DER SAUERTEIG Eine theologische Erzählung Mathias Graul Inhaltsverzeichnis Böses Erwachen Das Projekt Der Beschluß Sabotage Die Versuchung Die Verschneidung Selbst denken Das Gewand Neuroplast Das Buch Rationalismus Böses Erwachen Die Bambushütte am Südseestrand lag friedlich da und Oskar hörte das rythmische Rauschen der Brandung. Er blinzelte ein wenig und versank dann wieder in seinem Traum. Wunderbar entspannt lag er im Bett und hörte seinen Atem am Rand der Bettdecke entlangstreichen. Für ein paar Sekunden wurde das rythmische und beruhigende Geräusch seines Atems wieder zu der Brandung in der Südsee. Die roten Zahlen an der Zimmerdecke glichen den Signalleuchten einer Segelyacht, die sich der Lagune einer Südseeinsel näherte. Oskar blinzelte wieder. Langsam nahmen die roten Lichter stärkere Konturen an. Rechtwinklig angeordnete Figuren mit spitzzulaufenden Enden. Ziffern. Wie schön, der Radiowecker geht wieder, dachte Oskar. Die neuen Batterien scheinen zu taugen. Acht Uhr fünfunddreissig. ACHT Uhr fünfunddreissig? Oskar glaubte seinen Augen nicht zu trauen! Bambushütte, Segelyacht und Südseeinsel versanken nun blitzartig in den Tiefen des Meeres. Eine krampfartige Lähmung breitete sich brennend im Körper aus, wie heisses Wachs, das in eine Tonfigur gegossen wird. Bevor Oskar es sich versah, hatte dieses heisse Wachs seinen eben noch wohlig entspannten Körper aus dem Bett herauskatapultiert und schon stand er auf wackligen Füssen und hüpfte hysterisch herum, als wenn er auf Glasscherben getreten wäre. Radiowecker! Batterien! Keine Zeit jetzt für technische Überprüfungen. Statt dessen hektische Suche nach Unterwäsche, Hose, Hemd, Schlips. Schnell noch etwas Spray unter die Achseln. Eine Tasse kalter Kaffee vom Vortag - und schon hatte Oskar den Zündschlüssel im Schloß und drehte. Acht Uhr siebenundvierzig - "... nicht zu fassen..." raunte Oskar sich selbst zu. "Diese sinnlosen Vorstandssitzungen. Nie hält man sich an die Tagesordnung. Jedes Mal wird es spät Abends, man kommt ganz aus dem Rhythmus. Und dann immer nur das gleiche Gequassel und Gestichel. Das gleichmäßige, gefällige Brummeln des Sechszylinders vermittelte ein Gefühl der Ruhe und Sicherheit inmitten der Hektik. Oskar schnaufte tief durch und hörte seinen nun wieder einigermassen entspannten Atem durch die Nase ein- und ausstreichen. Draußen flogen die Pappeln der Route Nationale Nr.19 still vorbei. "Wenn ich die D 51, dann die A 4 und dann die A 86 nehme, komme ich vielleicht schneller nach Bobigny. Ich spare die Ampeln von Créteil. "Verflixt - schon NEUN Uhr drei - um neun sollte ich da sein. Bis alle da sind, wird es sowieso neun Uhr fünfzehn. Oskar bog nach rechts auf die D 51 ein. "Neun Uhr dreissig – ja das könnte ich vielleicht schaffen - zwar immer noch peinlich genug, aber nicht ganz so katastrophal... Wenn ich bloß wüßte, wie diese Abfahrt heißt..." Endlich hatte die Karte ihre Eigenwilligkeit aufgegeben und war unter der nervös auf ihr herumpatschenden Hand zu einem einigermaßen flachen Stück Papier auf dem Beifahrersitz geworden. "St. Denis - ja, das wird dort wohl ausgeschildert sein." Weiter konnte Oskar die Karte nicht mehr studieren - es hupte genau neben ihm. Es war ihm, als wenn er das wütende Schreien des Fahrers hören konnte, als dieser ihm wild gestikulierend einen Vogel zeigte. Oskar war zu weit auf die linke Fahrbahn geraten. Ein bleiernes Gefühl der Ernüchterung machte sich über Oskar her. Ganz klein und hilflos war er auf einmal. "Jetzt bloß keinen Unfall, das hätte gerade noch gefehlt." Oskar wäre am liebsten ganz langsam mit 80 weitergefahren. Aber er wußte, er mußte die vierspurige Strecke ausnutzen, um wirklich einen Vorteil zu haben. Auf die Karte schaute er jetzt nicht mehr. "Auf die A 86 fahren und dann Richtung St. Denis - ich muß dann in Bobigny ’rauskommen." Oskar sah auch nicht mehr auf die Uhr. "Wenn nur diese Verhandlung schon vorbei wäre...!" jammerte er leise. Baustelle, Fahrbahnverengung. Oskar schob den Unterkiefer vor und hielt die Luft an "da vorne ist's schon wieder vorbei", dachte er. Zwei Meter Fahrbahnbreite sind ziemlich eng bei einer Geschwindigkeit von 90 Stundenkilometern. Oskar blies die Luft wieder durch die Zähne aus und beschleunigte, als er das Ende der Baustelle schon kurz vor sich sah. Aber was kam da vorne auf ihn zu, was war das? "Neiiiin!" Bremsen quietschten. Der Wagen drehte sich leicht. Das Achterbahnkribbeln in den Füßen. Und Bruchteile von Sekunden später schließlich der herannahende, unausweichliche Rums. Oskar verlor das Bewußtsein. Ein paar Sekunden lang schien er zu spüren, wie etwas in ihm rumorte, Schläuche oder Drähte. Stimmengewirr und monotones Piepsen. Dann wieder dieses die Luft abschnürende Drücken - als wenn er im Ozean versenkt würde. Tiefer und tiefer schien es hinabzugehen... Das Projekt "Oskar! Aufwachen!", tönte eine wohlklingende Baritonstimme. Oskar fühlte sich wie im Traum. Es war alles so hell um ihn herum! Dann war alles wieder weg. "Oskar!", rief die gleiche Stimme noch einmal. Oskar wußte nicht, wie viel Zeit vergangen war zwischen dem ersten und dem zweiten Aufwachen. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. "Wo bin ich? Was ist passiert? Wer sind Sie?" Sein Gegenüber war ziemlich groß, weiß gekleidet, hatte ein freundliches, rundes Gesicht. Wie ein überdimensionerter Lausbub, dachte Oskar. Allerdings war die Hautfarbe recht seltsam – eine Art olivgrün. Oskar war sich sofort im klaren darüber, daß er es hier nicht mit einem Menschen zu tun hatte. Dabei wunderte er sich, daß alles genau so wirklich schien, ja nicht schien, sondern war, wie unter normalen Menschen und bekannter Umgebung. Freundliche, braune Augen musterten Oskar neugierig und belustigt von oben bis unten. "Was ist passiert, wo bin ich?", hörte sich Oskar fragen. Eine leicht hallende und zugleich gedämpfte Akustik herrschte in diesem Raum - ja es war eigentlich schwer zu sagen, inwieweit es sich um einen Raum handelte. Oskar konnte keinen Fußboden, keine Decke ausmachen. Merkwürdige Tunneleingänge waren ringsumher zu erkennen. Der "Raum" war eine Verdickung innerhalb eines Netzwerks von überdimensionalen Nervenzellen, ein Labyrinth von Tunneln und Verdickungen. Erstaunlicherweise wirkte diese "Zelle" ganz und gar nicht unheimlich, sondern recht heimelig. Oskar kam sich vor, wie an einem Ort, an den man nach langer Zeit zurückkehrt; man fühlt sich wohl, weiß aber nicht warum; man versucht, sich zurückzuerinnern, aber vergebens, man kommt nicht darauf, an was man sich zu erinnern meint, wie man sich auch anstrengen mag. "Die Handbremse...", sagte die Gestalt und hielt die Hände leicht gefaltet vor sich, wie ein verlegenes Kleinkind, das etwas ausgefressen hat. "Ich mußte die Handbremse lösen, von diesem Baustellenfahrzeug, damit es zurückrollt auf die Fahrbahn und du dann hineinfahren würdest. Wir haben natürlich genau alles vorher berechnet, damit du auch wieder zurückkommen kannst. Die nachkommenden Fahrzeuge konnten rechtzeitig bremsen. Du hattest ja einen guten Vorsprung, so mit 90 Sachen. Keine Angst, lieber kleiner Oskar, in zehn Minuten holen dich die Mediziner wieder zurück." "Soll das etwa heißen, ich bin - tot!? Aber wer sind Sie?" Oskar wunderte sich, daß er nicht so sehr verblüfft war darüber, tot zu sein, sondern eher darüber, daß ihn eben diese Tatsache nicht in helles Entsetzen verfallen ließ. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, tot zu sein. Oskar begegnete seiner Situation mit einer noch nie gekannten Stimmungslage eines distanzierten Humors, eines entspannenden Gefühls des Über-den-Dingen-Stehens. Er wunderte sich auch darüber, daß er keine Art von Zorn verspürte für das, was sein Gegenüber ihm gerade bekannt hatte. Er fand es im Gegenteil recht amüsant. In eine Planierwalze war er also hineingedonnert! An was man doch alles sterben kann... Oskar war überhaupt nicht böse auf den Auslöser seines Ablebens. Doch plötzlich erinnerte sich Oskar an die Erzählungen klinisch Toter, die er als Wissenschaftler immer in Frage gestellt hatte. Mit einem Mal fühlte er sich auf die übelste Weise verschaukelt. Vulkanartig fuhr sein Trotz hoch: „Nein! Nein! Das gibt es nicht. Das ist alles nur meine Einbildung. Ich bin tot, und damit basta. Ein Leben nach dem Tode gibt es nicht.“ Die olivgrüne, weißgekleidete Gestalt sagte nichts, sondern setzte sich auf einen stuhlartigen Vorsprung in der weichen, unförmigen Wand des merkwürdigen Nervenzellen-Raumes. Er schien sagen zu wollen: Na gut, wenn dies hier alles nur Einbildung ist, brauche ich ja nichts mehr zu reden. Mein Gerede wäre ja sowieso nur die Einbildung eines anderen. Oskar schwieg trotzig. Er wartete darauf, bewußtlos zu werden oder sonst irgendwie aufzuhören, zu phantasieren. Es geschah aber lange Zeit nichts. „Wahrscheinlich funkt mein Gehirn noch irgendwie herum und produziert diese Fata Morgana“, sagte Oskar schließlich, wie zu sich selbst. Sein Gegenüber hatte aufgehört, von ihm Notiz zu nehmen. Die Gestalt hatte die Beine lässig übereinandergeschlagen und wippte gemächlich mit einem Fuß. „Erstaunlich, wie klare Halluzinationen noch erzeugt werden können, das muß ich schon sagen“, fuhr Oskar fort, aber mit weniger Überzeugungskraft in der Stimme. Wie aus einem für sich selbst geschriebenen Referat vorlesend brummelte er weiter: „Deswegen ist dies alles trotzdem nur Chemie. Fehlgeleitete Neurotransmitter. Von einem Aufprall gereizte, noch gellende Nervenzellen. Ein noch aufflammendes, aufloderndes Hirnmagnetfeld. Aber damit wird gleich Schluß sein. Dann wird alles wieder schwarz und ich bin mausetot. Ausgelöscht. Nicht mehr existent. Null. Nichts. Verstanden?