale.
"Paß' auf, jetzt fängt er schon wieder von den Göttern und Engeln an", sagte er zu einem
Diener neben ihm.
Heon ging direkt zur Sache über:
"Großer Majschdi, ich möchte Euch nochmals eindringlich warnen vor dem Verkehr
mit den Engeln!"
"Siehst du, ich hab's ja gesagt. Schon wieder fängt er davon an."
Majschdis Diener nickte pflichtbewußt und nahm ihm die goldene Schale mit den
Kernen ab. Majschdi richtete sich etwas auf in seinem Thron und blickte Heon
freundlich und belustigt an:
"Mein lieber Heon! Ich verstehe nicht, was Ihr immer gegen die Aufbesserung der
Menschheit durch die Engel habt. Warum wollt Ihr, daß die Menschen weiter schwach,
gebrechlich, dumm und... (Majschdi lachte und faßte sich an seinen Bauch)... gefräßig
bleiben? Wißt ihr nicht, wer uns bei der Schlacht gegen die Atatarener vor zwanzig
Tagen geholfen hat? Seid ihr nicht froh, daß unsere Stadt jetzt von den gepanzerten
Helden bewacht wird? Ihr seid doch auch ein Bürger dieser Stadt. Gewiß, es gibt auch
weniger erfreuliche Resultate, das leugnen wir ja nicht. Diese grünen Neugeborenen, die
nur wenige Stunden leben. Aber wir Menschen nur unter uns haben doch auch
Mißgeburten! Bald wird es das nicht mehr geben - wir wissen jetzt, mit welchem Typus
von Mensch wir die Engel am Besten kreuzen können. Sie haben es uns selbst bestätigt.
Jetzt züchten wir die Heldenrasse von Cuzurucu - und dann sind wir unüberwindbar!
Keine Krankheiten mehr, keine Schwachheiten, keine Nervenzusammenbrüche!"
In diesem Moment kam eine junge, elegant gekleidete Frau mit aufgelöstem, langen,
schwarzen Haar schreiend und weinend und mit den Armen gestikulierend in den
Thronsaal hineingerannt. Laut aufschluchzend warf sie sich vor dem vor Schreck wie
gelähmt dasitzenden Herrscher von Cuzurucu nieder.
"Das könnt ihr nicht mit mir tun, Vater! Das ist furchtbar..."
Sie brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus, bei dem ihr Körper von Zuckungen
durchgeschüttelt wurde.
"Furchtbar..." brachte sie wieder heraus.
"Mein Kind...", sagte Majschdi leise mit gequälter Stimme und preßte die Lippen
zusammen. Hilflos zog er die Schultern hoch und faltete die Hände über seinem Bauch.
"Hat es dir Arax, der Oberpriester, gesagt?"
"Ja..."
"Mein Kind..."
"Wie konntest du das zulassen?", brach es aus ihr heraus.
"Aber, Kind, du weißt doch, es war nicht mein Beschluß. Die Götter wollen es. Mir
wurde von den Priestern Mitteilung gemacht. Aber warum freust du dich nicht? Es ist
doch eine besondere Ehre, von den Göttern erwählt zu werden! Du weißt, daß niemand
darauf einen Anspruch hat. Nicht einmal wir von der Herrscherfamilie. Die Götter
wählen, wie sie es für richtig halten, nicht nach menschlichen Kriterien. So sei nun
tapfer und vor allem stolz darauf, einmal Mutter eines Halbgottes zu werden!"
"Aber ich will nicht! Ich liebe den Prinzen Dschubai von Orinoro! Ihr dürft uns nicht
auseinanderreißen!"
Eine betretene Stille entstand, die nur von dem Schluchzen der jungen Herrschertochter
gestört wurde. Sie hielt die Füße ihres Vaters umklammert. Dieser rieb verlegen an
seinem Fingerring. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er bemerkte nicht, daß
Heon sich erhoben und ihn gesenkten Hauptes mit den Augen fixiert hatte. Unvermutet
war eine Atmosphäre der Ratlosigkeit eingetreten, einer Ratlosigkeit, die sich fragend
an Heon zu richten schien. Für ihn war nun die Bühne frei. Entschlossen, aber ohne
anmaßend zu wirken, begann er seinen Auftritt:
"So müssen nun Menschen ihren Platz verlieren, weil die Götter ihren Platz verlassen!
Großer Majschdi, es kann so nicht gut gehen. Wir sind Menschen und müssen - nein dürfen, es ist unsere Pflicht, aber auch unser Vorrecht - Menschen bleiben. Können wir
richtig leben, geschweige denn, besser leben, wenn wir den Stand, die Behausung
verlassen, in die uns der Alles Schaffende gestellt hat? Müssen wir nicht daran
zerscheitern, daß der neue Zustand zwar anfänglich bemerkenswert ist, aber nicht den
Richtlinien des immer Gutmeinenden, dessen, der alles anfing, des Unveränderlichen,
nicht entspricht? Können uns auch jene Götter, die ihrerseits ihre Behausung, ihren
angestammten Platz, ihre Aufgabe im Konzerte des großen Wunderbaren, verlassen und
illegal eigene Experimente abwickeln; können uns diese Götter wirklich weiterhelfen?
Zwar zeugen sie anfangs kuriose und nützliche Kreaturen mit uns. Aber kann das immer
so bleiben? Werden sie immer ihre Intelligenz, ihre Schönheit, ihre Macht behalten
können, wenn sie aus der Bahn ihres Mutterplaneten ausgebrochen sind? Werden sie
nicht vielmehr in eisige Kälte hinauskatapultiert? Sind sie nicht Sternschnuppen,
Irrsterne, die, nach kurzem und starken Aufleuchten in den bodenlosen Abgrund
stürzen? Und wir, die uns auf sie einließen, mit ihnen? Hinab in die immer dunkler
werdende Finsternis, die nie endet? Immer weiter weg von der Wärme, von dem Licht,
von der Bahn unseres Daseins, von unserer Bestimmung? Schwach sind wir - das ist
wahr! Aber waren nicht wir es, die dazu bestimmt waren, dieses Gestirn zu besiedeln,
zu bevölkern, es zu verwalten, zu ordnen, ja gar es zu beherrschen? Hatten wir nicht
dazu alles, was wir brauchten? Freilich, die Ordnung wurde zerstört durch unseren
Eigensinn. Es kamen Krankheiten, Kriege, Mißgeburten. Trotzdem bekamen wir neue
Möglichkeiten, wenn wir uns nur in den Einklang mit dem alles Ordnenden stellten.
Nicht in unserer Kraft, nicht in der Kraft derer, die uns Hilfe versprechen und nicht
wirklich geben können, nicht in der Kraft des herauskatapultiert-Werdens, des mutiertWerdens, des den-Göttern-scheinbar-gleicher-Werdens; nicht in dieser Kraft liegt
unsere Stärke; sondern gerade in unserer Schwachheit, darin, daß wir so ganz und gar
von Dem abhängig sind, der uns konzipiert hat, und nichts aus uns selbst können, darin
liegt unsere Unschlagbarkeit. Sicher, wir werden von Feinden geschlagen, von Seuchen
niedergestreckt, von Kummer gequält - aber niemand trennt uns aus der Bahn, auf der
wir die wärmende Sonne des wahren Gottes umkreisen, auch der Tod nicht - wenn wir
sie nicht schon hier selbst verlassen haben!"
"Ihr irrt!" Alle drehten sich um. Ein gebeugter Greis mit langem schlohweißen Haar und
Bart war unbemerkt eingetreten.
"Der Oberpriester Arax!" murmelten zwei Diener unter sich. Zwei weitere, jüngere
Priester in weißen Gewändern traten ebenfalls herein und stellten sich schützend neben
den Greis.
"Ihr irrt!", sagte Arax wieder. "Wißt ihr nicht, daß wir diese Bahn, von der ihr redet,
schon urlängst verlassen haben? Unsere Urvorfahren verließen ihre Bahn. Wir können
nie und nimmer auf sie zurück. Nie werden wir wieder die Kreatur beherrschen können
als bloße Menschen, wie wir es einst konnten. Drachen, Ungetüme, wilde Tiere, bis hin
zu den kleinsten Insekten - ja sogar unseresgleichen bedrohen uns ständig und wir
wären ihnen hilflos ausgeliefert, gäbe es da nicht doch einen Ausweg. Was für ein
Ausweg ist dies? Wir begeben uns auf die Umlaufbahn von Göttern. Haben wir keine
Möglichkeit mehr, an unseren ursprünglichen Bestimmungsort zurückzugelangen, so
haben wir doch wenigstens auf diese Weise einen Zugang zu den göttlichen
Dimensionen, zum Pantheon, zur Welt der Götter. Wir müssen uns mit den Göttern
vereinigen, um zu einem neuen, höheren Platz aufzusteigen. Zugegeben, diese Götter
sind nicht der höchste Gott - aber sie dienen doch auch Ihm. Wir können nicht mehr zu
dem höchsten Gott zurück, dieser Weg ist uns für immer versperrt mit ehernen Ketten,
aber die Götter, die Engel, sie können uns indirekt zurückführen. Direkt kommen wir
also nie mehr zu dem Urheber allen Seins, zu dem, der unsere ursprüngliche Aufgabe
festlegte. Aber indirekt können wir zum göttlichen Äther aufsteigen, indem wir unsere
menschliche Natur verleugnen und verschmelzen mit den Engeln zu einem neuen
Wesen - dem Halbgottwesen! Indem wir Trabanten der Himmelsboten werden und so
auf neue, nie dagewesene Art die Kreatur beherrschen! Freilich mag dies vorwitzig,
improvisiert und selbsterwählt, ja willkürlich erscheinen - aber wird nicht auch der
höchste Gott so zufriedener mit uns sein? Werden wir so nicht letztendlich auch Ihm in
Vollkommenheit dienen können? Ja, lag es nicht auch in Seiner eigenen Vorsehung, daß
wir Vasallen der Gottessöhne, Söhne der Engel werden sollten?"
"Nein, nein und nochmals nein!", protestierte Heon. "Dies kann nicht sein. Denn der
Große Unwandelbare geht keine krummen Wege, erst so, dann anders. Von Anfang an
war beschlossen, daß der Mensch Mensch sein sollte. Sollte dem Großen
Unwandelbaren ein Fehler unterlaufen sein? Wollt ihr Ihm dies unterstellen? Der
Mensch sollte als Mensch die Kreatur beherrschen. Das anfängliche Werk des Vaters
aller Götter war vollkommen, es bedarf keiner Verbesserung. Die Engel können es nicht
glauben, daß Gott ausgerechnet uns zerbrechliche, schwache Staubkörner Seinem
ureigensten, innersten Wesen nachahmte. So wollen einige von ihnen immer wieder
hineinpfuschen in diese menschliche Natur. Nun ist es allerdings allzu wahr, daß wir
dem Wesen Gottes beileibe nicht mehr entsprechen. Zwischen unserer Wesensart und
der des Herzens Gottes liegen Abgründe, Welten, unermeßliche Tiefen!"
"Das Herz Gottes, du meine Güte!" feixte einer der jüngeren Priester. Arax hielt ihn am
Ärmel und forderte Heon mit einer Handbewegung auf, weiter zu sprechen.
"Weh uns, wir haben uns selbst herausgebrochen aus der Krone, in die wir als der
größte und edelste Stein eingefaßt waren. Von unserem Platz in der Krone los, sind wir
nur ein Stein. Trotzdem ist unser Platz nur dort und nirgendwo anders. Und auch die
Krone will uns wiederhaben. Statt einen fremden Platz, der uns von weiß wer wem
angeboten wird, anzustreben, müssen wir vielmehr auf die Wiedererlangung des
Ursprünglichen hoffen. Ich für mich halte es für wahrscheinlicher, daß der
Konzertmeister dieses Universums eher in Form eines Menschen Menschen auf ihre
Bahn zurückbringt, als daß er Engel dazu einsetzt. Dann würde er selbst als das Wesen
auftreten, das er im Innersten selbst ist - als der vollkommene Mensch!"
"Der höchste Gott ein Mensch in Seinem Innersten, welch eine Lästerung!" polterte der
andere der zwei jüngeren Priester los. Wieder war es Arax, der ihn beschwichtigte.
Freundlich wandte er sich an Heon:
"Mir scheint, ihr hattet noch nicht ausgeredet."
"Ich danke Euch. Jawohl, ich glaube, daß nur Gott den vollkommenen Menschen in sich
birgt und keiner der Engel. Und nur dieser aus dem Innersten Gottes stammende,
vollkommene Mensch wird uns wieder hinaufbringen können auf unsere Bahn, wenn
wir es wollen! Und der wird ein Mensch sein, jawohl, ein Mensch - mit Ängsten, mit
Gefühlen,..."
Heon wandte sich wieder zu Majschdi um.
"...so wie auch Eure Tochter Fithalima Gefühle hat!"
Da platzte Majschdi der Kragen.
"Jetzt reicht's aber! Schluß mit dem Gefasel!"
"Großer Majschdi, ich beschwöre Euch, laßt ab von Eurer Engelpolitik!"
"Heon, das ist keine Politik. Das ist Gottes Wille", sagte Arax ruhig und bestimmt. "Es
ist unser einziger Ausweg!"
"Nein. Ein Irrweg. Er ist gegen Gottes ursprüngliche Absichten und wird furchtbar
enden. Hört auf mich, großer Majschdi, ich beschwöre Euch. Die Engel, die noch
wirklich zu Gott halten, würden mir recht geben. Hört auf mich. Sonst werdet Ihr es
bereuen. Warum wollt Ihr Euch und den Euren unnötig Leid zufügen?"
"Vater, bitte hör' doch auf Heon!"
"So. Jetzt ist aber wirklich Schluß! Ich will nichts mehr davon hören. Wenn wir dich
noch einmal erwischen, daß du das Volk gegen die Beschlüsse der Götter und ihrer
Priesterschaft aufwiegelst, dann verstoße ich dich aus unserer Stadt! Das ist mein letztes
Wort."
Erneut trat eine lähmende Stille ein. Da schluchzte die Herrschertochter wieder laut auf.
Immer noch hielt sie die Füße ihres Vaters umklammert. Arax und seine beiden
Gehilfen sahen ungerührt zu, wie Schlächter, die ein zitterndes Kalb begutachten. Heon
hatte sich wieder hingekniet und sah zu Boden. Majschdi blickte starr und düster vor
sich hin.
"Komm", sagte der Engel und faßte Oskar am Arm. Bevor Oskar etwas einwenden
konnte, schwebten sie durch den Tunnel zurück. Kaum waren sie in dem
Nervenzellenverdickungsraum angekommen, da fing Oskar schon an, den Engel mit
Fragen zu durchlöchern:
"Was war das für eine Stadt? In welcher Zeit waren wir? Wie ist es ausgegangen mit
diesem Heon? Was ist danach passiert? Was war mit diesem komischen Wächter? Und
was um Himmels willen haben damals bloß die Engel angestellt?"
Der Engel überlegte ein wenig.
"In was für einer Zeit? Ja, das lag schon sehr lange zurück. Mindestens 6000 Jahre,
wenn nicht noch viel mehr. Damals gab es viele solcher Stadtstaaten, wie Cuzurucu,
Atatarena, Orinoro. Die Menschen versuchten, sich in der wildgewordenen Natur zu
behaupten und machten sich Gedanken, wie sie in mehr Sicherheit leben könnten. Dazu
kam, daß manche der vorwitzigen Engel diese Menschen derart neugierig beobachteten,
daß sie es schließlich nicht lassen konnten, sich ihnen in Form von menschenähnlichen
Wesen zu zeigen. Na ja - und manche wurden dann auch etwas zu zutraulich, um es
gelinde auszudrücken. Und daraus sind dann solche unglücklichen Gestalten entstanden,
wie dieser Wächter. Oder jene Helden, auf die Majschdi anspielte, mit deren Hilfe er die
Schlacht gegen die Atatarener gewann. Als man erkannte, daß die Kreuzungen, Sie
verzeihen das Wort, zwischen den Engeln und Menschen Wesen mit übernatürlichen
Fähigkeiten hervorbrachte, betrieb man diese Sache in größerem Ausmaße, indem man
die Engel anbetete und sie regelrecht einlud, sich mit dem Menschengeschlecht zu
vermischen. Dies war übrigens etwas völlig Neues auf dem Gebiet der Religion, denn
bis dato hatte man nur den einen großen Gott angebetet. Auch die Engelsanbeter
glaubten immer noch an diesen einen großen Gott, sie meinten aber nun, durch ihre
Engelsanbeterei schneller etwas Gutes von diesem Gott zu bekommen, auf Umwegen
gewissermaßen. Die scheinbaren Beweise lagen ja auf der Hand: Bessere Krieger und
intelligente "Halbgötter", wie man diese Mutanten nannte. Der Streit zwischen Arax
und Heon veranschaulichte den damaligen Konflikt zwischen zwei Wegen, von einem
und demselben Gott etwas zu bekommen. Erst später bildete sich eine Art Vielgötterei
heraus, als die Engel immer mehr zu Göttern wurden, die in keinerlei Beziehung zum
alleinigen Gott mehr standen und so Letzteren schließlich ablösten. Dann nämlich gab
es einen Gott für alles und für jedes: Einen Regengott, einen Sonnengott, einen
Kriegsgott, einen Fruchtbarkeitsgott, und so weiter. Der alleinige, wahre Gott geriet
mehr und mehr in Vergessenheit. Dies war aber damals noch nicht das Hauptproblem.
Das Hauptproblem damals war, daß die Menschheit in Gefahr stand, völlig ausgelöscht
zu werden. Durch die vielen Kreuzungen mit den Engeln gab es schließlich immer
weniger Menschen, deren Erbsubstanz keine Spuren der Engel aufwies. Heon sollte
nämlich recht behalten. Die Vermischung mit den Engeln hatte fatale Folgen. Nicht nur
verloren sie ihre Menschlichkeit - sie wurden ganz entsetzlich grausam und skrupellos.
Keiner war mehr vor dem anderen sicher. Die Menschheit hätte sich fast vollständig in
solche Engels-Mutationen umgewandelt, wären nicht ein paar mutige Heon-Anhänger
übriggeblieben, die aus den Städten verstoßen wurden und die dann als einzige eine
Naturkatastrophe überlebten. Dadurch konnte Gott allen Engeln wieder beweisen: Seht
ihr, meine Humusse sind mir gegenüber loyaler als eure Kreuzungen mit ihnen oder ihr
selbst. Die sind so schon richtig geschaffen! Und nur so werden sie herrschen über
euch! Außerdem wurde den Engeln das Recht genommen, derartige Abstrusitäten mit
den Menschen weiter vorzunehmen. Deshalb treten Engel seitdem so gut wie nie mehr
sichtbar als Engel auf. Ein paar ganz Schlimme unter den abgefallenen Engeln träumen
zwar noch immer von Fortpflanzung mit Menschen, aber realisieren so etwas nicht
mehr in Wirklichkeit, wobei sie allerdings hin und wieder die Phantasie einiger
Menschen besonders in deiner Zeit mit diversen ekelerregenden Gerüchten darüber
beeinflussen. Dies soll aber nicht unser Unterhaltungsthema sein. Jedenfalls haben dann
jene paar wenigen überlebenden Heon-Anhänger nach besagter Naturkatastrophe die
Erde neu besiedelt und ganz von vorne angefangen mit der menschlichen Zivilisation.
Ja, so war das mit den Engeln damals."
"Und warum muß ich das eigentlich alles wissen?" fragte Oskar.
"Nun, lieber Oskar, Sie leben ja in einer Zeit, in der man den Engeln zu wenig zutraut.
Damals hat man ihnen zu viel zugetraut und sich zu viel mit ihnen beschäftigt.
Manchmal erhält man einen guten Überblick über eine Sache, wenn man sie von
entgegengesetzten, extremen Blickwinkeln aus betrachtet. Was Sie dabei verstehen
lernen sollen hat aber nur am Rande mit Engeln zu tun, es geht in der Hauptsache um
den wahren Humus-Humanismus. Aber nun weiter, wir wollen gleich zur nächsten
Lektion starten. Der dritte Tunnel wartet schon auf uns...!"
Die Versuchung
Der dritte Tunnel war schrecklich lang und dunkel. Am anderen Ende aber erwartete
Oskar ein strahlend blauer Himmel. Sie befanden sich in einer verlassenen
Ödlandgegend. Vereinzelt standen dürre Dornbüsche herum. Er hörte das Zirpen von
Heuschrecken. Die Luft flimmerte in der Hitze. Oskar war es aber nicht heiß, er war ja,
wie auch der Engel, wieder einmal unsichtbar. Nach einer Weile wurde es Oskar
langweilig.
"Was wollen wir hier?" fragte er den Engel.
"Eine Geschichte, die sich vor langer Zeit zugetragen hat, ansehen. Da, schau, da
kommt er!"
"Wer?"
"Der Brotmensch!"
Oskar sah eine Gestalt mit einem hellen Gewand, die sich langsam in der Ferne auf
einem Berggrat voranschleppte.
"Komm, wir wollen näher hingehen", sagte der Engel. "Sei aber leise. Du sollst jedes
Wort mitbekommen."
Leise näherten sie sich dem Brotmenschen. Oskar war überrascht, einen
ausgemergelten, gebeugt gehenden Mann mit verklebten, staubigen Haaren zu
erblicken. Sollte so der Humusprototyp aussehen, von dem der Engel erzählt hatte? Bei
näherem Hinsehen aber fiel ihm das ernste und edle Gesicht auf. Der Brotmensch hatte
allem Anschein nach schreckliche Bauchschmerzen und von Zeit zu Zeit formte er
seinen Mund zu einem kleinen runden Kreis, als ob er stöhnen wollte, aber nicht die
Kraft dazu hatte. Oskar wollte gerade den Engel fragen, was denn mit dem
Brotmenschen los sei, da fing es auf einmal unter ihnen schrecklich an zu dröhnen.
Oskar dachte sofort an ein Erdbeben und sah sich instinktiv nach einem schützenden Ort
um. Und als er sich gerade umdrehte, erschrak er noch mehr - denn hinter ihm hatte sich
eine riesige Gestalt, die von einem beißenden, künstlichen Licht umstrahlt wurde,
aufgebaut.
"Der Lichtblitzdonnerbomber", durchzuckte es Oskar. Der Engel zog ihn ein wenig zur
Seite, denn Oskar stand gerade genau zwischen dem Lichtblitzdonnerbomber und dem
Brotmenschen. Nun standen sich der Lichtblitzdonnerbomber und der Brotmensch
gegenüber. Der Lichtblitzdonnerbomber besah sich den Brotmenschen eingehend, mit
spöttisch verzogenem Mund. Der Brotmensch stand gebeugt da, und blickte zu Boden.
"So, so, so. Ja, Ja, Ja." Der Lichtblitzdonnerbomber sah siegessicher auf den
Brotmenschen herab und verzog seinen Mund, wie ein Arzt, der einen ungehorsam
gewesenen Patienten besieht und rechthaberisch auf die von ihm vorhergesagten Folgen
des Patienten-Ungehorsams anspielt.
"So. Du meinst also, daß du der Sohn der Orgel bist. Der großen Orgel, wohlgemerkt.
Ja, ja, der großen, großen Orgel."
Der Lichtblitzdonnerbomber brach in schallendes Gelächter aus.
"Wegen dieser Stimme aus dem Himmel meinst du, du wärst etwas Besonderes. Der
Sohn der großen Orgel. Aber bitte, sieh dich doch mal an, wie abgemagert und
ausgedörrt und abgezehrt du bist! Ein wandelndes Skelett! Du klappst ja vor Hunger
schier zusammen. Der Sohn der Orgel, der Brotmensch HUNGRIG! Das gibt's doch gar
nicht. Ach, apropos Orgel, dann hättest du doch auch Macht über die Schöpfung."
Der Lichtblitzdonnerbomber bückte sich und hob einen flachen, zwei Fäuste großen
Stein auf, den er dem Brotmenschen triumphierend vor die Nase hielt.
"Und diese Steine hier sind ja dann wohl auch von dir. Schade, daß sie keine Brote sind.
Eigentlich sieht ja so ein runder, hellbrauner, abgeflachter Stein wie ein leckeres,
knuspriges, duftendes Fladenbrot aus! Wie es gerade aus dem Ofen geschoben wird,
außen schön knusprig, innen schön warm und noch ein wenig feucht. Ach, nein, der
Sohn der Orgel muß ja warten, bis ihm die Orgel so ein Brot vom Himmel schickt."
Mit einer ruckartigen Bewegung warf der Lichtblitzdonnerbomber den Stein einen
Abhang hinunter, wo er eine kleine Steinschlaglawine auslöste. Mit krachendem Getöse
kamen die Steine in einer Talmulde an.
"Du dumme Orgelpfeife! Merkst du nicht, wie dumm du bist? Bei deiner Machtfülle
solltest du doch wirklich einmal dein Schicksal in die eigenen Hände nehmen können,
oder nicht? Wieso nur auf diese Orgel vertrauen, wenn doch dir selbst, dir,
Orgelgebläse, dem Sohn, göttliche Kräfte verliehen wurden? Durch dein Wort müssen
sich die Dinge ändern, ganz wie bei der Orgel, als sie alles einstellte. Sie orgelte und es
wurde etwas Gutes geschaffen. Also, sprich doch auch du nur ein Wort."
Der Lichtblitzdonnerbomber hatte einen zweiten, kleineren Stein aufgehoben, den er
nun mit zweien seiner langen, spitzen Finger dem Brotmenschen vor Augen hielt.
"Orgle diesen Stein an, sag ihm: Er werde ein Brot! Es ist ja außerdem keine große
Sache, bei der du die Allmacht der Orgel in Frage stellst. Doch nur wegen einem
klitzekleinen Brötchen. Das solltest du dir schon gönnen. Außerdem wird ja dadurch die
Allmacht der Orgel gerade unterstrichen, daß du dir Brote herstellst aus Steinen! Wenn
du schon der Sohn der Orgel bist, dann solltest du doch auch Vertrauen in dich selbst
haben. Die göttliche Kraft, die dann in dir wohnt, verdient doch dein Vertrauen, oder
nicht?"
Der Brotmensch schwieg und sah zu Boden. Nach einer Weile sagte er leise:
"Ich brauche doch nicht so damit anzugeben, daß ich Sohn der Orgel bin. Wieso sollten
mir daraus Vorteile erwachsen, vor der verordneten Zeit? Das wäre nach deiner
Denkweise. Immer gleich weg vom verordneten Platz! Nein, so machen wir das nicht.
Ich bin jetzt Brotmensch. Mensch. Der Orgel gleich, und doch Mensch."
"Ach ja, natürlich, Mensch!" Der Lichtblitzdonnerbomber bog sich vor Lachen.
"Darum bist du ja jetzt auch außerhalb jenes schönen, idyllischen Parks, in dem sich die
Obstbäume nur so gebogen haben vor herrlichen, saftigen Früchten! Ja, außerhalb jenes
lauschigen Örtchens, aus dem die ersten Menschen mit Schimpf und Schande evakuiert
wurden, weil sie auf mein Angebot eingegangen sind. Jawohl, mein Angebot. Und nun
bist auch du dort, wo sie verdienten, hinzukommen! Mensch will er sein, nun ja, dann
muß er sich auch belieben mit so manchem wasserlosen Fleckchen Erde!"
Wieder lachte der Lichtblitzdonnerbomber.
"Ja, Mensch bin ich. Und als Mensch werde ich nur von dem leben, was die Orgel gibt!
Von ihren Ordnungen, von ihren Platzanweisungen, von ihren Verfügungen. Das ist es,
was Leben gibt! Bleiben auf dem Platz, der von der Orgel zugewiesen wurde! Selbst
wenn es ein Platz in der Wüste ist!"
Der Lichtblitzdonnerbomber schrie furchtbar auf. Diese Worte des Brotmenschen hatten
einen Nerv bei Ihm getroffen. Er kochte vor Wut und fing an, zu gleißen und zu
funkeln. Sein Licht wurde so stark, daß Oskar wegsehen mußte. Danach kam er wieder
zu sich. Wütend zischte er dem Brotmenschen ganz nahe ins Ohr:
"Na gut. Diese Partie hast du gewonnen. Aber das Spiel ist noch nicht zuende! Also,
gut. Ich weiß natürlich, daß du der zweite Humus sein willst. Willst dich mit den ersten
Humussen gleichstellen, willst ihren Zustand auf dich nehmen. Willst ihr Aus-derBahn-Geworfen-Sein auf dich nehmen."
Der Lichtblitzdonnerbomber setzte sich auf einen Felsen und lehnte sich genüßlich
zurück. Dann fuhr er fort:
"Aber was soll's? Nichts wird sich in Wirklichkeit ändern! Wahres Leben gibt's doch
nur außerhalb der Bahnen, die von dieser einfallslosen, pedantischen Orgel
vorgeschrieben werden. Und auch du, meine liebe kleine Orgelpfeife, auch du kannst
deine göttliche Energie gewinnbringend anlegen! Sei doch nicht so dumm und einfältig!
Mach' es doch wie ich! Sieh' nur, zu welcher Macht und Herrlichkeit ich gekommen
bin! Schau dir einmal alle diese Reichtümer an, die mir zu Füßen liegen!"
Der Lichtblitzdonnerbomber holte etwas wie einen riesigen Bildschirm heraus. Dann
schnippte er mit den Fingern und Oskar konnte seinen Augen nicht trauen! Zum Greifen
nahe erschienen auf dem Bildschirm riesige Paläste von atemberaubender Schönheit
und Erhabenheit in symmetrisch angeordneten, gigantischen Parkanlagen. Goldene
Schalen mit exotischen Früchten überladen wurden elfenbeinfarbenen
Bauchtänzerinnen gereicht, die sich auf seidenbespannten Kissen genüßlich räkelten.
Stolze Schiffe, mit Waren aus fernen Ländern angefüllt, fuhren pittoreske kleine
Hafenstädtchen an, die aus schmuckstückhaften Schlößchen bestanden, eines schöner
gelegen wie das andere, in Palmen- und Zypressenparks eingefaßt wie Pralinen in einem
Porzellankästchen, verträumt gelegen in Berghängen, an Teichen, auf Anhöhen, auf der
Küste vorgelagerten Inselchen. Mit Gold, Silber, Perlen und Edelsteinen umgarnte
schöne Mädchen und Jünglinge tanzten auf mit Lampions behangenen Seeterrassen,
über ihnen ein großer, gelber Mond. Hunderte von Metern lange Tafeln bogen sich
unter der Last von erlesensten Delikatessen, die in unermüdlicher Arbeit dekorativ
aufgetragen worden waren. Oskar lief unsichtbares Wasser in seinem unsichtbaren
Mund zusammen: Hummern, Garnelen, bebratene Fasane, Weintrauben, Pasteten,
Torten. Schnelle Wagen, von muskelstrotzenden, riesigen Pferden gezogen, jagten über
breite, gepflasterte Straßen.
Der Brotmensch stand mit großen, aufgerissenen Augen da und zitterte.
"Na? Das verschlägt dir die Sprache was? Immer noch so überzeugt von deinem
vermeintlichen Orgelauftrag? Willst du's nicht doch einmal mit einer kleinen
Desertation versuchen? Vergiß nicht, mir sind alle diese Reiche übergeben, und ich
gebe sie, wem ich will!"
Der Brotmensch sah zu Boden, schüttelte den Kopf und seufzte schwer.