“ Die olivgrüne Gestalt zuckte mit den Schultern und lächelte. Beide schwiegen wieder für scheinbar lange Zeit. Schließlich beschloß sich Oskar, wieder zu einem Angriff überzugehen. „Was sitzen Sie da noch herum und grinsen? Ach, mit wem rede ich! Mit meinem eigenen Hirngespinst! Erstaunlich, wie sehr die kulturelle Konditionierung ausgerechnet auch bei mir doch noch drinsitzt! Ja, ja, das christliche Abendland - der jüdischchristliche Kulturkreis. Da wird man endlich erwachsen und lernt rational zu denken und nach dem Tod wird man doch noch von solchen Grenzerlebnissen verfolgt. Nicht zu fassen. Nun ja, neunzehn Jahrhunderte Menschheitsgeschichte lassen sich wohl nicht so einfach wegwischen. Auch nicht durch die Erkenntnisse der modernen Humanbiologie.“ Sein Gegenüber zog die Augenbrauen hoch und nickte höflich. „Übrigens, mein liebes Hirngespinst, für Sie bin ich außerdem kein kleiner, lieber Oskar, sondern Herr Dr. Oskar von Linnewitz, falls Sie erlauben. Dr. von Linnewitz, Doktor der Psychiatrie. Spezialgebiet Neurologie. Gehirnforschung, falls Sie mit dem Wort Neurologie nichts anfangen können.“ Der olivgrün Gesichtige saß hell erfreut da, mit wie zum Lachen halbgeöffnetem Mund. Zwei Reihen makelloser weißer Zähne blitzten auf. Er schien darauf gefaßt gewesen zu sein, daß Herr Dr. Oskar von Linnewitz alles anzweifeln würde, was nun geschah und geschehen sollte und überhaupt sehr bissig reagieren würde. Kein hochnäsiges Kopfschütteln, kein diplomatisches falsches Lächeln, durch das verdeckt werden soll, daß man sein Gegenüber in Wirklichkeit schon abgeschrieben hat. Statt dessen freundliches Interesse, ja geradezu eine aufrichtige Anteilnahme. „Genau so einen wie dich brauchen wir, Oskar. Das heißt, wie Sie, Herr Doktor von Linnewitz. Einen, von dem weit und breit bekannt ist, daß er ganz und gar nicht an ein Leben nach dem Tod, an Engel oder eine unsichtbare Welt glaubt. Wundersüchtige UFO-Fans und religiöse Fanatiker gibt es ja genug. Denen glaubt ja keiner mehr, wenn sie in Hypnose waren oder Mitglieder ihrer Sekte in psychiatrische Behandlung kommen. Du kennst ja das Problem und bist in dieser Sache auf unserer Seite, ob du's glaubst oder nicht. Du glaubst ja gar nicht, wie sehr du der Menschheit helfen kannst. Wir freuen uns wirklich sehr, dich hier zu haben, Oskar, äh, ich meine, Sie, lieber Herr Doktor von Linnewitz. Mit so einem wie dir können wir den Lauf der Wissenschaft entscheidend beeinflussen." Oskar saß einen Augenblick verdutzt da. Dann polterte er los: "Sie, Sie, Sie! Sie unverschämter Schelm! Erst verfrachten Sie mich ins Jenseits, indem Sie am Eigentum der Straßenwacht herumspielen und meinen neuen Jahreswagen ruinieren und dann machen Sie sich auch noch über meine Eigenschaft als Wissenschaftler lustig.“ „Wieso?“ fragte die olivgrüne Gestalt verwundert. „Wieso? Also, das ist doch... ihr habt mir ja gerade meine wissenschaftliche Karriere verpatzt! Es ist nicht zu fassen...! Gerade auf dieser meiner letzten Autofahrt war ich zu einem großen Pharmakonzern unterwegs, der sich für meine neuesten Entdeckungen interessierte und mit mir einen Vertrag abschließen wollte. Mein neues Buch wollten die außerdem sponsern!“ „Ich weiß!“ sagte der olivgrün Gesichtige ruhig. „Sie brauchen außerdem gar nicht erst versuchen, mir irgendwelche falschen Hoffnungen auf eine sogenannte Rückkehr aus dem Jenseits unterzujubeln. Ja, ja, das hättet ihr wohl gerne, daß ich dann aufwache und Engelsgeschichtchen zum Besten gebe!“ Oskars Gegenüber winkte ab. „Nein, wir wollen doch nur...“ „Nein!“ unterbrach ihn Oskar. „Nein und nochmals nein! Mich könnt ihr nicht kaufen mit solchen billigen Tricks. Ach, übrigens, wie wollt ihr mich denn innerhalb von den zehn Minuten, von denen ihr geredet habt, überzeugen? Da bleibt ja nun wohl nicht mehr viel Zeit übrig! Na, los beeil dich, mal, grünes Hirngespinst! Wir wollen doch einmal sehen, was du so kannst! Ha ha, schwingen die hier große Reden über die Wissenschaft, und dann läuft ihnen die Zeit ab!" "Aber, aber, Oskar, wir haben jede Menge Zeit. Da unten in der Intensivstation sind's nur zehn Minuten. Ach, was sage ich: Zehn Sekunden, nein, nicht einmal das, sieben Sekunden! Aber hier - hier haben wir jede Menge Zeit - oder besser gesagt, es gibt hier eigentlich gar keine Zeit. Oskar merkte, daß sein Gegenüber Recht hatte. Er konnte nicht ausmachen, ob er mehrere Stunden mit seinen Gegenüber gesprochen hatte oder nur wenige Sekunden. Dieses unbekannte Gefühl der Zeitlosigkeit war irritierend und beruhigend gleichzeitig. Die olivgrüne Gestalt merkte Oskars Verunsicherung und nahm Oskars Hand. "Keine Sorge. Es wird alles gut werden. Nun zu dem, was wir mit dir vorhaben, mein lieber Oskar.“ Oskar war irritiert darüber, daß sein Gegenüber ihn dauernd duzte und mit „lieber Oskar“ anredete. Aber er merkte, daß es keinen Sinn hatte, weiter auf dem „Sie“ zu beharren. „Wir werden dir verschiedene Sachen zeigen aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit.“ Na, das kann ja heiter werden, dachte Oskar. Ich habe ja jetzt schon jegliches Zeitgefühl verloren. „Aber du wirst dich an nichts erinnern können nach Ablauf der sieben Sekunden Erdenzeit! An gar nichts, auch nicht an mich.“ „Wieso?“ fragte Oskar. „Wir haben es nicht nötig, uns auf solch eine platte, einfallslose Art zu offenbaren. Du würdest es dir ja auch nicht so wünschen. Es ist auch nicht in dieser Art und Weise zulässig.“ „Ach ja, aber Handbremsen lösen von Planierwalzen, dagegen gibt es keine Bestimmung?“ Oskar spürte einen Drang, sich nichts gefallen zu lassen. Wer weiß, dachte er, am Ende bringen die mich dazu, einfach alles ohne Kritik zu glauben, aber nicht mit mir! Sein Gegenüber schien Oskars Gedanken zu lesen und lächelte. „Nein, wir haben es nicht nötig, die Menschen zu überrumpeln. Nun zu unserem Projekt mit dir. Die Informationen, die du hier bekommst, dürfen nicht so einfach mir nichts dir nichts an Erdenbürger weitergegeben werden. Strenges Verbot von oberster Stelle. Man läßt sich nicht in die Karten schauen. Statt dessen werden wir dir hier, aber nur hier, zu dem, was wir dir zeigen werden, alles erklären, was du wissen willst. Am Ende kannst du dann eine Entscheidung fällen.“ „Ach, das ist so wie in so einer frommen Veranstaltung, wo man auf der Gefühlsebene manipuliert wird, bis man seinen eigenen Willen in den Wind schlägt und dann brav nach vorne geht, um sich von so einer religiösen Vogelscheuche die Hand auflegen zu lassen oder sich auf andere Art und Weise lächerlich zu machen“, konterte Oskar lakonisch. „Sehe ich aus wie eine Vogelscheuche?“, kicherte das grüne Gesicht. „Nein, aber ich würde trotzdem Reißaus nehmen, wenn ich eine Krähe wäre!“ röchelte Oskar bissig. Er war froh darüber, daß er sich ganz frei fühlte, mit dieser Gestalt so zu reden und nicht von einer erzwungenen religiösen Ehrfurcht erfüllt wurde. Das gab ihm die Gewißheit, er selbst und kein anderer zu sein. „Na ja, Krähen sind ja auch kluge Vögel,“ stellte der Grüngesichtige fest. „Also, was ich meine ist, wenn du „nein“ sagst, wäre alles vergessen und du würdest wieder ein ganz normaler Neurologe werden. Wir wären dir dann auch nicht böse und würden dir ganz bestimmt keinen Streich mehr spielen, Ehrenwort.“ „Und wenn ich „ja“ sage, werde ich mir eine riesige schwarze Bibel zulegen, und von Haus zu Haus gehen, um Leute zu einer Sekte zu bekehren!“ hörte sich Oskar sagen. Die hochgewachsene Gestalt mit den kindlichen Zügen lächelte. „Hm, Ja, daran habe ich gar nicht gedacht, das wäre vielleicht gar nicht mal so verkehrt!“ Oskar spürte wieder seinen Trotz hochfahren. „Also, los, laßt die Katze aus dem Sack, was habt ihr mit mir vor, ihr Schicksalsspezialisten? Soll ich Weihwasser vertreiben oder als Guru nach Kaschmir auswandern? Oder soll ich eine neue Sekte gründen, die an grüngesichtige Außerirdische glaubt? Los, erzählen Sie, was steht auf dem Programm?“ Das olivgrüne Gesicht lächelte. „Also, was ich sagen wollte, wenn du „ja“ sagen solltest, wirst du auch alles vergessen und wirst zuerst wieder ein ganz normaler Neurologe – aber...“ „...aber ich werde jeden Morgen zwei Stunden lang meine Eingeweide in grünem Tee waschen!“ frötzelte Oskar. „Kann man das? Also, in frommer Extragymnastik sind wir jedenfalls nicht interessiert. Aber wenn du „ja“ sagen solltest, würden wir uns erlauben, dich zu ganz bestimmter Literatur zu führen.“ „Also, ich soll Archäologe werden und alte Schriftrollen ausbuddeln?“ fragte Oskar verdutzt. „Nein, so umständlich wird es nicht werden. Jedenfalls würde dich diese Literatur dann zu Überzeugungen führen, die zumindest deinen Zweig der Wissenschaft vor bestimmten bösen Einflüssen ein Stück weit bewahren könnte.“ „Oha ja, es gibt da schon eine ganze Reihe Bösewichte unter uns Neurologen, davon kann ich ein Liedchen mitsingen, lieber Freund!“ prustete Oskar los. „Also, wir würden dir helfen, ohne daß du es merken würdest, zu nützlichen Quellen zu finden,...“ „Ach! Das wäre ja mal ’was für einen faulen Studenten, immer gleich die richtige Quelle finden!“, winkte Oskar ab. „Nein, nein, harte Arbeit würdest du trotzdem leisten müssen. Wir werden keine vorgefertigten Informationen in dich einspeichern, wie in einen Computer.“ „Wieso nicht, was habt ihr gegen Computer?“ „Nein, das wäre, aus menschlicher Perspektive gesehen, nicht fair anderen Menschen gegenüber.“ „Ja, ja, seid fair zu anderen Fahrradfahrern im Straßenverkehr und tut jeden Tag eine gute Tat und gebt jedem Tierchen sein Pläsierchen“, sang Oskar. Er wunderte sich, daß sich sein Gegenüber nicht aus der Fassung bringen ließ durch seine zynischen Zwischenbemerkungen. „Also, du würdest von uns bestimmte Informationen zugespielt bekommen, die du selbst interessant finden würdest, mit oder ohne Fahrrad. Bei den Pfadfindern brauchst du nicht Mitglied zu werden deshalb.“ „Und was soll ich dann machen, mit diesen Informationen?“ „Nun, du würdest Verschiedenes schreiben und dann in bescheidenem Rahmen an die Öffentlichkeit gehen. Deine Veröffentlichungen würden sich nicht mehr ausschließlich mit Randgebieten der Humanbiologie befassen, sondern auch das ganze Fundament der Wissenschaft mit im Auge haben. Du würdest philosophische Grundsatzfragen stellen, auf ethische Konsequenzen hinweisen und so weiter. Aber wie gesagt, wir wollen Dir nicht das Gefühl geben, wir überrumpeln Dich, wenn es auch so aussieht, unter diesen Umständen, mit dem Unfall.“ „Na, ihr seid mir ja Schicksalsspezialisten! Ihr überrumpelt mich, das es nur so rumpelt, und dann wollt ihr mir das Gefühl geben, es rumpelt nicht, ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich armes Stilzchen überrumpelt wurde...“, hörte Oskar sich wieder kontern. Insgeheim war er aber fasziniert von dem Projekt, das man für ihn geplant hatte. „Ja, es kann schon so aussehen, als ob wir mit dem Schicksal anderer russisches Roulette spielen. Aber wir sind nicht für die Schicksale der Menschen verantwortlich, nur ab und zu dürfen wir etwas mit Hand anlegen. Schließlich wissen auch wir so oder so nicht, was, unter dem Strich gesehen, in deinem Leben geschehen wird. In dieser Sache geht es nicht um dein letztendliches Schicksal, denn dieses liegt in Händen, die über uns sind.“ „Was soll dann also das Ganze?“ „Es geht hier darum, dich mit einzuspannen für eine Arbeit, die nicht nur sehr notwendig ist, sondern dir selbst auch viel Freude machen wird. Und da du nun schon mal hier bist, werden wir uns erlauben, dir ein Mitentscheidungsrecht zu geben in dieser Sache.“ „Sehr demokratisch!“, konterte Oskar. „Nun, lieber Oskar - äh, ich meine, lieber Doktor von Linnewitz - machen wir uns auf die Reise! Bevor wir starten, erlaube mir noch eine Bemerkung am Rande: Glaube nicht, daß du hier wärst, wenn du zum gleichen Zeitpunkt eines endgültigen Todes gestorben wärst! Du wärst dann an einem schrecklichen Ort. Aber damit möchte ich dich jetzt nicht einschüchtern. Statt dessen wollen wir gleich in den ersten dieser Tunnel steigen, zu unserer ersten Lektion.” Oskar fand nun sein Gefühl bestätigt, das er hatte, als er anfangs neugierig gemustert wurde, nämlich, daß sein Gegenüber in Wirklichkeit schon alles über ihn wußte und seine Neugierde nur aus Höflichkeit vorgespielt hatte, um nicht altklug zu wirken. Langsam wurde Oskar die olivgrün-gesichtige Gestalt sympathisch, obwohl er den Gedanken haßte, sich möglicherweise eingestehen zu müssen, es hier mit einer Art Engel zu tun zu haben. Allerdings vermochte dies nicht seinen Ärger über den Ausdruck "Randgebiete der Humanbiologie" auszulöschen. Was für eine eklatante Mißbilligung der Neurologie! Nichts desto trotz war Oskar jetzt auch neugierig auf die angebotene Tunnelreise geworden. "Nun, was soll's. Verlieren kann ich ja dabei wohl nichts. Ich will ja auch nicht in alle Ewigkeit in dieser wattierten Stube herumsitzen. In den Tunnel dort soll ich mit hineingehen?" Schon waren beide in dem ersten Tunnel verschwunden. Der Beschluß Kaum waren sie aus dem ersten Tunnel heraus, da griff Oskar instinktiv nach dem weißen Gewand des Engels. Ein gähnender Abgrund tat sich vor ihnen auf. "Keine Angst, Oskar", sagte der Engel. "Wir fallen nicht." Oskar bemerkte, daß sie sich in einem kleinen, transparenten, halbschalenförmigen Balkon befanden, der hell leuchtete, so wie fluoreszierendes Holz nachts im Wald leuchtet. Plötzlich öffnete sich ein Himmel über ihnen. Oskar versuchte vergeblich hinaufzublicken. Etwas wie ein Kräftefeld ließ ihn unweigerlich beim Erreichen einer gewissen Höhe des Sichtfelds seinen unsichtbaren Kopf wieder nach unten bewegen. So mußte sich Oskar damit begnügen, die sich in ihrer Intensität und Farbe ständig verändernden Strahlen eines gewaltigen Lichtes ausmachen zu können, das von dort oben kam, wo Oskar nicht hinsehen konnte. Plötzlich erscholl es wie von einem riesigen Chor: "Die Sitzung ist eröffnet. Tretet ein." Gleichzeitig gingen überall in der Ferne gigantische Vorhänge hoch. Eine ganze Armee von wundersamen Wesen begann sich durch die so entstandenen Öffnungen zu drängen. Sie waren von verschiedenartigem Aussehen und in Gruppen geordnet. Oskar fielen vor allem seltsame Kreaturen auf, die mehrere Köpfe hatten, mit tierischen und menschlichen Zügen, und die sich auf merkwürdigen Radkonstruktionen bewegten, deren technische Beschaffenheit zu entschlüsseln ihm unsichtbare Kopfschmerzen bereitete. Überall gab es Kreaturen zu sehen, deren Beschaffenheit die kühnste Phantasie überflügelt hätte. In der Ferne, an den Eingängen, konnte Oskar die Silhouetten von besonders großen Gestalten ausmachen, die einer Vielzahl von Heeresformationen unterschiedlichster Wesensart Plätze zuzuweisen schienen. Schließlich trat für eine lange Weile absolute Stille und Bewegungslosigkeit ein. Oskar hätte gerne gefragt, was jetzt los sei, aber nicht einmal er wagte, auch nur einen Schnaufer zu tun und hielt den Atem an. Er bemerkte, daß jedes der Wesen in einer schwach leuchtenden Schale saß oder stand. Jedes hatte seine ganz bestimmte Art von Schale und es schien, als ob jede der Schalen ganz speziell für das jeweilige Wesen, das nun darin seine bequeme Stellung gefunden hatte, angefertigt war. Oskar wagte nicht, sich von seinem Platz zu rühren. Plötzlich nahm das Licht von oben an Intensität zu. Ein gewaltiges Rauschen erfüllte den Raum und kündigte die darauf folgende Chorbotschaft an: "Der Beschluß vom Anfang und vom Ende wird bekannt gegeben." Wieder eine kurze Weile lang absolute Totenstille. Danach ein allgemeines Summen und Rascheln von der wie in einem riesigen Stadion angeordneten Zuhörerschaft, das sich aber im Vergleich zu dem Rauschen von oben wie ein penetrantes Papierrascheln anhörte. "Der Beschluß... bekannt... . Vom Ende... Beschluß... Anfang... gegeben...", tuschelten die zuhörenden Gestalten durcheinander. Danach wieder Stille und Bewegungslosigkeit. "Der Beschluß lautet”, dröhnte es wieder von oben "Es wird ein Wesen ins Sein gerufen und ist schon da, das UNSERE Züge trägt! Es ist zwar schwächer als ihr alle, aber dafür loyal UNS gegenüber! Es wird ganz wie WIR handeln und denken und von allem weglaufen, das nicht UNSEREM Wesen entspricht! Es wird alle anderen Kreaturen beherrschen und über sie richten. Ihr werdet auf sie aufpassen. Ihr seid zwar alle ganz vortreffliche Geschöpfe. Aber diese Art von Wesen übertrifft alles. Dies ist der Beschluß. Irgendwelche Einwände?" Oskar wunderte sich, daß diese gewaltige Chorstimme dazu aufforderte, Einwände verlauten zu lassen. Wer würde es wohl wagen, solch einer Stimme etwas zu antworten, ja ganz davon zu schweigen, ihr gegenüber irgendwelche Einwände verlauten zu lassen? Wieder durchlief eine Kettenreaktion von Getuschel und Geraune die riesige Zuhörermenge unten. Einige Satzfetzen konnte Oskar aufschnappen: "... Wie viele Dimensionen die wohl zugeteilt kriegen? Ob wir die wohl überhaupt je zu begreifen kriegen? Wie dumm und beschränkt wir doch sind. Mehr Horizont sollte man haben..." In diesem Moment durchzitterte ein dumpfes Krachen die halbsichtbaren Zuschauertribünen mit ihren hell leuchtenden Schalen. Wie ein gewaltiges Seebeben begann sich etwas Gigantisches im tiefsten Dunkel unterhalb der Tribünen zu regen. "Der Lichtblitzdonnerbomber... der Lichtblitzdonnerbomber!", riefen alle durcheinander. Wieder wollte sich Oskar am Gewand seines Begleiters festhalten, als er mit einem Mal durch einen gewaltigen, Mark und Bein erschütternden Donner erschreckt wurde und wie elektrisiert stehenblieb. Da wurde die Zuschauertribüne durch ein schreckliches Reißen und Stöhnen in zwei Hälften geteilt. Eine riesige engelhafte Gestalt quoll aus der Öffnung nach oben. Sie war von einem unangenehm künstlichen Licht durchleuchtet und hatte eine bestechende Form und Schönheit. "Der Lichtblitzdonnerbomber", flüsterte Oskars Begleiter. Er hatte bisher nichts gesagt. "Immer muß er so angeben." "So, wieder einmal zu spät. Immer eine extra Einladung nötig. Wohl wieder unterwegs gewesen", orgelte die Chorstimme von oben. Sie schien unbeeindruckt durch das Auftreten des Lichtblitzdonnerbombers. Der Lichtblitzdonnerbomber lächelte ungerührt. Er hatte feine, intelligente Gesichtszüge, die nicht menschlich waren, aber doch in ihrer Ausdrucksweise mit denen eines Menschen vergleichbar waren. Oskar meinte eine Sekunde lang, den gewieften und sphinxhaften Diplomaten eines korrupten Landes wiederzuerkennen, den er einmal im Fernsehen gesehen und über den er sich so aufgeregt hatte. Aber nur für eine Sekunde. Danach starrte er nur noch fassungslos auf das faszinierende und abwechslungsreiche Mienenspiel des Lichtblitzdonnerbombers. "So, so, ein neues Wesen, höre ich, belieben die Herrschaften auf den Markt zu bringen. Wie soll denn die neue Création heißen? Super-Über-Engel? Orgel-Gigant? Das wollen wir mal sehen, ob es noch etwas Höheres als uns Über-Engel gibt", zischelte der Lichtblitzdonnerbomber. "Du, ein Über-Engel?", rauschte die Chorstimme von oben zurück. "Wo ist denn deine Schale? Ein Über-Engel, der seine Schale verlassen hat! Ein Über-Engel, der nicht weiß, wo er hingehört! Das wollen wir doch erst einmal klarstellen, daß ein Über-Engel, der ohne Schale umherschwirrt, von Rechts wegen kein Über-Engel ist! Das war das Erste. Und zweitens: Das Neue Wesen heißt Humus. Es ist ganz aus totem, abgestorbenem Pflanzen- und Tiermaterial. Leben bekommt es dann aber von UNS. Gerade dadurch, daß dieses Humus-Wesen von sich aus nur Pflanzen- und Tierkompost, nur biologischen Tod in sich hat, und somit ganz auf UNSER Leben angewiesen ist, wird es über alle anderen Wesen herrschen! Wer nicht in seiner Schale bleibt, so wie du, wird das aber nie begreifen können. Diese Wesen, diese Humusse - sie allein sind würdig, UNSERE Wesensart in sich tragen zu dürfen. Und für euch alle anderen gibt es nur eines - entweder ihr bleibt in euren Schalen und steht den Humussen bei. Oder aber ihr wollt es nicht wahrhaben und wollt den Humussen nicht beistehen. Dann fliegt ihr aus euren Schalen heraus! Fällt eine weise Entscheidung." Einen Moment lang herrschte wieder Stille. Dann fingen die Wesen an, untereinander zu tuscheln: "... Ein Wesen aus totem, organischen