"Du lügst. Du warst schon immer ein Lügner. Selbst wenn du mal ein Körnchen
Wahrheit von dir gibst, dann nur, um zu versuchen, eine noch größere und
folgenschwerere Lüge damit zu stützen. Leider hast du tatsächlich viel Einfluß in der
Welt. Wegen all dieser Desertationen. Oft läßt es die große Orgel zu, daß du mit
hineinpfuschen darfst in die Geschicke der Welt. Aber ÜBERGEBEN ist dir noch lange
nichts! Diese Welt war den Humussen zugedacht, und wir werden ihnen einen Weg
schaffen, sie wieder zurückzugewinnen!"
"Den Humussen? Hahahaha! Das ich nicht lache! Die sind doch in meiner Hand wie
Wachs, wie formbares Material; die fressen mir doch aus der Hand. Gar nicht daran zu
denken, daß sie die Vollmacht über die Welt bekommen! So, und warum glaubst DU
mir nun eigentlich nicht, daß ich die Herrschaft über diese Welt habe? Ich will es dir
beweisen: Falle vor mir nieder und bete mich an, und ich will sie dir geben! Ehrenwort!
Bei allem kosmischem Staub zusammen, ich schwöre es!"
Blitzschnell rollte der Lichtblitzdonnerbomber einen in den schönsten Farben
glänzenden Teppich vor den dürren Knöcheln des Brotmenschen aus und machte eine
einladende Handbewegung, darauf niederzuknien.
"Anbetung, dir, einem Ausgebrochenen? Soll ich dadurch dein Ausgebrochen-Sein
absegnen? Nein, Anbetung bekommt nur der Große Unwandelbare. Die für immer
richtig Gestimmte. Vor ihm allein, dem Anfänger und Wiederbringer, sollen andere sich
niederwerfen. Außerdem liegt der Schlüssel zur Herrschaft in ganz anderen Händen.
Die Säulen, welche die Weltwirklichkeit tragen, liegen auf Prinzipien, die du nie
verstehen würdest. Sie liegen auf den Prinzipien der Schwachheit und des GebackenWerdens. Versuch' das zu verstehen, du wirst es nie können! Was du willst, ist nur
eines: Von mir recht zu bekommen. Dann bekomme ich nichts und du bekommst
tatsächlich Macht über die Welt, so wie du willst, nicht nur bedingt! Aber das soll dir
nicht gelingen. Ich werde meine Energie nicht "gewinnbringend" anlegen, wie du sagst,
sondern nur für die Pläne der großen Orgel und für die Humusse einsetzen!"
Der Lichtblitzdonnerbomber merkte, daß es keinen Zweck hatte, auf dieser Linie
weiterzudiskutieren. Nur schwer konnte er seine Verzweiflung unterdrücken. Schnell
sagte er:
"Also, gut. Diese Welt ist ja sowieso nichts für dich. Du bist und bleibst eben ein
hundertprozentiger Idealist. Hätte ich ja gleich wissen müssen. Mein lieber Orgelsohn!
Du glaubst ja gar nicht, wie ich dich insgeheim achte und ehre. Meine etwas raubeinige
Art mußt du entschuldigen. Es ist nicht so gemeint. Wir sind doch beide Wesen aus der
Gegenwart der großen Orgel. Zugegeben, ich habe einen entgegengesetzten Weg
eingeschlagen - aber was tut's? Trotzdem können wir gut zusammenarbeiten. Ich
verlange natürlich nicht, daß du etwas für mich tust. Du willst ja nur der Orgel selbst
dienen. Aber, vielleicht kann dir ein kluger Rat von einem weit entfernten
Himmelsvetter doch etwas dienlich sein bei deiner gewagten Mission. Weißt du - das ist
vielleicht gerade das Freidenkerische und Verspielte in meiner Natur - zuweilen beliebe
ich etwas für die Gegenseite zu tun. Natürlich sind solche Begriffe wie "Gegenseite" ja
sowieso nur für die Uneingeweihten. In Wirklichkeit bin ich ja dein Freund, auch wenn
du sicherlich etwas mißtrauisch bist. Also, hier ist mein Vorschlag: Du willst diesen
Humussen helfen. Gut. Soll geschehen. Wie wird dies am besten bewerkstelligt? Na
klar! Du mußt natürlich ihr König werden. Und nun hör gut zu: ..."
Der Brotmensch unterbrach ihn:
"Hör auf damit. Ich vertraue nur auf die Hilfe der Orgel. Sie wird alles richtig machen."
Der Lichtblitzdonnerbomber winkte ungeduldig mit der Hand, als wenn er sich
verbrannt hätte.
"Freilich, freilich, eben, das meine ich ja gerade! Davon wollte ich ja gerade reden.
Also, hör zu:
Ich gebe dir jetzt einen ganz heißen Tipp, wie du nämlich genau dieses Vertrauen, von
dem du gerade so großartig Zeugnis abgelegt hast, unter Beweis stellen kannst. Paß auf.
Du kennst doch diese Stadt Königshausen, wo sie alle so fanatisch - äh, ich meine
hingegeben - an die große Orgel zu glauben meinen - äh, na ja, ich meine eben, glauben.
So. Diese Königshausener sind ganz wild darauf, einen von der Orgel gesandten
Menschen zu begrüßen, den sie dann zum König machen werden und der sie dann von
der Fremdherrschaft der Lorbeerlinge befreit. Und jetzt paß' auf, jetzt kommt es: Diese
Königshausener glauben, daß eben dieser Orgel-Mensch, wenn er zum ersten Mal bei
ihnen aufkreuzt, als eine Art Superman auf ihrer religiösen Vielzweckhalle herumturnt.
Sodann wird er elegant heruntersegeln, von unsichtbaren Engelchen sanft eskortiert, der
jubelnden Menge entgegen! Sofort werden sie ihn zu ihrem König krönen - und, was
noch erstaunlicher sein wird - sie werden ihm alles abnehmen, was er von sich gibt!
Alles, hörst du, alles! Er wird dieses abscheuliche - äh, Entschuldigung, ich meine
natürlich, vortreffliche - Gesetz der Orgel so richtig zum Zuge bringen bei diesen
Königshausenern. Und das will etwas heißen, denn du weißt ja, so wie ich auch, wie
störrisch die sind, diese alten Esel. Na, was hältst du davon?"
Gierig blickte der Lichtblitzdonnerbomber auf den gekrümmten Brotmenschen, der
keinen Laut von sich gab.
"Überleg' doch mal. Du, der perfekte Orgel-Mensch! So richtig mit übernatürlichen
Kräften! Du bist doch aus der großen Orgel, oder nicht? Ja, natürlich, du bist es ja, mein
lieber Orgel-Sohn! Also. Es ist ganz einfach: Du gehst auf den höchsten Punkt am
Rande des Daches dieser Halle. Dann gebe ich dir einen Schubs - und schon kommen
die lieben, Orgel-loyalen Engelchen und puffern dich weich und sanft ab, gerade so
kurz vor dem Boden. Oder schon früher. Wie du willst. Du kannst das ja mit den Engeln
noch bereden, ob du mehr etwas Schockierendes, oder mehr so etwas Schwebendes,
Magisches vorziehst. Auf jeden Fall wird der Erfolg total sein. Glaub' mir, ich kenne
diese Königshausener, ich weiß, auf was die stehen! Bei Wundern dieser Art sind die
immer total hin. Dann sind die nicht mehr zu bremsen in ihrer Verehrung für die große
Orgel. Glaub's mir, ich weiß es! Danach kannst du ihnen deine Ideen von der Orgel
verkündigen. Ich ziehe mich dann diskret zurück. Aber wenigstens diesen Tipp, diese
kleine Hilfestellung wollte ich dir noch geben. Ich werde dich jetzt alleine lassen. Das
heißt - eigentlich würde ich doch auch gerne zugucken, wenn du gestattest, du gestattest
doch? Ja, natürlich gestattest du es mir. Bist ja ein gutes Kerlchen. Also, wie wär's?
Wollen wir gleich zur Königshausener Vielzweckhalle starten?"
Der Brotmensch stand noch immer gekrümmt da. Nach einer Weile sagte er:
"Kommt nicht in Frage. Ich vertraue nur auf die Orgel."
Der Lichtblitzdonnerbomber kam ins Schwitzen. Heftig gestikulierend, und sich
gewaltig zusammenreißend, um nicht ausfallend zu werden, flötete er weiter:
"Ja, ja, ja, ja. Das meine ich ja auch! Ich meine, du sollst das ja nicht für mich tun,
sondern doch für die lieben Humusse in diesem verdammten - äh, 'tschuldigung liebholden Königshausen! Es ist doch für DEINE Sache! Für DEINE Mission, für
DEINE Orgel! Du kannst dich ja auch selbst hinabstürzen - äh, ich meine, eben dieses
klitzekleine Hüpferchen tun! Ich stell' mich dann unsichtbar unten hin, unter die
Zuschauer. Ja, genau, ich glaube, so machen wir es, so wird es ein voller Erfolg! Wie
hätte ich so blöd sein können, anzunehmen, dir gefiele es, von mir einen Schubs zu
kriegen! Als ob du feige sein könntest..."
Der Lichtblitzdonnerbomber lachte gekünstelt. Er hatte alle Mühe, Haltung zu
bewahren.
"Nein, ich lasse mich nicht auf solche magischen Tricks ein", sagte der Brotmensch
ruhig und bestimmt.
"Aber, aber, lieber Orgel-Sohn, mein lieber Orgel-Mensch! Das ist doch kein magischer
Trick! Zugegeben, es sieht vielleicht wie einer aus. Aber denk' doch an die religiöse
Erwartung deiner lieben Königshausener Schäfchen, deiner lieben Wuschelschäfchen!
Du mußt ihnen doch ein wenig entgegenkommen! Du liebst doch diese lieben, kleinen
Humusse so sehr! Außerdem kannst du doch dadurch dein BESONDERES Vertrauen
zur großen Orgel unter Beweis stellen! Ein GANZ BESONDERES Vertrauen,
nämlich!"
"Eben das ist es, was mich daran stört. Wieso ein GANZ BESONDERES Vertrauen?
Die große Orgel wird mir genau die Portion Vertrauen schenken, die ich gerade
brauche. Ich brauche nichts mehr. Ich brauche kein GANZ BESONDERES Vertrauen
unter Beweis zu stellen, weil ein GANZ BESONDERES Vertrauen nämlich eines wäre,
das ich mir selbst aufgebaut hätte! Wem sollte ich damit imponieren? Der großen Orgel
etwa? Den Menschen unter den Königshausenern, die sowieso nie die Orgel zu Gesicht
bekommen werden? Und außerdem, wieso bist du eigentlich so krampfhaft an dieser
Sache interessiert? Warum willst du mir einen Weg leichter machen, der nur als ein
schwerer Weg zum wirklichen Erfolg führen kann? Außerdem hast du vergessen, daß
ich kein Orgel-Mensch bin, sondern ein Mensch. Ich bin hierher als Mensch gekommen
und ich werde keine übernatürlichen Mächte der Orgel in Anspruch nehmen, wo es
nicht ausdrücklich von der Orgel selbst zugelassen ist. Und in diesem Falle sehe ich bei
weitem kein grünes Licht von der Orgel. Das ist nur eine typische AusgebrochenenIdee! Immer wollt ihr Ausgebrochenen testen, wie weit ihr an den Felsabhang
hinkriechen könnt, ohne hinunterzufallen. Warum soll ich die Fürsorge der Orgel
testen? Ich weiß doch, daß ich der Orgel vertrauen kann! Warum sollte ich Experimente
mit der Orgel und den Engeln spielen, so mir nichts dir nichts, auf Unfall komm' 'raus?"
Der Brotmensch hatte sich während seiner Antwort aufgerichtet und schaute am
Lichtblitzdonnerbomber vorbei zum Horizont, wo gerade die Sonne unterging. Er
lächelte zum ersten Mal und blinzelte verspielt mit den Augen, in denen sich der rote
Glutball der untergehenden Sonne spiegelte.
Oskar gefiel es, den abgemagerten Brotmenschen anzusehen. Nur kurz wandte er seinen
Blick zum Lichtblitzdonnerbomber. Wie erschrak er da! Der Lichtblitzdonnerbomber
war pechschwarz geworden und versprühte kleine, orangefarbene Funken. Plötzlich war
es wie ein gewaltiges Bersten und der Lichtblitzdonnerbomber verschwand in einer sich
unter ihm öffnenden Erdspalte. Dabei stieß er fürchterliche Flüche und Krächzlaute aus.
Der Brotmensch schien davon völlig ungerührt.
Wieder faßte der Engel Oskar am Ärmel.
"Schluß mit der Vorstellung", meinte er.
Dabei wäre Oskar noch gerne einen Augenblick geblieben, denn gerade kamen
wundersame Lichtwesen von oben herab, die sich um den Brotmenschen zu scharen
begannen. Aber schon waren Oskar und der Engel wieder im Tunnel. Oskar wunderte
sich, daß ihn diese Lektionen nicht ermüdeten. Er konnte es vielmehr kaum erwarten,
seine Fragen zu stellen:
"Warum war denn dieser Brotmensch so abgemagert? Und was meinte er mit
"Gebacken-Werden"? Was hat es mit diesem "Schlüssel der Herrschaft" auf sich?"
Der Engel lächelte.
"Ja, das sind schon komische Umschreibungen für das, was wirklich geschehen ist.
Vieles davon ist selbst für uns Engel im tiefsten Grunde völlig unverständlich,
gedanklich immer nur am Rande und auch dann nur schwer nachzuvollziehen. Die
Orgel hat nämlich viele Geheimnisse. Vieles läßt sich einfach nicht ergründen. Du mußt
auch nicht alles wissen. Was für dich wichtig ist zu verstehen, ist, daß in diesem
Brotmenschen der wahre Humanismus verwurzelt ist. Es war der Orgel ganz wichtig,
daß der Brotmensch eine wahre menschliche Natur hat. Das wurde natürlich sofort von
den Engeln angezweifelt, die sich so über die Idee der Orgel, Humusse über Engel
herrschen zu lassen, geärgert hatten. Nun gab es Stimmen, die behaupteten, der
Brotmensch sei eigentlich ein Übermensch. Die Orgel habe eingesehen, daß die Sache
mit den Humussen schief gelaufen war. Der Lichtblitzdonnerbomber hatte die ersten
Humusse ja zum Desertieren verleitet, mit Erfolg. Seitdem waren alle Humusse immer
gegen die Orgel eingestellt, auch wenn manche von ihnen trotzdem gemäß den
Ordnungen der Orgel leben wollten. Viele behaupteten also, die Orgel habe jetzt diesen
Brotmenschen gesandt als ganz normalen Menschen, aber doch heimlich etwas in ihn
hineingebaut, das ihn engelhafter, übernatürlicher, göttlicher mache. Die Schwierigkeit
dabei war, daß der Brotmensch ja tatsächlich dem innersten Wesen der Orgel genau
entsprach, ja sozusagen mit ihr identisch war und ist. So lag es also nahe, die Orgel zu
verdächtigen, sie spiele jetzt nur Theater, der Brotmensch sei nur scheinbar ein Mensch
und wäre in Wirklichkeit von einer weitaus „besseren“, engelshaften, nichtmenschlichen Substanz als die kleinen, schwachen, zerbrechlichen Humusse. Daß dem
nicht so war, sollte nun bewiesen werden. Auch der Brotmensch wurde aus ganz
normalem Humusmaterial hergestellt – allerdings stellte nun die Orgel all das
Genetische so ein, dass gewissermassen die Ausgangsposition des ursprünglichen
Humus-Projektes wieder erlangt wurde – ein perfektes Wesens, mit Leben nur von Gott,
aber eben auch aus sterblichem Humusmaterial hergestellt. Die Orgel verlieh ihm ihr
Leben, wie bei den ersten Humussen auch, nur daß diesmal auch eine irdische Mutter
eine spezielle Rolle dabei spielte und nicht direkt Kompost verwendet wurde. Die
Vaterrolle wurde von der Orgel selbst übernommen. Das Resultat war ein zweiter
Anfangs-Humus. Auch er konnte Hunger empfinden, war auf Wasser und Nahrung
angewiesen. Auch er hatte Wünsche, Hoffnungen, Ängste. Auch er hätte gerne in einer
schönen Naturlandschaft, in einem schönen Haus gelebt. Es ist wichtig, daß dies richtig
verstanden wird, denn nicht für irgendwelche eingebildeten Wesen, sondern für ganz
konkrete, auf Erden wandelnde Humusse sollte der Brotmensch auftreten. Er sollte als
Mensch den Menschen eine neue Möglichkeit geben, wieder in die Stellung zu
gelangen, aus der sie gefallen waren. Denn kein Mensch kann selbst, aus eigener
Anstrengung, in diese Stellung gelangen. Nun wurde die Orgel selbst zu einem Humus und stellte sich somit ganz auf die gleiche Stufe wie die Humusse. Du hast sicher
bemerkt, wie der Lichtblitzdonnerbomber immer versuchte, den Brotmenschen ein
klitzekleines Stückchen höher als die Menschheit aufsteigen zu lassen. Denn dann
könnten er und alle Engel der Orgel sagen: Was willst du, dies ist nicht der
ursprüngliche Humus, der die Welt beherrschen sollte, sondern ein Halbgott, oder ein
Phantom, oder ein verkleideter Engel. Er hungert zwar eine Zeitlang herum, wie die
Humusse, aber wenn er dann doch ein Brötchen braucht, zaubert er sich eben eins, so
wie alle anständigen und halbwegs begabten Halbgötter es machen würden. Wenn er
Erfolg bei der religiösen Elite haben möchte, führt er Salto-Mortale-Sprünge in
Königshausen vor. Dann wäre der Brotmensch kein Mensch, sondern ein Halbgott
geworden. Alles wäre verpatzt gewesen. Die Orgel hätte sich bis auf die Knochen
blamiert. Manche Engel hätten gelacht: Gib's auf, du kannst aus diesem toten
Pflanzenmaterial nie und nimmer ein Wesen erschaffen, das wirklich über uns herrschen
wird! Versuch's doch lieber mit uns, deinen vortrefflichen, superintelligenten,
hyperilluminierten Engeln! Veranstalte doch einen Wettbewerb, damit wir sehen,
welche Sorte Engel am besten dafür geeignet ist, das Universum zu richten! Die Folgen
wären unübersehbar gewesen."
"Wäre dann die Orgel wohl in eine Zwangslage gekommen?", wunderte Oskar sich.
Der Engel überlegte einen Augenblick und meinte dann:
"Ja, in gewisser Weise schon, obwohl es natürlich in letzter Konsequenz so ist, daß die
Orgel, die ja alles erschaffen hat, von keinerlei Umständen abhängig ist. Sie kann nicht
von ihrer eigenen Schöpfung zu etwas gezwungen werden. Und es gibt keinen Bereich,
der nicht zu ihrer Schöpfung gehört. Die Humusse hätten ja auch nach ihrem
Ungehorsam keinerlei Anrecht darauf gehabt, Ordnungen der Orgel zu empfangen. Die
Orgel hätte tatsächlich mit einer völlig neuen Schöpfung anfangen können. Sie brauchte
die bestehende Schöpfungsordnung nicht, um im Bereich des Wirklichen zu sein, sie ist
ja selbst die alle Wirklichkeit Bestimmende. Aber dies führt jetzt zu weit. Jedenfalls ist
es nicht dazu gekommen, daß der Brotmensch auf die Versuchungen des
Lichtblitzdonnerbombers einging. Statt dessen begründete er eine neue Art von
Humanität, die nichts weiter als die ursprünglich von der Orgel vorgesehene ist.“
„Hm, ja das leuchtet einigermaßen ein, aber wie können nun andere davon profitieren?“
wunderte sich Oskar.
„Ja, jetzt paß auf, das ist nun eine ganz entscheidende Sache. Die Frage ist ja, wie
schaffte der Brotmensch es, den anderen Humussen einen Zugang zu dieser neuen Art
von Humanität, von Mensch-Sein zu eröffnen? Wie konnte erreicht werden, daß das
Ausgebrochen-Sein der Humusse, die von den ersten Humussen herstammten,
überwunden werden konnte? Durch eine Reihe von paradoxen Umkehrungen, durch ein
Auf-den-Kopf-Stellen der hiermit zusammenhängenden Fakten. Was war passiert? Die
ersten Humusse hatten alles, was sie brauchten und noch mehr dazu und dies alles im
Überfluß. Folglich, das heißt, gemäß besagter Umkehrung, hatte der Brotmensch in
dieser Episode seit vielen Tagen nichts und obendrein nicht einmal das, was ein Mensch
zum Überleben braucht und war nahe daran, an Hunger zu sterben. Die ersten Humusse
hatten ein klares Verbot, eine ganz bestimmte Art von Zwetschgen nicht anzurühren. Es
gab keinen Grund, dieses Verbot zu mißachten, hatten sie doch tausend andere Arten
von viel schöneren Früchten. Der Brotmensch dagegen hatte kein klares Verbot, Brot zu
zaubern und es gab Tausende von scheinbar vertretbaren Gründen, in seiner Lage Steine
zu Brot zu machen. Die Humusse waren mit Vitaminen nur so vollgepackt. Das
biologische Leben des Brotmenschen hing an einem dünnen Fädchen. Die Humusse
ließen sich doch zum Zwetschgenessen verleiten und brachen somit aus ihrer Bahn aus.
Der Brotmensch ließ sich nicht zum Herstellen eines bescheidenen Brotes verleiten und
blieb in seiner Bahn, obwohl diese gar nicht einmal so klar umschrieben war in dieser
Sache. Aber mehr noch: Die Humusse bekamen trotz ihres Aus-der-Bahn-geworfenSeins immer wieder neue Möglichkeiten, Hilfe von der Orgel zu bekommen. Der
Brotmensch aber, obwohl er ganz und gar nicht aus der Bahn gesprungen war, erlebte
paradoxerweise genau das bittere Gegenteil: Er wurde von der Orgel verlassen und
wurde gebacken und zerrupft wie ein Brot, das man unter die Tauben verteilt."
Aufgebracht stöhnte Oskar:
"Ach! Nein! So ein tapferer Wüstenwanderer, gerade wurde der mir richtig
sympathisch, wie er sich nicht von diesem Monster hat herumkriegen lassen, ... und
jetzt so eine Nachricht, also wirklich! Wie konnte so etwas zugelassen werden? Zerrupft
sagst du, zerstückelt? In einem Ofen gebacken? Das finde ich aber ungerecht. Wenn ich
wieder von so etwas Ungerechtem hören soll, bleibe ich lieber hier in diesem wattierten
Warteraum, dann kannst du alleine in den Tunneln ein- und ausfahren! Wie traurig!
Was sollte denn damit bewerkstelligt werden? Zu was sollte das etwas nütze sein? Was
hat sich die Orgel bloß dabei gedacht?"
"Ja, diese Sache ist in der Tat höchst traurig und makaber und gleichzeitig das
Bemerkenswerteste, das überhaupt je passiert ist in dieser Welt. Die Wichtigkeit dieses
Geschehnisses ist nicht zu überbieten. Denn dadurch wurden drei Dinge bewirkt:
Erstens, durch das Backen und Zerbrechen des Brotes wurde erreicht, daß die anderen
Humusse es verspeisen und so etwas von dem Brotmenschen in sich hineinbekommen
können und auch selbst mit der Zeit zu kleinen Brotmenschen würden. Das Zweite, das
damit untrennbar zusammenhängt, ist dies: Dadurch, daß der Brotmensch wirklich ein
gebackenes und zerrupftes Brot wurde, konnte die Orgel feierlich erklären, daß alles
Zerrupft-Sein der anderen Humusse aufgehoben werden könne und außerdem wurde
auch das Zerrupft-Sein und Gebacken-Sein des Brotmenschen selbst aufgehoben und
der Brotmensch bekam einen Körper, der nicht nur für das Leben auf der Erde, sondern
auch für das Leben in der Gegenwart der großen Orgel selbst geeignet ist. Genau
dadurch wurde der Engelswelt verkündigt: Hier ist jemand, der auf seine GottGleichheit verzichtet hat. Und genau deshalb ist er jetzt der erste Humus, der ganz klar
auch die Engel hier in der Gegenwart Gottes richten kann, denn schaut nur, er ist ja
schon da! Hier ist jemand, der auf ein schönes Leben im Komposthaufen Erde
verzichtete. Und genau deshalb ist er jetzt der erste Humus, der auf einer neuen Erde
leben wird und außerdem in vielen anderen auf der alten Erde weiterlebt. Hier ist
jemand, der sich hätte verteidigen können, der Anspruch auf Legionen von Engeln
gehabt hätte und der sich statt dessen backen und zerkrümeln ließ. Und genau deshalb
ist er jetzt derjenige, der den Schlüssel zur Herrschaft über alles erhält. Und alle die, die
diese Brotmensch-Humanität annehmen, bekommen Anteil an dieser Herrschaft. Hier
hätte jemand in der Autorität der Orgel sprechen können: 'Du Stein, werde ein Brot!',
und tat es nicht, um den Menschen gleich zu bleiben. Und genau deshalb wurden seine
Worte die Worte der Orgel, ja mehr noch, er wurde gewissermaßen das Mundstück der
Orgel selbst. Hier ist jemand schwach geworden. Und genau deshalb ist er jetzt der
Stärkste. Hier ist jemand nicht angenommen worden. Und genau deshalb sind gerade
seine Lehren jetzt die am schnellsten sich Ausbreitendsten. Und so weiter und so fort.
Das Backen, das Zerrissenwerden des Brotmenschen war gewissermaßen ein
Angelpunkt, nach dessen Erreichen sich die ganze paradoxe Umkehrung in
symmetrischer Weise andersherum fortsetzte, wie eine Feder, die sich beim Anziehen
ausdehnt und nach dem Loslassen wieder zurückschnappt. Was vorher zum Nachteil des
Brotmenschen war, wurde jetzt sein Vorteil. Was vorher wie eine Niederlage aussah,
wurde jetzt ein Sieg. Und so weiter und so fort. Und noch etwas wurde bewerkstelligt
durch diesen makabren und traurigen Vorfall: Nämlich, drittens, wurden alle Engel, die
vorher Zweifel an den Erfolgschancen des Humusprojektes der Orgel angemeldet
hatten, lächerlich gemacht. Zähneknirschend mußten sie die Überlegenheit der HumusSpezies eingestehen, die der Brotmensch stellvertretend für alle Humusse vorgeführt
hatte. Sie mußten eingestehen, wenn sie es auch nie begreifen werden können, daß
gerade die schwache, Orgel-abhängige Art der Humusse ihr Vorteil ist, wobei "Vorteil"
hier nicht im Sinne eines innewohnenden Potentials gemeint ist. Gerade das Fehlen
jeglichen Eigenpotentials ist hier der "Vorteil". Und das Schlimmste für besagte Engel:
Sobald sie nun einen Blick zur Orgel hinauf wagen, sehen sie gleich neben der Orgel ein
gebackenes und zerrissenes Brot, das wie ein Mensch aussieht und das die Schlüssel
aller Herrschaft und aller Macht in der Hand hält. Für die Engel, die der Orgel
gegenüber nicht argwöhnisch eingestellt sind, ist dies ein erfreulicher Anblick. Denn sie
freuen sich ja, wenn die Orgel recht behält. Aber für die anderen, die gar schon ihre
Schalen verloren haben, eine grauenerregende Ansicht."
Oskar schwieg eine Weile. Dann bemerkte er:
"Ja, also ich muß schon sagen, das ist ja toll! Aber warum muß ich das alles wissen?"
Der Engel ging ein paar Schritte hin und her und fuhr dabei fort:
"Nun, leider gab und gibt es auch viele Leute, die die neue Brotmensch-Humanität ganz
und gar nicht verstehen wollten und die deshalb auch ihrerseits keine kleinen
Brotmenschen werden, und das, obwohl sie dauernd vom Brotmenschen reden, oder,
besser gesagt, um den Brotmenschen herum reden. Sie haben eine falsche Vorstellung
vom Brotmenschen. Sie sagen "Brotmensch" und denken dabei an eine engelhafte
Gestalt, an eine Art Halbgott, an ein Wesen, das von der Gemeinschaft der Menschen
ausgeschlossen ist und von einer höheren Substanz ist, als der Humussubstanz; kurz, sie
glauben in Wirklichkeit an genau die Art von Wesen, zu der der
Lichtblitzdonnerbomber den Brotmenschen gerne gemacht hätte. So entstand eine
Brotmensch-Religion, die im Grunde gar keine ist. In Wirklichkeit haben nämlich die
Engel erneut eine Möglichkeit gefunden, bei den Menschen dazwischenzufunken.
Diesmal ging und geht es nicht darum, die Humuserbsubstanz durch Vermischung zu
verfälschen, wie in der vorhergehenden Lektion. Das war ja nun den Engeln verwehrt.
Statt dessen beeinflussen sie nun das DENKEN der sich mit dem Brotmenschen
Beschäftigenden derart, daß diese an einen engelhaften Halbgott Namens "Brotmensch"
zu glauben beginnen und somit auf keinen Fall zu der Brotmensch-Humanität gelangen
werden. Sehr häufig passiert dies gerade in deiner Zeit, lieber Oskar. Es ist leider eine
Tatsache, daß die Engel, die sich nicht mit den Humus-Plänen der Orgel abfinden
wollen, auch in deiner Gegenwart einen sehr großen Teil der sich mit dem
Brotmenschen Auseinandersetzenden beeinflussen. Und zwar so sehr, daß kaum jemand
an die Brotmensch-Humanität glaubt. Im Gegenteil, es ist sogar so weit gekommen, daß
die Menschen vor Schreck zusammenzucken, wenn sie das Wort "Brotmensch" hören.
Sie denken dann nämlich unweigerlich, sie müßten ihre Menschlichkeit aufgeben und
unmenschlich werden, wenn sie sich ernsthaft auf die Brotmensch-Auseinandersetzung
einlassen. Und der Lichtblitzdonnerbomber reibt sich die Hände. Er konnte zwar den
Brotmenschen nicht aufhalten. Aber er kann die Menschen vom Brotmenschen
abhalten, ihnen einen falschen Brotmenschen vorgaukeln, einen Brotmenschen, so wie
er ihn gerne gehabt hätte. Eine Veranschaulichung dessen zeigen wir dir jetzt in der
vierten Lektion. Sie wird dich sehr interessieren."
Der vierte Tunnel war niedriger gelegen und Oskar mußte sich ein wenig bücken. Das
Durchgleiten dagegen gestaltete sich wie immer mühelos.
Die Verschneidung
Oskar wurde erst nach einigen Sekunden gewahr, daß er und der Engel sich nicht mehr
im Tunnel befanden, denn sie waren in einem sehr dunklen Raum, der nur von zwei
Kerzen spärlich beleuchtet wurde. Nach und nach konnte Oskar die Umrisse von
Menschen ausmachen. Sie saßen in zwei Reihen von je fünf bis sechs Personen.
Insgesamt mußten sich etwa 30 Personen in diesem Raum befinden. Einige dieser
Personen tuschelten leise untereinander. Dann stand einer von seinem Platz auf und
sagte feierlich:
"Die Versammlung ist eröffnet."