Material! Uns richten! Ohne eigenes Leben, nur Leben von oben!" Das Antlitz des Lichtblitzdonnerbombers begann sich zu verfinstern. Wie ein ungezügeltes Pferd schwenkte er sein Haupt herum und fauchte: "Macht was ihr wollt, mit diesen Kompostwesen! Ich jedenfalls werde euch beweisen, daß ich doch höher bin! Und zwar ohne Schale! Ohne Schale, bin ich nicht nur ein Über-Engel - jawohl, ihr habt richtig gehört, ich bin immer noch ein Über-Engel! - aber nicht nur das, nicht nur ein Über-Engel, sondern ein Anti-Über-Engel, das ist noch höher, das ist das Höchste, ich bin der Höchste, folgt mir nach, verlaßt eure Schalen, glaubt nicht dieser Orgel da oben! Es gibt etwas höheres, ihr werdet es nicht bereuen! Ha, ha! Auf dämliche Humusklopse aufpassen, da hätte ich ja gleich Gärtner werden sollen! Mich jedenfalls werden diese verschimmelten Kartoffeln nicht richten können!" Die Intensität des Lichtes von oben verstärkte sich, während auch das künstliche Licht des Lichtblitzdonnerbombers greller und greller wurde. Die zwei sich entgegenwirkenden Lichtarten begannen sich furchtbar zu beißen, wie zwei sich beißende Farben, nur schlimmer. Oskar mußte wegsehen, seine unsichtbaren Augen begannen zu schmerzen. Er hörte nur noch, wie die Orgelklänge mächtiger und mächtiger wurden und wie der Lichtblitzdonnerbomber in unverständlichen und unbeschreiblichen Lauten anfing zu feixen und zu kreischen und schaurig zu brummen. Dann bemerkte Oskar, wie das grelle, unnatürliche Licht des Lichtblitzdonnerbombers plötzlich erlosch. Der Lichtblitzdonnerbomber hatte sich nun in einen riesigen schwarzen Tyrannosaurus Rex verwandelt, der mit blutunterlaufenen Augen böse und frech grinste, mit dem Kopf zuerst nach hinten zurückschwappte und sich mit einem genüßlichen Grunzen und weit hinaushallendem Donnerkrachen in den sich unter ihm öffnenden Abgrund hinunterstieß. Der Gegensatz zwischen den wohlangeordneten Zuschauertribünen mit den schönen und erhabenen Gestalten darin und diesem Lichtblitzdonnerbomber-Monster war so überraschend, daß Oskar unwillkürlich "huch" ausrief. Auch die Wesen unter ihm schienen entsetzt zu sein. Eine tumultartige Stimmung breitete sich aus, wie in einem Parlament nach Bekanntwerdung eines Staatstreiches. "... Anti-Engel... ohne Schale... der Höchste...", riefen einige, "... Komposthaufen...". "... Hoch sollen sie leben, die Humusse! ...", tönte es von anderen. "Die Sitzung ist geschlossen", kam es von oben. "Fällt eine weise Entscheidung. Bleibt in euren Schalen. Prüft genau, was ihr tut!" "Komm!", sprach die wohlklingende Baritonstimme neben Oskar. Und schon hatte er Oskars Hand ergriffen und sie glitten in den hinter ihnen liegenden Tunnel zurück. "Was war das?", fragte Oskar den Engel, als sie wieder in dem NervenzellenVerdickungs-Raum angekommen waren, von dem aus sie den Tunnel betreten hatten. "Eine Begebenheit aus der Gegenwart der großen Orgel. Für Sie, lieber Herr Doktor von Linnewitz, anschaulich und begreifbar gemacht. Sie liegt lange Zeit zurück, das heißt, wenn man dies in Zeitbegriffen ausdrücken will. Wir haben Ihnen einen Einblick in diese Begebenheit gewährt, damit Sie die weiteren Lektionen im großen Zusammenhang verstehen und am Ende die richtige Entscheidung fällen können." "Wer sind diese Humusse? Warum konnte ich diese Orgelmaschinerie nicht sehen? Was hat es mit diesen Schalen auf sich?", sprudelte es aus Oskar heraus. "Die große Orgel ist das einzige Wesen, das keiner Schale bedarf", erklärte der Engel. "Sie ist das einzige Wesen, das nicht die Möglichkeit hat, von seinem Platz zu weichen. Dabei ist sie doch gleichzeitig überall. Die große Orgel weist allen anderen Wesen Schalen, das heißt, Plätze oder Behausungen zu. Über-Engel helfen ihr dabei. Niemand kann ihr einen Platz zuweisen oder sie verstimmen. Sie ist immer richtig gestimmt und kann sich nicht verändern. Alle anderen Wesen aber haben die Fähigkeit, die ihnen von der Orgel zugewiesenen Plätze oder Schalen zu verlassen. Dann erzeugen sie aber nur noch Mißtöne, denn sie stimmen nicht mehr mit der großen Orgel überein. Auch beißt sich ihr Licht mit dem der Orgel, denn es liegt nicht mehr auf der Wellenlänge des Orgellichts. Da die anderen Wesen sich verändern können, passen sie schließlich nicht mehr in ihre Schalen hinein, für die sie ursprünglich geschaffen waren. Sie sind dann dazu verdammt, sich eine Lebensform fern vom Orgellicht aufzubauen. Das Fatale dabei ist, daß alles Leben von der Orgel kommt. So bewegen sich jene schalenlosen Wesen schließlich in einer Lebensform, die nur scheinbar eine ist, in einer AntiLebensform. Alle ihre Lebensenergie ist eine Energie, die auf der Unwahrheit, auf dem Anti-Leben aufgebaut ist. Die Seinswirklichkeit gemäß der Wahrheit, gemäß dem, was wirklich etwas sein kann und darf und dabei gut ist, ist nämlich die Seinswirklichkeit, die den Platzanweisungen der Orgel entspricht. Da nun viele der vortrefflichen Engelswesen, die du gesehen hast, ihre Schalen verlassen haben beziehungsweise verlassen werden, allen voran der Lichtblitzdonnerbomber, hat die Orgel beschlossen, allen einen Denkzettel zu verpassen. Sie will beziehungsweise wollte nämlich beweisen, daß viel niedrigere Wesen, aus totem Kompost hergestellt, den Platzzuweisungen der Orgel gegenüber weitaus besser eingestimmt sein werden als jene vortrefflichen Engelswesen. Leider haben auch die Humusse versagt und sich zur Schalenlosigkeit überreden lassen. Deswegen konntest du, lieber Oskar, die Orgel nicht sehen, denn nur Humusse, die die Schale des Orgelhumusprototyps angenommen haben, können die Orgel sehen. Für alle anderen hätte ein Blick hinauf zur Orgel vernichtende Folgen. Der Orgelhumusprototyp ist der ursprüngliche Humusentwurf aus dem Zentrum und unveränderlichen Sein der Orgel. Er ist Teil der Orgel und verkörpert gleichzeitig das Ideal des Humuswesens und den Beschluß der Orgel, Humusse herzustellen. Er wird auch Brotmensch genannt. Von ihm später mehr." "Moment mal", warf Oskar ein, "soll das etwa heißen, ich bin auch so eine Création aus Kompost? Aus verfaulten Apfelschalen, mit Ungeziefer und Würmern besiedelt, feucht und muffig? Nun macht aber einmal einen Punkt!" Der Engel lachte. "Nun ja, direkt nicht. Aber indirekt schon. Die Humuserbsubstanz steckt auch in dir. Und ich muß sagen, ich wünschte mir manchmal auch, ein Humus zu sein. Denn wenn ihr schon recht niedrig seid, so habt ihr doch Vorrechte - unglaublich. Aber ich bleibe nun mal an meinem Platz. Es wäre zu riskant, seine Schale zu verlieren! Man könnte für immer von der Orgel fern bleiben - wie schrecklich!" "Was ist denn dein Platz, in welcher Schale steckst du?" "Nun, ich bin so für dies und das zuständig. Meistens muß ich mich um Kinder kümmern. Es gibt Kinder, denen wir beistehen müssen. Vor allem Kinder, die leiden oder sogar sterben. Sie sind dann in einer fürchterlichen Finsternis und sehen überhaupt kein Licht mehr. Darum sehen wir dann für sie zur Orgel hinauf. Aber das gehört eigentlich nicht zu dem, was wir dir zeigen wollen und es wäre auch zu schwierig, alles zu erklären, was damit zusammenhängt. Statt dessen wollen wir dir zeigen, wie die Humusse einmal fast ausgestorben wären. Nachdem sie ihren Platz verlassen hatten, bekamen sie weitere Möglichkeiten, der Orgel gemäß eingestimmt zu sein. Das paßte nun einigen vorwitzigen Individuen aus unseren Reihen ganz und gar nicht. Sie verließen ihrerseits ihre Plätze und vermischten die Humuserbsubstanz mit ihrer Wesensart. Dadurch wäre fast die ganze Humusnatur ausgelöscht worden und die Orgel hätte von vorne anfangen müssen. Ein paar wenige Humusse aber blieben hundertprozentige Humusse und so konnte die Orgel unter Beweis stellen, daß sie Recht hatte mit der Behauptung, die Humusse würden über alle Kreaturen herrschen. Komm mit, wir gehen jetzt in den Tunnel dort drüben!" "Geht es wieder an den Rand solch eines Abgrunds?", fragte Oskar argwöhnisch. "Ich bin nämlich nicht schwindelfrei." "Nein", antwortete der Engel, "diesmal werden wir uns etwas auf der guten alten Erde ansehen." Oskar und der Engel verschwanden in dem zweiten Tunnel. Sabotage Und tatsächlich - der Engel hatte Recht gehabt. Am anderen Ende des zweiten Tunnels fanden sie sich auf der Erde wieder. Aber irgendwie war diese Erde so ganz anders, als Oskar sie kannte. Niemals zuvor hatte er solch eigenartige Pflanzen gesehen wie an dem Ort, an dem er sich nun mit dem Engel befand. Unzählige riesige Blüten in den grellsten Farben rankten sich an meterdicken Bäumen mit dicken, ledrigen Blättern hoch. Sie befanden sich am Rande eines Hochplateaus. Vor ihnen breitete sich eine riesige Ebene aus. Weiter links war eine steinerne Stadt zu sehen, die sich in den Berghang hineingekauert hatte. Die Dächer waren flach, manche hatten ovale oder runde Kuppeln. Sie gingen einige hundert Meter, bis hinter den Lianen, Farnen und Orchideen ein Stadttor auftauchte. Eine bucklige Gestalt in schwerer Rüstung lief schwerfällig davor hin und her. Behutsam zupfte Oskar seinen Begleiter, der vor ihm herging, am Gewand. "Ist es nicht gefährlich, was wir vorhaben? Dieser Wächter sieht nicht gerade freundlich aus!" "Keine Angst", flüsterte der Engel, "wir sind hier für die anderen unsichtbar. Wir warten ab, bis sich das Tor öffnet, dann schlüpfen wir schnell mit hinein. Sieh' nur zu, daß du keinen Lärm machst oder irgendwie anstößt. Alles andere mach' ich schon." Am Tor angekommen, bemerkte Oskar, daß der Wächter, der davor patrouillierte, gar keine Rüstung hatte, sondern daß das, was Oskar von weitem für eine Rüstung gehalten hatte, in Wirklichkeit angewachsene Hornplatten waren. Außerdem hatte er nur ein Auge - aber was für eines! Oskar fühlte sich wieder einmal verschaukelt. "Ihr habt mir doch erzählt, wir würden auf der Erde landen. Und jetzt laufen schon wieder solche Sagengestalten herum. Hat es denn kein Ende mit diesen Fabelwesen?", sagte er laut tuschelnd zum Engel. Der Engel machte "psst" und zerrte Oskar hinter einen Busch. Der einäugige Wächter hatte das aufgebrachte Getuschel Oskars gehört. Wie ein feister Käfer, der sich über eine Beute hermacht, katapultierte er sich auf die Stelle, an der Oskar eben noch gestanden hatte und begann sogleich, sie eingehend zu mustern. Er riß auch etwas Gras heraus und drehte es hin und her vor seinem riesigen Auge. Danach stampfte er mit einer erstaunlichen Schnelligkeit knöcheltiefe Löcher in die Erde, indem er wild auf und ab sprang. Leise grunzend trottete er schließlich wieder zum Stadttor. Als er wieder damit begonnen hatte, vor dem Tor hin und her zu laufen, flüsterte der Engel Oskar ins Ohr: "Wir sind schon auf der Erde. Aber in einer sehr weit zurückliegenden Zeit. Du wirst schon noch normale Menschen zu Gesicht bekommen. Keine Angst, wart's nur ab. Dieser skurrile Bursche ist derzeit hier noch eine Ausnahme." Leise kamen sie wieder hinter dem Busch hervorgeschlichen. Da näherte sich eine kleine Karawane. Ein knappes Dutzend Esel war mit riesigen Stoffballen beladen. In greifbarer Nähe zogen sie an ihnen vorbei. Die Männer hatten sonnengebräunte, runzlige Gesichter und reich bestickte Gewänder. Oskar war froh, die zwar sehr fremdartigen, aber doch wenigstens ganz gewöhnlich menschlichen Stoffhändler zu sehen. Es kam ihm vor, als hätte er seit Jahren keine Menschen mehr gesehen. Am liebsten hätte er die Stoffhändler umarmt. Aber er selbst war ja unsichtbar. "Los, dicht hinter ihnen her" flüsterte der Engel. Unmittelbar vor dem Stadttor angekommen, hielt die Karawane. Ein Anführer sprach mit dem einäugigen Wächter. Der nickte schließlich und betätigte einen Hebel. Schnell liefen Oskar und der Engel dicht hinter der Gruppe her. Kaum waren sie in der Stadt, da rasselte das Tor hinter ihnen herunter und fiel mit einem dumpfen Schlag zu. Oskar mußte dicht hinter dem Engel her folgen, um nicht im Marktgetümmel verloren zu gehen. Er bemerkte, daß er verstand, was die Menschen sagten, obwohl er deren Sprache noch nie gehört hatte. Überall roch es nach Gewürzen und Seifen. Plötzlich erscholl von einem Turm in der Mitte des Platzes der laute Gesang einer Männerstimme gefolgt von einem langgezogenen Ruflaut. Alle hielten den Atem an. Einen Moment lang herrschte gespannte Stille. Eine Gruppe Soldaten stürmte im Gleichschritt heran und machte auf ein Kommando halt. Blitzschnell bildeten sie aus ihren rechteckigen Schutzschildern eine Tribüne über ihren Köpfen. Ein stark beleibter, sultanartiger Mann mit auffallend großer und beringter Hakennase, zu Zöpfen geflochtenem Zottelbart und glitzernden Gewändern wurde auf die Schutzschildtribüne gehievt. Stürmischer Beifall, Jubelrufe. Der "Sultan" hub an: "Liebe Bürger von Cuzurucu! Hört, was die Götter dem großen und herrlichen Herrscher Majschdi von Cuzurucu mitgeteilt haben!" Der "Sultan" verdrehte vielversprechend seine großen dunklen Augen, wie ein Zauberkünstler im Variété, der eine Gruppe von Kindern beeindrucken möchte. Er machte eine theatralische Handbewegung, um Ruhe einkehren zu lassen. Einige Sekunden lang genoß er sichtlich das Gefühl, die Spannung steigen zu lassen. Dann erklärte er feierlich, mit übertrieben stark gerollten R-Lauten: "So hört denn, liebe Bürger! Fithalima, die vielgeliebte Tochter des großen Majschdi wird mit einem Gott verheiratet werden. Sie werden einen "Sohn der Götter" haben, der die Herrschaft von Cuzurucu antritt. Unter seiner Herrschaft wird Cuzurucu zu einer Macht, die sich bis weit über den großen Strom erstrecken wird. Die Götter haben dem großen Majschdi außerdem das Recht gegeben, sich auch "Sohn der Götter" nennen zu lassen, obwohl er nur von menschlichen Eltern stammt. Daher heißt er ab heute 'Majschdi, der Zweite, Herrscher von Cuzurucu, Sohn der Götter'. Dieser heutige Tag soll ein neuer Feiertag sein: Der Tag der Götter!" Der "Sultan" beschloß seine Rede mit einer weiteren, schwungvollen Handbewegung. "Hoch lebe Majschdi, Sohn der Götter!" brüllte die Menge wie elektrisiert. Alle warfen sich nieder und riefen wieder: "Hoch lebe Majschdi, Sohn der Götter! Es lebe Cuzurucu!" Danach trat eine Gruppe von Musikanten auf, die fröhliche und ausgelassene Tanzmusik spielten. Alle tanzten, sprangen, drehten sich im Kreise und klatschten in die Hände. "O weh, wehe, wehe, wehe!", rief eine laut klagende Stimme von der anderen Seite des Platzes. Einige drehten sich um. "O weh, wehe, wehe, wehe!" rief die Stimme wieder. Nun hatten sich alle nach dieser Stimme umgewandt. Keiner tanzte und jubilierte mehr. Auch die Musikergruppe hatte aufgehört zu spielen. "O weh, wehe, wehe, wehe!" klagte die Stimme wieder. Alle blickten nun wie gebannt auf einen einfach gekleideten, vollbärtigen Mann mit Halbglatze und traurigen, ausdrucksstarken und ruhigen Augen, die lebhaft die Menge musterten. Mit angehaltenem Atem vernahmen alle das Gedicht dieses Mannes, der bei seinem Vortrag gemessenen Schrittes hin und her lief. Nach jeder Zeile drehte er sich um und sah einen Moment lang auf die entsetzte Menschenmenge: O, wehe, wehe, wehe, wehe, den Untergang der Stadt ich sehe. Erst geht's ihr besser, scheinbar nur, die Götter schenken Freude pur; sie siegt und wächst und bläht sich immermehr, doch - weh! - was wächst, das sind kein' Menschen mehr! Die Engel, die sie rief, wird sie nicht los! Erst zeugen Helden sie, das wird famos! Doch dann, o nein, o Graus, o Schreck, o weh, o weh, wird ein Getüm daraus, mit sieben Zeh'! Zum Schlusse dann ist's aus mit Menschen hier, all' Fleisch verderbt, der Schöpfung edle Zier. Dir, Herrscher Majschdi, rat' ich drum: Treib' dich nicht mit den Engeln 'rum! Die hätten's nämlich gern, daß sie zerstörten der Menschen Stammbaum, den sie nun betörten. Ihr lieben Leut' verlaßt euch nicht auf Engels- und Dämonenlicht. Wir Menschen sind zwar niedrig, schwach, verschlafen und doch zum Richten übers All erschaffen. Der höchste Gott, der wird uns helfen, wenn wir nur lassen von den Elfen. Der Weg wird scheinbar schwierig sein, doch hält er uns vom Bösen rein. "Sabotage! Staatsbeleidigung! Festnehmen!" zeterte der "Sultan" und sprang auf seinem Schutzschilderpodest wie von der Tarantel gestochen auf und ab. Schnell und mechanisch parierten vier Soldaten der Schutzschildgruppe und legten Hand an den skandalösen Dichter, der keinerlei Versuche machte, sich zu wehren. "Abführen!", kommandierte der "Sultan", und zu dem Dichter gewandt: "Du wirst dich vor dem großen Majschdi selbst zu verantworten haben!" Oskar und der Engel folgten den Soldaten, die den Dichter durch die halbe Stadt, an großen, quadratischen Springbrunnen und eng aneinandergebauten Häusern vorbei, zu einem riesigen, tortenförmigen Palast führten. "So, du schon wieder, Heon." Der große Majschdi war noch beleibter als der "Sultan". Er war mit einem spitz zulaufenden goldenen Turban und Unmengen von Ketten aus bunten Steinen geschmückt. Gelangweilt stopfte er sich eine faustgroße Portion Weintrauben in seinen breiten Mund. Laut schmatzend und dabei völlig ungeniert blickte er den Dichter Heon aus zusammengekniffenen Augen an. Schließlich, mit noch halbvollem Mund, fuhr er fort: "Wann wirst du endlich aufhören, die Massen zu irritieren? Haben dich die vielen Verhaftungen immer noch nicht vernünftig machen können? Bisher waren wir sehr gutmütig und tolerant. Aber das könnte sich eines Tages ändern! Nun, sag an, was hast du vorzubringen zu deiner Verteidigung?" Heon warf sich vor dem Weintraubenessser nieder. Dann richtete er sich auf den Knien auf und begann seine "Verteidigung": "Großer, ehrwürdiger Majschdi, Herrscher von Cuzurucu. Gestattet mir, Euch zu danken für Eure Langmütigkeit und Euch auch dieses Mal zu versichern, daß ich in keinster Weise an Sabotage oder Untergrabung Eurer Autorität interessiert bin, sondern nur das Beste für unser gemeinsames, schönes Heimatland Cuzurucu im Sinne habe, Ehrenwort. Genau deshalb kann ich nicht schweigen, wenn ich das Wohl von Cuzurucu in Gefahr sehe. Ich bin ganz sicher, daß auch Euch, mein lieber Herrscher, nichts anderes am Herzen liegt. Aber ist es nicht möglich, daß die Art und Weise, in der ihr Cuzurucu zum Aufblühen bringen wollt, ein Weg ist, der sich schließlich fatal, ja sogar vernichtend für Cuzurucu auswirkt?" Der große Majschdi spuckte ein paar Weintraubenkerne in eine goldene Schale. "Paß' auf, jetzt fängt er schon wieder von den Göttern und Engeln an", sagte er zu einem Diener neben ihm. Heon ging direkt zur Sache über: "Großer Majschdi, ich möchte Euch nochmals eindringlich warnen vor dem Verkehr mit den Engeln!" "Siehst du, ich hab's ja gesagt. Schon wieder fängt er davon an." Majschdis Diener nickte pflichtbewußt und nahm ihm die goldene Schale mit den Kernen ab. Majschdi richtete sich etwas auf in seinem Thron und blickte Heon freundlich und belustigt an: "Mein lieber Heon! Ich verstehe nicht, was Ihr immer gegen die Aufbesserung der Menschheit durch die Engel habt. Warum wollt Ihr, daß die Menschen weiter schwach, gebrechlich, dumm und... (Majschdi lachte und faßte sich an seinen Bauch)... gefräßig bleiben? Wißt ihr nicht, wer uns bei der Schlacht gegen die Atatarener vor zwanzig Tagen geholfen hat? Seid ihr nicht froh, daß unsere Stadt jetzt von den gepanzerten Helden bewacht wird? Ihr seid doch auch ein Bürger dieser Stadt. Gewiß, es gibt auch weniger erfreuliche Resultate, das leugnen wir ja nicht. Diese grünen Neugeborenen, die nur wenige Stunden leben. Aber wir Menschen nur unter uns haben doch auch Mißgeburten! Bald wird es das nicht mehr geben - wir wissen jetzt, mit welchem Typus von Mensch wir die Engel am Besten kreuzen können. Sie haben es uns selbst bestätigt. Jetzt züchten wir die Heldenrasse von Cuzurucu - und dann sind wir unüberwindbar! Keine Krankheiten mehr, keine Schwachheiten, keine Nervenzusammenbrüche!" In diesem Moment kam eine junge, elegant gekleidete Frau mit aufgelöstem, langen, schwarzen Haar schreiend und weinend und mit den Armen gestikulierend in den Thronsaal hineingerannt. Laut aufschluchzend warf sie sich vor dem vor Schreck wie gelähmt dasitzenden Herrscher von Cuzurucu nieder. "Das könnt ihr nicht mit mir tun, Vater! Das ist furchtbar..." Sie brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus, bei dem ihr Körper von Zuckungen durchgeschüttelt wurde. "Furchtbar..." brachte sie wieder heraus. "Mein Kind...", sagte Majschdi leise mit gequälter Stimme und preßte die Lippen zusammen. Hilflos zog er die Schultern hoch und faltete die Hände über seinem Bauch. "Hat es dir Arax, der Oberpriester, gesagt?" "Ja..." "Mein Kind..." "Wie konntest du das zulassen?", brach es aus ihr heraus. "Aber, Kind, du weißt doch, es war nicht mein Beschluß. Die Götter wollen es. Mir wurde von den Priestern Mitteilung gemacht. Aber warum freust du dich nicht? Es ist doch eine besondere Ehre, von den Göttern erwählt zu werden! Du weißt, daß niemand darauf einen Anspruch hat. Nicht einmal wir von der Herrscherfamilie. Die Götter wählen, wie sie es für richtig halten, nicht nach menschlichen Kriterien. So sei nun tapfer und vor allem stolz darauf, einmal Mutter eines Halbgottes zu werden!" "Aber ich will nicht! Ich liebe den Prinzen Dschubai von Orinoro! Ihr dürft uns nicht auseinanderreißen!" Eine betretene Stille entstand, die nur von dem Schluchzen der jungen Herrschertochter gestört wurde. Sie hielt die Füße ihres Vaters umklammert. Dieser rieb verlegen an seinem Fingerring. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er bemerkte nicht, daß Heon sich erhoben und ihn gesenkten Hauptes mit den Augen fixiert hatte. Unvermutet war eine Atmosphäre der Ratlosigkeit eingetreten, einer Ratlosigkeit, die sich fragend an Heon zu richten schien. Für ihn war nun die Bühne frei. Entschlossen, aber ohne anmaßend zu wirken, begann er seinen Auftritt: "So müssen nun Menschen ihren Platz verlieren, weil die Götter ihren Platz verlassen! Großer Majschdi, es kann so nicht gut gehen. Wir sind Menschen und müssen - nein dürfen, es ist unsere Pflicht, aber auch unser Vorrecht - Menschen bleiben. Können wir richtig leben, geschweige denn, besser leben, wenn wir den Stand, die Behausung verlassen, in die uns der Alles Schaffende gestellt hat? Müssen wir nicht daran zerscheitern, daß der neue Zustand zwar anfänglich bemerkenswert ist, aber nicht den Richtlinien des immer Gutmeinenden, dessen, der alles anfing, des Unveränderlichen, nicht entspricht? Können uns auch jene Götter, die ihrerseits ihre Behausung, ihren angestammten Platz, ihre Aufgabe im Konzerte des großen Wunderbaren, verlassen und illegal eigene Experimente abwickeln; können uns diese Götter wirklich weiterhelfen? Zwar zeugen sie anfangs kuriose und nützliche Kreaturen mit uns. Aber kann das immer so bleiben? Werden sie immer ihre Intelligenz, ihre Schönheit, ihre Macht behalten können, wenn sie aus der Bahn ihres Mutterplaneten ausgebrochen sind? Werden sie nicht vielmehr in eisige Kälte hinauskatapultiert? Sind sie nicht Sternschnuppen, Irrsterne, die, nach kurzem und starken Aufleuchten in den bodenlosen Abgrund stürzen? Und wir, die uns auf sie einließen, mit ihnen? Hinab in die immer dunkler werdende Finsternis, die nie endet? Immer weiter weg von der Wärme, von dem Licht, von der Bahn unseres Daseins, von unserer Bestimmung? Schwach sind wir - das ist wahr! Aber waren nicht wir es, die dazu bestimmt waren, dieses Gestirn zu besiedeln, zu bevölkern, es zu verwalten, zu ordnen, ja gar es zu beherrschen? Hatten wir nicht dazu alles, was wir brauchten? Freilich, die Ordnung wurde zerstört durch unseren Eigensinn. Es kamen Krankheiten, Kriege, Mißgeburten. Trotzdem bekamen wir neue Möglichkeiten, wenn wir uns nur in den Einklang mit dem alles Ordnenden stellten. Nicht in unserer Kraft, nicht in der Kraft derer, die uns Hilfe versprechen und nicht wirklich geben können, nicht in der Kraft des herauskatapultiert-Werdens, des mutiertWerdens, des den-Göttern-scheinbar-gleicher-Werdens; nicht in dieser Kraft liegt unsere Stärke; sondern gerade in unserer Schwachheit, darin, daß wir so ganz und gar von Dem abhängig sind, der uns konzipiert hat, und nichts aus uns selbst können, darin liegt unsere Unschlagbarkeit. Sicher, wir werden von Feinden geschlagen, von Seuchen niedergestreckt, von Kummer gequält - aber niemand trennt uns aus der Bahn, auf der wir die wärmende Sonne des wahren Gottes umkreisen, auch der Tod nicht - wenn wir sie nicht schon hier selbst verlassen haben!" "Ihr irrt!" Alle drehten sich um. Ein gebeugter Greis mit langem schlohweißen Haar und Bart war unbemerkt eingetreten. "Der Oberpriester Arax!" murmelten zwei Diener unter sich. Zwei weitere, jüngere Priester in weißen Gewändern traten ebenfalls herein und stellten sich schützend neben den Greis. "Ihr irrt!", sagte Arax wieder. "Wißt ihr nicht, daß wir diese Bahn, von der ihr redet, schon urlängst verlassen haben? Unsere Urvorfahren verließen ihre Bahn. Wir können nie und nimmer auf sie zurück. Nie werden wir wieder die Kreatur beherrschen können als bloße Menschen, wie wir es einst konnten. Drachen, Ungetüme, wilde Tiere, bis hin zu den kleinsten Insekten - ja sogar unseresgleichen bedrohen uns ständig und wir wären ihnen hilflos ausgeliefert, gäbe es da nicht doch einen Ausweg. Was für ein Ausweg ist dies? Wir begeben uns auf die Umlaufbahn von Göttern. Haben wir keine Möglichkeit mehr, an unseren ursprünglichen Bestimmungsort zurückzugelangen, so haben wir doch wenigstens auf diese Weise einen Zugang zu den göttlichen Dimensionen, zum Pantheon, zur Welt der Götter. Wir müssen uns mit den Göttern vereinigen, um zu einem neuen, höheren Platz aufzusteigen. Zugegeben, diese Götter sind nicht der höchste Gott - aber sie dienen doch auch Ihm. Wir können nicht mehr zu dem höchsten Gott zurück, dieser Weg ist uns für immer versperrt mit ehernen Ketten, aber die Götter, die Engel, sie können uns indirekt zurückführen. Direkt kommen wir also nie mehr zu dem Urheber allen Seins, zu dem, der unsere ursprüngliche Aufgabe festlegte. Aber indirekt können wir zum göttlichen Äther aufsteigen, indem wir unsere menschliche Natur verleugnen und verschmelzen mit den Engeln zu einem neuen Wesen - dem Halbgottwesen! Indem wir Trabanten der Himmelsboten werden und so auf neue, nie dagewesene Art die Kreatur beherrschen! Freilich mag dies vorwitzig, improvisiert und selbsterwählt, ja willkürlich erscheinen - aber wird nicht auch der höchste Gott so zufriedener mit uns sein? Werden wir so nicht letztendlich auch Ihm in Vollkommenheit dienen können? Ja, lag es nicht auch in Seiner eigenen Vorsehung, daß wir Vasallen der Gottessöhne, Söhne der Engel werden sollten?" "Nein, nein und nochmals nein!", protestierte Heon. "Dies kann nicht sein. Denn der Große Unwandelbare geht keine krummen Wege, erst so, dann anders. Von Anfang an war beschlossen, daß der Mensch Mensch sein sollte. Sollte dem Großen Unwandelbaren ein Fehler unterlaufen sein? Wollt ihr Ihm dies unterstellen? Der Mensch sollte als Mensch die Kreatur beherrschen. Das anfängliche Werk des Vaters aller Götter war vollkommen, es bedarf keiner Verbesserung. Die Engel können es nicht glauben, daß Gott ausgerechnet uns zerbrechliche, schwache Staubkörner Seinem ureigensten, innersten Wesen nachahmte. So wollen einige von ihnen immer wieder hineinpfuschen in diese menschliche Natur. Nun ist es allerdings allzu wahr, daß wir dem Wesen Gottes beileibe nicht mehr entsprechen. Zwischen unserer Wesensart und der des Herzens Gottes liegen Abgründe, Welten, unermeßliche Tiefen!" "Das Herz Gottes, du meine Güte!" feixte einer der jüngeren Priester. Arax hielt ihn am Ärmel und forderte Heon mit einer Handbewegung auf, weiter zu sprechen. "Weh uns, wir haben uns selbst herausgebrochen aus der Krone, in die wir als der größte und edelste Stein eingefaßt waren. Von unserem Platz in der Krone los, sind wir nur ein Stein. Trotzdem ist unser Platz nur dort und nirgendwo anders. Und auch die Krone will uns wiederhaben. Statt einen fremden Platz, der uns von weiß wer wem angeboten wird, anzustreben, müssen wir vielmehr auf die Wiedererlangung des Ursprünglichen hoffen. Ich für mich halte es für wahrscheinlicher, daß der Konzertmeister dieses Universums eher in Form eines Menschen Menschen auf ihre Bahn zurückbringt, als daß er Engel dazu einsetzt. Dann würde er selbst als das Wesen auftreten, das er im Innersten selbst ist - als der vollkommene Mensch!" "Der höchste Gott ein Mensch in Seinem Innersten, welch eine Lästerung!" polterte der andere der zwei jüngeren Priester los. Wieder war es Arax, der ihn beschwichtigte. Freundlich wandte er sich an Heon: "Mir scheint, ihr hattet noch nicht ausgeredet." "Ich danke Euch. Jawohl, ich glaube, daß nur Gott den vollkommenen Menschen in sich birgt und keiner der Engel. Und nur dieser aus dem Innersten Gottes stammende, vollkommene Mensch wird uns wieder hinaufbringen können auf unsere Bahn, wenn wir es wollen! Und der wird ein Mensch sein, jawohl, ein Mensch - mit Ängsten, mit Gefühlen,..." Heon wandte sich wieder zu Majschdi um. "...so wie auch Eure Tochter Fithalima Gefühle hat!" Da platzte Majschdi der Kragen. "Jetzt reicht's aber! Schluß mit dem Gefasel!" "Großer Majschdi, ich beschwöre Euch, laßt ab von Eurer Engelpolitik!" "Heon, das ist keine Politik. Das ist Gottes Wille", sagte Arax ruhig und bestimmt. "Es ist unser einziger Ausweg!" "Nein. Ein Irrweg. Er ist gegen Gottes ursprüngliche Absichten und wird furchtbar enden. Hört auf mich, großer Majschdi, ich beschwöre Euch. Die Engel, die noch wirklich zu Gott halten, würden mir recht geben. Hört auf mich. Sonst werdet Ihr es bereuen. Warum wollt Ihr Euch und den Euren unnötig Leid zufügen?" "Vater, bitte hör' doch auf Heon!" "So. Jetzt ist aber wirklich Schluß! Ich will nichts mehr davon hören. Wenn wir dich noch einmal erwischen, daß du das Volk gegen die Beschlüsse der Götter und ihrer Priesterschaft aufwiegelst, dann verstoße ich dich aus unserer Stadt! Das