Die Kerzen wurden zwei weiteren Personen gereicht, die damit Fackeln an den
Seitenwänden anzündeten. Im dem hellen Flackern der nun verstärkten Beleuchtung
konnte Oskar sehen, daß viele der Personen weiße Tücher um den Kopf gewickelt
hatten. Der Redner vorne erinnerte Oskar an einen seiner früheren Arbeitskollegen, der
mit unlauteren Heilungsmethoden Schlagzeilen gemacht hatte und danach hinter Gittern
gelandet war. Er flüsterte dem Engel ins Ohr:
"Sind wir hier in einer antiken Psychiatrie?"
Der Engel schüttelte den Kopf und legte einen Finger auf seinen olivgrünen Mund.
"Liebe Mitbeschäftigende," sagte der Redner, "heute wollen wir uns wieder damit
beschäftigen, was der Brotmensch von uns will, jawohl, was er von uns will. Diesmal
geht es um unseren Körper. Was hat der Brotmensch gesagt, sollen wir tun, wenn eines
unserer Körperteile uns zu etwas verleitet, das nicht mit seinem Willen übereinstimmt?"
Der Redner blickte mechanisch nach rechts und links in die Zuhörerschaft. Ohne eine
Antwort abzuwarten, trompetete er weiter:
"Ausreißen sollen wir es! Von uns wegwerfen! Ausreißen und wegwerfen! So sei es.
Nun wißt ihr ja, welches Körperteil uns am meisten dazu verleitet, den Willen des
Brotmenschen zu übertreten. Ich brauche dazu nun wohl nichts mehr zu sagen. So. Nun
ist wieder eine Zeit, in der Berichte von euch zur Ehre des Brotmenschen vorgetragen
werden dürfen. Ich darf bitten!"
Ein junger Mann stand langsam und schwerfällig auf und stellte sich hinter das
Rednerpult. Er hatte einen auffallend stumpfen Blick. Sein Kopf war mit weißen
Tüchern umwickelt. Ohne einen Blickkontakt mit der Zuhörerschaft zu suchen, ratterte
er seinen "Bericht" herunter:
"Ich bin Calo, 22 Jahre alt. Ich wollte auch dem Brotmenschen ganz treu sein. Seit ich
seinen Willen erfüllt habe, fühle ich mich viel freier. Seitdem ich überwunden worden
bin, kann ich seinen Willen erfüllen. Ich möchte auch weiterhin in allem treu sein."
Ohne auf eine etwaige Reaktion der Zuhörer zu warten, schlurfte er wieder zu seinem
Zuhörerplatz. Sogleich wankte der nächste zum Rednerpult. Auch er sah starr vor sich
hin und sprach in der gleichen monotonen, von aller Wortmelodie befreiten Weise:
"Ich bin Tiro, 19 Jahre. Auch ich möchte ganz treu sein. Seit der Überwindung wachse
ich stetig im Willen des Brotmenschen. Ich möchte auch weiterhin in allen Dingen treu
sein."
Noch ein dritter, ein vierter und ein fünfter standen auf und gaben ihre "Berichte". Diese
entsprachen, bis auf unmerkliche Abweichungen, in Form, Inhalt und Vortragsweise
den beiden vorhergehenden. Alle hatten weiße Tücher um den Kopf gewickelt. Der
Redner stand währenddessen etwas abseits vom Rednerpult im Hintergrund und zog ein
süßlich-triumphierendes Gesicht. Nachdem der fünfte Berichterstatter fertig war, klopfte
ihm der Redner väterlich auf die Schulter und sagte: "Gut gemacht, Zirro. Auch ihr
anderen, Calo, Tiro, Uruz und Benterel. So. Nun wollen wir unsere Versammlung
beschließen."
Eine Seitentür ließ Tageslicht hereinbrechen. Langsam drängten sich die Zuhörer
hinaus.
Der Engel faßte Oskar am Ärmel und flüsterte ihm ins Ohr:
"Siehst du den Jungen dort mit der rosagrauen Tunika? Den mit den schwarzen Locken?
Komm, wir wollen ihm folgen in das Haus seiner Eltern."
Oskar und der Engel folgten dem Jüngling. Sie kamen an ein weißgetünchtes Haus mit
kleinen Fensteröffnungen und einem kuppelgekrönten Flachdach. Sie schlüpften dicht
hinter dem Jungen her in einen atriumsähnlichen Innenhof, in dessen Mitte ein
Springbrunnen leise plätscherte. Aufziehende, dunkle Wolken spiegelten sich in der
leicht gekräuselten Wasseroberfläche. Gequält seufzte der Junge auf und ließ sich auf
ein Lager aus geflochtenen Binsen fallen.
"Mirano, bist du's?" rief eine Frauenstimme aus dem Haus. Der Junge schwieg und sah
zu den Wolken hinauf. Leise knarrten die dürren Äste eines abgestorbenen Weinstocks,
der über das Dach hinausgewachsen war und nun vom Wind bewegt wurde.
"Es wird ein Gewitter geben", sagte der Junge.
"Du bist's, Mirano, wie schön!", klang die Frauenstimme wieder. Eine rundliche Frau
mit zusammengeknoteten, schwarzen Haaren trat aus dem Haus in den Innenhof.
"Schön, daß du da bist. Das Essen ist fast fertig. Vater kommt auch gleich. Er holt Gäste
vom Hafen ab. Sie sind vorhin dort eingelaufen."
"Wer ist es denn?"
"Überraschung! Es sind Leute, die dich bestimmt sehr interessieren. Aber sieh' nur, da
kommen sie schon!"
Miranos Vater war ein untersetzter Mann mit Halbglatze und buschigen Augenbrauen.
Er schien ganz vertieft in eine lebhafte Unterhaltung mit den zwei Männern, die er vom
Hafen abgeholt hatte und machte ausladende, von gewichtigen und tiefsinnigen
Äußerungen zeugende Handbewegungen. Schließlich waren die drei am Haus
angekommen. Freudig führte der Vater seine Gäste in den Innenhof und begrüßte die
Mutter und Mirano.
"Darf ich vorstellen, meine liebe Frau Coralia. Epipathos, du kennst sie ja noch von
früher. Und dies ist unser Sohn Mirano. Coralia, Mirano, dies sind Sylvanicus Metrius
und sein Begleiter, mein alter Freund Epipathos Lucullus. Sie kommen gerade von der
Insel Rhododendros. Auch dort beschäftigen sich schon viele Leute mit dem
Brotmenschen. Sylvanicus und Epipathos haben dort dem großen und berühmten Lehrer
Pepulos Postus geholfen. Und nun laßt uns zu Tisch gehen. Ihr seid sicher
ausgehungert, nach so einer langen Seereise."
Das Essen war lang und ausgiebig. Miranos Eltern ließen es an nichts fehlen. Nach dem
Essen blieben die drei Männer und Mirano unter sich. Miranos Vater eröffnete die
Gesprächsrunde:
"Nun lieber Sylvanicus, sagt an, wie steht es mit Pepulos' Arbeit unter den
Rhododendrossern? Sind viele Leute Brotmensch-Interessierte geworden?"
Sylvanicus legte die Kuppen seiner gespreizten Finger aufeinander und bildete seine
Hände zu etwas, das wie ein rechtwinklig konzipiertes Dachgerüst aussah. Sylvanicus
schien der Typ von Mensch zu sein, der gerne etwas genau und erfolgreich zu Ende
führt. Er war jünger als Miranos Vater, aber wesentlich älter als Mirano. Oskar
bemerkte, daß er striemenförmige Narben auf seinen sonnengebrannten Unterarmen
hatte. Sylvanicus holte tief und konzentriert Luft, bevor er antwortete:
"Lieber Maro, ich weiß fast nicht, mit was ich anfangen soll. Es gibt so vieles zu
berichten von der Arbeit dort. Ja, es stimmt, viele Leute beschäftigen sich nun mit dem
Brotmenschen. Viel, viel mehr als vor fünf Jahren, als Pepulos gerade seine erste
Pionierarbeit dort abgeschlossen hatte. Aber Quantität ist nun mal nicht alles. Mit den
vielen Leuten wachsen auch die Probleme. Und der Lichtblitzdonnerbomber schläft
natürlich auch nicht, sondern ist wirksam, mit seinen Arbeitern. Viele der irrigen
Meinungen, die von den ausgebrochenen Engeln verbreitet wurden, konnten von
Pepulos erfolgreich bekämpft werden. Aber eine große Irrlehre hält sich fest wie Pech
und Schwefel und bringt vor allem junge Menschen ziemlich durcheinander. Das
Schlimme dabei ist, daß nicht nur die Dreistigkeit und Frechheit zunimmt, mit der die
Vertreter dieser Irrlehre Menschen verführen und ausbeuten, sondern, daß sich diese
Vertreter auch noch in raffiniertester Weise organisieren und zwar im ganzen
Lorbeerimperium. Sogar hier in eurem schönen Kerykikos soll es einen von diesen
gewieften Füchsen geben - einen gewissen Quackus, einen ganz ausgekochten
Burschen."
Mirano saß wie vom Blitz getroffen da und blickte beschämt unter den Tisch. Er bekam
hochrote Ohren und wagte nicht, seinen Kopf zu bewegen.
"Was für eine kuriose Irrlehre ist es denn, die die armen Leute dort so schrecklich
verwirrt?", fragte Maro, Miranos Vater.
"Das Raffinierte dabei ist die Vorgehensweise. Zuerst tun sie ganz so wie Pepulos und
reden genau wie er. Dann erwecken sie bei ihren Opfern den Eindruck, es fehle ihnen
noch sehr viel, um dem Brotmenschen zu gefallen. Und dann verkaufen sie ihnen
Methoden, die es einem erleichtern sollen, den Willen des Brotmenschen zu tun. Diese
Methoden sind aber solche, die den ursprünglichen Plan der Orgel mit dem
Brotmenschen völlig ad absurdum führen. Die Orgel wollte ja, daß wir Humusse eine
Möglichkeit bekommen, zu der ursprünglichen Humus-Humanität zurückzugelangen.
Der ganze Kompostkerl Mensch, so wie er von der Orgel konzipiert ist, von der
Fußsohle bis zum Scheitel, sollte wieder im Abglanz der Orgel erstrahlen. Vor ihm
sollten die Engel weichen, denn die ursprüngliche Mensch-Herrlichkeit, durch den
Brotmenschen zurückgebracht, sollte von ihm ausgehen. Natürlich nur von denen, die
den Brotmenschen auch wirklich als den Humus-Prototyp schlechthin erkennen und von
seinem gebrochenen Brotlaib essen und sich dann auch selbst zu Broten umwandeln
lassen, die gebacken und zerrupft werden. Was lehren aber nun besagte Herren? Sie
behaupten, man könne so wie man ist, dem Brotmenschen niemals gleich werden. Man
müsse daher selbst Hand anlegen und ein wenig von seinem Körper abschnippeln. Nur
dann käme man in die Lage, das Gesetz der Orgel befolgen zu können. Was jene
unglückseligen Menschen, die auf diese entsetzliche Torheit hereinfallen, aber nicht
sehen, ist die Tatsache, daß eben dann, wenn ein Stückchen von ihrem Körper fehlt, der
Lichtblitzdonnerbomber und die anderen ausgebrochenen Engel sich vor die Orgel
stellen können und spotten können, nach der folgenden Weise: "Siehst du, die Humusse
sind nicht perfekt konzipiert. Nur wenn sie sich verstümmeln, verschneiden; wenn sie
sich zu Unmenschen, zu tierhaften Monstern machen, können sie willig den Willen
eines anderen befolgen. Sonst sind sie nie in der Lage, deine Gesetze zu befolgen. Und
auch nun befolgen sie deine Gesetze nicht, sondern nur die Anweisungen derer, die sie
verstümmelt haben." Aber damit noch nicht genug. Das Fatale ist, daß diese
Verstümmelten nun nie mehr die Brotmensch-Humanität erlangen können. Denn sie
sind ja keine hundertprozentigen Menschen mehr. Der Brotmensch hat sich aber nur für
hundertprozentige Menschen backen und zerkrümeln lassen, nicht für solche, die sich
eines Teils ihrer Menschlichkeit aus eigenen Stücken entledigen. Für solche, die durch
Mißgeburt oder Unfall ihrer Menschlichkeit zum Teil verlustig gegangen sind, hat die
Orgel sicherlich einen besonderen Weg. Darüber wissen wir nichts Genaues, wir wissen
nur, daß die Orgel gerecht ist und zu ihren Humussen steht. Aber für die, die ihr
Geschaffen-Sein mutwillig verachten, weil sie auf die Ohrenbläserei der
Ausgebrochenen hörten statt auf die großen Zusammenhänge der Lehren des
Brotmenschen, und so der Orgel ins Gesicht speien, gibt es keine Tür mehr. Wie auch
die Engel keinen Wiederbringer haben, der sie nach einer Desertation wieder auf ihre
Bahn zurückbringen könnte, so haben auch jene, durch eigene Dummheit Verschnittene,
keinen Brotmenschen mehr, der für sie alles noch einmal wiederholt, was er schon getan
hatte. Sie sind sozusagen von der ganzen Brotmensch-Sache unwiederbringlich
ausgeschlossen."
"Das ist ja furchtbar!", rief Maro dazwischen. "Aber wieso fallen so viele darauf
herein?"
Sylvanicus holte noch einmal tief Luft und stieß sie leise seufzend durch seine Zähne
wieder hinaus. Er kniff die Lippen zusammen und kräuselte seine sonnengebräunte
Stirn.
"Genau das ist nun das Ungeheuerliche. Sie pirschen sich ja gerade an Menschen heran,
die sich für den Brotmenschen interessieren; die Gleichgültigen lassen sie in Ruhe. Nun
haben diese Burschen die Taktik von Räubern. Sie stehlen Wahrheiten, Teilaspekte der
Wahrheit, Zitate des Brotmenschen, reißen diese aus dem Zusammenhang, wandeln sie
gemäß ihrer bösartigen Ziele geschickt um - und voilà: Eine zusammenhängende Lehre
über die Orgel und den Brotmenschen, die hieb- und stichfest zu sein scheint. Und die
dabei, um 180 Grad verdreht, der Wahrheit genau entgegensteht."
"Aber hat nicht der Brotmensch selbst gesagt, daß wir ein Körperteil, das uns dazu
bringt, etwas nicht-orgelgemäßes zu tun, ausreißen und von uns werfen sollen?" fragte
Mirano, der sich wieder getraut hatte, aufzusehen.
"Ja, genau, das ist auch so ein Brotmensch-Zitat, das gerne von den Verstümmlern
ausgeschlachtet wird für ihre Ziele. Was aber meinte der Brotmensch wirklich damit?
Er redete damals mit eingebildeten Königshausenern, die auf ein kleines Krätzerchen an
ihrem Körper stolz waren, welches sie sich als Zeichen ihres Königshausener
Bürgerrechts zugelegt hatten. Dieses Krätzerchen nun war ursprünglich einmal
tatsächlich von der Orgel vorgeschrieben gewesen, vor sehr langer Zeit. Es sollte die
Königshausener Ursippe daran erinnern, daß sie nicht alles nach ihrem eigenen
Dickkopf tun können. Außerdem hatte es medizinische Gründe. Es wurde nur bei
Männern durchgeführt. Diese Tatsache allein beweist, daß jenes Krätzerchen an sich
nicht dazu da war, besser vor der Orgel dastehen zu können. Obwohl es klar von der
Orgel vorgeschrieben war. Sonst müßte man ja folgern, nur Männer könnten sich die
Gunst der Orgel erwerben, was sowieso von vornherein eine falsche Vorstellung wäre.
Die Königshausener meinten nun aber gerade, daß sie sich durch das Krätzerchen
gewissermaßen bei der Orgel eingekauft hätten. Es traten immer wieder Dichter und
Gelehrte auf, die ihnen klar sagten: "Manche Leute haben kein Krätzerchen und sind
gerechter als ihr. Ihr habt zwar eins, aber das macht euch keinen Deut besser." Deren
Veröffentlichungen und Darbietungen wurden übrigens wiederholt untersagt, sind aber
gut aufbewahrt worden von aufrichtigen Wissenschaftlern. Der Brotmensch kam nun
und kitzelte an der gleichen empfindlichen Stelle. Er sagte: "Wenn ihr meint, daß euch
das Krätzerchen gerechter macht, dann müßt ihr auch konsequent euer falsches Denken
weiterdenken. Dann müßt ihr nämlich auch die Körperteile von euch werfen, die euch
zur Ungerechtigkeit dienlich sind." Und im Ungerechtigkeiten Machen waren die
Weltmeister. Sie hätten ihren Leib total zerstückeln und wie
Hundefutterfleischbröckchen in der Gegend umherwerfen müssen. Kurz, ihr ganzer
Körper war durch und durch verwerflich, Krätzerchen hin, Krätzerchen her. Und das
trifft übrigens auch für alle Humusse zu, nicht nur für die korrupten Halsabschneider im
alten Königshausen. Was muß also ein Humus tun? Er muß seinen alten Menschen als
"weggeworfen" betrachten und den neuen, den Brotmensch-Menschen in sich
aufsaugen. Natürlich ist dies auch nur ein Bild. Gemeint ist damit, daß man sich eben
völlig identifiziert mit dem Brotmenschen. So wie ein verrückter Fan von einem
Gelehrten schließlich auch so spricht und denkt wie der Gelehrte, der sein Idol ist, so
soll ein Humus ein Fan vom Brotmenschen werden, bis er schließlich auch so spricht
und denkt wie dieser. Den gleichen verwerflichen Körper hat er zwar immer noch. Aber
er tut damit jetzt das, was der Brotmensch getan hätte. Er verwendet seine Beine, seine
Arme und alles andere mit Haut und Haar für die Gerechtigkeit, für das Noble, für das
Edle, für die wahre Schönheit, Würde und Weisheit. Und genau das ist es, was die
Engel in den Wahnsinn treibt. Wie können verwerfliche Körper den Willen der Orgel
tun, wenn auch nie perfekt, aber doch immerhin in großem Ausmaß? Dieses läßt ihnen
keine Ruhe. Sogar die Engel, die der Orgel willensmäßig verbunden sind, zerbrechen
sich darüber den Kopf und würden nur zu gerne wissen, wie solches zugeht. Warum
ausgerechnet diese wurmstichigen, schwachen, zerbrechlichen Kreaturen in den
erhabenen Handlungsvorstellungen der Orgel aufgehen. Und das Tollste kommt noch:
Wenn der Humus, der das Brotmensch-Brot in sich hat, wieder zu totem Kompost wird
und in der Erde fault, oder zu Asche verbrennt und in die Atmosphäre gewirbelt wird,
wird er in Wirklichkeit erst recht zu den Sphären des Himmels erhöht! Stellt euch das
vor: Ganz oben die Orgel, in ihrem unzugänglichen Licht. Dann die Kompostwesen, die
nun einen verwandelten Kompost an sich haben, aber eben doch Kompost. Sie sind dort
immer noch so, wie sie die Orgel konzipiert hatte. Nur in himmelsgerechter Version,
mit den entsprechenden Extra-Ausstattungen. Anti-Fäulnis-Faktor, geruchsneutral, und
so weiter. Aber ansonsten Kompost. Körper, Humus-Körper. Und darunter erst die
Engel, mit ihren wunderbaren und erhabenen Lichtgestalten, die, wenn sie uns jetzt und
heute erschienen, so erschrecken könnten, daß wir uns alle sofort flach zu Boden werfen
würden! Aber dann werden wir trotzdem über sie erhöht sein, so schwer es auch zu
glauben ist. Das ist es, was die Orgel vor hat, Freunde! Manchen Himmelswesen paßt
dies nun eben ganz und gar nicht. Und nun setzen diese alles daran, die Leute von der
Brotmensch-Humanität fernzuhalten, diese zu pervertieren, zu verfälschen, nachzuäffen,
den Leuten den Appetit darauf zu verderben."
"Schön und gut", warf Mirano wieder ein. "Aber wenn ich doch merke, daß ich den
Willen der Orgel nicht tun kann! Muß man da nicht doch etwas nachhelfen? Ist es nicht
doch ein Zeichen BESONDEREN Ernstes und BESONDEREN, lobenswerten Eifers,
wenn man das, was einen zur Ungerechtigkeit, zum Unedlen, Niederträchtigen und
Würdelosen verleitet, von sich trennt? Muß nicht der Wille des Menschen erst ganz
zerbrochen daliegen, bis der Brotmensch etwas daraus machen kann? Ihr sagtet ja
selbst, der Mensch muß seinen alten Menschen als weggeworfen betrachten. Ist es nicht
konsequenter, ihn nicht nur als solchen zu betrachten, sondern ihn tatsächlich, in der
Realität, wegzuwerfen? Auf die Ganzheit des Körpers zu verzichten, um näher zur
Orgel zu gelangen? Seine Identität zerstören zu lassen, um die Identität des
Brotmenschen zu erlangen? Müssen wir nicht durch eigenen Verzicht auf unser Ich, auf
unser Wesen, einen Vertrag mit der Orgel bestätigen?"
Maro starrte seinen Sohn fassungslos an.
"Mirano!" rief er nur. Soviel bohrende Fragen hätte er seinem Sohn nicht zugetraut.
Sylvanicus antwortete gezielt:
"Was denn für einen Vertrag? Wir einen Vertrag mit der Orgel abschließen? Könnten
wir das überhaupt? Niemals! Wenn jemand einen Vertrag abschließt, dann nur die große
Orgel selbst. Es ist ihr überlassen, ob wir uns auf den Brotmenschen einlassen oder
nicht. Es sieht zwar so aus, als ob auch wir uns entscheiden. Und so müssen wir auch
ausrufen und immer wieder die Menschen wachrütteln: Entscheidet euch richtig! Aber
in Wirklichkeit ist es nur die Orgel, die entscheidet. Wenn sie uns dazu bestimmt, ein
kleiner Brotmensch zu werden, dann werden wir es werden. Es ist kein leichter Weg.
Manchmal scheint der Brotmensch weit weg zu sein. Der Brotmensch selbst rief ja im
Backofen: "Vater, warum hast du mich verlassen!" Es wird kein gefahrloser Weg sein.
Es gibt nur den Schutz, den die Orgel für angebracht hält. Ansonsten haben wir
keinerlei Garantie, daß wir nicht reißenden Hyänen, Gefahren auf Reisen und
Verfolgungen anheim fallen werden. Sieh, doch meine Narben hier. Siehst du sie?"
Sylvanicus hielt Mirano seine Unterarme entgegen.
"Ich bekam sie von einem Lorbeersoldaten, den ein paar fanatische Königshausener
Patrioten gegen mich aufhetzten. Sie waren nicht einverstanden, mit meiner Art und
Weise, die Sache mit dem Brotmenschen zu erklären. Du siehst also, ich bin nicht
darauf erpicht, meinen Körper gut durchzubringen. Aber nicht ich bin derjenige, der in
dieser Sache handelt. Nicht ich lasse meinen Leib verschneiden. Andere tun es gegen
meinen Willen. Der Weg in den Fußstapfen des Brotmenschen ist kein bequemer Weg.
Man stößt häufig mit seinen Füßen irgendwo an. Man hat keinen Anspruch auf Engel,
die einen vor jedem Wehwehchen beschützen. Manchmal schickt die Orgel Engel, die
uns beschützen, manchmal nicht. Es ist dies nicht unsere Sache. Der Weg mit dem
Brotmenschen ist auch kein eindeutiger Weg. Wir haben keinerlei Garantie, daß wir
alles gleich richtig machen. Es kann vorkommen, daß man in eine Sackgasse gerät und
wieder umkehrt und einen besseren Weg weiterläuft. Es kann vorkommen, daß man
zwei oder drei richtige Möglichkeiten gehen kann. Und doch ist es die große Orgel, die
über allem wacht, nicht unsere Schlauheit, nicht unsere hellseherischen Fähigkeiten, den
Willen der Orgel erahnen zu können, sind es, die uns richtig gehen lassen. Du sagst, du
hast Schwierigkeiten, den Willen der Orgel zu tun. Es ist gut, daß du dies ehrlich
erkennst. Viele Menschen scheren sich ja bekanntlich einen Dreck darum. Aber, du
wirst es nicht glauben: Ich habe die gleichen Schwierigkeiten! Manche dieser
Schwierigkeiten treten in den Hintergrund. Dumme Gedanken zum Beispiel. Man
beschäftigt sich mehr und mehr mit dem Brotmenschen, und dann hat man einfach
weniger Zeit dafür. Aber auch mir kommt es noch häufig genug vor, daß ich unsinnige
Tagträume habe. Ja, oftmals, wenn ich in Gefängnissen saß, und niemanden hatte, mit
dem ich reden konnte, gingen mir die ekelhaftesten Gedanken durch den Kopf! Bin ich
deshalb von der Orgel verstoßen? Nein! Was soll ich nun tun? Gar nichts! Ich kann ja
nichts! Ich werde einfach weiter mich mit dem Brotmenschen auseinandersetzen und so
mehr und mehr von seinen Gedanken erfüllt. Aber perfekt werden wir nie. Das
brauchen wir auch nicht. Die Orgel gibt jedem so viel von dem Brot des Brotmenschen,
wie man ihrer Meinung nach braucht. Es liegt nicht an uns, zu bestimmen, wie
brotmensch-ähnlich wir schon sind. Keine Zeit für narzißtische Spiegelschauerei! Sei
also nicht besorgt, wenn du feststellst, du kannst den Willen der Orgel nicht tun. Die
Tatsache, daß du dies feststellst, beweist, daß du auf dem richtigen Weg bist. Dann
versuchst du nämlich nicht mehr selber, diesen Willen zu tun. Statt dessen bleibt dir nur
noch der Brotmensch selbst als letzte Rettung. Statt also selbst zu versuchen, dich in
eine imaginäre Brotmensch-Schablone hineinzwängen zu lassen, die von weiß wer wem
mit List und Tücke entworfen wurde, von dem einen enger, von dem anderen weiter;
solltest du so wie du bist, den Brotmenschen selbst ergreifen. Sein Brot essen. Sein
Wasser trinken. Weiter nichts. Mehr kannst du nicht tun. Alles andere tut das Brot in
dir. Nur paß' auf, das du kein vergiftetes Brot erwischst. Vorsicht vor dem Sauerteig!
Prüfe genau, ob es echtes Brotmensch-Brot ist. Die Prüfmerkmale dafür kannst du aus
den Zitaten des Brotmenschen selbst heraushören."
"Aber gelten nicht die Vorschriften der Orgel auch für uns?" entgegnete Mirano.
"Freilich, warum sollten wir eine Ausnahme bilden, nur weil uns die Orgel mit dem
Brotmenschen in Berührung brachte! Bei der Orgel gibt es keine Extrawurst. Jeder ist in
gleicher Weise den Vorschriften unterstellt. Aber nun schau dir einmal jene an, die
anderen eine größere Stärke, diese Vorschriften zu halten, versprechen, durch ihre
Quacksalberei. Halten sie diese Vorschriften selbst? Mitnichten! Statt dessen beuten sie
ihre Opfer aus, wie eine Spinne, die einer Fliege den Saft aus dem Chininpanzer
herausschlürft. Sie isolieren ihre Rekruten von Familie, Freunden und Gesellschaft. Sie
machen Unterschiede zwischen ihren Zöglingen und teilen sie ein, in marionettenhafte
und weniger marionettenhafte. Sie treiben doppelte Moral, indem sie den einen diese
und jenen andere Verhaltenskodexe aufzwingen. So brechen sie sämtliche Vorschriften,
die sich auf das Zusammenleben mit den Mitmenschen beziehen, alle, ohne Ausnahme.
Aber damit nicht genug: Sie greifen auch nach den Sternen; sie vergreifen sich an der
Autorität der Orgel. Sie spielen selbst den Höchsten, bestimmen eigene Vorschriften
und Paragraphen, und machen dem Brotmenschen den Platz streitig, den er hat. Sie
selbst wollen nun Vermittler sein zwischen der Orgel und den Menschen. Dies
betrachten sie dann auch noch als ihren BESONDEREN Verdienst für die Orgel und die
Menschen, als den Verdienst, mit dem sie selbst sich einen BESONDEREN Platz im
Himmel ergattern meinen zu können. Nur um nicht selbst den Weg zu gehen, versperren
sie anderen den Weg. Um selbst dem Backofen entgehen zu können, fritieren sie andere
bis zur Unansehnlichkeit. Dabei putzen sie sich lächerlich heraus, wie ein eitler Pfau.
Sie bieten einen falschen Ersatz für den Brotmenschen an, einen BrotmenschenTalisman. Diesen verscherbeln sie dann ihren Opfern für lumpiges, dreckiges Geld!"
Mirano schluckte schwer. Sie schwiegen eine Zeitlang. Der symmetrieliebende
Sylvanicus hatte während des Sprechens mit zwei erhobenen Zeigefingern rhythmische
Taktschläge veranstaltet. Nun standen die "Taktstöcke" einige Sekunden lang
regungslos in der Luft. Danach legte er seine Hände flach auf den Tisch, wobei er mit
den Fingern ein kleines Trapez bildete.
Epipathos hatte die ganze Zeit geschwiegen. Er war etwas älter, etwa so alt wie Maro.
Er hatte ein rundes, sympathisches Gesicht, das von einer mit Leberflecken
überzogenen Glatze gekrönt war. Runde, wäßrige Augen sahen Mirano liebevoll an.
Nun faßte er Mirano an der Hand.
"Mein lieber Junge. Du bist doch noch so jung. Warum willst du dir dein Leben
zerstören lassen, von Menschen, die in Wirklichkeit die Orgel verachten. Glaub' mir,
das Leben mit dem Brotmenschen ist ein schönes Leben. Es kann entsagungsvoll sein,
aber es ist doch ein schönes Leben. Du bist doch ein begabter und intelligenter Junge.
Was für eine Bereicherung für diese Stadt, welch eine Freude für deine Eltern! Du
kannst Großes bewirken und vielen helfen. Laß' dich nicht von zwielichtigen Leuten
hinters Licht führen. Es gibt noch so vieles zu erfahren und zu sehen auf dem Weg.
Schäme dich nicht, ein Mensch zu sein. Der Brotmensch war auch einer. Nimm seine
Menschlichkeit an, anstatt deine eigene zu zerstören. Du kannst uns glauben. Wir stehen
hinter dir. Sylvanicus meint es gut mit dir. Er hat vielen geholfen. Du tust gut daran, auf
ihn zu hören. Nicht weil ich es sage. Es kann schmerzhaft sein, die Wahrheit zu hören.
Aber auch der beste Arzt muß einmal eine schmerzhafte Therapie verordnen. Nur
Quacksalber versprechen eine schnelle Heilung, die ihnen Geld bringt und dem
Patienten Leid zufügt, viel größeres Leid, als bei der wahren Medizin."
Mirano schwieg und verzog sein Gesicht, da er mit den Tränen kämpfen mußte.
"Also, ich, ich bin der Epipathos. Aus Thiaturata. Du kannst mich auch einfach "Epi"
nennen, so nennt mich dein Vater auch. Ich war jetzt mit Sylvanicus ein halbes Jahr auf
Rhododendros. Hast du schon einmal von den Stierkämpfen dort gehört? Sie finden
jedes Jahr, im Frühling statt. Es ist ein farbenprächtiges, wildes Spektakel. Willst du uns
besuchen, im nächsten Frühling? Ich werde dort sein, Sylvanicus wahrscheinlich auch.