ist mein letztes Wort." Erneut trat eine lähmende Stille ein. Da schluchzte die Herrschertochter wieder laut auf. Immer noch hielt sie die Füße ihres Vaters umklammert. Arax und seine beiden Gehilfen sahen ungerührt zu, wie Schlächter, die ein zitterndes Kalb begutachten. Heon hatte sich wieder hingekniet und sah zu Boden. Majschdi blickte starr und düster vor sich hin. "Komm", sagte der Engel und faßte Oskar am Arm. Bevor Oskar etwas einwenden konnte, schwebten sie durch den Tunnel zurück. Kaum waren sie in dem Nervenzellenverdickungsraum angekommen, da fing Oskar schon an, den Engel mit Fragen zu durchlöchern: "Was war das für eine Stadt? In welcher Zeit waren wir? Wie ist es ausgegangen mit diesem Heon? Was ist danach passiert? Was war mit diesem komischen Wächter? Und was um Himmels willen haben damals bloß die Engel angestellt?" Der Engel überlegte ein wenig. "In was für einer Zeit? Ja, das lag schon sehr lange zurück. Mindestens 6000 Jahre, wenn nicht noch viel mehr. Damals gab es viele solcher Stadtstaaten, wie Cuzurucu, Atatarena, Orinoro. Die Menschen versuchten, sich in der wildgewordenen Natur zu behaupten und machten sich Gedanken, wie sie in mehr Sicherheit leben könnten. Dazu kam, daß manche der vorwitzigen Engel diese Menschen derart neugierig beobachteten, daß sie es schließlich nicht lassen konnten, sich ihnen in Form von menschenähnlichen Wesen zu zeigen. Na ja - und manche wurden dann auch etwas zu zutraulich, um es gelinde auszudrücken. Und daraus sind dann solche unglücklichen Gestalten entstanden, wie dieser Wächter. Oder jene Helden, auf die Majschdi anspielte, mit deren Hilfe er die Schlacht gegen die Atatarener gewann. Als man erkannte, daß die Kreuzungen, Sie verzeihen das Wort, zwischen den Engeln und Menschen Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten hervorbrachte, betrieb man diese Sache in größerem Ausmaße, indem man die Engel anbetete und sie regelrecht einlud, sich mit dem Menschengeschlecht zu vermischen. Dies war übrigens etwas völlig Neues auf dem Gebiet der Religion, denn bis dato hatte man nur den einen großen Gott angebetet. Auch die Engelsanbeter glaubten immer noch an diesen einen großen Gott, sie meinten aber nun, durch ihre Engelsanbeterei schneller etwas Gutes von diesem Gott zu bekommen, auf Umwegen gewissermaßen. Die scheinbaren Beweise lagen ja auf der Hand: Bessere Krieger und intelligente "Halbgötter", wie man diese Mutanten nannte. Der Streit zwischen Arax und Heon veranschaulichte den damaligen Konflikt zwischen zwei Wegen, von einem und demselben Gott etwas zu bekommen. Erst später bildete sich eine Art Vielgötterei heraus, als die Engel immer mehr zu Göttern wurden, die in keinerlei Beziehung zum alleinigen Gott mehr standen und so Letzteren schließlich ablösten. Dann nämlich gab es einen Gott für alles und für jedes: Einen Regengott, einen Sonnengott, einen Kriegsgott, einen Fruchtbarkeitsgott, und so weiter. Der alleinige, wahre Gott geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Dies war aber damals noch nicht das Hauptproblem. Das Hauptproblem damals war, daß die Menschheit in Gefahr stand, völlig ausgelöscht zu werden. Durch die vielen Kreuzungen mit den Engeln gab es schließlich immer weniger Menschen, deren Erbsubstanz keine Spuren der Engel aufwies. Heon sollte nämlich recht behalten. Die Vermischung mit den Engeln hatte fatale Folgen. Nicht nur verloren sie ihre Menschlichkeit - sie wurden ganz entsetzlich grausam und skrupellos. Keiner war mehr vor dem anderen sicher. Die Menschheit hätte sich fast vollständig in solche Engels-Mutationen umgewandelt, wären nicht ein paar mutige Heon-Anhänger übriggeblieben, die aus den Städten verstoßen wurden und die dann als einzige eine Naturkatastrophe überlebten. Dadurch konnte Gott allen Engeln wieder beweisen: Seht ihr, meine Humusse sind mir gegenüber loyaler als eure Kreuzungen mit ihnen oder ihr selbst. Die sind so schon richtig geschaffen! Und nur so werden sie herrschen über euch! Außerdem wurde den Engeln das Recht genommen, derartige Abstrusitäten mit den Menschen weiter vorzunehmen. Deshalb treten Engel seitdem so gut wie nie mehr sichtbar als Engel auf. Ein paar ganz Schlimme unter den abgefallenen Engeln träumen zwar noch immer von Fortpflanzung mit Menschen, aber realisieren so etwas nicht mehr in Wirklichkeit, wobei sie allerdings hin und wieder die Phantasie einiger Menschen besonders in deiner Zeit mit diversen ekelerregenden Gerüchten darüber beeinflussen. Dies soll aber nicht unser Unterhaltungsthema sein. Jedenfalls haben dann jene paar wenigen überlebenden Heon-Anhänger nach besagter Naturkatastrophe die Erde neu besiedelt und ganz von vorne angefangen mit der menschlichen Zivilisation. Ja, so war das mit den Engeln damals." "Und warum muß ich das eigentlich alles wissen?" fragte Oskar. "Nun, lieber Oskar, Sie leben ja in einer Zeit, in der man den Engeln zu wenig zutraut. Damals hat man ihnen zu viel zugetraut und sich zu viel mit ihnen beschäftigt. Manchmal erhält man einen guten Überblick über eine Sache, wenn man sie von entgegengesetzten, extremen Blickwinkeln aus betrachtet. Was Sie dabei verstehen lernen sollen hat aber nur am Rande mit Engeln zu tun, es geht in der Hauptsache um den wahren Humus-Humanismus. Aber nun weiter, wir wollen gleich zur nächsten Lektion starten. Der dritte Tunnel wartet schon auf uns...!" Die Versuchung Der dritte Tunnel war schrecklich lang und dunkel. Am anderen Ende aber erwartete Oskar ein strahlend blauer Himmel. Sie befanden sich in einer verlassenen Ödlandgegend. Vereinzelt standen dürre Dornbüsche herum. Er hörte das Zirpen von Heuschrecken. Die Luft flimmerte in der Hitze. Oskar war es aber nicht heiß, er war ja, wie auch der Engel, wieder einmal unsichtbar. Nach einer Weile wurde es Oskar langweilig. "Was wollen wir hier?" fragte er den Engel. "Eine Geschichte, die sich vor langer Zeit zugetragen hat, ansehen. Da, schau, da kommt er!" "Wer?" "Der Brotmensch!" Oskar sah eine Gestalt mit einem hellen Gewand, die sich langsam in der Ferne auf einem Berggrat voranschleppte. "Komm, wir wollen näher hingehen", sagte der Engel. "Sei aber leise. Du sollst jedes Wort mitbekommen." Leise näherten sie sich dem Brotmenschen. Oskar war überrascht, einen ausgemergelten, gebeugt gehenden Mann mit verklebten, staubigen Haaren zu erblicken. Sollte so der Humusprototyp aussehen, von dem der Engel erzählt hatte? Bei näherem Hinsehen aber fiel ihm das ernste und edle Gesicht auf. Der Brotmensch hatte allem Anschein nach schreckliche Bauchschmerzen und von Zeit zu Zeit formte er seinen Mund zu einem kleinen runden Kreis, als ob er stöhnen wollte, aber nicht die Kraft dazu hatte. Oskar wollte gerade den Engel fragen, was denn mit dem Brotmenschen los sei, da fing es auf einmal unter ihnen schrecklich an zu dröhnen. Oskar dachte sofort an ein Erdbeben und sah sich instinktiv nach einem schützenden Ort um. Und als er sich gerade umdrehte, erschrak er noch mehr - denn hinter ihm hatte sich eine riesige Gestalt, die von einem beißenden, künstlichen Licht umstrahlt wurde, aufgebaut. "Der Lichtblitzdonnerbomber", durchzuckte es Oskar. Der Engel zog ihn ein wenig zur Seite, denn Oskar stand gerade genau zwischen dem Lichtblitzdonnerbomber und dem Brotmenschen. Nun standen sich der Lichtblitzdonnerbomber und der Brotmensch gegenüber. Der Lichtblitzdonnerbomber besah sich den Brotmenschen eingehend, mit spöttisch verzogenem Mund. Der Brotmensch stand gebeugt da, und blickte zu Boden. "So, so, so. Ja, Ja, Ja." Der Lichtblitzdonnerbomber sah siegessicher auf den Brotmenschen herab und verzog seinen Mund, wie ein Arzt, der einen ungehorsam gewesenen Patienten besieht und rechthaberisch auf die von ihm vorhergesagten Folgen des Patienten-Ungehorsams anspielt. "So. Du meinst also, daß du der Sohn der Orgel bist. Der großen Orgel, wohlgemerkt. Ja, ja, der großen, großen Orgel." Der Lichtblitzdonnerbomber brach in schallendes Gelächter aus. "Wegen dieser Stimme aus dem Himmel meinst du, du wärst etwas Besonderes. Der Sohn der großen Orgel. Aber bitte, sieh dich doch mal an, wie abgemagert und ausgedörrt und abgezehrt du bist! Ein wandelndes Skelett! Du klappst ja vor Hunger schier zusammen. Der Sohn der Orgel, der Brotmensch HUNGRIG! Das gibt's doch gar nicht. Ach, apropos Orgel, dann hättest du doch auch Macht über die Schöpfung." Der Lichtblitzdonnerbomber bückte sich und hob einen flachen, zwei Fäuste großen Stein auf, den er dem Brotmenschen triumphierend vor die Nase hielt. "Und diese Steine hier sind ja dann wohl auch von dir. Schade, daß sie keine Brote sind. Eigentlich sieht ja so ein runder, hellbrauner, abgeflachter Stein wie ein leckeres, knuspriges, duftendes Fladenbrot aus! Wie es gerade aus dem Ofen geschoben wird, außen schön knusprig, innen schön warm und noch ein wenig feucht. Ach, nein, der Sohn der Orgel muß ja warten, bis ihm die Orgel so ein Brot vom Himmel schickt." Mit einer ruckartigen Bewegung warf der Lichtblitzdonnerbomber den Stein einen Abhang hinunter, wo er eine kleine Steinschlaglawine auslöste. Mit krachendem Getöse kamen die Steine in einer Talmulde an. "Du dumme Orgelpfeife! Merkst du nicht, wie dumm du bist? Bei deiner Machtfülle solltest du doch wirklich einmal dein Schicksal in die eigenen Hände nehmen können, oder nicht? Wieso nur auf diese Orgel vertrauen, wenn doch dir selbst, dir, Orgelgebläse, dem Sohn, göttliche Kräfte verliehen wurden? Durch dein Wort müssen sich die Dinge ändern, ganz wie bei der Orgel, als sie alles einstellte. Sie orgelte und es wurde etwas Gutes geschaffen. Also, sprich doch auch du nur ein Wort." Der Lichtblitzdonnerbomber hatte einen zweiten, kleineren Stein aufgehoben, den er nun mit zweien seiner langen, spitzen Finger dem Brotmenschen vor Augen hielt. "Orgle diesen Stein an, sag ihm: Er werde ein Brot! Es ist ja außerdem keine große Sache, bei der du die Allmacht der Orgel in Frage stellst. Doch nur wegen einem