Du wirst viele wunderbare Freundschaften schließen. Es ist immer gut für junge
Menschen wie dich, einmal aus allem 'raus zu kommen."
Epipathos blickte aufmunternd zu Maro hinüber, der regungslos dasaß und hilflos vor
sich hin starrte.
"Ich denke dein Vater wird es dir erlauben. Auch er meint es nur gut mit dir, glaub' es
mir. Ich kenne ihn schon sehr lange. Schon aus einer Zeit, in der du noch nicht geboren
warst. Er ist ein guter Mensch und meint es ernst mit dem Brotmenschen."
Da konnte Mirano seine Tränen nicht mehr länger halten. Er stand eilends auf,
entschuldigte sich mit halbverständlichen Worten und huschte in sein Zimmer, das in
dem gegenüberliegenden Flügel des Hauses integriert war, auf der anderen Seite des
Innenhofs.
Oskar und der Engel hörten noch eine Zeitlang den verbleibenden drei Männern zu.
Inzwischen war es dunkel geworden und es hatte leicht angefangen zu nieseln. In der
Ferne war Wetterleuchten zu sehen.
"Ein sehr sympathischer Junge", sagte Epipathos. "Ach, wie ist er tiefsinnig, was für ein
Sturm tobt in ihm. Wunderbar, diese Jugendlichen."
Sylvanicus saß mit verkrallten Fingern und leicht vorgebeugtem Oberkörper da. Er war
auf einmal ganz bleich. Entsetzen spiegelte sich in dem hageren, klugen Gesicht.
"Was hast du, Sylvanicus, ist dir nicht wohl?"
"Ich ahne nichts Gutes. Hoffentlich ist dieser Junge nicht an Quackus geraten. Er hört
sich nämlich fast danach an."
Maro sprang von seinem Stuhl hoch.
"Was, mein Sohn, in den Fängen dieser Krake? Das wäre ja furchtbar! Ich will ihn
gleich morgen früh zur Rede stellen."
"Du mußt dich vorsichtig herantasten, Maro. Dieser Quackus beherrscht die Kunst der
Gehirnwäsche. Er bleut den jungen Leuten ein, ihre Eltern wären von der Gegenseite
gesteuert. Mirano wird also, wenn meine Vermutung stimmt, auf eine panische
Reaktion deinerseits mit noch mehr Trotz reagieren. Es wird nicht leicht sein. Ich hoffe
nur, meine Vermutung ist falsch."
Der Engel faßte Oskar am Ärmel und zog ihn in den Innenhof. Oskar merkte, daß ihm
der Regen nichts anhaben konnte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, im Regen zu stehen
und nicht naß zu werden.
"Wir werden jetzt in das Zimmer des Jungen gehen. Erschrick nicht, wir werden
diesmal direkt durch die Wand steigen. Du wirst einen ausgebrochenen Engel erleben.
Keine sehr angenehme Begegnung. Also, sei darauf gefaßt, und schrei’ nicht los. Diese
Viecher sehen nämlich nicht sehr hübsch aus."
Oskar nickte. Nach allem, was er bisher mit dem Engel erlebt hatte, glaubte er nicht,
Angst verspüren zu können.
Das Durchsteigen durch die Wand war schon ein recht seltsames Erlebnis. In dem
Zimmer des Jungen war es sehr dunkel. Nur eine kleine Kerze erleuchtete eine Art
Kommode. Ab und zu war das Leuchten von Blitzen in der Ferne durch ein kleines,
oben spitzzulaufendes Fenster zu sehen. Der Regen war nun so stark geworden, daß das
herannahende Donnergrollen nur als dumpfe Schwingung wahrgenommen wurde und
noch nicht als etwas akustisch Hörbares. Der Junge lag auf den Knien und murmelte
leise etwas vor sich hin. Dann legte er sich auf sein Bett und weinte. Nach einer Weile
kniete er sich wieder hin und sprach diesmal lauter:
"Lieber Brotmensch, ich weiß nicht, was ich tun soll. Antworte mir doch mit einer
Botschaft. Stimmt es, was dieser Sylvanicus gesagt hat, oder soll ich auf Quackus
hören?"
Er schwieg eine Zeitlang, mit gebeugtem Kopf. Danach kramte er aus dem
Wandschrank eine Papierrolle hervor. Er raschelte ein wenig damit herum, und las dann
laut:
"...sie haben die Dichter und die Lehrer. Auf die sollen sie hören... !"
Enttäuscht ließ Mirano die Papierrolle fallen, die sich von alleine zu zwei
zusammenhängenden Röhren zurückrollte. Er kramte einen kleinen Spiegel hervor und
betrachtete sich darin.
"Soll ich mein Ich zerstören lassen oder bei diesen Lehrern auf der Insel Urlaub
machen?", fragte er sein Spiegelbild leise.
Oskar konnte das Spiegelbild des Jungen im Schein der Kerze gut sehen. Ab und zu
erleuchtete das Licht der Blitze auch die Umrisse des Jungen selbst. Er war so darin
vertieft, das Spiegelbild Miranos zu betrachten, daß er zuerst nicht merkte, wie sich von
hinten etwas wie eine leuchtende Rauchfahne auf den Jungen zu bewegte. Oskar biß
sich auf seine unsichtbaren Lippen. Ein elektrisierender Schauer fuhr durch seine
unsichtbare Kopfhaut. Die Rauchfahne formierte sich zu einer katzenhaften Fratze, mit
kleinen, starren Pupillen und einem breiten, frech verzogenen Maul. Vor dem Ohr des
Jungen machte die Katzenfratze halt und zischelte:
"Du traust dich doch sowieso nicht, du Feigling. Bist ja noch viel zu sehr verliebt in
dich selber!"
Der Junge senkte den Kopf und seufzte. Der Katzenfratzen-Engel stieß ein dünnes,
langes Röhrchen aus seinem Maul. Langsam verschwand das Röhrchen in einem Ohr
des Jungen. Nun war Mirano mit der für ihn unsichtbaren und unmerklichen Fratze
verbunden. Nach einer Weile begann der Junge in einem merkwürdigen, theatralischen
Sing-Sang-Tonfall zu sprechen:
"Du hast mich überführt, Brotmensch! Ich wollte ja nur meine Haut retten, ein schönes
Leben haben. Fast hätten mich diese fleischlichen Menschen dazu überredet. Ihre
Argumente waren fleischlich, nicht geistlich. Fast wäre ich darauf hereingefallen.
Vergib' mir, daß ich einen Augenblick fast daran geglaubt hätte. Ich sehe ja, daß ich so
wie ich bin, deinen Willen nicht tun kann. Nun will ich dir treu sein und tun, was du
willst. Ich weiß nun, daß Quackus die wahre Lehre von dir verbreitet. Ich will mein Ich
nicht länger ungeschoren davonkommen lassen. Gleich morgen werde ich zu Quackus
gehen und Ernst machen mit dem Weg. Mögen meine Eltern sagen, was sie wollen,
mögen alle über mich lachen, es gibt kein Zurück mehr. Hiermit verspreche ich dir,
meinen Vertrag mit dir vollends zu unterzeichnen! So sei es!"
Inzwischen war das Gewitter näher gekommen und Donner und Blitze wechselten sich
in erstaunlich kurzen Zeitabständen ab. Etwas Elektrisierendes, Drückendes lag in der
Luft. Der Katzenfratzen-Engel rollte sein Röhrchen wieder ein. Danach formte er einen
Teil seines Mauls zu einer kleinen Trompete, ging damit ganz nahe an das Ohr des
Jungen heran und röchelte:
"Gleich morgen! Erst morgen? So viel also ist dir der Brotmensch wert, daß du erst
morgen Ernst machst mit seinen Vorschriften? Und was ist, wenn der Brotmensch dich
diese Nacht holen will? Wirst du nicht vor Scham zusammensinken? Denk' an all die
üblen Gedanken, die du hattest und auch haben wirst, wenn du nicht Ernst machst!"
"Ja, natürlich, was sage ich, gleich, sofort will ich zu Quackus eilen! Ich danke dir,
lieber Brotmensch! Nun hast du mich völlig überwunden. Ich danke dir, daß du alle
meine Pläne zerstört hast!", säuselte Mirano wieder. Schnell erhob er sich und ging in
eine Ecke des Zimmers. Er schob ein Stück Holz im Fußboden zur Seite und holte ein
kleines Säckchen heraus. "Stierkämpfe", brummelte er verächtlich. "Zu heidnischen
Festen wollten die mich holen!"
Eilig warf er sich einen schweren, ärmellosen Mantel mit Kapuze über. Leise schob er
den Riegel der Tür zur Seite und huschte in den Innenhof hinaus. Oskar und der Engel
folgten ihm. Nun regnete es in Strömen. Auf Zehenspitzen und immer an den Wänden
entlang schlich sich Mirano am Haupthaus vorbei und nach draußen auf die Straße.
Sylvanicus, Epipathos und Maro waren zu Bett gegangen. Noch einmal sah sich Mirano
nach dem Haus seiner Eltern um. Wie ein gestrandetes Schiff lag es traurig da und
behauptete sich tapfer im strömenden Regen. Oskar und der Engel folgten dem Jungen
über schlüpfrige, überschwemmte Schlammwege und glitschige Kopfsteinpflaster.
Plötzlich wurde der Regen so stark, daß Oskar Schwierigkeiten hatte, den Jungen zu
sehen.
"Da, dort ist er!", rief der Engel. "Geh' du nur immer hinter mir her, ich kann ihn auch
so sehen!"
Oskar nickte. Gleich danach zuckte er erschreckt zusammen, denn gerade traf ein Blitz
mit fürchterlichem Krachen einen nur wenige hundert Meter entfernten Felsen, der
zwischen den Häusern aufragte.
"Komm!" rief der Engel wieder. Schließlich kamen sie an das Haus, in dem sie Mirano
zum ersten Mal gesehen hatten. Mirano klopfte wie wild an die große, hölzerne
Eingangstür. In einem Zimmer brannte noch ein trübes Licht. Quackus ließ nicht lange
auf sich warten. Wie ein Habicht, der eine Maus erspäht, blickte er triumphierend auf
Mirano herab.
"Ich habe dich erwartet, Mirano."
Mirano blinzelte mit den Augen, als er zu Quackus aufsah, denn es tropfte von dem
Vordach, unter dem Quackus geschützt stand, in seine Augen.
"Hast du das Geld dabei?"
Mirano nickte.
"Gut."
Quackus sah sich nach links und rechts um, wie ein zerzaustes Erdhörnchen, das nach
Feinden Ausschau hält, bevor es seinen Bau verläßt.
"Dann komm. Wir können gleich anfangen."
Mirano stieg die Eingangstufen hinauf. Schnell schlüpften Oskar und der Engel
hinterher. Durch einen stockdunklen Korridor kamen sie in ein fensterloses, niedriges
Zimmer. Ein Stuhl mit merkwürdigen Lederriemen. Ein schäbiger Schreibtisch. Zwei
junge Männer mit weißen Tüchern um den Kopf standen regungslos in einer Ecke. Es
roch nach einer beißenden Säure und nach einem Geruch, den Oskar von Leichenhallen
her kannte. Während seines Praktikums hatte er öfters Leichen seziert. Quackus holte
eine kleine, blaue Amphora aus dem Schreibtisch. Sie war mit einem Korken
verschlossen. Quackus tat, als ob er müde wäre und gähnte ungeniert. Dann drehte ein
wenig am Korken und sah dann mit gespieltem Ernst zu Mirano.
"Dieses Zeug wird leider auch immer teurer..."
Mirano griff unter seinen Mantel und holte das Säckchen hervor.
"Das Geld! Natürlich, wie konnte ich das vergessen... !"
Schwarze und kupfergrüne Münzen mit unregelmäßigen Rändern ergossen sich auf dem
Tisch. Wie tote Mistkäfer purzelten sie übereinander, bis sie regungslos auf dem Tisch
liegen blieben. Bei Quackus war nun von einer Müdigkeit nichts mehr zu sehen. Er
lebte richtig auf. Mit großen Augen und breitem Grinsen zählte er das Geld. Oskar
konnte es nicht glauben, wie jemand für diese schmuddeligen Metallstücke, die eher wie
mißlungene Hartplastikknöpfe aussahen, eine derartige Begeisterung empfinden konnte.
Obwohl er diese Art Münzen aus Museen kannte, hätte es ihn nun einige Überwindung
gekostet, diese auch nur anzurühren.
"Stimmt." vermerkte Quackus. Mit einem Haps nahm eine messingbeschlagene
Holztruhe, die nun ihr Maul öffnen durfte, die Knöpfe in sich auf.
"Wasser", sagte Quackus im Tonfall eines routinierten Chirurgen.
Eine Schale dampfend-heißen Wassers wurde von einem dritten jungen Mann gebracht.
Auch er hatte weiße Tücher um den Kopf gewickelt. Quackus' behaarte Hände, an
denen einige goldene und silberne Ringe prangten, planschten ausgiebig in dem heißen
Wasser.
"Schlafelixier", befahl Quackus weiter.
Die blaue Amphora wurde dem verdutzten Mirano unter die Nase gehalten. Die zwei
anderen Helfer fingen ihn auf, als er in sich zusammensackte. Dabei fiel Oskar das
Mosaik des Fußbodens mit seinen mannigfaltigen Rechteckmotiven auf. Man hörte das
Zurren von Ledergurten. Das Mosaik wurde nun durch herabfallende, schwarze
Halbkreise, den Locken Miranos, in seiner Viereckssymmetrie gestört. Wieder das
Plätschern von heißem Wasser.
"Messer", tönte es vom Schreibtisch.
In Sekundenschnelle entstand ein rotes Viereck auf dem bleichen, rasierten
Vorderschädel Miranos. Seine Außenlinien wurden dicker und dicker. Einer der Helfer
tupfte das Blut ab und das Viereck begann aufs Neue, erst dünne, dann dicke
Außenseiten zu haben. Vorsichtig wurde ein viereckiges Stück Haut auf eine kleine
Schale platziert.
"Säure."
Nun stand Quackus auf, und tauchte ein Tuch in die Säure, die ihm gereicht wurde.
Oskar konnte nicht sehen, was Quackus machte und schob den Engel ein wenig zur
Seite, damit er alles mitbekam. Quackus betupfte das freigewordene blutige Stück
Schädel kurz mit dem Tuch. Nach ein paar Minuten betastete er den Schädel. Oskar
wollte es nicht glauben: Der Schädel war biegsam geworden!
"Schon weich", sagte Quackus leise zu sich selbst.
Nun war es ein Leichtes, ein rundes Loch in den Schädel hineinzuschneiden. Der
Anblick der darunterliegenden rosa-grauen Masse war für Oskar nichts
Außergewöhnliches. Quackus schnitt ein bißchen davon mit einem löffelartigen Messer
heraus.
"Fertig. Zumachen."
Oskar wurde ganz zappelig vor Spannung. Gleich würde er erfahren, wie man in der
Antike geöffnete Schädeldecken wieder schließt. Die Sache mit der Säure allein war für
ihn schon eine weltbewegende Entdeckung. Er wollte noch näher an den Tatort
herantreten, als ihn plötzlich der Engel am Arm schnappte und mit ungeheuerlicher
Wucht durch den Tunnel zurückkatapultierte.
"Wieso mußten wir ausgerechnet jetzt hierher zurück?" jammerte Oskar. "Können wir
nicht wenigstens noch für ein paar Minuten dorthin, wo wir gerade waren. Du mußt
nämlich wissen, ich habe einmal ein Referat über antike Kopfoperationsmethoden
geschrieben. Mit Analysen von Schädeln aus Gräbern und so weiter. Darin habe ich
mich besonders mit dem Thema "Wiederverschließen des geöffneten Schädels in der
Antike" befaßt. Bitte, bitte, laß' mich noch ein paar Minuten nach unten. Ich würde zu
gerne wissen, wie dieser Gauner den Schädel wieder verschließt! Ich verspreche dir
auch, ich werde nichts davon veröffentlichen. Ehrenwort."
Der Engel schüttelte ungläubig den Kopf und lächelte.
"Mein lieber Oskar. Wir haben dich nicht hierher geholt, um dir Anatomieunterricht zu
erteilen. Vergiß die Sache mit dieser Lobotomie und laß uns jetzt zum Wesentlichen
unserer Lektion kommen."
Oskar ärgerte sich sehr darüber, daß der Engel sein Interesse so gänzlich ignorierte.
Konnte er denn nicht verstehen, wie ein Wissenschaftler fühlt? Er sah ein, daß es keinen
Zweck hatte, mit dem Engel weiter zu feilschen und schwieg resigniert.
"Glaub mir Oskar, wenn du dich erst einmal mit den Büchern beschäftigt haben wirst,
die wir dir zuspielen werden, wirst du noch viel interessantere Dinge erforschen können
als Neurochirurgie. Das, was du hier erlebst, wirst du ja sowieso alles vergessen. Sei
also nicht traurig, daß du keinen Anatomieunterricht bekommst. Laß uns nun über die
Hintergründe dieser Geschichte nachdenken."
"Ja, also, diese Geschichte war ja wirklich sehr traurig. Die armen Eltern von diesem
Jungen! Eins habe ich allerdings nicht ganz verstanden: In der vorhergehenden Lektion
war es doch der Lichtblitzdonnerbomber, der dem Brotmenschen die Schönheit der
Welt vorgaukelte. Nun war es dieser sympathische Epipathos, den ich gewiß nicht für
einen Helfershelfer des Lichtblitzdonnerbombers halte, der dem Mirano das Leben in
der Welt wieder schmackhaft machen wollte, und ihn sogar zum Besuch von ganz
heidnischen Stierkämpfen ermunterte. Wie passen diese beiden Dinge zusammen?"
Der Engel zeigte mit einem Finger auf Oskar.
"Sehr gut, daß dir das aufgefallen ist. Wie du ja aus dem Mund des Brotmenschen
lernen konntest, lügt der Lichtblitzdonnerbomber immer, daß sich die Balken biegen.
Viele fallen auf seine Lügen herein und glauben dann an ein Universum, das von zwei
entgegengesetzen Mächten beherrscht wird, die sich ganz oben, auf gleicher Höhe
befindend, bekämpfen. Dem Lichtblitzdonnerbomber ist diese Lüge recht. Denn dann
steigt er gewissermaßen zu einer der Orgel ebenbürtigen Position hinauf. Natürlich nur
in seiner Einbildung. Aber nun darf er sich an dem falschen Glauben der Leute erfreuen,
die auf diese Lüge hereinfallen. In Wirklichkeit ist es nämlich so, daß die Orgel allein
alle Fäden in der Hand hält, und der Lichtblitzdonnerbomber auch nur eine Marionette
der Orgel ist. Dies will er natürlich nicht wahrhaben. Er will ja sogar über der Orgel
stehen. Großen Eindruck schindet er bei vielen Leuten mit seinem sogenannten
Mächteverband. Er will damit glauben machen, alle ausgebrochenen Engel seien
ausnahmslos auf seiner Seite. Nun, eine unverwechselbare Ähnlichkeit läßt sich freilich
nicht leugnen. Die Ziele aller Ausgebrochenen sind die gleichen: Rechthaberei vor der
Orgel, Vereiteln des Planes mit den Humussen, und so weiter. Es gibt auch zahlenmäßig
starke Verbünde von solchen Engeln. Aber selbst diese Verbünde halten nicht für
immer. Die aus der Bahn Ausgebrochenen fallen ja immer weiter in das Nichts, jeder in
eine andere Richtung, wie Splitter zweier zusammengeprallter Himmelskörper. Von
einem gut durchorganisierten Mächteverbund aller Ausgebrochenen kann also gar keine
Rede sein. Der Brotmensch wußte das genau. Er wußte, ein Mächteverband, wie der des
Lichtblitzdonnerbombers und der ausgebrochenen Engel, der nicht einmal unter sich
selbst einig ist, hat keinen Bestand. Er wußte, daß er der Starke ist, der in das Haus der
Welt eindringen und den vermeintlichen Besitzer fesseln wird. Er wußte, daß die
Herrschaft auf seinen Schultern liegt, und das erst recht nach seinem schmerzvollen
Gebackenwerden. Er wußte, daß diese Welt von der Orgel geliebt ist, und daß er
deshalb Mensch wurde und die Humusse durch sein Brot zu wahren Humussen machen
soll, so viele wie möglich. Durch den vom Lichtblitzdonnerbomber vergebens
erheischten Kniefall hätte er diesem recht gegeben. Er hätte damit behauptet: "Seht alle
her, der Lichtblitzdonnerbomber hat tatsächlich Macht über die Welt, ganz wie er
behauptet." Traurig ist nun die Wahrheit, daß es unzählige, sich mit dem Brotmenschen
Beschäftigende gibt, die dem Lichtblitzdonnerbomber dies trotzdem glauben. Sie
glauben, alle Dinge dieser Welt seien ausnahmslos aus dem Machtbereich des
Lichtblitzdonnerbombers. So trauen sie sich dann kaum noch aus dem Haus. Sie wollen
ja nichts mehr mit dem Lichtblitzdonnerbomber zu tun haben. Sie schließen sich ein in
Ghettos mit anderen, die die gleiche falsche Meinung haben. So wie dieser Mirano, der
nun Zeit seines Lebens im Ghetto der von Quackus Verstümmelten vegetierte. Und was
hat der Lichtblitzdonnerbomber damit erreicht? Ganz einfach, es gibt keine
Brotmenschen in der Welt mehr! Daß der erste Brotmensch in die Welt kam, konnte er
nicht verhindern. Aber er schafft es, möglichst viele der sich mit dem Brotmenschen
Beschäftigenden von der Welt zu isolieren. Natürlich geht dies nur mittels eines
Netzwerks von Lügen, woraus folgt, daß die so "kaltgestellten" BrotmenschInteressierten auch von den Wahrheiten und Lehren des Brotmenschen selbst isoliert
werden. Sie glauben dann an einen falschen Brotmenschen. Außerdem ist es eine
traurige Tatsache, daß viele derer, die vorgeben, ehrliches Interesse am Brotmenschen
zu haben, in Wirklichkeit in der Geschichte und Gegenwart jenen Kniefall vor dem
Lichtblitzdonnerbomber getan haben, den der Brotmensch selbst nicht tat. Sie taten
dies, um eine Abkürzung zu tätigen, einen schnelleren Weg, der sich dann leider als
eine fatale Sackgasse mit einer Falle an ihrem Ende entpuppte. Oder, speziell in
Quackus' Fall, sie taten diesen Kniefall, weil sie in Wirklichkeit dem Geld dienen
wollen und nicht dem Brotmenschen. Viele andere, die diesen Kniefall tätigten, dachten
gar, dadurch ihren Glaubensgenossen einen Dienst tun zu können. Ein kleiner
Kompromiß nur, dachten sie, dann bin ich an der Schaltzentrale... Irrtum! Die
Schaltzentrale sitzt ganz woanders, nämlich beim gebackenen und zerbröselten Brot und
seinem Machtgefüge, welches ein Machtgefüge ist, das für immer bestehen wird.
Durch jenen Kniefall verkünden diejenigen, die ihn tun: "Wir glauben zwar an die große
Orgel, aber wir glauben nicht, daß das Machtgefüge des Brotmenschen dasjenige ist,
das wirklich Bestand haben wird. Wir glauben nicht, daß du, Brotmensch, die
Herrschaft haben kannst. Diese Welt bleibt doch immer die gleiche. Sieh doch, wie der
Lichtblitzdonnerbomber einen Schachzug nach dem anderen tätigt. Wir glauben zwar an
dich, Brotmensch, aber wir müssen auch dem Lichtblitzdonnerbomber Tribut geben,
auch ihm gebührt Anbetung, sonst kommen wir nicht durch im Leben. Wie nämlich
sollten wir sonst in der Welt bestehen können? Also lassen wir alles so, wie es ist.
Nachher dann, oben bei der Orgel, ja, da gibt's nur die Macht der Orgel. Aber hier
müssen wir die nötigen Kompromisse mit dem Lichtblitzdonnerbomber schließen, denn
hier ist er ja derjenige, der Macht hat." So etwas in dieser Art bezeugen sie damit.
Epipathos nun glaubte ganz und gar nicht an diese Schwindeleien. Er war einfach
jemand, der die Welt als das vom Brotmenschen Geschaffene freudig annahm. Er wußte
natürlich auch, daß viele der schönen Dinge auf dieser Welt tatsächlich vom
Lichtblitzdonnerbomber stark beeinflußt werden. Daß es viel Böses in dieser Welt gibt.
Daß auch die Stierkämpfe eine grausame Sache sind. Aber er ging hin, zu diesen
Stierkämpfen und machte neue Freunde, die er dann später mit den Ideen des
Brotmenschen in Berührung brachte. So war Epipathos einer, der in
Lichtblitzdonnerbomber-Terrain vordrang, und dem Lichtblitzdonnerbomber einen
Humus nach dem anderen vor der Nase wegschnappte. Auch der Brotmensch selbst
kümmerte sich nicht um Leute, die schon meinten, alles über die Orgel zu wissen, um
diese nun noch aufgeblasener zu machen. Nein, statt dessen war er häufig mit ganz
miesen Pennern und Betrügern und sonstigem heruntergekommenen Gesindel
zusammen. Er wurde ihr Freund und gab auch ihnen eine Möglichkeit, zu der neuen
Humanität zu gelangen. Dies war sehr wichtig, denn diese neue Humanität war ja nicht
nur für Hochnäsige gedacht gewesen. Es sollte vielmehr bewiesen werden, daß kein
Humus so tief sinken kann, als daß ihn nicht die neue Humus-Humanität wieder zu
einem wahren Humus machen kann. So ist also der Brotmensch-Mensch in der Welt,
obwohl er nicht von der Welt ist, sondern auf eine umgewandelte Welt wartet. Der Ruf
des Lichtblitzdonnerbombers, der da lautete: "Nimm diese Welt von mir an", war ein
Ruf, der meinte: "Gib deine Hoffnung auf. Erkenne mich als Meister über diese Welt an
und baue auf meine Lügen, damit du in dieser Welt zu etwas kommst." Die Ermutigung,
die Epipathos dem Mirano gab, war dagegen ein Ruf, der lautete: "Freue dich an dieser
Welt. Sie ist von der Orgel gemacht worden. Freue dich daran, zu sehen, wie auch du
dazu beitragen kannst, daß sie mehr und mehr durch die Brotmensch-Ideen
umgewandelt wird. Freue dich auf die Welt, die der Brotmensch bringen wird! Laß dich
nicht ins Bockshorn jagen und isoliere dich nicht von allem und jedem! Wir haben die
Freiheit, alles zu kosten und zu genießen, wenn wir es nur auf Brotmensch-menschliche
Weise tun, nicht aus bösartigen, egozentrischen Motiven."
Oskar dachte eine Weile nach.
"Und was ist danach aus der Brotmensch-Humanität geworden?", fragte er.
"Ja, leider haben sich die beiden Brotmensch-Beschäftigungs-Versionen, die du gerade
erleben konntest, immer mehr miteinander vermischt. Damals waren es noch sehr
extreme und krasse Unterschiede. Es gab auch noch Leute, die, so wie dieser
Sylvanicus, klar wußten, wie sie die Sache mit dem Brotmenschen richtig interpretieren
müssen. Die Schriften dieser Männer, auch des Pepulos, haben auch heute noch einen
weitreichenden Einfluß, wenn sie auch immer weniger verstanden werden. Mit der Zeit
wurden die Quackusse weniger extrem und auch die Sylvanicusse weniger schneidend.
Es bildete sich eine Art Mischmasch heraus, das die Leute mit der Zeit mehr und mehr
in ein System von Vergewaltigungen der Menschlichkeit und Denkfaulheiten
einzwängte. Ab und zu gab es mal wieder einen oder mehrere, die die Schriften eines
Sylvanicus oder mit ihm Geistesverwandten aus den Archiven ausbuddelten und neu auf
den Leuchter stellten. Dann gab es herrliche, machtvolle, gewaltige, erhabene
Aufbrüche. Wie Blumen, die anfingen zu welken und nun endlich Wasser bekamen,
blühten die Menschen auf, sprossen Stätten des Denkens und der Kultur aus dem
Erdboden. Aber immer nur für relativ kurze Zeit. Nur allzu schnell waren wieder neue
Quackusse in immer neuen Gewändern am Werk, die unmerklich die herrliche
Blumenpracht wie fleischfressende Pflanzen untergruben. Bevor man sich's versah, war
das ganze schöne Beet wieder voll von Fliegenfallen. Entsetzlich. Mit der Zeit wurden
es die Menschen leid. Sie wollten andere Wege finden, ihre Würde und ihre Erhabenheit
zu finden, als durch die Beschäftigung mit dem Brotmenschen. Sie wollten nun
überhaupt nichts mehr hören von der Orgel und dem Brotmenschen, Quackus hin,
Sylvanicus her. Das war natürlich ein fataler Fehler. Aber durch den gewaltigen Tumult,
den diese Desillusionierten nun veranstalteten, wurden auch einige aufrichtige
Brotmensch-Interessierte wachgerüttelt und zum Nachdenken und Neuformulieren
angespornt. Komm, wir wollen dir einmal einen kleinen Ausschnitt aus dieser Zeit
zeigen!"
"Nicht zu fassen, wie viele Tunnel es hier gibt!", bemerkte Oskar. Diesmal
verschwanden sie in einem Tunnel, der schräg über ihnen lag.
Selbst denken
"In die Ecke!", fauchte ein kauzartiges, knallrotes Gesicht. Gläserne, ausdruckslose
Augen blitzten böse auf hinter kleinen, dicken Brillengläsern. Oskar zuckte instinktiv
zusammen und sah sich nach einer geeigneten Ecke um - aber die wurde gerade besetzt
von einem kleinen Jungen, der sich akkurat dorthin bewegt hatte, der Klasse den
Rücken zudrehte und mit der gewünschten Portion gespielter Scham folgsam nach
unten blickte. Oskar und der Engel saßen in einer engen, hölzernen Schulbank, die im
rechten Winkel zu den anderen Schulbänken stand, wahrscheinlich einer Art
Büßerbänkchen.
"Ist jemand anderes da, der die Frage beantworten kann?" Das Kauzgesicht schritt in
militärischer Manier zwischen den Bänken hin und her. Neben einer Bank mit einem
kleinen Rotschopf blieb es ruckartig stehen.
"Du, Rudi!
Der Rotschopf zuckte zusammen.
"Hat Gott den Menschen böse und verkehrt erschaffen?"
"Äh, ja, also, ich würde sagen,... ja!"
Das Kauzgesicht plusterte sich bedrohlich auf.
Unschuldig schlug der rothaarige Knirps die Augen auf, schaute zu dem Kauzgesicht
hinauf und sagte leise, aber bestimmt: "Wenn Cornelius 'nein' gesagt hat, und deswegen
in die Ecke muß, dann ist doch wohl 'ja' richtig!"
Einige in der Klasse kicherten.
"Ruhe im Saal!", tobte der Kauz. "Cornelius mußte in die Ecke, weil er den Rest des
Textes nicht auswendig wußte, nicht weil er mit 'nein' geantwortet hatte. Das 'nein' war
schon richtig, aber ihr müßt auch den Rest der Antwort hersagen können. Es sind noch
zwei Monate und ihr müßt den Katechismus auswendig können. Morgen wiederholen
wir noch einmal alles. Wehe, wenn ihr dann die Fragen eins bis elf nicht beherrscht. Für
heute ist der Unterricht beendet."
Oskar und der Engel folgten dem Rotschopf über Wiesen und Feldwege, an
weißgeränderten, schmucken Windmühlen, knorrigen, vom Wind geneigten Bäumen
vorbei, zu einem Deich. Fröhlich schlenderte der Junge auf der Deichkrone dem Wind
entgegen. Plötzlich blieb er stehen und lächelte. Dann hob er einen Stein auf und schlich
sich auf Zehenspitzen weiter. Ein geschickter Wurf - und der Stein plumpste in die
Nähe von zwei Angelruten. Zwei Männer drehten sich erschreckt um.
"Du bist's, Rudi, du alter Lausbub!" rief einer der beiden Angler.
"Komm' und setz' dich zu uns. Erzähl' uns ein wenig von der Schule. Wir sind noch sehr
dumm und wollen viel von dir lernen. Die Fische beißen heute sowieso nicht an. Den
letzten hast du ja wahrscheinlich gerade vertrieben!"
Die Männer lachten und machten dem Jungen ein Stück Decke zwischen ihnen frei.
Oskar und der Engel nahmen hinter den dreien auf dem grünen, saftigen Gras Platz.
Sie saßen eine Zeitlang nur still vor sich hin und betrachteten das Wasser des träge
dahinfließenden Flusses. Auf dem gegenüberliegenden Deichufer spielten Kinder mit
Flugdrachen.
"Diesmal hat der alte Piet mehr Würmer als Fische!", spottete der Jüngere der beiden
Männer und nickte mit dem Kopf in die Richtung, in der der leere Holzeimer seines
Freundes stand.
"Sei ruhig, Jan. Sonst krabbeln die Würmer auch noch weg!", entgegnete der Ältere und
zog an seiner Pfeife. "Nun, mein lieber Rudi, was gibt's neues aus der Welt der
Wissenschaft? Was habt ihr heute gelernt?"
"Der Religionslehrer nimmt mit uns den Katechismus durch. Er will, daß wir alles
auswendig lernen. Er hat uns gefragt, ob Gott den Menschen böse und verkehrt
erschaffen habe. Der Cornelius vom Bäcker van Zoot hat gesagt, nein. Dafür mußte er
sich in die Ecke stellen. Ich habe dann gesagt, ja. Damit war er aber auch nicht
zufrieden. Was meint ihr denn, ja oder nein?"
"Was, so einen wankelmütigen Religionslehrer habt ihr? Na, der wollte wohl eine ganze
Litanei heruntergeleiert haben, nach dem Ja oder Nein!" rief Jan aus.
"Ja, er will, daß wir die ganzen langen Texte auswendig wissen!" jammerte Rudi. "Aber
was meint ihr denn nun, ja oder nein? Hat Gott die Menschen böse und verkehrt
erschaffen oder nicht?"
"Eine interessante Frage", sagte Jan und zog seine Stirn in Falten. "Ich bin ja mit
solchen Dingen normalerweise überhaupt nicht vertraut. In der Schule war ich nie eine
besondere Leuchte. Aber, du wirst es kaum glauben, erst kürzlich habe ich mit meinen
Bruder Eugen genau über diese Sache gestritten. Du weißt doch, mein jüngerer Bruder
Eugen, der in Leyden studiert. Jetzt kommt er immer so hochnäsig daher. Und was für
verrückte Theorien der manchmal zu uns nach Hause schleppt! Stell' dir vor, erst
kürzlich sagte er mir doch allen Ernstes, Gott, falls es ihn geben sollte, habe die
Menschen zuerst als Tiere geschaffen, die sich dann von selbst weiterentwickelt hätten.
Und darum wären natürlich die Menschen nicht selbst daran schuld, daß sie ab und zu
böse und unkultiviert sind. Das seien dann eben noch Reste ihrer tierischen Natur.
Sozusagen das blaue Blut der Vorfahren, die sich von Baum zu Baum geschwungen
haben, wie diese behaarten Ungetüme in Java, wo der Tabak vom alten Piet herkommt."
"Der würde mir jetzt wohl auch weismachen wollen, daß ich wie ein Affe aussehe, weil
ich Tabak aus Java rauche", frötzelte Piet. "Oder daß meine Würmer sich am Ende
vielleicht doch noch zu Fischen entwickeln, ganz von alleine, ohne meine Angel."
"Ja, wer weiß. Aber der Eugen meint das wirklich im Ernst! Es soll da so einen
neumodischen Gelehrten aus England geben. Einen Darfing, oder so ähnlich. Der
behauptet, die Menschen stammen vom Affen ab."
"Aber wieso hat uns Gott zuerst als Affen geschaffen? Wieso nicht gleich als
Menschen?", fragte Rudi.
"Ganz einfach", räusperte sich Piet und steckte die Pfeife ins Gras. "Wenn Gott zuerst
die Affen schafft, bedeutet das, daß der Mensch ganz zufällig daraus entstanden ist. Es
hätte genauso gut ein zweibeiniges Kamel daraus werden können. Wenn sich also nun
die Menschen wie Affen oder Kamele benehmen, dann sagen sie einfach, tja, hätte Gott
doch gleich von Anfang an etwas Gescheites aus uns gemacht. So haben sie dann eine
gute Ausrede, wenn sie zornig wie ein Affe oder störrisch wie ein Kamel sind."
Rudis Unterkiefer klappte auf vor Staunen.
"Oder", ergänzte Piet, "sie machen von vornherein Schluß mit Gott. Sie sagen, nun ja,
mit Gott haben wir ja nichts direkt zu tun. Er hat ja nur die Affen geschaffen, aber uns
nicht. Wir sind sozusagen auf unserem eigenen Mist gewachsen. Warum sollten wir
also vor Gott Angst haben? Warum sollten wir meinen, etwas von ihm erwarten zu
können? Auf diese Weise schleichen sie sich an Gott vorbei, so wie ihr kleinen Racker
euch manchmal in der Pause aus dem Schulhof schleicht, damit ihr euch eine blaue
Stunde machen könnt, wenn nach der Pause der kurzsichtige Lehrer Fidelius dran ist
mit dem Unterricht! Der alte Fidelius sieht ja nichts mehr von dem, was sich hinter der
zweiten Bank abspielt, denkt ihr - und schwups! seid ihr verschwunden. Damit tut ihr
dem armen Kerl aber wirklich weh und schadet euch selbst am meisten. Er ist doch der
beste und liebevollste Lehrer von allen und meint es nur gut mit euch."
Rudi kniff sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht zusammen, schloß die Augen
und wurde ein wenig rot. Jan und Piet blinzelten zustimmend einander an.
"Aber damit noch nicht genug. Mein Bruder ging noch weiter und behauptete, nur von
Gott losgelöst könnte der Mensch sein wahres Potential finden", fuhr Jan fort.
"Seinen Pott im Aal?", fragte Rudi.
"Po-ten-tial. Das heißt soviel wie Stärke, seine Möglichkeiten, etwas zu ändern, und so
weiter."
"Meint er damit, Gott würde den Menschen daran hindern wollen, etwas zu ändern,
wenn etwas schlecht ist?"
"Genau. Aber das ist doch ein hanebüchener Unsinn. Gerade Gott wollte doch, daß die
Menschen eben nicht alles einfach dem Zufall überlassen. Dauernd erließ er eine
Vorschrift nach der anderen, damit sie nicht untergehen. So wie die Schiffe, die nachts,
vom Meer kommend, in den Hafen einlaufen, Leuchtzeichen bekommen. Die
Leuchtturmwärter wollen nicht die Schiffe den Untiefen und Sandbänken, also dem
Zufall überlassen. Sie wollen den Schiffen zeigen, wo's lang geht, damit sie nicht
auflaufen und mit Mann und Maus ersaufen."
Wieder legte Piet seine Pfeife ins Gras und sagte:
"Dein Bruder Eugen würde sich nun aber wehren, wenn du diese Sache so vereinfachst,
Jan. Die Menschen, die so denken, wie er; die die Bücher geschrieben haben, in denen
er studiert hat, waren ja auch nicht ganz dumm. Auch sie haben sich etwas dabei
gedacht. Sie haben sich vorher die Leute, die dauernd von Gott reden, genau angesehen.
Wenn es nämlich etwas zu ändern gab, waren just diese frommen Herrschaften auf
einmal ganz mucksmäuschenstill. Sie hatten alle Angst um ihre Pfründe und Pfarrsitze,
und daß sich vielleicht ein böser König über sie ärgern könnte und aus dem Land
ausweisen würde. Statt also dann genau zu überlegen, was Gott gerne geändert haben
würde, haben sie sich vor die armen, benachteiligten Leute gestellt und achselzuckend
gesagt: Gott will es nun einmal so, daß ihr benachteiligt seid, daran kann man nichts
ändern. Fügt euch gefälligst in euer Schicksal und haltet den Kopf hin. Dann haben sie
ihnen ein Eckchen vom Himmel zugesagt, wenn sie den Kopf hinhalten würden.
Manche einfältigen Leute haben ihnen das abgekauft und haben brav ihren Kopf
hingehalten. Aber mit der Zeit lernten immer mehr lesen und schreiben. Lernst du auch
fleißig weiter lesen und schreiben, Rudi?"
Rudi schob kokett seinen Unterkiefer vor und nickte eifrig.
"Fein. Also, auch damals lernten immer mehr Leute lesen und schreiben. Deswegen
konnten sie sich informieren, was andere Leute gedacht haben. Und manche fingen
dann etwas ganz Gefährliches an: Sie dachten auf einmal selbst. Sie stellten fest, daß sie
denken können. Sie merkten, daß wenn sie denken, daß Nord Süd ist und nicht Nord,
dann ist es so, wenigstens in ihren Gedanken. Daran kann sie keiner hindern, auch kein
Kompaß, auch wenn es in Wirklichkeit gar nicht stimmt, was sie denken. Sie können es
trotzdem immer so weiter denken. Sie können auch ganz ausgefuchst sein und sagen,
für mich gibt es weder Nord noch Süd. Ich denke mir einen ganz neuen Pol aus, der eine
Vermischung von Nord und Süd ist. Den nenne ich dann Sord oder Nüd. Oder Nüsord.
Ja, und als dann der König wieder kam und sagte: 'Haltet euren Kopf hin", da haben auf
einmal ein paar Leute gar nicht mehr reagiert. Sie standen nur da und grinsten. Der
König war außer sich und holte gleich seine Pfaffen. Sie sagten dann brav wieder ihr
bewährtes Sprüchlein auf: 'Wenn ihr nicht euren Kopf hinhaltet, bekommt ihr kein
Eckchen im Himmel.' Siegessicher meinte nun der König, er hätte diese Leute wieder in
der Tasche. Aber da geschah das Unglaubliche: Diese Leute sagten einfach: Vielleicht
ist die ganze Sache mit Gott und dem Himmel ja nur von euch ausgedacht worden,
damit wir unseren Kopf hinhalten. Wir stellen aber fest, daß wir ganz anders denken
können darüber. Wer weiß, vielleicht ist am Ende unser Denken richtig und das Eurige
falsch. Zum ersten Mal war ein Soldat auf diese Idee gekommen. Er diente im
dreißigjährigen Krieg. Das war so ein verrückter Krieg, in dem sich die Leute wegen
ihren Auffassungen über Gott gegenseitig abschlachteten. Der eine dachte so über Gott.
Der andere anders. Der erste konnte sich nicht vorstellen, daß man auch anders denken
könne über Gott. Deshalb mußte er dem anderen beweisen, daß ihm Gott helfen würde,
dem anderen die Kehle durchzuschneiden."
Rudi griff sich erschrocken an seinen Hals. Piet bemerkte zufrieden den Schockeffekt,
den er ausgelöst hatte und fuhr fort:
"Ja. Und als die sich nun so gegenseitig niedermetzelten und das Blut in Strömen floß,
saß jener Soldat in seinem Zelt und dachte: Komisch, die bekämpfen sich nur wegen
Denkarten, die sie gar nicht selbst ausgedacht haben, sondern von anderen
aufgezwungen bekommen. Wieso sollte ich für das Denken eines anderen den Kopf
hinhalten? Ich kann doch selbst denken! Ich denke, also bin ich. Ich weiß nicht, wer von
diesen beiden kriegerischen Parteien Recht hat. Vielleicht gar keine. Vielleicht alle
beide, und sie haben nur Mißverständnisse wegen unwichtigen Wortklaubereien. Aber
eins weiß ich: Ich bin ich. Wenn ich mir ins Ohr zwicke, merke ich es und kein anderer.
Also kann nur mein eigenes Denken für mich ein Denken sein, auf das ich mich
verlassen kann."
Rudi sah ungläubig aus der Wäsche. "Heißt das, daß wenn ich ganz fest daran denke,
daß Nord Süd ist, daß es dann auch so wird?"
"Eben nicht. Schau her, ich zeige es dir." Piet kramte einen kleinen, in Messing
eingefaßten Kompaß aus seiner Tasche.
"Ui, ein richtiger Kompaß!" Rudi stellte sich auf den Knien auf und blickte fasziniert
auf die kleine, blau und rot gefärbte Nadel.
"Siehst du diesen kleinen Doppelzeiger? Es ist ein kleiner Magnet, der in der Mitte
aufgespießt ist, aber so, daß er sich locker bewegen kann. Wenn du nun den Kompaß so
bewegst, daß das "N" dort auf dem Papier darunter genau unter dem kleinen "n" auf der
Nadel erscheint, dann ist dort, wo die beiden "n"s hinzeigen, Norden. Und daran läßt
sich nichts ändern. Du kannst zwar das Papier darunter verschieben oder verdrehen,
aber das kleine "n" wird trotzdem immer noch Richtung Norden zeigen. Du kannst dann
auch anders darüber denken, wo Norden liegt. Aber das ändert nichts an der Tatsache,
daß Norden eben doch im Norden liegt, egal wie stark du den Kompaß schüttelst und
rüttelst und drehst."
Rudi schüttelte den Kompaß ein wenig und blickte mit weiten, aufgerissenen Augen auf
die Nadel, die sich mit eiernden Bewegungen immer wieder sicher Richtung Norden
bewegte.
"Das ist es nämlich, was dieser Soldat übersehen hatte. Manche Dinge ändern sich
einfach nicht, egal wie man darüber denkt. Es ist natürlich dumm, zu glauben, dort wäre
Norden, wenn dort gar nicht Norden ist, nur weil jemand mich dann damit austricksen
will. Aber es ist auch genauso dumm, nicht daran zu glauben, daß dort Norden ist, wenn
dort wirklich Norden ist, nur weil man es gerne hätte, daß dort Süden wäre."
Nur ungern gab Rudi den Kompaß wieder her. Piet verstaute ihn tief in seiner Tasche.
"Für sich selbst muß man schon denken. Damit hatte der Soldat recht. Aber was das
anbetrifft, was über meine eigene Person hinausgeht, wie zum Beispiel das
Zusammenleben mit anderen Menschen oder die Frage, ob es Gott und den Himmel gibt
oder nicht, kann man nie wissen, was wirklich stimmt, nur aus der Kraft des eigenen
Denkens heraus. Man braucht Leuchtturmwärter, die einem weiterhelfen. Man muß
auch aufpassen, den Leuchtturm nicht mit einem brennenden Haus zu verwechseln.
Dann kann man nämlich auch auf Grund laufen. Man muß schon selbst denken, aber
man braucht auch Hilfe von anderswo her."
"Gerade sagst du das Stichwort, das ich gesucht hatte," sagte Jan. "Das Zusammenleben
mit anderen Menschen. Mein Bruder Eugen behauptete nämlich nun: Weil sich durch
diese Leute, die dauernd von Gott reden, nichts geändert habe, sollten die Menschen
lieber ohne Gott versuchen, eine bessere, gerechtere und glücklichere
Menschheitsordnung aufzubauen. Durch ihr eigenes Denken, ihre eigene Stärke könnten
sie besser zu einer gerechten Ordnung kommen, bei der jeder gleich viel bekommt."
"Aber gegen was waren die denn nun eigentlich, gegen die Leute, die dauernd von Gott
redeten, oder gegen Gott selbst?", fragte Rudi.
"Genau das ist auch so ein Mißverständnis dieser Leute. Sie merkten nämlich gar nicht,
daß sie "Gott" und die Pfaffen praktisch gleichsetzten. Sie waren eigentlich nur gegen
die Pfaffen. Aber weil diese Pfaffen dauernd von Gott redeten und dadurch ihre eigenen
Interessen geschickt absicherten, meinten nun diese selbstdenkenden Leute, bestimmt
wäre auch an Gott selbst etwas faul. Und das war natürlich ein Irrtum. Warum sollte
sich Gott von ein paar Bösewichten, die sich Pfaffen nennen, vorschreiben lassen, auch
ein Bösewicht zu sein?"
"Gott war also immer noch der gleiche Gott, obwohl den Leuten der Appetit auf ihn
verdorben worden war!" Rudi war stolz darauf, etwas begriffen zu haben.
"Ganz genau. Genauso wie der Nordpol immer noch am Nordpol liegt, auch wenn mir
andere Leute Angst vor dem Nordpol machen wollten. Und jetzt kommen wir auf deine
anfängliche Frage zurück. Gott hatte nämlich den Menschen zuerst gut erschaffen. So
gut, daß er fast eine Art Spiegelbild von Gott selbst war. Sie kamen auch prima
miteinander aus. Kein Mißtrauen, keine Intrigen, Lügen, bösen Verdächtigungen. Es
war ganz und gar nichts Verkehrtes an dem Menschen. Wenn der Mensch etwas sagte,
war das immer ganz ehrlich und ohne Hintergedanken, wie er zum Beispiel zu Geld
kommen könnte dadurch. Er brauchte ja auch gar kein Geld, er mußte nicht einmal
einkaufen gehen, er bekam ja sowieso alles von Gott. So lebten sie glücklich und sehr
zufrieden eine lange Zeit, bis sich jemand Drittes einschlich. Diese dritte Person sagte
zu den ersten Menschen: 'Ihr müßt nicht alles glauben, was euch dieser Gott so erzählt.
Er will euch nämlich hinters Licht führen. Er tischt euch zwar alle möglichen
Leckerbissen auf, aber das Beste will er euch vorenthalten. Seid doch nicht dumm! Seht
euch doch einmal selbst an: Ihr seid ja fast so tolle Kreaturen wie Gott selbst. Und
genau davor hat er Angst, daß ihr tatsächlich so werdet wie er. Deshalb läßt er euch
unmündig sein. Deshalb gibt er euch ab und zu eine kleine Vorschrift. Sonst würdet ihr
ihm nämlich über den Kopf wachsen. Ihr würdet größer als er. Er müßte dann auf euch
hören. Das will er aber nicht. Aber genau das wäre gerade so gut für ihn! Etwas besseres
könnte es gar nicht geben für diesen Gott, als daß er unter eure Befehlsgewalt gestellt
würde. Probiert es doch einmal aus. Dadurch könnt ihr Gott einen noch größeren Dienst
erweisen, als wenn ihr nur immer brav seine Leckereien verspeist, wie Goldfische im
Zierteich.' Die Menschen waren fasziniert von dieser Idee. Sie fragten sich verängstigt:
'Wir, diesem Gott Vorschriften machen?' Aber die Idee hat sie dennoch nicht
losgelassen. Sie dachten sich, man lernt es wahrscheinlich durch Übung, einem Gott
Befehle zu erteilen. Irgendwann müssen wir ja doch einmal erwachsen werden und
damit anfangen. Schließlich fingen sie sogar an, sich einzubilden, es wäre ein GANZ
BESONDERER Gottesdienst, Gott gleich zu werden. Dies sei Gott GANZ
BESONDERS wohlgefällig, er habe es sich nur nicht getraut, dies genau zu erklären. Er
hätte die Menschen nicht überfordern wollen. Wie gut, dachten sie, daß dieser Dritte uns
nun darauf aufmerksam gemacht hat. Wir wollen ja Gott GANZ BESONDERS
gefallen, indem wir Ihn damit überraschen, auf einmal Ihm gleich zu sein, auf gleichem
Stand, wie Kollegen, mit Ihm zusammenzuarbeiten; ja, Ihm sogar ab und zu auch
einmal eine kleine Vorschrift machen zu können. Dabei hatten sie aber nicht bedacht,
daß diese dritte Person sie nur hereinlegen wollte. Diese dritte Person nämlich war es,
die nicht nur Gott gleich, sondern auch höher sein wollte als Gott und dabei schon
einmal gescheitert war. Nun war dieser Dritte nur neidisch auf Gott, daß der immer
noch Seinen Platz behaupten konnte, während er selbst abgesetzt worden war.
Schließlich konnten die Menschen ihre Neugierde nicht mehr bremsen. Sie wollten
doch zu gerne wissen, ob sie tatsächlich über Gott stehen könnten. Und das ging
natürlich schief, denn wenn sie über Gott stehen würden, wäre ja Gott nicht mehr Gott.
So mußte Gott also fast gezwungenermaßen den Menschen sein Vertrauen absprechen.
Fortan konnten sie sich nie wieder mit Gott unterhalten. Nur wenn Gott selbst sie anrief,
dann konnten sie auch einmal etwas sagen. Aber ansonsten herrschte eine eisige Kälte
zwischen Gott und den Menschen und die Menschen waren wie tot Gott gegenüber. Die
Menschen mußten nun einsehen (wenn sie überhaupt einmal hin und wieder einen
klitzekleinen Lichtblick hatten), daß sie, auch wenn sie von Gott getrennt waren, immer
noch am besten leben konnten, alleine und miteinander, wenn sie sich nach dem
orientierten, was Gott so dachte. Sie merkten auf einmal, wir sind so erschaffen worden,
daß wir ohne die Ideen und Einfälle Gottes ganz langweilige, gereizte, bösartige und
phantasielose Wesen sind. Wir sind so erschaffen worden, daß wir ohne Gott kein
Füßchen auf den Boden bringen. Die besten Staatsordnungen sind also immer noch die,
die sich an diese Erkenntnis halten, auch wenn böse Menschen sogar damit es immer
wieder fertigbrachten, ihren Unfug zu treiben."
"Und was ist mit den Staatsordnungen, die sich nicht daran halten?", fragte Rudi.
Plötzlich warf sich Piet ruckartig nach hinten und schleuderte einen hell aufblitzenden,
ellenlangen Fisch aus dem Wasser. Geschickt löste er den Angelhaken von dem
zappelnden Tier, das in dem Holzbottich landete. Rudi vergaß alles um ihn herum und
freute sich an dem schillernden, schwach rötlich-silbern glänzenden Fisch.
"Meine Würmer sind anscheinend doch nicht so ohne", bemerkte Piet trocken,
"manchen scheinen sie gut zu schmecken."
"Nun, die Staatsordnungen, die versuchen, ohne die Ideen Gottes den Menschen Glück
und Zufriedenheit zu bringen, sind ziemlich stark gefordert", sagte Jan, der es
verschmerzt zu haben schien, von Piet in der Anglerkunst übertroffen worden zu sein.
"Sie müssen ja nun selbst Gott spielen. Wahrscheinlich werden solche Staatsordnungen
in der Zukunft entstehen. Die Führer solcher Staaten werden dann wahrscheinlich wie
Götter verehrt werden, denn sie nehmen ja den Platz Gottes ein. Um den Leuten nun
Glück und Zufriedenheit zu bringen, sagen sie einfach: Jeder soll gleich viel haben.
Schön und gut. Aber dabei gibt es ein Problem: Jeder meint nämlich, er müsse mehr
haben. Die Leute sind nun nicht mehr an einen Gott gebunden, dem sie Rechenschaft
geben müssen. So können sie tun, was sie für richtig halten. Ich will es dir an dem
Beispiel des Fisches erklären, den Piet gerade gefangen hat. Nehmen wir einmal an, wir,
Piet und ich, sind beide Leute, die von Gottes Vorschriften überhaupt nichts halten. Nun
komme ich und sage, Piet, du mußt mir einen halben Fisch abgeben, damit wir beide
gleich viel haben. Dann sagt Piet, gib du mir dann auch einen halben Wurm. Angle auch
du so lange, bis auch du einen genau gleich großen Fisch hast, den wir dann an der
genau gleichen Stelle wieder teilen, damit ich die andere Hälfte von dir
zurückbekomme. Oder er ist schlau und gerissen und sagt, nein, ich muß diesen Fisch
unter den Bewohnern meines Dorfes aufteilen. Jeder bekommt einen winzigen Bissen
ab. So jedenfalls sagt er es mir. Zu Hause brät er sich den Fisch aber dann doch
heimlich in Butter und ißt ihn ganz alleine. Danach hat er dann ein ganz schlechtes
Gewissen. Aber, mit der Zeit wird auch sein Gewissen abgestumpft und er wird ein
gefräßiger Fischvertilger. Oder, ich bin noch gerissener als er und sage, Piet, dieser
Fisch ist beschlagnahmt. Gib ihn mir, denn ich muß ihn unter die Bewohner meines
Dorfes aufteilen. Dazu bin ich bestimmt worden. Werden dadurch die Menschen
glücklicher? Wahrscheinlich wird nur der Fisch schlecht. Oder wir balgen uns, und der
Fisch springt zurück in den Fluß. Oder Piet kratzt mir am Ende die Augen aus, mit
seinen Angelhaken. Wahrscheinlich werden wir dann nie wieder Lust zum Fischen
haben. Wenn wir aber nach den Ideen Gottes vorgehen, sage ich einfach, Piet, ich
gratuliere dir zu deinem Fang. Ich weiß ja, daß Neid und Geiz gegen Gottes Ideen sind.
Vielleicht schießt dann dem Piet sogar eine besondere Portion göttlicher Ideen durch
seinen Kopf und er lädt mich zum Essen ein. Aber ich werde es nicht darauf abgesehen
haben. Dann könnte ich nämlich zu einem Pfaffen werden, der sagt, Piet, wenn du mich
nicht zum Fischessen einlädst, verlierst du dein Eckchen im Himmel. Das wäre dann
genau so dumm und bösartig. Jedenfalls ist eine solche Staatsordnung von vorneherein
zum Scheitern verurteilt, weil nämlich seit Urzeiten die Menschen tatsächlich böse und
verkehrt sind und aus eigenen Anstrengungen nichts daran ändern können."
"Dann stimmt es also doch, was du zuerst gesagt hattest, was diese Pfaffen auch
behaupteten, daß man nichts ändern könne?" Rudi sah verwirrt und entmutigt drein.
"Nein, nein, nein. Man kann nichts daran ändern, daß man an sich böse und verkehrt ist.
Aber man kann mit den Ideen Gottes, die nämlich gut sind, trotzdem vieles verändern.
Dazu braucht man allerdings ziemlich viel Mut von Gott selbst, denn nicht alle wollen
es mit den Ideen Gottes halten. Die meisten sind ganz glücklich mit ihrer Bosheit, durch
die sie den anderen das Geld aus der Tasche ziehen. Es käme ihnen nicht in den Kopf,
sich zu ändern. Aber Gott will nicht, daß dies alles so bleibt. Er gibt uns Anleitungen
und Denkanstöße, wie wir die Welt um uns herum ändern können."
"Gibt mir Gott auch eine Anleitung, wie ich meine Lehrer dazu bringe, mir bessere
Noten zu geben?" fragte Rudi.
"Ich würde sagen, nein. Du weißt ja selbst, daß du dich auf deinen Hosenboden setzen
und fleißig sein mußt. Viele Menschen aber meinen, Gott würde auch ihre eigene,
selbstverschuldete Faulheit und Gerissenheit absegnen. Diese Menschen meinen, Gott
sei immer auf ihrer Seite, egal, wie faul und dumm sie sind. Sie meinen, Gott habe
ihnen eine Extraerlaubnis erteilt. Immer wenn bei ihnen das Denken aufhört, führen sie
Gott an. Gott muß dann für sie weiterdenken. Manche meinen auch, sie könnten Gott
durch etwas anderes beeindrucken, als durch das, was er schon von vorneherein
vorgeschrieben hat. Nehmen wir einmal an, du würdest glauben, der Lehrer gäbe dir
bessere Noten, wenn du dafür heimlich andere Schüler bei ihm verpetzt. Das wäre ja
ungerecht den anderen Schülern gegenüber, die fleißig waren und auch nur die gleiche
Note bekommen. Manche Leute aber meinen, wenn sie auf andere Menschen mit dem
Finger zeigen, bekommen sie einen Extrabonus von Gott. Gott würde dann bei ihren
eigenen Fehlern alle Fünfe gerade sein lassen. Gott, so glauben sie, würde ihnen auf die
Schulter klopfen und sagen: Gut gemacht, mein kleiner Spion. Andere Leute wiederum
wollen Informationen von Gott über andere Kanäle haben, als denen von Gott
vorgeschriebenen. Sie sind wie Kinder in der Schule, die beim Anderen abgucken. Statt
also, wie vorgeschrieben, selbst zu lernen und nachzudenken, schreiben sie einfach ab.
Nur, bei Gott geht das nicht. Er macht es dann nämlich so, daß die Arbeit des
Banknachbars für denjenigen, der abschreibt, ganz anders aussieht und voll von Fehlern
ist. So geht es denen, die statt sich über die Ideen Gottes zu informieren, zum Jahrmarkt
gehen und eine Wahrsagerin aufsuchen. Oder auf Träume achten. Oder so etwas
Ähnliches tun. Sie meinen dann, sie hätten heimlich von Gott abgeschrieben, ihm über
die Schulter geguckt. Aber in Wirklichkeit bekommen sie auf diese Weise eine ganz
falsche Information."
Rudi machte große Augen, in denen sich der Jahrmarkt zu spiegeln schien. Nach einer
Weile fragte er:
"Wie war das noch mal mit dem Pott im Aal, was meinte Eugen damit?"
"Das Po-ten-tial. Eugen behauptete, der Mensch wäre erst so richtig Mensch, wenn er
sich von Gott losgelöst habe. Die wahre Menschlichkeit ist eine, die nur vom Menschen
selbst entwickelt werden kann. Dies folgern sie aus der Tatsache, daß manche Pfaffen
den Menschen verboten haben, selbst zu denken. Nun meinten diese Leute, die so wie
Eugen denken, daß die Beschäftigung mit den Ideen Gottes das Ende alles eigenen
Denkens bedeute. Wer an Gott glaubt, springt gewissermaßen in ein dunkles Loch,
meinen diese Leute. Nur wer selbst denkt, kann zu etwas Sicherem gelangen. Aber
dabei ist Gott ganz und gar nicht dagegen, daß die Leute selbstständig denken. Nur, weil
der Mensch als Spiegelbild Gottes geschaffen wurde, kann er am besten denken, wenn
er Denkanstöße von Gott erhält. Die moderne Wissenschaft ist ja auch keine Erfindung
von diesem Darling."
"Darfinn", verbesserte Piet.
"Ja, also von diesem Darfling. Der Mensch soll ja denken und sich die Welt untertan
machen. Er soll nicht vom Zufall gesteuert sein. Er soll Gottes Ideen weiterdenken. Gott
hat ihn ja als denkendes Wesen geschaffen. Nun ist aber der Denkapparat ohne Gottes
Ideen völlig untauglich. Schau' dir mal diesen Drachen dort drüben an!"
Jan zeigte auf einen bunten Drachen, den eine Gruppe Kinder jauchzend und lachend
auf dem gegenüberliegenden Deich an einer Schnur festhielten. Der Wind ließ ihn
aufsteigen, bald ging er wieder hinab. Wenn er herunterzukommen drohte, rannten die
Kinder ein Stück auf dem Deich und gaben so dem Drachen wieder Auftrieb.
"Wenn kein Wind da wäre, würde dieser Drachen schlaff auf dem Speicher liegen. Er
würde verstauben und man würde ihn vielleicht sogar vergessen. Er ist nun mal als ein
fliegendes Stück Papier und Holz gebaut worden, daß nur im Wind fliegt. Ohne Wind
ist er nichts. Genauso ist auch der Mensch. Ohne die Gedanken Gottes ist er ein
schlaffes Stück buntes Papier. Nur wenn Gott kommt und auf das Papier schreibt, steigt
es auf und kann andere erfreuen. So kann auch der Mensch seine wahre Menschlichkeit
nur mit der Hilfe dessen finden, der ihn erbaut hat."
"Jan, hilfst du mir auch, einen Drachen zu bauen? Ich habe es einmal versucht, aber ich
schaffe es nicht alleine. Bitte, Jan!"
"Hm, ich weiß nicht, ob ich so etwas heute noch kann. Es ist schon lange her, daß ich
meinen letzten Drachen gebaut habe. Ich will einmal auf dem Speicher nachsehen.
Vielleicht habe ich ja noch einen von früher. Den kannst du dann haben. Komm morgen
nachmittag mal bei mir vorbei. Aber versprechen kann ich nichts!"
"Oh, toll, ich bekomme einen eigenen Drachen!", schwelgte Rudi.
Der alte Piet hatte währenddessen geschwiegen und seine Pfeife weitergeraucht. Nun
war ihm der Tabak ausgegangen. Er klopfte seine Pfeife am Rande des Fischeimers aus.
Oskar sah, wie sich das schwarze Innere der Pfeife plötzlich immer mehr zu vergrößern
schien. Schließlich wurde sie zu einem riesigen schwarzen Loch und bevor Oskar
entsetzt ausrufen konnte: "Was ist das denn?", waren sie schon wieder in dem Tunnel
verschwunden.
"Mann, hast du mich erschreckt!" rief Oskar aus. "Hättest du mich nicht genauso gut
durch ein Loch in der Erde zurückbringen können in dieses Labyrinth?"
"Freilich, freilich", gluckste der Engel vergnügt. "Aber ich wollte dich auch noch
einmal necken. Wir haben jetzt nämlich nur noch eine Lektion zusammen. Optische
Täuschungen sind mein Lieblingsschabernack."
Da konnte auch Oskar nicht mehr ernst bleiben und mußte kichern.
"Und ich dachte immer, im Himmel wäre alles todernst. Das heißt, so dachte ich, falls
es einen Himmel geben sollte, was ich ja nicht glaubte."
"Und was du auch wiederum nicht glauben wirst, wenn du zurückgeholt wirst." setzte
der Engel hinzu.
Oskar wollte etwas einwenden, aber er ließ es dann doch sein. Er merkte, daß er in
dieser Sache kein Mitspracherecht hatte.
"In der nächsten und letzten Lektion werden wir uns etwas in der Zukunft ansehen",
sagte der Engel. Danach erkläre ich dir, was wir versuchen werden, dir auf der Erde als
Aufgabe zu geben, für den Fall, daß du dich mit 'ja' entscheidest. Also, komm mit. Ein
Freund von mir wartet dort schon auf mich und wird uns alles erklären."
Schon glitten sie, durch den leicht gekrümmten sechsten Tunnel, schräg nach oben.
Superandroiden
"Da seid ihr ja endlich!", rief ihnen ein dunkelblau schimmernder, riesiger Engel zu. Er
war etwas größer als Oskars Engel und anders gefärbt. Aber vom allgemeinen
Körperbau und Gesicht ähnelten sich die beiden Engel. Neugierig und mit traurigem
Gesichtsausdruck besah sich der dunkelblaue Engel den mitgebrachten Menschen.
"Ist das dieser Neurologe, den du für die Erhaltung der Brotmensch-Humanität mit
einspannen willst?" fragte der dunkelblaue Engel und blickte matt auf Oskar.
"Ja", sagte Oskars Engel. "Gefällt er dir? Er heißt Oskar."
"Hm. Weiß nicht. Jedenfalls scheint er noch ein richtiger Mensch zu sein. Willkommen,
Oskar, in einer traurigen Zukunft. Vielleicht kannst du das, was du hier siehst, in deiner
Zeit noch für ein paar Menschen oder Jahre abbremsen", sagte der dunkelblaue Engel
melancholisch. "Hier ist kaum noch Humanität zu finden. Von einer BrotmenschHumanität ganz zu schweigen. Lange kann es so nicht mehr weiter gehen. Wir Engel
wissen fast nicht mehr, ob wir auf Tiere oder auf Menschen aufpassen. Wir sind schon
richtig verunsichert."
"Ja, aber was um Himmels willen ist denn passiert, in dieser Zeit hier?" fragte Oskar. Er
war auf das Schlimmste gefaßt. "Hat es eine Umweltkatastrophe gegeben, eine von
wandelbaren Viren verursachte Seuche, schlimmes Leid durch Kriege?"
Ein kurzes, kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über das Gesicht des dunkelblauen
Engels.
"Ach, ihr lieben Menschen aus dem 21. Jahrhundert. Immer noch Angst vor
Krankheiten und Seuchen. Du wirst es kaum glauben, Oskar, aber genau das Gegenteil
ist nun hier das Hauptproblem."
Oskar zog seine unsichtbare Stirn in Falten und starrte seine beiden Engelsbegleiter
ungläubig an. "Das Gegenteil? Wie soll ich das verstehen, von was das Gegenteil?"
"Von Leid. Natürlich nicht von dem Leid, das durch Hunger oder Kriege entsteht.
Davon gibt es immer noch genug, wenn auch an weniger Plätzen auf der Erde. Aber es
gibt kein Leid mehr durch Krankheiten und Seuchen."
Oskar fühlte sich wieder einmal verschaukelt. "Aber das ist doch wunderbar! Das Ziel
eines jeden Mediziners! Was soll daran problematisch sein? Der Brotmensch hat doch
auch Leute von Krankheiten befreit! Was wollt ihr denn nun?"
Der dunkelblaue Engel zog einen riesigen, schwarzen Vorhang zur Seite. Der Blick
wurde frei auf eine Art Labor, in dem rosarote, wärmeflaschenähnliche Beutel in Reih
und Glied nebeneinander lagen. Die Beutel waren mit Unmengen von kleinen
Schläuchen verbunden und pulsierten leicht.
"Siehst du diese Beutel dort? Das sind Gebärmuttern aus künstlichem Gewebe. Mit
Hilfe der Gentechnologie hergestellt. Das Heranzüchten von menschlichen Embryos
außerhalb von menschlichen Körpern ist ja noch menschlich vertretbar. Aber nun schau
dir einmal an, was durch diese Schläuche dort fließt!"
Der dunkelblaue Engel reichte Oskar eine Art Fernglas. Durch dieses Instrument konnte
Oskar erkennen, wie durch manche der dünnen Schläuche von Zeit zu Zeit kleine,
silbergraue Partikelchen nach oben in die Beutel flossen.
"Was ist das für ein Zeugs?", fragte Oskar beklommen.
"Jedes dieser kleinen, grauen Partikel sind ganze Universen von mikroskopisch kleinen
Mikrorobotern. Sie werden von einem riesigen Roboter hergestellt, wie eine Art
künstlicher Viren. Mit dem herstellenden Roboter sind sie ständig in Verbindung. Sie
ändern die Gensubstanz der Embryos dann nach Wunsch dieses Roboters. Bei manchen
Embryos werden ganze Körperteile durch aneinandergekettete Mikroroboter ersetzt. Die
Mikroroboter passen auf, daß sich keine Krankheitskeime festsetzen können und
vernichten diese sofort. Sie ändern den Stoffwechsel des Menschen derart, daß er eine
zehnmal höhere Immunität bekommt und unter viel härteren Bedingungen problemlos
funktionieren kann. Vererbbare Krankheiten gibt es sowieso keine. Jede einzelne Zelle
wird von den Mikrorobotorn kontrolliert. Von jeder Zelle, die sich neu bildet, wird dem
zentralen Roboter Meldung gemacht. Alle Informationen über diese Zelle werden
mitgeteilt: Wachstumsgeschwindigkeit und -Richtung, Art der Zelle, sowie die gesamte
DNS-Abfolge, alles. Sollte es eine Krebs- oder Wucherzelle sein, wird sie sofort
abgetötet. Stimmt die DNS irgendwo nicht mit den Vorstellungen des Roboters überein,
dringt ein Mikroroboter-Virus in den Zellkern ein, und repariert die DNS der
betreffenden Zelle."
Oskar blickte noch einmal fasziniert durch das Fernglas.
"Aber was ist nun, wenn dieser Roboter spinnt?", fragte er.
"Es gibt eine ganze Legion davon, die sich weltweit gegenseitig kontrollieren. Aber du
hast das Problem schon richtig erkannt. Denn, egal ob die Roboter gut oder schlecht
funktionieren, der Mensch ist nun kein Mensch mehr, sondern ein biologischer Ableger
seiner Maschinen. Noch gibt es ein paar wenige, einigermaßen menschliche Menschen.
Aber es dauert nicht mehr lange und es gibt nur noch Mischlinge, Kreuzungen zwischen
Maschine und Mensch."
Oskar schluckte schwer. Der dunkelblaue Engel fuhr fort:
"Das Schlimmste dabei ist, daß diese Kreaturen nun nicht mehr die BrotmenschHumanität annehmen können. Denn der Brotmensch ist ja gerade durch viel Leid zu
demjenigen geworden, der allein anderen die wahre Humanität weitergeben kann. Und
auch die kleinen Brotmenschen, die das Brot gegessen haben, können nur durch das
Leid dieses Brotmenschen weiter wachsen in der Brotmensch-Humanität. Ihr Leid kann
auch nur deshalb gelindert werden, und gänzlich umgewandelt werden in Freude, weil
der Brotmensch selbst ein Mensch war. Aber diese Mischlinge - das sind ja keine
richtigen Menschen mehr. Ich fürchte, die werden niemals die Möglichkeit bekommen
können, von der Brotmensch-Materie-Umwandlung profitieren zu können. Sie sind ja
mit Leib und Seele an diesen Roboter angeschlossen. Ihre gesamte Materie steht unter
dem völligen Einfluß der Maschine. Dann müßte der Brotmensch nochmals kommen,
diesmal als Brotroboter. Aber das wird nicht stattfinden. Die Orgel hat den Humus ja als
einen schwachen, zerbrechlichen Menschen geschaffen, aus totem Kompost. Dies aber
sind hieb- und stichfeste Superandroiden. Was sollen wir noch auf die aufpassen
müssen? Das sind ja nicht mehr die Menschen, die Gott konzipiert hat. Sie können kein
Leid empfinden. Sie können auch keine Freude mehr empfinden, keine Liebe, keine
Sehnsucht nach Veränderung, keine Leidenschaft für die Ideen Gottes. Sie können
niemanden mehr ermuntern, erfreuen, auslachen, zur Rede stellen, beweinen,
überraschen. Sie können nicht übermütig, ausgelassen oder tollpatschig werden. Statt
dessen funktionieren sie einfach reibungslos. Jegliches unnötige Verbrennen von
Energie wird vermieden. Es gibt kein Spiel mehr, keine Spekulation, keine kurzweilige
Unterhaltung. Man hat keine Träume mehr, keine Wünsche. Alle notwendige Zufuhr
von Sauerstoff und Nahrung wird ja dem Roboter gemeldet. Es geht alles
vollautomatisch. Es gibt keine Verzweiflung, kein Erschauern mehr vor etwas
Höherem, keine Hingabe, kein stilles Meditieren. Die Zeiten für sämtliche Aktivitäten
werden von dem Roboter bestimmt. Geringe Gefühlsschwankungen werden durch
gelegentliche Umleitung von Neurotransmitterströmen der Bedarfssituation angepaßt.
Das Ableben des Androiden wird so lange wie möglich hinausgezögert. Wird der
Androide dann schließlich doch unbrauchbar, wird er abgestellt und seine
Zellkomponenten dem Zellversuchslabor zugeführt. Unnötiger emotionaler Energieund Zeitverbrauch durch ein etwaiges Trauern über den so verschrotteten Androiden
wird durch Auslöschen der betreffenden Erinnerung per mikrorobotorisierter
Neuronenbeeinflussung vermieden."
Resigniert, mit genau bemessenen Schritten, machte der dunkelblaue Engel den
Vorhang wieder zu.
Der Engel Oskars wandte sich zu dem dunkelblauen Engel und schüttelte ihm die Hand.
"Ich danke dir. Mehr muß er nicht wissen. Melde du dich auch mal bei mir."
Nachdem auch Oskar sich von dem dunkelblauen Engel verabschiedet hatte, schwebten
sie wieder nach unten.
Bevor Oskar etwas sagen konnte, fing der Engel mit seiner Abschiedsrede an:
"Lieber Oskar. Wir sind nun am Ende der Lektionen angekommen. Laß mich noch
einmal alles schnell zusammenfassen. Wie du bemerkt hast, wurde in allen sechs
Lektionen die Humanität angegriffen. In der ersten Lektion haben wir gesehen, wie die
Engel zu allererst einmal das Konzept Mensch überhaupt in Frage gestellt haben. Die
Erschaffung des Menschen konnte aber nicht verhindert werden. Auch nach dem
Vertrauensbruch mit ihm hatte Gott die Sache mit dem Menschen noch nicht
aufgegeben. In der zweiten Lektion sahen wir dann, wie die Humanität durch
Vermischung mit Engeln verdorben wurde. In der dritten Lektion haben wir gesehen,
wie der Brotmensch von der Menschlichkeit der Menschen entfremdet werden sollte
durch ein Höherstellen, durch eine Umwandlung seiner selbst in einen Halbgott. In der
vierten Lektion wurde die wahre Brotmensch-Humanität dann durch Verstümmelung
des Körpers unerreichbar gemacht. In der fünften Lektion haben wir Leuten zugehört,
die in einer Zeit lebten, in der zwar die Humanität auf einen hohen Leuchter gestellt
wurde, aber verneint wurde, daß diese Humanität göttlichen Ursprungs ist. Außerdem
wurde die Brotmensch-Humanität verlacht und eine eigene, selbsterdachte Humanität an
ihre Stelle gerückt. Und nun, zuletzt, haben wir gesehen, wie die Humanität wieder
verdorben wurde, diesmal aber nicht durch Engel, sondern durch die Schöpfungen des
Geschöpfes Mensch. Die Humanität wurde also nacheinander in Frage gestellt und
beneidet, danach durch Vermischung mit Engeln verdorben, danach durch
Inanspruchnahme der eigenen Göttlichkeit fast entfremdet von sich selbst, danach
verschnitten, danach ersetzt durch eine von Gott unabhängige Scheinhumanität und
zuletzt mutiert und manipuliert. Nun wollen wir dich fragen, ob du uns gerne helfen
würdest, daß nicht mehr so viele Menschen ver-engelt, verschnitten, robotorisiert und so
von der eigentlichen Menschlichkeit, von der Brotmensch-Menschlichkeit, entfremdet
werden. Du kannst 'ja' oder 'nein' sagen. Wie schon zu Anfang gesagt, wenn du 'nein'
sagst, erwachsen dir daraus keine Probleme mit uns. Du wirst alles vergessen und
wieder ein ganz normaler Neurologe. Wenn du aber 'ja' sagst, wirst du zwar auch alles
vergessen, aber wir werden dir Bücher über den Weg streuen, mittels derer du durch
eigenes Forschen zu jemandem wirst, der für die Brotmensch-Humanität eintreten wird.
Nun, Oskar, was meinst du?"
Erwartungsvoll blickte der Engel Oskar an. Oskar schwieg und sah betreten nach unten.
"Da gibt es noch ein Problem. Gedanklich finde ich alles sehr überzeugend und würde
auch gerne für eure Sache eintreten. Aber ich habe noch ein emotionales Problem.
Wenn ich mich darauf einlasse, werde ich ja einmal ein Mensch, der dauernd von Gott
redet, oder nicht? Mein Vater, der berühmte Psychiater Dr. Vitus von Linnewitz, hat
mir, als ich noch ein Junge war, immer eingebleut: "Oskar, es gibt Leute, die reden
dauernd von Gott. Laß dich nicht auf solche Leute ein, denn sie sind nur eingebildet und
wollen über den anderen stehen. Manchmal bekomme ich solche dann schließlich sogar
in meine Praxis. Laß dich nie mit solchen religiösen Schwätzern ein, hörst du?" So hat
er mir immer gesagt. Und nun habe ich Schwierigkeiten mit dem Gedanken, ich könnte
am Ende auch so ein eingebildeter Mensch werden. Ich würde bei dem Gedanken an
das, was mir mein Vater immer gesagt hat, vor Scham in den Erdboden versinken.
Kannst du das verstehen?"
Der Engel nickte.
"Lieber Oskar, du sollst doch kein eingebildeter religiöser Mensch werden. Gerade
diese Menschen stehen uns ja am meisten im Weg bei der Heranbildung von wahrer
Brotmensch-Humanität. Aber ich weiß, was du meinst. Ich glaube, ich könnte dir noch
schnell eine Szene zeigen, aus der du den damit zusammenhängenden Sachverhalt noch
klarer erkennen kannst. Es ist eine Geschichte vom Ende der Zeit. Diese Lektion war
eigentlich nicht geplant, aber ich denke, ich kann sie dich sehen lassen. Ich werde dich
dann direkt vom Ende dieser Lektion zurückholen lassen. Allerdings müßtest du dich
dann jetzt schon entscheiden, wegen deiner Mitarbeit, ob du einverstanden bist, oder
nicht. Du kannst mir vertrauen, diese letzte Lektion wird dich auch emotional
überzeugen, daß es richtig ist, für die wahre Humanität einzustehen."
Oskar nickte. Er dachte sich, erinnern werde ich mich ja sowieso an nichts mehr. Und
letztendlich hängt ja nicht mein letztendliches Schicksal davon ab, wie der Engel am
Anfang gesagt hatte. Und überhaupt: Wieso werde ich überhaupt gefragt? Wegen dem
Unfall haben sie mich ja auch nicht gefragt, den haben sie einfach verursacht, diese
Burschen, und jetzt wollen sie höflich sein. Nun ja, interessant war diese Reise ja schon.
Ich bin ihnen nicht sauer. Was soll's, ob ich nun ein paar Bücher mehr lese, oder nicht,
darauf soll es nicht ankommen. Ich sage einfach ja, dann sind die hier zufrieden. Wieso
soll ich mich jetzt noch lange mit diesem Engel herumstreiten. "Ich sage zu!", ließ er
verlauten.
Der Engel klopfte Oskar auf die Schultern und umarmte ihn. Danach deutete er auf eine
Art Deckenluke, die sich genau über ihnen befand.
"Dies ist der Tunneleingang für die Extrazugabe. Er wird so gut wie nie benutzt. Ich
muß ihn erst aufschrauben. So. Warte, gleich hab’ ich's. So, jetzt. Komm, ich ziehe dich
hinauf!"
Wie in einem finsteren Paternoster stiegen sie diesen Tunnel hinauf. Es war der Längste
von allen.
Das Gewand
Plötzlich befanden sie sich in der Vorhalle eines Schlosses. Sie war bis zum Bersten
voll mit Menschen unterschiedlichster Art. Einige berittene Diener des Königs riefen
laut Anweisungen in die Menge:
"Achtung, Achtung, alle herhören! Hier ist eine Mitteilung der königlichen Garderobe.
Die Frauen gehen bitte zum Eingang dort unter dem großen Portal rechts, die Männer
bitte links zum Eingang, der genau gegenüber liegt. Sie werden gebadet und bekommen
alle ein einheitliches Gewand!"
Oskars Blick fiel auf eine Ecke neben einer großen Wendeltreppe, in der sich vier
Männer erfreut unterhielten. Sie schienen Freunde zu sein, die sich nach langer Zeit
wiedertrafen.
Ein großer, stämmiger Mann der Gruppe sagte: "Na, wer hätte das gedacht, daß wir uns
hier alle wiedertreffen!"
Ein hochgewachsener, hagerer Mann mit maskenhaften Gesichtszügen sagte erstaunt:
"Was, ihr seid auch hier? Du, der Klempner..."
"Ja", rief ein Dritter triumphierend, "denk' mal an, nicht nur du, Bäcker, auch der
Klempner, sogar ich, der Schneider und auch der Fleischer ist hier bei mir!"
Der Klempner sagte: "Na so was, das halbe Handwerk unserer Stadt Pampenhausen hat
sich hier eingetroffen! Kommt, laßt uns eine Weile plaudern. Bis wir drankommen in
der königlichen Garderobe, kann es noch ziemlich lange dauern." Er wies auf die riesige
Menschenmenge, die vor den Portalen geduldig wartete.
"Ja", stimmte der Schneider zu, "laßt uns ein wenig plaudern. Nun stellt euch das vor!
Ich dachte auch erst, was für ein besonderer Glückspilz ICH bin, daß die königlichen
Diener ausgerechnet mich aufgegabelt haben, und wen treff` ich? Unseren lieben
Fleischer! Na, da habe ich mich aber auch gefreut, nicht ganz unbekannt zu sein hier!"
Der Fleischer sah verwirrt und unbeholfen drein, und sagte dann leise: "Eingeladen bei
einer HOCHZEIT! Ich war noch nie auf einer Hochzeit! Und dann auch noch beim
König! Auf einem richtigen Schloß! ICH eingeladen... Schloß... König... " Er schloß
einen Augenblick die Augen und wisperte dann: "Ich weiß' gar nicht, wie mir wird! Das
gibt's doch gar nicht!"
Der Klempner stellte sich vor den Fleischer und belehrte ihn freundlich: "Ja, mein lieber
Fleischer, so was gibt's eben doch! Der Königsdiener, der mich aufgegabelt hat, hat mir
die Sache nämlich erklärt: Also, du hast doch gehört, wie dieser König seine eigene
Stadt Königshausen zerstört hat."
"Das war vielleicht ein Ding!", rief der Schneider entrüstet dazwischen. "Ein König
schickt seine Armee gegen seine EIGENE Stadt und läßt sie zerstören! Habe in meinem
Geschichtslexikon keinen vergleichbaren Fall finden können. Und dabei waren die
Königshausener doch so stolz auf ihren König!"
Der Klempner fuhr fort: "Tja, solche Leute wie in Königshausen gab's eben auch nur in
Königshausen! Sie waren zwar stolz auf ihren König und hängten überall Bilder auf von
ihm und seiner Familie, aber als er sie einladen wollte zur Hochzeitsfeier seines Sohnes,
da scherten sie sich einen Dreck darum. Mehr noch, einige von ihnen trieben sogar ihren
Spott mit den Königsdienern und brachten ein paar von denen um!"
"Von Königshausenern umgebrachte Königsdiener!", echauffierte sich der Schneider.
"Unglaublich, aber wahr!"
"Ja," sagte der Klempner weiter, "und dem König wurde das natürlich zu bunt, und da
hat er eben seinen Dienern befohlen, einfach die einzuladen, die sie antreffen würden,
egal, ob sie Überlebende aus dem Königshausener Gebiet sind, oder Leute aus anderen
Nationalitäten, wie zum Beispiel aus unserem geliebten Pampagonien. Und da wir
gerade zur Handwerksmesse in Königshausen unterwegs waren, wurden auch wir
angetroffen und eingeladen. Wir haben die Handwerksmesse sausen lassen und sind der
Einladung gefolgt. Übrigens hat diese Messe sowieso nicht mehr stattfinden können
wegen der totalen Zerstörung von Königshausen."
Der Bäcker hatte die ganze Zeit über mit verschränkten Armen und verschmitzter Miene
zugehört, wie jemand der eine Trumpfkarte in der Hand hält. Nun ließ er die Katze aus
dem Sack: "Daß es mit den Königshausenern so kommen würde, war ja abzusehen.
Schon immer hatte der König Ärger mit diesen störrischen Leuten. Ich hatte mir
sowieso gedacht, wenn überhaupt jemand es verdient hat, eingeladen zu werden vom
ihm, dann doch nur seine Freunde, so wie wir Bäcker es sind!"
Mit erhobenem Kinn musterte der Schneider den Bäcker und fragte ihn im Tonfall eines
Kindes, dem man einen Besitz streitig machen will: "Du willst uns doch nicht etwa
weismachen wollen, daß DU diesen König schon kennst?"
Der Bäcker war sichtlich erfreut über das Erstaunen der anderen. "Nun, ich kann es
euch ja sagen. Der König würde es euch ja sonst auch erzählen. Also. Ich war früher
lange Zeit Hofbäcker bei diesem König. Der Vater dieses jetzigen Königs, also der
Großvater des Bräutigams war damals schon verärgert über das arrogante Benehmen
der Königshausener Bäckerzunft. Und wie die mit den Preisen gewuchert haben! Und
so hat der König dann eben nach einem pampagonischen Bäcker Ausschau gehalten und
hat ihn auch bekommen: Nämlich meinen Vater. Ich habe dann meine Bäckerlehre an
diesem Hof gemacht. Jetzt haben sie so eine moderne Brotbackmaschine. Aber ich hatte
immer noch Kontakt zum König, und manchmal kriegten wir auch größere Aufträge
von ihm, für Backwaren die sie hier mit ihrer Maschine nicht selber hinkriegen."
Die anderen drei Männer standen mit geöffnetem Mund staunend da. Schließlich
räusperte sich der Klempner und sagte: "Jetzt wissen wir also, warum dein Laden immer
mal wieder ein paar Tage geschlossen war, mit einem Schild: "Geschlossen wegen
Geschäftsreise".
Mit gespielter Bescheidenheit zuckte der Bäcker mit den Schultern. "Ist ja auch 'ne Ecke
weg, dieser Hof, von uns zu Hause aus. Lieferungen hierher konnte man nicht an einem
Nachmittag erledigen."
"Da brat' mir doch einer 'nen Storch!", platzte es aus dem Schneider heraus. "Der alte
Bäcker Sauerteig war schon mal hier! Und hat hier gearbeitet! Und wir haben nichts
davon gewußt!
Der Bäcker zuckte wieder lässig mit den Schultern. "Man tut, was man kann. Dort wo
die Brötchen gebraucht werden, da backt man sie eben."
Argwöhnisch murrte der Klempner zum Bäcker: "Es ist dir wohl nicht schlecht
gegangen hier, was?"
Mit unverhohlenem Stolz sagte der Bäcker: "Ja, also ein LEBEN war das hier, ich sag's
euch, ein LEBEN! Könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Und natürlich könnt ihr mich
auch gar nicht verstehen, ihr kennt ja den König gar nicht. Ich kenne ihn aber! Ich habe
mich auch schon viel mit ihm persönlich unterhalten. Aber was sage ich, davon habt ihr
ja gar keine Ahnung. Was hier für Feste gefeiert wurden! Dagegen ist dieses
Hochzeitsfest ja ein Klacks."
Der Schneider blinzelte den Bäcker mißtraurisch an und bohrte: "War ja aber auch
bestimmt ein ziemlicher Stress und Druck, in so einem Hof zu arbeiten?"
Gelassen gab der Bäcker zur Antwort: "Nun, manchmal mußte man sich schon ganz
schön sputen. Aber unterdrückt wurden wir nie. Außerdem hatten wir ja eine GANZ
BESONDERE Beziehung zu dem König. Als der jetzige König nämlich noch klein war,
spielte er uns Bäckern immer wieder mal einen Streich. Dafür wurde unseretwegen oft
ein Auge zugedrückt, wenn nicht alles so klappte wie gewünscht. Wir brauchten uns
nicht unterdrücken zu lassen, denn wir waren ja gewissermaßen Spielkameraden vom
König. Gewiß freut er sich jetzt auch, mich wiederzusehen."
Nachdenklich sagte der Klempner: "Dann bist du also gewissermaßen doppelt
eingeladen: Einmal wegen der allgemeinen Einladung, die wir auch bekamen, und ein
zweites Mal, wegen deiner besonderen Kenntnis vom König!"
Sie schwiegen für eine Weile. Schließlich sagte der Schneider: "Ich bin ja gespannt, was
es für ein Gewand gibt. Ich habe schon viel gehört von den kostbaren Gewändern, die es
an diesem Hof gibt. Und gleich so viele, für so viele Leute! Die Verarbeitung soll ganz
außergewöhnlich sein, es sollen nicht mal Nähte zu sehen sein!
Der Klempner schwärmte: "Ja, dieser König läßt sich nicht lumpen. Großzügigkeit wird
hier großgeschrieben. Es ist ja auch ein wichtiger Anlaß, die Hochzeit seines Sohnes.
Die möchte der König in einem besonderen Glanz abhalten." Er wandte sich zum
Bäcker und fragte diesen: "Freust du dich auch schon auf dein Gewand?"
Der Bäcker ließ sich nicht auf die Gefühlsebene des Klempners herab, sondern
antwortete im Tonfall eines erfahrenen Reiseleiters: "Diese Gewänder sind weltspitze.
Wir mußten sie auch immer tragen, wenn ein Fest hier war. Aber dieses Mal möchte ich
den König überraschen. Er soll mich gleich erkennen, daß ich sein alter Spielkamerad,
der Bäcker Sauerteig bin. Er wird mich gleich an meiner weißen Bäckermütze
erkennen."
Entsetzt rief der Schneider aus: "Mit einer BÄCKERMÜTZE zur Hochzeit!?"
Besorgt zeigte sich auch der Klempner: "Und was, wenn der König dich nicht mehr
wiedererkennen sollte, wird er nicht sauer werden, und dich rausschmeißen?"
Großzügig über das Unwissen seiner Freunde hinwegsehend und von ihrer Besorgnis
völlig unbeirrt belehrte der Bäcker sie: "I wo, ich kenne ihn doch gut. Ich habe doch so
viel PERSÖNLICH mit ihm geredet. Ganz bestimmt erkennt er mich wieder. Vor allem
natürlich, wenn ich so zu ihm komme, WIE ICH BIN, mit Bäckermütze und allem.
Aber davon abgesehen gönne ich euch ja euer Gewand. Ihr könnt ja nur mit diesem
Gewand vor dem König bestehen. Was mich anbetrifft, ich bin ein besonderer Fall. Ich
kann bestehen vor dem König, nicht aufgrund des von ihm ausgeteilten Gewandes,
sondern aufgrund meiner persönlichen Beziehung zu ihm, aufgrund meiner Arbeit und
meines Lebens mit ihm, und aufgrund der vielen Gespräche, die ich mit ihm geführt
habe. Was euch betrifft, ihr habt es schon nötig, dieses Gewand."
Abwertend schielte der Bäcker auf den alten Metzgerkittel des Fleischers. Der Fleischer
strich sich verlegen über seine Kleider. Seine Hose glänzte. Schweißperlen standen ihm
auf der Stirn. Er roch nach Knoblauch, alter Blutwurst und Naphthalin.
Um das Gespräch zu einem Abschluß zu bringen, rief der Bäcker schließlich freudigjovial: "Aber ein Bad werde ich mir auch verpassen lassen, es reicht schon, daß ich
Sauerteig heiße, ich muß ja nicht auch nach Sauerteig riechen!"
Alle lachten. Langsam bewegten auch sie sich nun zu der königlichen Garderobe.
Oskar folgte der sich langsam vorwärts schiebenden Menge. Er beobachtete, wie der
Schneider, der Klempner und der Fleischer gebadet wurden und ein neues Gewand
bekamen. Die Gewänder, die sie bekamen, waren unbeschreiblich. Von einer Farbe und
einer Beschaffenheit, wie sie Oskar noch nie gesehen hatte. Schließlich stieg auch der
Bäcker in die königliche Badeanstalt. Nach einer Weile kam er wieder hervor, mit
nassen Haaren und mit einem königlichen Bademantel für die Hochzeitsgäste. Ein sehr
muskulöser königlicher Garderobendiener trat ihm entschlossen entgegen, als er gerade
auf seine Bäckerkleidung zusteuerte, die er vor dem Bad auf einem Stuhl abgelegt hatte.
Freundlich, aber bestimmt sagte der Garderobendiener: "Alte Kleidung bitte dort drüben
abgeben!" Dabei wies er auf eine Tür.
Ruhig und völlig unbeirrt sagte der Bäcker: "Langsam, langsam, nicht so hastig. Dies ist
MEINE Kleidung. Ich habe das Recht und die Freiheit, sie anzuziehen, wann es mir
paßt!"
Verdutzt sah sich der Königliche Garderobendiener den Bäcker an. Einen Augenblick
lang schien er erstaunt zu sein, über die ruhige Selbstsicherheit, die der Bäcker
ausstrahlte. Dann setzte er seine königliche Amtsmiene auf, sah seitlich am Bäcker
vorbei und schnarrte militärisch:
"Alte Kleidung darf nicht angezogen werden zum Hochzeitsfest. Befehl vom König.
Einheitliche Festkleidung vorgeschrieben. Bitte zur Tür mit dem Schild "Festkleidung"
und dort ausgelegte Kleidung anziehen. Sonst KEIIIN EINTRITT zum Festsaal.
"KEIIIN EINTRITT zum Festsaal", äffte der Bäcker den Garderobendiener nach. "Ja,
genau richtig, 'KEIIIN EINTRITT zum Festsaal', freilich, freilich, 'KEIIIN EINTRITT
zum Fessstsaaaal'".
Überlegen-spöttisch lächelte der Bäcker den Garderobendiener an und klopfte ihm
väterlich auf die Schulter.
"Seit wann arbeitest du denn hier, mein Junge?"
Der königliche Garderobendiener war völlig verwirrt. "Hä?", brachte er nur heraus.
"Seit wann du hier arbeitest, verstehen, capito? Seit wann bist du hier eingestellt?"
Wieder klopfte der Bäcker dem Garderobendiener auf die Schultern.
Oskar sah, wie der königliche Garderobendiener anfing, verstört zu werden. Er schien
sich verunsichert zu fragen, ob dieser Bäcker nicht tatsächlich lieber in Ruhe gelassen
werden sollte. Für einen Augenblick sah er sich nach seinem Amtskollegen um, der
durch die weitläufigen Säulenhallen der königlichen Garderobe in der Ferne zu sehen
war. Dann schien er es sich anders zu überlegen. Vielleicht hatte er Angst, wegen einer
Unkenntnis über die Person des Bäckers ausgelacht zu werden. Nun bleib ihm nichts
anderes übrig, als auf die psychologische Gesprächsführung des Bäckers einzugehen.
Zaghaft gab er dem Bäcker zur Antwort: "Na ja, eigentlich noch nicht so lange."
"Und?", raunte der Bäcker, "wie schmeckt dir diese Arbeit, mein Kleiner? Macht der
König manchmal Ärger?"
Der königliche Garderobendiener schien sich zwar zu ärgern über die Bezeichnung
"Kleiner", die ihm der etwa dreißig Jahre ältere Bäcker zugute kommen ließ. Er wagte
es aber nicht, seinen Unmut darüber sichtbar werden zu lassen.
"Nun ja", sagte er, "klagen kann man eigentlich nicht, nur manchmal hat der König so
eine seltsame Einstellung bezüglich..."
Schon hatte der Bäcker seinen Kopf so geneigt, daß der Garderobendiener ihm bequem
etwas ins Ohr flüstern konnte. Der Bäcker lächelte verschmitzt und nickte allwissend
mit dem Kopf. "Tja ja ja ja, genau wie sein Vater, genau wie sein Vater. Aber trotzdem
gute Könige alle beide."
Sich ganz wie zu Hause fühlend, wies der Bäcker dem Garderobendiener einen Platz auf
einer Sitzgruppe zu. Sie setzten sich beide. Der Bäcker legte dem Garderobendiener den
Arm um die Schultern, sah ihm ernst in die Augen und raunte ihm mit Nachdruck zu:
"Was wir geredet haben, muß natürlich unter uns bleiben, capito? So mein Lieber, nun
wünsch' ich mir, daß du immer schön brav deinen Dienst für meinen König tust, und
keinen Ärger machst, klar? Aber nun sag' mir doch, mein Kleiner, wen heiratet denn der
Königssohn eigentlich, wer ist denn die Erwählte?"
Der Königliche Garderobendiener kam ins Schwitzen. Anscheinend durfte er den
Namen der Erwählten nicht nennen. Aber er wußte, daß er jetzt in der Falle saß, da er
mit dem Bäcker über den König getratscht hatte. Nun mußte er den Bäcker abspeisen,
damit dieser ihn nicht wiederum verpetzen würde.
"Mann", stöhnte er nervös. "Sie stellen vielleicht Fragen! Hören, Sie, Mann, wir
Garderobendiener dürfen das nicht verraten. Der König will nämlich selbst persönlich
die Braut vorstellen. Aber da es ja sowieso in ein paar Stunden alle wissen, will ich es
Ihnen sagen. Aber bitte verraten Sie es keinem weiter, vor der offiziellen Vorstellung.
Und sagen Sie ja nicht, daß ich es Ihnen verraten habe."
"Keine Sorge", versicherte der Bäcker, "Keine Sorge, mein Sohn, ich werde schweigen
wie ein Grab. Will ja deine Karriere nicht vermasseln."
Der königliche Garderobendiener sah sich sorgfältig um. Dann sagte er leise: "Also, der
Königssohn heiratet die Prinzessin Liesl von Westerreich."
Leise pfiff der Bäcker durch die Zähne. "Ach du liebes Bißchen! Die Liesl ist's also. Na,
war ja abzusehen. Die kannten sich ja schon als Kinder. Mann, konnte die aber trotzig
werden! Und die Ordentlichste war sie ja auch nicht. Eheprobleme wird's bestimmt
geben. Aber ein goldiges Paar, die beiden! So, so, die Liesl. Tja, ja, ja, die jungen Leute
eben! Da stürzen sie sich einfach so in eine Ehe... Nun, meinen Segen können sie
haben."
Verstohlen blickte der königliche Garderobendiener in eine Richtung, in der eine Tür
mit der Aufschrift "Festkleidung" zu sehen war. "So, und was wird jetzt mit der
Festkleidung?"
Der Bäcker hatte sich aufgestellt und sah den Garderobendiener von oben an.
"Darüber mach' du dir mal keine Gedanken, mein Kleiner. Ich bin nämlich ein guter
Freund vom König. Er kennt mich noch aus einer Zeit, vor deiner Einstellung, als ich
hier als Bäcker gearbeitet habe. Die Sache mit dem einheitlichen Festgewand ist ja
super. Da braucht sich keiner schlecht angezogen zu fühlen. Aber für mich diesmal
nicht. Ich möchte nämlich dem König eine Überraschung machen, und mich in
Bäckerkleidung zeigen, damit er mich gleich unter den vielen anderen Leuten erkennen
kann. So eine weiße Bäckermütze fällt ja sehr auf, da sieht er mich dann sofort. Ich habe
früher viel mit ihm persönlich gesprochen, auch in letzter Zeit noch, wenn ich an ihn
geliefert habe. Die Firma Sauerteig aus Pampenhausen ist dir ja sicherlich ein Begriff.
So, und nun wünsche ich dir viel Erfolg in deinem weiteren beruflichen Werdegang,
mein Kleiner! Vielleicht sehen wir uns mal wieder."
Langsam und genüßlich zog der Bäcker seine Bäckerkleidung an. Zuletzt setzte er sich
seine Bäckermütze auf und korrigierte sie auf ihren Sitz hin vor einem Spiegel. Dabei
ließ er sich ausgiebig Zeit. Der königliche Garderobendiener sah genervt auf seine Uhr
und auf die Menge, die sich vor dem königlichen Badezimmer angehäuft hatte. Endlich
schlurfte der Bäcker gemächlich und leise schmatzend auf eine Tür mit der Aufschrift
"Zum Festsaal" zu. Dabei brummelte er vor sich hin: "...So, so, die Liesl also..."
Leise zupfte der Engel Oskar am Ärmel. "Komm", sagte er, "wir wollen nun das Ganze
aus der Perspektive des Königs betrachten!" Ehe sich's Oskar versah, befanden sie sich
in einem Hinterraum, der durch eine Glaswand von einer riesigen Empore getrennt war.
Dahinter war ein noch gigantischerer Festsaal zu sehen, der mit Tausenden und
Abertausenden von ausladenden, üppig verzierten Kronleuchtern erhellt wurde.
"Die königliche Empore", erklärte der Engel leise. "Das Glas dieser Wand ist einseitig
dunkel verspiegelt, so daß man zwar aus diesem Hinterraum aus den gesamten Festsaal
gut überblicken kann, aber keiner vom Festsaal aus in den Hinterraum schauen kann."
Aus dem Festsaal drang himmlische Orgelmusik. Plötzlich trat der König aus einer
Seitentür in den Hinterraum. Oskar konnte seine Krone nicht lange ansehen, seine
unsichtbaren Augen schmerzten von ihrem Gefunkel und Glänzen. Der König begann,
nervös auf und ab zu laufen. Ab und zu warf er einen Blick durch die Glaswand zum
Festsaal hinunter. Der Festsaal füllte sich langsam mit Gästen. Er musterte sie mit
einem großen Fernglas. Da fühlte Oskar, wie ihm der Engel auch so ein Fernglas
zusteckte. Oskar sah hindurch, in die gleiche Richtung, in die auch der König sah. Er
konnte den Fleischer erblicken, der zum ersten Mal in seinem Leben himmlische
Orgelmusik zu hören schien. Er schien zu Tränen gerührt zu sein. Das königliche
Hochzeitsgewand stand ihm sehr gut, obwohl er ein wenig unbeholfen darin aussah.
Dann beobachtete Oskar den Schneider und den Klempner. Der Schneider begutachtete
das Gewand des Klempners und hielt den Mund halbgeöffnet vor Staunen. Plötzlich
bewegten sich alle Köpfe in eine Richtung. Oskar setzte das Fernglas ab, um sich zu
orientieren. Der König tat das Gleiche - und er und Oskar sahen einen winzigen weißen
Punkt in der Menge, der wie ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Schimmelfleck auf
einem alten Stück Fleisch aussah. Oskar ahnte schon, was dieses weiße Pünktchen zu
bedeuten hatte. Er richtete sein Fernglas auf das Pünktchen und sah den Bäcker mit
seiner weißen Bäckermütze. Um ihn herum bildete sich eine kreisförmige Leere, denn
jeder schien zu vermuten, es hier mit einem besonderen Gast zu tun zu haben, hatte er
doch ein anderes Gewand an als alle anderen. Jeder hielt respektvollen Abstand von
ihm.
Der König grollte leise. Auch er hatte den Schimmelpilz im Visier. "Der Bäcker
Sauerteig!", rief er aus, wandte sich um und sagte: "Diener bitte!" Sogleich kam ein
festlich herausgeputzter Hoflakai angetippelt. "Seine Exzellenz, zu Diensten!"
Ohne den Hoflakaien anzusehen, befahl er: "Er bringe sofort in Erfahrung, wie es der
Bäcker Sauerteig geschafft hat, an den Garderobendienern Seiner Exzellenz
vorbeizukommen mit seiner Bäckerkleidung! Und spute Er sich! Seine Exzellenz will
nun endlich das Fest beginnen können!
Der Hoflakai hauchte: "Sehr wohl, sehr wohl, gnädige Durchlaucht." Er verbeugte sich
mehrmals mechanisch und rannte los. Nach einer guten Weile kam er wieder, außer sich
vor Atem.
Kaum war er angekommen, da stürmte der König schon auf ihn ein: "Was konnte Er in
Erfahrung bringen?"
Der Hoflakai holte tief Luft und japste: "Seine Exzellenz... " Nochmals holte er tief
Luft.
Ungeduldig drängte der König: "Schieß Er endlich los! Wie ist der Bäcker in diesem
Aufzug in den Festsaal gekommen?"
Endlich konnte der Hoflakai wieder normal atmen. "Er hat einen unserer jüngeren
Garderobendiener so lange beschwatzt, bis dieser ihn ziehen hat lassen. Dieser Bäcker
behauptet, ein guter Freund von Seiner Exzellenz zu sein. Er hat sonst nichts gegen das
Festgewand, meint aber aufgrund seiner persönlichen Freundschaft mit Seiner Exzellenz
bestehen zu können vor Seiner Exzellenz, auch ohne Gewand, ja er meint gar, Seiner
Exzellenz durch seine Bäckerkleidung eine besondere Freude zu bereiten, könne doch
Seine Exzellenz ihn schneller und sicherer unter den anderen Gästen ausmachen
dadurch."
Schnell befahl der König: "Bring Er mir diesen Garderobendiener!"
Der Hoflakai hatte diesen schon vorsichtshalber mitkommen lassen und in einer Ecke
abgestellt. Nun winkte er ihm zu.
"Seine Exzellenz!" wimmerte der königliche Garderobendiener und warf sich vor dem
König auf die Knie.
Der König hieß ihn aufstehen und fragte ihn: "Sag' Er mir, wieso an diesem Bäcker der
königliche Befehl nicht ausgeführt wurde!"
In normalem Tonfall, aber mit deutlich spürbarer Angst, antwortete der
Garderobendiener: "Seine Exzellenz mögen mir vielmals verzeihen, ich habe mich sehr
betören lassen von besagtem Bäcker. Es soll nie wieder vorkommen."
"Dieser Bäcker scheint mit allen Tricks der psychologischen Gesprächsführung gut
vertraut zu sein," sagte der Hoflakai.
Wütend rief der König: "Dummes Zeug! Vor mir kann er so nicht bestehen. So sieht er
aus wie der Bäcker Sauerteig, dem wir als Kinder immer Streiche gespielt haben, und
nicht wie ein von mir zur Hochzeit Eingeladener. Dies ist ein Hochzeitsfest und keine
Familienfeier. Alle sollen aussehen, wie von mir Begnadigte, und nicht wie selbst
Eingeladene. Mit Leuten, die Bedingungen stellen, wie und wann sie kommen können
auf dieses Fest, habe ich nun ein für alle Male genug. Da hatte ich schon mit den
Königshausenern genug Ärger: Einer wollte erst sein Geschäft abwickeln. Der nächste
mußte erst die Kühe melken. Davon habe ich ein für alle Male genug. Und nun kommt
dieser Sauerteig und setzt allem noch die Spitze auf, indem er eine Extrawurst haben
will in Sachen Festkleidung! Jetzt reicht's. Ich kann es nicht dulden, daß auf dem
Hochzeitsfest meines Sohnes unsere Vergangenheit aufgetischt wird, auch nicht durch
den lieben Bäcker Sauerteig. Jeder soll so gekleidet sein, als gäbe es keine
Vergangenheit, sondern nur JETZT und HEUTE und dieses JETZT und HEUTE soll
eben schön sein! Da haben wir keine Zeit für Anekdoten aus der Vergangenheit der
Königsfamilie, aus der Zeit, bevor wir diese Backmaschine angeschafft haben. Dadurch
wird alles nur ins Lächerliche gezogen und andere kommen sich benachteiligt vor, weil
sie nicht solche Geschichten auftischen können. Wir müssen unbedingt diesen Bäcker
rausholen aus der Menge, hört Er?"
Weinerlich zeterte der Hoflakai: "Er läßt sich nicht herausholen, alles Zureden ist
umsonst."
Entschlossen brüstete sich der König: "Dann werde ICH ihn eben rausschmeißen!"
Mit zitternden Händen in bescheidenem Luftraum gestikulierend, wagte der Hoflakai zu
stottern: "Seine Exzellenz mögen bedenken... wie häßlich diese Sache wirken möge,...
so vor allen,... immerhin handelt es sich... um einen ehemaligen Hofangestellten,... der
Ruf des Hofes könnte... geschädigt werden durch eine übereilte Tat!"
Freundlich blinzelte der König dem zitternden Hoflakaien zu. "Häßlich, ja häßlich wird
es wirken! Und das Auftreten Sauerteigs, wirkt das nicht etwa auch häßlich? Dieses
Anbiedern an Seine Exzellenz, dieses Auftrumpfen mit persönlichem Vorteil! Fürwahr,
DADURCH wird der Ruf des Hofes geschädigt! Es darf nicht sein, daß andere den
falschen Eindruck bekommen, wir spielten eine doppelte Moral: Ein einheitliches
Gewand für die einen, ein eigenes Gewand für die speziellen Freunde! Das darf nicht
sein. Dadurch wird das Ansehen der anderen in den Dreck gezogen und die
Unwiderrufbarkeit des königlichen Gesetzes in Frage gestellt. Als wenn wir etwas
befehlen würden, und dann doch Ausnahmen gestatten! Nein, das darf nicht sein! Wenn
wir nicht auch bei den Freunden konsequent sind, wie können wir dann von den neu
Dazugewonnenen ernst genommen werden?"
Der König zog ein trompetenförmiges Megaphon aus einer Schublade. Nun öffnete er
eine unsichtbare Tür in der Glaswand und betrat die Empore. Den nun hörbaren
Jubelrufen nach zu schließen, wurde er jetzt von allen gesehen und gehört.
Laut dröhnte die Stimme des Königs durch das Trompeten-Megaphon. "Hallo
Sauerteig, mein lieber Freund, hörst du mich? Sag' mal, wie hast du es geschafft, hier
herein zu kommen ohne hochzeitliches Festgewand?"
Es herrschte einige Sekunden lang peinliche Stille. Alle hielten den Atem an. Die
Erscheinung des Königs, seine peinliche Frage und die Spannung, was geschehen
würde, ließen alle verstummen.
Plötzlich bekam der König einen hochroten Kopf. Er brüllte mit aller Kraft in die
Megaphon-Trompete: "Hofdiener! Lakaien! Garderobe! Wachen! Los, schnappt euch
diesen Bäcker und fesselt ihn und werft ihn in die äußerste Finsternis hinaus! Na los,
was ist? Auf, schnappt ihn euch!"
Entsetzt und fasziniert verfolgte Oskar, wie die Wachen hinter dem Bäcker herrannten,
der verzweifelt versucht hatte, das Weite zu suchen. Wie ein gefangenes Reh wand er
sich schließlich unter ihren Händen. Oskar merkte überhaupt nicht, daß er plötzlich auch
auf der Empore stand, sosehr war er von der Szene fasziniert. Dieser Bäcker war ja
schon ein krummer Hund. Aber dieser endgültige, absolute Zorn des Königs ließ ihn
doch selbst erzittern. Damit hatte Oskar nicht gerechnet. Er biß sich auf seine
unsichtbare Zunge, als sich plötzlich über dem Festsaal, dessen Decke mit den
prächtigen Kristalleuchtern nun zur Seite geschoben war, ein riesiger, pechschwarzer
Abgrund auftat, wie das grinsende Maul eines Seeungeheuers. Eisige Kälte sackte in
den Festsaal hinab. Ein grausiger Wind pfiff fürchterlich. Oskars unsichtbare Haare
standen zu Berge. Er klapperte mit seinen unsichtbaren Knien und spürte seine
unsichtbare Kopfhaut nicht mehr. Da! Jetzt ließen die Wächter den gefesselten Bäcker
los. Wie von einem Magneten angezogen, stieg er in den grausigen Abgrund hinauf.
Immer kleiner wurde er, wie eine Kupfermünze, die man in einen tiefen Brunnen wirft.
Schon war er nicht mehr zu sehen. Aber was war das? Ruckartig verspürte Oskar, wie
etwas an ihm zog. Er wurde auf einmal ganz leicht und begann zu schweben. Entsetzt
sah er sich nach einer Haltemöglichkeit um. Es mußte doch etwas geben, eine Brüstung,
eine Lampe! Immer schneller stieg Oskar zur Decke hinauf. Laut schrie er "Neiiin!
Nicht mich auch! Ich bin doch nur Zuschauer! Neiiiin! Laßt mich herunter!" Aber da
war es schon geschehen. Oskar fiel und fiel in den fürchterlichen, schwarzen Rachen
hinauf. Er fiel und fiel und fiel... .
Neuroplast
"Nein! Nein! Nicht mich! Haltet mich fest!" Oskar wachte zappelnd und
schweißgebadet auf. "Oskar, welch ein Glück, du bist zu dir gekommen!", rief eine
wohlvertraute Frauenstimme. "Oskar, mein Oskarlein, wie fühlst du dich, kannst du
mich sehen und hören?" Oskar war froh, seine Frau neben dem Bett sitzen zu sehen.
Trotzdem hielt er immer noch den Metallrahmen des Bettes umklammert.
"Ja, ich kann dich sehen, Gerdalein. Aber was ist passiert? Wo bin ich?" Oskars
verkrampfte Hände begannen sich langsam von dem kalten Metall zu lösen. Im
Hintergrund ein Oskar geläufiges schnurpsendes Geräusch. Sicherheitsgeprüfte
Gummiräder, die auf glänzendem Linoleum ihren unscheinbaren Beitrag zur
pünktlichen Ausführung des gewohnten Dienstplanes beitrugen, Tag für Tag. Das
Klappern von Geschirr.
"Hörst du, Oskarlein, jetzt kommt auch das Essen. Du hast bestimmt großen Hunger!
Du darfst dich jetzt nicht aufregen, sondern mußt etwas zu dir nehmen. Warte, ich stelle
dir das Bett hoch. So. Ist's so angenehm?"
Oskar spürte einen stechenden Schmerz im Brustkorb. Nun bemerkte er, daß er ziemlich
viel weißes Verbandszeug an sich trug. Er war froh, seine Arme einigermaßen frei
bewegen zu können. Trotz der ziehenden Schmerzen genoß er es, zu spüren, wie das
Essen langsam die ebenfalls leicht schmerzende Speiseröhre hinunterglitt.
"Laß' es dir erst einmal gut schmecken, Schatz. Mach' dir keine Sorgen. Spätestens in
acht Wochen bist du wieder zu Hause."
Oskar prustete laut los und verschluckte sich.
"ACHT Wochen? Sind die denn noch zu retten? Was wird mit meiner zweiten
Doktorarbeit? Im Juni sollte sie fertig sein! Und die Verträge mit Neuroplast... ! Ach du
grüne Neune, was ist überhaupt passiert? Ich war doch unterwegs zu Neuroplast! Was
haben die denn gesagt, wegen meiner Forschungsarbeit? Wollen sie sie immer noch
aufkaufen? Hast du etwas in Erfahrung bringen können?"
Gerda lächelte verlegen und zuckte mit den Achseln.
"Sei bitte nicht böse, Oskarlein. Ich habe die Telefonnummer nicht finden können. Es
gibt so viele Neuroplast-Filialen im Großraum Paris. Wie sollte ich da die richtige
finden können? Bestimmt melden die sich noch..."
Oskar wurde wütend und wollte etwas sagen, spürte aber einen stechenden Schmerz in
der Lunge und sank erschreckt zusammen, wie jemand, der einen elektrischen Schlag
bekommen hat.
"Ist es schlimm mit mir?" röchelte er
"Oskar, mein Oskar, mein Schatzilein. Du glaubst ja gar nicht, wie froh ich bin, daß du
zu dir gekommen bist. Stell' dir vor, im Rettungswagen warst du sogar sieben Sekunden
lang klinisch tot. Dann diese lange Bewußtlosigkeit. Aber die Ärzte sagten mir, du
würdest heute wieder zu dir kommen. Du hattest mehrere Rippen gebrochen. Auch an
der Lunge haben sie etwas machen müssen. Und dann hattest du noch eine
Gehirnerschütterung, Platzwunden an der Kopfhaut, einen Schlüsselbeinbruch von
diesen Autogurten und verschiedene andere Verletzungen. Ich mag gar nicht alles
aufzählen. Aber die Polizei meinte, du hättest unglaubliches Glück im Unglück gehabt.
Du warst übrigens nicht Schuld an dem Unfall. Von einer Planierwalze hatte sich die
Bremse gelöst. Diese Walze war dann auf die Fahrbahn gerollt. Stell' dir vor, was alles
passieren kann. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich habe richtige Angst vor dem
Autofahren bekommen. Ach, Oskar, wie schön, daß dir nichts Schlimmeres passiert ist
dabei."
Oskar starrte mit großen, ungläubigen Augen auf einen Gips an seinem Fuß.
"Ja, ich denke, es ist tatsächlich besser, du zählst nicht alles auf. Ich kann mir ja die Zeit
damit vertreiben, nach und nach alles selbst herauszufinden." witzelte Oskar.
"Ach, mein Oskar, nie verlierst du deinen Humor. Aber sag mal, was hast du denn
Schlimmes geträumt, gerade vorhin? Sei mal ehrlich, hattest du nicht am Ende selbst so
ein komisches Engelerlebnis, von dem manche klinisch Totgewesene berichten? Du
mußt es ja nicht der Öffentlichkeit erzählen. Sag es nur mir, ich sage es niemandem
weiter! Ich versprech's dir."
Oskar dachte scharf nach und versuchte, in sich ein Gefühl der Stille zu erzeugen, mit
dem er die tiefstmöglichsten Zonen seines Unterbewußtseins ausloten könnte.
"Nein, von Engeln keine Spur. Nur so eine Art Ozean, in den man versenkt wird, immer
tiefer und tiefer. Es wird immer dunkler und dunkler. Man spürt, wie einem die Luft
abgeschnürt wird. Und dann so ein merkwürdiger Fall nach oben. Man steigt wieder auf
und möchte unten bleiben. Komisch ist das. Mann, bin ich froh, wieder atmen und
lebendig sein zu können."
Gerda hatte mit zitternden Händen vor dem Mund und gebanntem Blick zugehört. Nun
umfaßte sie Oskars Hände.
"Schrecklich, Oskar, was du alles durchmachen mußtest. Nun wollen wir uns freuen,
daß du bald wieder normal leben kannst."
Kokett blinzelte Gerda ihren Mann an.
"Rate 'mal, was ich in der Zwischenzeit gemacht habe?"
Oskar ahnte Übles.
"Ich habe dein Arbeitszimmer sauber gemacht. Richtig nett sieht es nun darin aus. Es
war furchtbar viel Staub überall. Sei nicht besorgt, ich habe alles wieder so hingelegt,
wie es lag. Freust du dich?"
Oskar war zu schwach, um Einwände zu bekunden. Er drückte seiner Frau die Hände,
lächelte müde und fiel augenblicklich in einen schweren, bleiernen Schlaf.
Das Buch
"Zweizung, der alte Quacksalber! Die ahnen nicht, auf was sie sich einlassen, diese
Neuroplast-Einkäufer! Das wird ein böses Erwachen geben. Aber wart's ab, du
Füchschen, dir werde ich die Rechnung durchkreuzen! Gerda, mach’ mir bitte ein
Butterbrot fertig. Ich komme heute nicht zum Mittagessen. Ich habe einiges zu tun in
der Bücherei. Du weißt schon, wegen dieser Zeitungsausgabe, die ich nicht mehr finde
in meinem Arbeitszimmer. Wahrscheinlich hatte ich sie sowieso schon weggeworfen.
Aber wozu gibt es die Zeitungsarchive in der Universität? Wäre doch gelacht, wenn ich
diesem kriminellen Pfuscher nicht das Handwerk legen könnte."
Oskar packte das Butterbrot in seine Aktentasche und humpelte hinaus zu seinem
funkelnagelneuen Auto.
Trotz seiner Ungeduld fuhr Oskar langsam und vorsichtig, obwohl diesmal weit und
breit keine Planierwalzen zu sehen waren.
In der Universitätsbücherei herrschte wie immer geschäftiges Treiben.
"Wo haben die bloß die Abteilung für Neurologie hinverlegt?", brummte Oskar vor sich
hin und musterte einen Lageplan neben einem Aufzug. "Schon lange nicht mehr hier
gewesen."
Verdutzt blieb er an einem Hinweisschild stehen: "Gesperrt wegen
Renovierungsarbeiten. Durchgang zu den Bereichen Neurologie-Psychiatrie bitte Gang
S 3 benutzen, einen Stock tiefer".
Endlich fand Oskar den Gang S 3. "Geisteswissenschaften r230 - z, Theologie a - f339"
stand auf der Glastür, die zu diesem Gang führte.
Hastig schleppte sich Oskar weiter. Aber was sah er da?
"Verdammt, da hinten kommt dieser Zweizung. Er darf mich nicht sehen. Sonst weiß er,
warum ich hier bin", dachte Oskar.
Schnell versteckte er sich zwischen zwei Bücherregalen, die mit goldschriftverzierten
Bänden beladen waren. Zweizung kam näher. Er schien Oskar nicht bemerkt zu haben.
Oskar schnappte sich einen der alten Bände, drehte sich mit dem Rücken zum Gang und
steckte seine Nase tief in das alte Buch. Es roch ziemlich muffig, wie eben antiquarische
Bücher riechen. "Oscar Fidelius. Von der wahren Menschlichkeit. Königlich
niederländische Hofdruckerei, 1821. Übersetzt von Justus Hurtig zu Marburg, 1831"
stand in verschnörkelten Frakturlettern auf der gewellten und mit braunen Flecken
übersäten Titelinnenseite. Eine Radierung von einem beleibten Mann mit dicken
Brillengläsern war auf der gegenüberliegenden Seite abgedruckt. "Oskar Fidelius 1787-1846" stand darunter. Einen Augenblick lang fühlte sich Oskar merkwürdig
angezogen von dem freundlichen, bescheiden lächelnden Mann. Es war ihm, als wenn
dieser Namensvetter aus einer versunkenen Zeit ihn gut kennen würde, alles über ihn zu
wissen schien. Die kleinen dunklen Augen unter den buschigen Brauen schienen ihm
zuzuzwinkern und zu sagen: "Sei getrost, Oskar. Böse Menschen werden es nicht in die
Länge treiben können." Irritiert blätterte Oskar weiter in dem Buch. Wie ein elektrischer
Schlag durchfuhr es ihn, als er unmittelbar darauf eine Hand auf seiner Schulter
verspürte.
"Sieh' mal an, mein alter Kollege, der Herr Linnewitz." Oskar kannte diese näselnde
Stimme, diesen hämischen Tonfall nur zu gut.
"Zweizung! Sie, Sie, Sie... !" Nur mühsam konnte Oskar sich beherrschen.
"Seit wann sind Sie denn an Theologie interessiert? Sie wollen doch nicht etwa Beweise
für ihre kritischen Untersuchungen von Berichten klinisch Toter suchen? Sind sie da bei
den Theologen nicht eher an der falschen Adresse?"
Oskar rang nach Luft und löste seine Krawatte ein wenig.
"Ja, warum denn eigentlich nicht?", entgegnete er mit der Trotzigkeit eines in die Ecke
Getriebenen. "Wahre Wissenschaftler brauchen sich nicht vor den Argumenten der
Gegenseite zu fürchten. WIR können den Vertretern der von uns dementierten These
ruhig in die Augen sehen. Nur Quacksalber müssen sich fürchten vor Kritik und werden
versuchen, alle diejenigen Beweise zu vertuschen, durch die ihre unseriöse
Vorgehensweise aufgedeckt werden könnte!"
Zweizung lachte leise und spöttisch.
"Oho, hört hört, WIR, die wahren Wissenschaftler, WIR, die Doktores von Linnewitz!
Sehr seriös, die Herren Doktores! Erlauben Sie mal, was haben Sie denn da für ein
interessantes Buch?"
Oskar war der Titel des Buches vor Schreck entfallen. Er setzte seine zerstreuteste
Gelehrtenmiene auf und linste verstohlen auf eine lateinische Fußnote, die sich auf der
Seite befand, die er zufällig aufgeschlagen hatte: "Ecce Homo".
"Nun, es geht um eine reine Hintergrundsanalyse. Um die kulturelle Konditionierung
besser verstehen zu können, die der Grund für die sich so sehr gleichenden Berichte
klinisch Toter zu sein scheint. Hier in diesem Buch geht es um das Menschenbild der
verschiedenen Religionen. Sehen Sie, hier zum Beispiel,..."
Oskar freute sich über den Eindruck, den er bei Zweizung für seinen geblufften
mühelosen Umgang mit einer für ihn fremden Materie hinterlassen würde und blätterte
mit der gelassenen Treffsicherheit eines universalliterarisch versierten
Dokumentenforschers in dem Buch weiter.
"Sehen Sie, hier. Hier wird zum Beispiel die wahre Menschlichkeit von einer
gekünstelten, frommen Menschlichkeit unterschieden. Das ist ein interessanter
Standpunkt für einen Diener der Kirche. Natürlich befindet er sich mit seinen
Erkenntnissen in der Minderheit unter seinesgleichen. Aber für meine
Gegenbeweisführung stellen diese Gedankengänge ein fruchtbares intellektuelles
Ferment dar."
Oskar klappte die schweren, mit Leder eingebundenen Buchdeckel zusammen und hielt
das Buch wie einen Schatz, nach dem er lange geforscht hatte, triumphierend vor sich
hin, als ob er seinen Wert schätzen wollte. Er schwenkte seine Zunge unter der
Unterlippe hin und her und klopfte allwissend mit den Fingern auf den Buchrücken.
"Dieses Buch kann man natürlich nicht so einfach mir nichts dir nichts ausleihen, wie
gewisse neuartige, populärmedizinische, den Markt überflutende Schundliteratur. Sehen
Sie, es hat einen roten Punkt auf dem Buchrücken. Ich werde das ganze Buch kopieren
lassen."
Zweizung hatte seinen Mund zu einem spitzen, spöttischen Schnäbelchen verformt.
"Und nun wollen SIE wohl den Markt erobern, mit dieser - wahren Menschlichkeit?"
Oskar verstaute das Buch in dem Tragekorb, den er am Eingang der Bibliothek
mitgenommen hatte. Nun schüttelte er den Kopf und schlug die Hände zusammen.
"Also, diese Ausdrücke - den Markt erobern, Gewinne erzielen, die Konkurrenz
besiegen. Ein rechtschaffener Arzt, der noch etwas auf den Eid des Hippokrates hält, ist
nicht an schnödem Gewinn interessiert. Wissen Sie - es mag überheblich klingen, aber
ein Stück weit ist jeder ernsthafte Wissenschaftler ein unverbesserlicher Idealist. Nur
gewissenlose Pfuscher wollen sich durch Anbiederung an die in hartem
Konkurrenzkampf befindliche Pharmaindustrie ihr Taschengeld aufbessern. Denen
verkaufen sie dann das, was gerade im Trend liegt, auf diesem Markt!"
Zweizung kniff die Augen böse zusammen und starrte Oskar an wie ein Habicht.
"Was liegt denn ihrer Meinung nach im Trend?"
Oskar ignorierte die Reaktion Zweizungs und fuhr gelassen und mit gespielter
Ahnungslosigkeit fort:
"Nun ja, was sich eben leicht und schnell vertreiben läßt. Die Nebenwirkungen sind da
Nebensache. Auf die Erstwirkung kommt es an. Da gibt es zum Beispiel gewisse
Neuroleptika, die schnell wirken, sich billig in kleinen, rosaroten Kügelchen dosieren
lassen - und den Menschen in ein hilfloses Wrack verwandeln. Wie praktisch - hat man
die Persönlichkeit des Menschen damit zerstört, kann sich dieser nicht mehr wehren und
stellt keine Gefahr da für den Hersteller! Und die Ärzte haben weniger Arbeit. Alle sind
zufrieden und glücklich."
Zweizung wollte das Spiel nicht länger mitspielen.
"Herr Dr. Linnewitz. Jetzt hören Sie mal gut zu. Meine Neuroleptika sind gute Ware!
Deswegen hat Neuroplast sie auch gekauft. Und nicht ihre sanften Alpha-Beta-Drossler.
Die können Sie meinetwegen selbst vertreiben. Vielleicht glaubt ja jemand an ihren
Effekt und wird schön trandüselig davon, wenn er sich ganz fest darauf konzentriert.
Neuroplast jedenfalls hat sich auf die Bedürfnisse der Anstalten eingestellt und
bewährte Zweizung-Forschung aufgekauft. Damit müssen Sie sich nun einmal abfinden.
Studieren Sie meinetwegen Theologie. Vielleicht können Sie damit Geld machen.
Zwischen mir und Ihnen jedenfalls ist das Neuroplast-Rennen nun ein für allemal
gelaufen. Es wäre auch ohne Ihren bedauerlichen Unfall so gekommen, glauben Sie
mir."
Oskar drückte seinen Brustkorb nach vorne, so gut es ging, bei den Schmerzen, die er
immer noch hatte, schob seinen Unterkiefer vor und stellte sich herausfordernd vor
Zweizung auf.
"Bewährte Zweizung-Forschung! Lobotomie der fünfziger Jahre! Weggeätzte
Cortexfelder! Wir werden ja sehen, was für Probleme Neuroplast bekommt mit der
bewährten Ware des Herrn Zweizung! Mir tun schon die Fische leid, die das Zeug durch
die Kanalisation abbekommen werden, wenn Neuroplast seine Lagerhallen ausmisten
muß. Außerdem ist das Rennen noch nicht gelaufen. Ich werde Neuroplast umstimmen.
Verlassen Sie sich drauf."
Zweizung grinste gelassen.
"Ich muß jetzt weiter. War nett, Sie wieder einmal zu treffen. Ach, übrigens - falls Sie
heute noch in die neurologische Abteilung wollen - bemühen Sie sich nicht, die
Ausgabe Nr. 3/94 vom Neurology World Report auszukramen. Ich habe dafür gesorgt,
daß man diese Ausgabe derzeit in keiner Bibliothek in Europa und den USA bekommt.
Es soll keiner auf die Idee kommen, die Neuroplast Ingenieure durch gewisse
populärmedizinische Boulevardpresse-Anschwärzungen verunsichern zu können. Sie
sind ja bestimmt meiner Meinung in dieser Sache - oder etwa nicht? Nun, wie dem auch
sei, ich sehe, Sie haben ja sowieso schon anderweitig Lesestoff gefunden. Machen Sie's
gut. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Erweitern Ihres Horizontes und weiterhin gute
Besserung."
Oskar war es, als wenn ihm jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf
geschüttet hatte. Wie gelähmt blieb er stehen, während Zweizung mit der gespielten
Etikette eines Doppelspions zum Aufzug turtelte.
"Irgendwann krieg' ich dich. Dann bist du dran, das schwör' ich dir." zischte Oskar
wütend durch seine Zähne.
Rationalismus
"Achtung! Achtung! Sonderfahrt nach Evian-les-Bains in fünf Minuten! Ich wiederhole:
In fünf Minuten Abfahrt nach Evian-les-Bains! Bitte einsteigen! Es können auch Karten
auf dem Schiff gekauft werden!" Ein lautes Hupsignal des weißen Touristendampfers
unterstrich die Ansage wirkungsvoll.
"Eine prima Idee von dir, zusammen hierher in Urlaub zu fahren, Oskar. Dieser See ist
wirklich eine Perle Europas. Meine Irene versteht sich ausgezeichnet mit deiner Gerda beide haben Angst vor einer Bootsfahrt. Aber es gibt ja noch die Promenade. Dort
können sie nach Herzenslust alle Cafés ausprobieren. Und wir können mal wieder als
alte Freunde unter uns sein."
"Ja, Henri. Schau, dort oben haben sie sich schon einen Terassenplatz erobert. Jetzt
winken sie. Nein, nicht die Terasse mit den roten Schirmen. Weiter rechts, die mit den
gelb-braun gestreiften Jalousien."
Gemeinsam winkten die beiden Männer ihren Frauen zu. Langsam und schwerfällig
drehte sich der Dampfer in die andere Richtung. Grünes Wasser wurde aufgewirbelt und
dabei mit Myriaden von weißen Luftblasen und Schaumkrönchen vermischt.
Oskar richtete sein Fernglas auf den Gipfel des Grammont. Danach erspähte er eine
Villa am französischen Ufer.
"So eine Villa müßte man haben."
Er reichte Henri das Fernglas und erklärte ihm, wo die Villa zu sehen war.
"Wer weiß, Oskar, vielleicht kommst du am Ende noch schneller dazu, wie du meinst.
Eigentlich könntest du dich ja schon früher zur Ruhe setzen. Du könntest mit deiner
Forschungsarbeit aufhören und statt dessen hin und wieder ein neues Buch schreiben.
So eine Villa wäre genau das richtige Ambiente dafür."
Oskar hielt seine Hand über den Augen und blinzelte auf die in der Sonne funkelnden
Wellen.
"Ja, Henri. Aber ich muß unter Leuten bleiben können. Wenn ich daran denke, in was
für Bahnen die neurologische Forschung geraten könnte, wenn ich nicht mit meiner
Stiftung immer wieder Druck gegen gewissenlose Herumschnippler und
Drogenpanscher machen würde. Für die sind die Menschen ja nichts weiter als
Laborratten, formbares und biegbares Biomaterial, vor dem man sich nicht zu
verantworten braucht. Ich kann mich jetzt nicht einfach aus der Affäre ziehen. Es gibt
noch zu viel zu tun."
"Wie hat sich eigentlich dein erstes Buch verkauft, das, in dem du die Berichte klinisch
Toter kritisch analysiert hattest? Ich kann mich noch daran erinnern, wie du fieberhaft
an diesem Buch gearbeitet hattest. Danach trennten sich dann unsere Wege und wir
haben lange Zeit nichts mehr voneinander gehört."
"Ja, das ist schade. Wir sind beide keine passionierten Briefschreiber. Also, dieses
Buch. Nun ja, verkauft hat es sich nicht besonders. Die Leute wollten eben gerne an
diese Engelsgeschichten glauben. Um eine Gegendarstellung aus wissenschaftlicher
Sicht reißen sich die Leute da auch heute nicht besonders. Wenigstens konnte ich unter
Insidern etwas Gehör finden. Aber davon abgesehen halte ich auch selbst nicht mehr so
wahnsinnig viel von diesem Buch."
Henri hatte damit begonnen, einigen kreischenden Möwen Brotbröcklein zuzuwerfen.
Jetzt unterbrach er die Fütterung, wandte sich Oskar erstaunt zu und hielt die Brottüte
mit einer Faust verschlossen.
"Soll das heißen, daß du am Ende selbst an Engel glaubst?"
"Nun ja, gesehen habe ich natürlich keine. Aber die Sache mit dem Glauben an Engel
kann nicht so einfach ad acta gelegt werden, wie das manche meinen. Es handelt sich
um ein Problem, das aus mehrdimensionaler Sicht durchdacht und beurteilt werden
muß. Wie du ja weißt, wir Neurologen können selbst viele Vorgänge des Gehirns nicht
erklären, jedenfalls nicht mit technischen Geräten oder chemischen Untersuchungen. In
letzter Konsequenz können wir uns nicht erklären WARUM das menschliche Gehirn
überhaupt funktioniert, wenn wir auch vieles zu dem WIE seines Funktionierens
nachweisen können. Genauso ist das auch mit den Engeln."
Henri hatte den Kopf auf eine Schulter gelegt und überlegte.
"Interessant. Wie bist ausgerechnet du zu dieser Haltung gekommen?"
"Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich lag damals im Streit mit diesem Quacksalber
Zweizung. Der hatte mir doch tatsächlich einen lukrativen Auftrag mit dem Neuroplast
Pharmakonzern vor der Nase weggeschnappt. Zuerst wollten die Neuroplast-Einkäufer
mit mir ins Gespräch kommen. Dann hatte ich diesen schrecklichen Unfall, du weißt
schon, damals, vor sechs Jahren. Ich wollte natürlich Neuroplast die wissenschaftliche
Bewertung der höchst zweifelhaften Grundlagen der Zweizung-Forschung unter die
Nase halten. Zweizung hatte aber alle Beweise verschwinden lassen. Über eine
Medizinervereinigung in Australien bin ich dann schließlich doch an Beweise
herangekommen. Diese Berichte über Zweizung waren ja weltweit veröffentlicht
worden. Aber es war zu spät. Neuroplast hatte schon zuviel investiert und wollte weiter
mit Zweizung fahren. Es kam, wie es kommen mußte: Patienten fielen ins Koma,
verloren ihre Erinnerung, wurden gelähmt. Skandale, Obduktionen, Gutachten,
Gerichtsverfahren, Beschlagnahmung der Medikamente. Neuroplast kam damals schwer
in Verruf und hat sich in mehrere kleine Betriebe aufgeteilt, die nun unter anderen
Namen weiterproduzieren. Aber aus der Neuroleptika-Branche sind die jetzt ganz
draußen. So ein heißes Eisen rühren die nicht mehr an. Sie würden auch kaum noch eine
Zulassung für so etwas bekommen. Zweizung, dieser alte Fuchs, hat natürlich
rechtzeitig Lunte gerochen und konnte sich auf eine Pazifikinsel absetzen. Dort bohrt er
jetzt Löcher in Kokosnüsse statt in menschliche Schädel. Inmitten all dieser Wirren bin
ich bei meinen Gängen durch die Bibliothek durch Zufall auf ein theologisches Buch
gestoßen. Ich fand das Buch ganz aufregend. Es war richtig spannend. Der Schreiber
dieses Buches war ein unerbittlicher Logiker, ganz anders, als ich mir bis dahin
Theologen vorgestellt hatte. Er konnte einen Gedanken bis zur letzten Konsequenz
durchdenken. Dabei war er mit sich selbst gnadenlos. Eine Spur von einer
unaufrichtigen Motivation zu einer Argumentationsführung, ein Hauch von einem
Widerspruch und - schwups! wickelte er wieder alles von vorne auf. Er hatte keinerlei
Scheu, sich selbst, die Kirchen, ja die ganze Theologie hypothetisch zu Lügnern zu
machen und bewies dann aus einer ganz erhabenen Vogelperspektive wieder deren
Glaubwürdigkeit, nachdem er ihnen alle überflüssigen Federn unbegründeter
Anmaßung ausgerupft hatte. Es ist mir dabei klar geworden, wie unlogisch wir
Wissenschaftler, die wir uns immer so mit rationalem Denken brüsten, eigentlich sind.
Wir sind wie Maulwürfe, für die die Erdkruste das Universum ist, weil sie nichts
anderes richtig sehen können. So wurde ich also von diesem Buch herausgefordert und
legte mir sozusagen die Theologie nach und nach als ein Hobby zu. Das erste Buch warf
Fragen auf, und so las ich ein zweites, dann ein drittes und so weiter. Mittlerweile habe
ich eine richtige kleine Bibliothek nur mit solchen Büchern."
"Huch!", lachte Henri und patschte mit seiner Hand auf seinen Oberschenkel. "Der
Atheist Oskar von Linnewitz liest heimlich theologische Bücher! Willst du am Ende
auch einen Doktor in Theologie machen?"
"Nein. Dazu bin ich zu alt. Außerdem habe ich zuviel Verantwortung in meinem
Bereich. Aber von Verheimlichung keine Spur. Ich stehe zu den Erkenntnissen, die ich
durch meine Beschäftigung mit der Theologie gewonnen habe. Du mußt nur einmal
mein neues Buch lesen. Ich werde dir heute abend ein Exemplar geben. Ich habe
nämlich immer ein paar bei mir, wenn ich verreise."
"Na, da bin ich ja gespannt wie ein Flitzebogen. Aber Oskar, nun sag' mir doch einmal,
glaubst du nun eigentlich an Engel, oder nicht?"
Oskar hatte sich ein wenig aufgerichtet und winkte einer Gruppe von Kindern zu, die
auf einem kleinen Segelboot ganz nahe an dem Dampfer vorbeiglitten. Danach machte
er es sich wieder auf dem weißen Plastiksessel bequem.
"Nun ja, das mit dem Glauben an die Engel ist auch so eine interessante Sache. Ist es
nicht merkwürdig, mein lieber Henri, daß gerade heute immer mehr Menschen wieder
an Engel glauben? Dies war ja nun beileibe nicht immer so. Man muß nur ein wenig in
die Geschichte des Engelsglaubens hineinsehen. Im Mittelalter zum Beispiel war es
ganz extrem. Alle nicht von Menschen beeinflußbaren Naturerscheinungen;
Katastrophen, Seuchen, Bewegungen der Sterne, und so weiter, wurden damals auf die
Aktivität von Engeln zurückgeführt. Dann im neunzehnten Jahrhundert kam das andere
Extrem: Der Glaube an Engel verlor mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis
immer mehr an Boden. Man konnte die Ursachen von Naturerscheinungen nachmessen,
beweisen und unter dem Mikroskop, vermittels von Ferngläsern und auf dem
Papierstreifen des Seismographen sichtbar machen. Die Engel dagegen ließen sich nicht
auf Anhieb, auf Kommando sichtbar machen. So wurde der Glaube an sie in die
hinterste Ecke eines Dachbodens verbannt. Dieser Dachboden hatte eine Aufschrift an
seiner Tür: "Abendländische Mythologie", stand darauf. Engel seien nichts weiter als
bildhafte Konkretisierungen menschlichen Wunschdenkens."
"Sozusagen eine christlich-religiöse Version des Weihnachtsmanns oder der guten
Märchenfee", ergänzte Henri.
"Ganz genau. Und wie läßt es sich nun aber erklären, daß ausgerechnet in unserer
hochtechnisierten Zeit der Glaube an Engel wieder zunimmt? Sind diejenigen, die an
Engel glauben, alle ausnahmslos mit den Nerven fertig, oder auf dem Sterbebett oder
Scharlatane, die anderen das Geld aus den Taschen ziehen wollen mit ihren
"Engelsoffenbarungen"? Oder haben wir es mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu
tun, das unabhängig von den subjektiven Grenzerfahrungen Einzelner sich in unseren
Gesellschaften abspielt und für das man sozialpsychologische Erwägungen heranziehen
kann? Das Verwunderliche bei der heutigen Entwicklung ist ja nicht, daß einige
Menschen von Erfahrungen mit Engeln berichten. Dies hat es ja schon immer gegeben.
Neu ist, daß diesen Menschen immer mehr Glauben geschenkt wird. Einige ScienceFiction-Anhänger spekulieren sogar über eine in der Zukunft mögliche
wissenschaftliche Erklärung für die Engel: Sie könnten Wesen aus Antimaterie sein.
Man ist also in der heutigen Zeit eher bereit, krampfhaft nach Erklärungen für die Engel
zu suchen und nach jedem Grashalm zu greifen, der einen hier weiterzubringen scheint,
als von vornherein die Existenz der Engel zu verneinen."
"Was diese frechen Möwen anbetrifft, die zweifeln keinen Deut daran, daß in dieser
Tüte Brot existiert!", witzelte Henri und warf den sich dreist nähernden Möwen wieder
Brotbröcklein zu. "Aber sprich weiter, es ist sehr interessant, was du sagst. Ich bin ganz
Ohr."
"Ja. Wie konnte es nun zu dieser Entwicklung kommen? Dazu muß man ein wenig den
geschichtlichen Hintergrund des Humanismus verstehen. Die Philosophien nach der
wissenschaftlichen Revolution seit Kopernikus, die sich unter dem Begriff
"Humanismus" grob verallgemeinern lassen, dieser aus der Renaissance
hervorgegangene Humanismus also und dessen Ableger, gingen ja bekanntlich mehr
und mehr dazu über, den Menschen als Zentrum des Universums zu betrachten. Der
Mensch wurde vergöttlicht, was keinen Raum für irgend eine weitere Art von
denkenden Geschöpfen über ihm mehr zuließ. Dies war im großen und ganzen die
allgemeine Denkart bis zum neunzehnten Jahrhundert. Dann kam das zwanzigste
Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen, Völkermorden und Diktaturen, die auch den
Letzten davon überzeugten, daß der Mensch keinen sehr guten "Gott" abgibt. Obwohl
Gott und die Engel offiziell abgeschafft waren, hoffte man nun insgeheim wieder auf
eine Hilfe von "höherer" Instanz. Dabei waren einem auch Engel recht. Nun fing man
mehr und mehr wieder damit an, an Engel zu glauben; zuerst inoffiziell und mehr
spaßeshalber, dann immer ernsthafter und mit immer mehr Unterstützung der Medien.
Und warum ist dies so? Weil eine ganz bestimmte Erkenntnis, die im Unbewußten der
Menschen schlummert, sich nicht unterdrücken läßt. Es ist eine völlig logische
Erkenntnis, kein esoterisches Wirrwarr. Die Logik dieses Denkens läßt sich nämlich wie
folgt beschreiben: Der Mensch ist ein rationales, denkendes Wesen. Daß er dabei
beileibe nicht immer ein sehr gutes Denken an den Tag legt, beweist die Geschichte.
Der Mensch befindet sich also auf einer niedrigen Stufe der rational-denkenden Wesen.
Dies bedeutet zwangsläufig, daß es noch höhere rational-denkende Wesen über ihm
geben muß, denn wenn er das höchste rational-denkende Wesen wäre, würde dies
bedeuten, daß rationales Denken an sich schlecht ist. Wenn aber rationales Denken an
sich NICHT schlecht ist, bedeutet dies oberflächlich gesehen, daß der Mensch eben nur
in sehr mangelhafter und stümperhafter Weise rational denkt, und daß es eine bessere, ja
vielleicht sogar eine vollkommene Version des rationalen Denkens geben muß. So ist
also die heutige Form des Glaubens an Engel eigentlich ein Glaube an das rationale
Denken: Dadurch, daß man sich die Möglichkeit der Existenz höherer, denkender
Wesen offenhält, beweist man, daß man der Meinung ist, das menschliche Können und
Wissen sei nicht die Krönung des rationalen Denkens, es müsse noch etwas weitaus
Besseres geben. Gleichzeitig lehnt man damit den reinen Materialismus ab, nach
welchem es nichts über dem Menschen und seinen Ideologien gibt; nichts und
niemanden, von dem der Mensch etwas zu seinem Vorteil lernen könnte, von dem er
Hilfe erwarten könnte oder vor dem er sich gar zu verantworten habe."
"Dann müssen also nun die Menschen die Hilfe von Engeln in Anspruch nehmen, um
besser denken zu können!", meinte Henri.
"Nein, eben nicht. Dies könnte man zwar bei der ersten Betrachtung meinen. Das
einzige, das man jetzt aus diesen Überlegungen zunächst sicher folgern kann, ist, daß
sich die Menschen einmal im Klaren darüber sein müssen, daß ihr eigenes Denken
niemals der allerhöchste Maßstab sein kann. Leider kommen nur wenige zu dieser
Konsequenz. Auch die, die an Engel glauben, denken dann doch wieder, ihr eigenes
Denken sei der höchste Maßstab für das Bewerten ihrer Entscheidungen und
Handlungen. Sie lieben es zwar, anderen eine Gänsehaut einzujagen mit ihren
Engelsgeschichtchen, so abends bei einem Lagerfeuer, aber von ihren Überzeugungen,
von ihren Lebensgewohnheiten wollen sie keinen Fingerbreit abweichen."
"Mit anderen Worten, wir Menschen müssen unser Denken von einer höheren Instanz
korrigieren lassen! Und was haben wir dann davon, wo führt dies hin?"
"Dies ist nun allerdings auch nicht ganz richtig, denn die Menschen sind eigentlich von
Grund auf unfähig, von sich aus zu den Erkenntnissen zu kommen, die letztendlich
wirkliche Hilfe bringen. Sonst könnte ja jemand irgendeine Art von esoterischer
Meditation betreiben und sich dann einbilden, er hätte nun sein Denken in den Einklang
mit der höchsten Instanz gebracht, wobei er doch in Wirklichkeit nur von seiner eigenen
Subjektivität berauscht ist. Es geht um weit mehr, als nur das eigene Denken korrigieren
zu lassen, es geht darum, eine völlig neue menschliche Existenz zu bekommen. Um
wirkliche Hilfe zu erfahren, die über das rational Begreifbare hinausgeht, braucht es
eine Menschlichkeit, die über unsere eigene hinausgeht, nämlich genau die
Menschlichkeit, die Gott selbst ursprünglich geplant hat für den Menschen und die uns
Menschen verloren gegangen war. Zum Glück für die Menschheit hat Gott einen
solchen idealen Prototyp von Mensch konkret in der Geschichte existieren lassen. Der
Mensch muß diesen Gottgemäßen Urtyps von Menschen, dieser Person, habhaft
werden, sonst verläuft sein Denken, sein Leben, sein Handeln so, wie es seiner eigenen
Konstruktion entgegenläuft. Ein Dieselauto ist für den Betrieb mit Dieseltreibstoff
konstruiert. Fülle einmal Superbenzin hinein. Was passiert? Der Motor geht dabei drauf.
Die Entropie des Autos, sein Zerfall, wird wesentlich beschleunigt. Genauso ist es mit
uns Menschen auch. Wir sind alle Dieselautos, die mit ganz üblem Kerosin
herumstottern und deshalb alle einen irreparablen, unheilbaren Motorschaden haben.
Wir sind zerbrochene Gefäße, die nicht nur gefüllt, sondern zu allererst einmal neu
zusammengeklebt werden müssen, was kein Gefäß selbst kann. Wir brauchen die
Menschlichkeit, die von Gott konzipiert wurde. Nur dann wird unser Zerbrochensein
aufgehoben, und nicht nur das, der ganze innere Motorschaden und Todeszustand wird
behoben und wir unterliegen schlußendlich der Entropie, dem Zerfall überhaupt nicht
mehr. Nur unser sichtbarer Körper verfällt. Nach dem Tod bekommen wir dann einen
Körper wieder, und zwar in unverweslicher Ausführung."
Henri wollte etwas sagen, wurde aber von einer Ansage des Kapitäns daran gehindert.
"Sehr geehrte Passagiere, in wenigen Minuten erreichen wir Evian-les-Bains. Evian-lesBains. Wir bitten Sie, beim Verlassen des Schiffes nicht zu drängeln."
Henri und Oskar besahen sich die Parkanlagen und das Casino mit dem Fernglas
Oskars.
"Weißt du was, Oskar, am besten warten wir, bis alle das Boot verlassen haben und
steigen dann als letzte aus. Dann müssen wir nicht in dem überfüllten Unterdeck
schwitzen."
"Eine sehr gute Idee, Henri. Lieber warten wir hier oben ein paar Minuten mehr. Wir
haben es ja nicht eilig. Auch ich kann dieses Herumstehen zwischen den schwitzenden
Touristen nicht ausstehen."
Sie beobachteten, wie die Matrosen in ihren blauen Uniformen das Schiff mit einer
erstaunlichen Geschwindigkeit festzurrten. Eine aus Stahlrohren und Gitterplatten
bestehende Gangway wurde hinausgerollt und auf der wegen des niedrigen
Wasserstandes stark heruntergeneigten hölzernen Landungsbrücke blockiert. Schon
drängten sich die ersten Touristen auf die höhergelegene Schiffsanlegermole von Evianles-Bains hinauf. Als sich der Menschenfluß auf der Gangway nach einigen Minuten
verringert hatte, eilten auch Oskar und Henri nach unten. Sie gingen als letzte über die
Gangway. Henri ging hinter Oskar her. Oskar hatte schon seinen Fuß auf der hölzernen
Landungsbrücke, als plötzlich die Gangway auf der sie mit der Mole verbindenden
Holzbrücke ratternd und quietschend nach unten absackte. Oskar verlor das
Gleichgewicht und wäre unter die Gangway gerutscht, wenn ihn nicht ein auffallend
großgewachsener Matrose mit weißer Uniform und verschmitztem Lausbubengesicht
am Arm gepackt und auf die hölzerne Landungsbrücke hinaufgezogen hätte. Der hinter
ihm laufende Henri hielt sich erschreckt am Geländer der Gangway fest und schrie kurz
auf.
"Kommen Sie, halten Sie sich an meiner Hand fest!", sagte der Matrose und zog Henri
hinauf auf die Holzbrücke und weiter bis auf die Mole.
"Puh, das war knapp! Das hätte böse ins Auge gehen können!", pustete Oskar.
"Nach dem Schreck denke ich, wir haben uns zwei große Becher Eiscafé verdient!",
japste Henri, "Schau, dort hinten gibt es jede Menge Cafés. Diesmal gebe ich einen
aus."
Sie liefen ein Stück die Mole entlang, als Oskar plötzlich stehen blieb.
"Du, wir wollen zurückgehen und diesem Basketballspielertypen einen Dank
aussprechen. Er hat uns möglicherweise das Leben gerettet. Auf jeden Fall hat er mich
vor einem Urlaub im Krankenhaus mit Gips an beiden Füßen bewahrt!"
Sie gingen zurück. Zwei Matrosen in blauer Uniform überprüften die Gangway.
"Die Gangway ist in Ordnung. Dort drüben hat sich das Seil gelöst. Oder vielleicht
gerissen? Werd’ ich überprüfen. Jedenfalls ist das Schiff nach hinten fort und die
Gangway ist dann auch verrutscht", konstatierte der eine Matrose.
"Tut uns wirklich leid, was Ihnen passiert ist", sagte der andere Matrose. "Gut, daß Sie
beide so sportlich sind und weit springen konnten!"
Henri und Oskar sahen sich verdutzt an. Von einem Basketballspieler in weißer
Matrosenuniform war nichts zu sehen.
"Ich habe ihn doch mit eigenen Augen gesehen!", flüsterte Henri aufgeregt, während sie
wieder die Mole entlangliefen.
"Komisch, ich könnte sogar schwören, ich hätte diesen Kerl schon einmal irgendwo
gesehen. Wahrscheinlich wieder eines von diesen Déjà-Vu-Erlebnissen", raunte Oskar
seinem Freund ins Ohr.
"Es scheint Dinge zu geben unter dem Himmel, die sich unserer Kenntnis entziehen",
meinte Henri leise. "Aber jetzt komm. Ich habe einen gewaltigen Kaffeedurst."
Und schon waren sie in der Blumenpracht der Casinostadt verschwunden. Wieder tutete
das Schiff. Die Möwen kreischten. Leise gluckste das Wasser unter der Mole, an deren
Stützbalken sich die Wellen des Sees brachen.
Herunterladen