klitzekleinen Brötchen. Das solltest du dir schon gönnen. Außerdem wird ja dadurch die Allmacht der Orgel gerade unterstrichen, daß du dir Brote herstellst aus Steinen! Wenn du schon der Sohn der Orgel bist, dann solltest du doch auch Vertrauen in dich selbst haben. Die göttliche Kraft, die dann in dir wohnt, verdient doch dein Vertrauen, oder nicht?" Der Brotmensch schwieg und sah zu Boden. Nach einer Weile sagte er leise: "Ich brauche doch nicht so damit anzugeben, daß ich Sohn der Orgel bin. Wieso sollten mir daraus Vorteile erwachsen, vor der verordneten Zeit? Das wäre nach deiner Denkweise. Immer gleich weg vom verordneten Platz! Nein, so machen wir das nicht. Ich bin jetzt Brotmensch. Mensch. Der Orgel gleich, und doch Mensch." "Ach ja, natürlich, Mensch!" Der Lichtblitzdonnerbomber bog sich vor Lachen. "Darum bist du ja jetzt auch außerhalb jenes schönen, idyllischen Parks, in dem sich die Obstbäume nur so gebogen haben vor herrlichen, saftigen Früchten! Ja, außerhalb jenes lauschigen Örtchens, aus dem die ersten Menschen mit Schimpf und Schande evakuiert wurden, weil sie auf mein Angebot eingegangen sind. Jawohl, mein Angebot. Und nun bist auch du dort, wo sie verdienten, hinzukommen! Mensch will er sein, nun ja, dann muß er sich auch belieben mit so manchem wasserlosen Fleckchen Erde!" Wieder lachte der Lichtblitzdonnerbomber. "Ja, Mensch bin ich. Und als Mensch werde ich nur von dem leben, was die Orgel gibt! Von ihren Ordnungen, von ihren Platzanweisungen, von ihren Verfügungen. Das ist es, was Leben gibt! Bleiben auf dem Platz, der von der Orgel zugewiesen wurde! Selbst wenn es ein Platz in der Wüste ist!" Der Lichtblitzdonnerbomber schrie furchtbar auf. Diese Worte des Brotmenschen hatten einen Nerv bei Ihm getroffen. Er kochte vor Wut und fing an, zu gleißen und zu funkeln. Sein Licht wurde so stark, daß Oskar wegsehen mußte. Danach kam er wieder zu sich. Wütend zischte er dem Brotmenschen ganz nahe ins Ohr: "Na gut. Diese Partie hast du gewonnen. Aber das Spiel ist noch nicht zuende! Also, gut. Ich weiß natürlich, daß du der zweite Humus sein willst. Willst dich mit den ersten Humussen gleichstellen, willst ihren Zustand auf dich nehmen. Willst ihr Aus-derBahn-Geworfen-Sein auf dich nehmen." Der Lichtblitzdonnerbomber setzte sich auf einen Felsen und lehnte sich genüßlich zurück. Dann fuhr er fort: "Aber was soll's? Nichts wird sich in Wirklichkeit ändern! Wahres Leben gibt's doch nur außerhalb der Bahnen, die von dieser einfallslosen, pedantischen Orgel vorgeschrieben werden. Und auch du, meine liebe kleine Orgelpfeife, auch du kannst deine göttliche Energie gewinnbringend anlegen! Sei doch nicht so dumm und einfältig! Mach' es doch wie ich! Sieh' nur, zu welcher Macht und Herrlichkeit ich gekommen bin! Schau dir einmal alle diese Reichtümer an, die mir zu Füßen liegen!" Der Lichtblitzdonnerbomber holte etwas wie einen riesigen Bildschirm heraus. Dann schnippte er mit den Fingern und Oskar konnte seinen Augen nicht trauen! Zum Greifen nahe erschienen auf dem Bildschirm riesige Paläste von atemberaubender Schönheit und Erhabenheit in symmetrisch angeordneten, gigantischen Parkanlagen. Goldene Schalen mit exotischen Früchten überladen wurden elfenbeinfarbenen Bauchtänzerinnen gereicht, die sich auf seidenbespannten Kissen genüßlich räkelten. Stolze Schiffe, mit Waren aus fernen Ländern angefüllt, fuhren pittoreske kleine Hafenstädtchen an, die aus schmuckstückhaften Schlößchen bestanden, eines schöner gelegen wie das andere, in Palmen- und Zypressenparks eingefaßt wie Pralinen in einem Porzellankästchen, verträumt gelegen in Berghängen, an Teichen, auf Anhöhen, auf der Küste vorgelagerten Inselchen. Mit Gold, Silber, Perlen und Edelsteinen umgarnte schöne Mädchen und Jünglinge tanzten auf mit Lampions behangenen Seeterrassen, über ihnen ein großer, gelber Mond. Hunderte von Metern lange Tafeln bogen sich unter der Last von erlesensten Delikatessen, die in unermüdlicher Arbeit dekorativ aufgetragen worden waren. Oskar lief unsichtbares Wasser in seinem unsichtbaren Mund zusammen: Hummern, Garnelen, bebratene Fasane, Weintrauben, Pasteten, Torten. Schnelle Wagen, von muskelstrotzenden, riesigen Pferden gezogen, jagten über breite, gepflasterte Straßen. Der Brotmensch stand mit großen, aufgerissenen Augen da und zitterte. "Na? Das verschlägt dir die Sprache was? Immer noch so überzeugt von deinem vermeintlichen Orgelauftrag? Willst du's nicht doch einmal mit einer kleinen Desertation versuchen? Vergiß nicht, mir sind alle diese Reiche übergeben, und ich gebe sie, wem ich will!" Der Brotmensch sah zu Boden, schüttelte den Kopf und seufzte schwer. "Du lügst. Du warst schon immer ein Lügner. Selbst wenn du mal ein Körnchen Wahrheit von dir gibst, dann nur, um zu versuchen, eine noch größere und folgenschwerere Lüge damit zu stützen. Leider hast du tatsächlich viel Einfluß in der Welt. Wegen all dieser Desertationen. Oft läßt es die große Orgel zu, daß du mit hineinpfuschen darfst in die Geschicke der Welt. Aber ÜBERGEBEN ist dir noch lange nichts! Diese Welt war den Humussen zugedacht, und wir werden ihnen einen Weg schaffen, sie wieder zurückzugewinnen!" "Den Humussen? Hahahaha! Das ich nicht lache! Die sind doch in meiner Hand wie Wachs, wie formbares Material; die fressen mir doch aus der Hand. Gar nicht daran zu denken, daß sie die Vollmacht über die Welt bekommen! So, und warum glaubst DU mir nun eigentlich nicht, daß ich die Herrschaft über diese Welt habe? Ich will es dir beweisen: Falle vor mir nieder und bete mich an, und ich will sie dir geben! Ehrenwort! Bei allem kosmischem Staub zusammen, ich schwöre es!" Blitzschnell rollte der Lichtblitzdonnerbomber einen in den schönsten Farben glänzenden Teppich vor den dürren Knöcheln des Brotmenschen aus und machte eine einladende Handbewegung, darauf niederzuknien. "Anbetung, dir, einem Ausgebrochenen? Soll ich dadurch dein Ausgebrochen-Sein absegnen? Nein, Anbetung bekommt nur der Große Unwandelbare. Die für immer richtig Gestimmte. Vor ihm allein, dem Anfänger und Wiederbringer, sollen andere sich niederwerfen. Außerdem liegt der Schlüssel zur Herrschaft in ganz anderen Händen. Die Säulen, welche die Weltwirklichkeit tragen, liegen auf Prinzipien, die du nie verstehen würdest. Sie liegen auf den Prinzipien der Schwachheit und des GebackenWerdens. Versuch' das zu verstehen, du wirst es nie können! Was du willst, ist nur eines: Von mir recht zu bekommen. Dann bekomme ich nichts und du bekommst tatsächlich Macht über die Welt, so wie du willst, nicht nur bedingt! Aber das soll dir nicht gelingen. Ich werde meine Energie nicht "gewinnbringend" anlegen, wie du sagst, sondern nur für die Pläne der großen Orgel und für die Humusse einsetzen!" Der Lichtblitzdonnerbomber merkte, daß es keinen Zweck hatte, auf dieser Linie weiterzudiskutieren. Nur schwer konnte er seine Verzweiflung unterdrücken. Schnell sagte er: "Also, gut. Diese Welt ist ja sowieso nichts für dich. Du bist und bleibst eben ein hundertprozentiger Idealist. Hätte ich ja gleich wissen müssen. Mein lieber Orgelsohn! Du glaubst ja gar nicht, wie ich dich insgeheim achte und ehre. Meine etwas raubeinige Art mußt du entschuldigen. Es ist nicht so gemeint. Wir sind doch beide Wesen aus der Gegenwart der großen Orgel. Zugegeben, ich habe einen entgegengesetzten Weg eingeschlagen - aber was tut's? Trotzdem können wir gut zusammenarbeiten. Ich verlange natürlich nicht, daß du etwas für mich tust. Du willst ja nur der Orgel selbst dienen. Aber, vielleicht kann dir ein kluger Rat von einem weit entfernten Himmelsvetter doch etwas dienlich sein bei deiner gewagten Mission. Weißt du - das ist vielleicht gerade das Freidenkerische und Verspielte in meiner Natur - zuweilen beliebe ich etwas für die Gegenseite zu tun. Natürlich sind solche Begriffe wie "Gegenseite" ja sowieso nur für die Uneingeweihten. In Wirklichkeit bin ich ja dein Freund, auch wenn du sicherlich etwas mißtrauisch bist. Also, hier ist mein Vorschlag: Du willst diesen Humussen helfen. Gut. Soll geschehen. Wie wird dies am besten bewerkstelligt? Na klar! Du mußt natürlich ihr König werden. Und nun hör gut zu: ..." Der Brotmensch unterbrach ihn: "Hör auf damit. Ich vertraue nur auf die Hilfe der Orgel. Sie wird alles richtig machen." Der Lichtblitzdonnerbomber winkte ungeduldig mit der Hand, als wenn er sich verbrannt hätte. "Freilich, freilich, eben, das meine ich ja gerade! Davon wollte ich ja gerade reden. Also, hör zu: Ich gebe dir jetzt einen ganz heißen Tipp, wie du nämlich genau dieses Vertrauen, von dem du gerade so großartig Zeugnis abgelegt hast, unter Beweis stellen kannst. Paß auf. Du kennst doch diese Stadt Königshausen, wo sie alle so fanatisch - äh, ich meine hingegeben - an die große Orgel zu glauben meinen - äh, na ja, ich meine eben, glauben. So. Diese Königshausener sind ganz wild darauf, einen von der Orgel gesandten Menschen zu begrüßen, den sie dann zum König machen werden und der sie dann von der Fremdherrschaft der Lorbeerlinge befreit. Und jetzt paß' auf, jetzt kommt es: Diese Königshausener glauben, daß eben dieser Orgel-Mensch, wenn er zum ersten Mal bei ihnen aufkreuzt, als eine Art Superman auf ihrer religiösen Vielzweckhalle herumturnt. Sodann wird er elegant heruntersegeln, von unsichtbaren Engelchen sanft eskortiert, der jubelnden Menge entgegen! Sofort werden sie ihn zu ihrem König krönen - und, was noch erstaunlicher sein wird - sie werden ihm alles abnehmen, was er von sich gibt! Alles, hörst du, alles! Er wird dieses abscheuliche - äh, Entschuldigung, ich meine natürlich, vortreffliche - Gesetz der Orgel so richtig zum Zuge bringen bei diesen Königshausenern. Und das will etwas heißen, denn du weißt ja, so wie ich auch, wie störrisch die sind, diese alten Esel. Na, was hältst du davon?" Gierig blickte der Lichtblitzdonnerbomber auf den gekrümmten Brotmenschen, der keinen Laut von sich gab. "Überleg' doch mal. Du, der perfekte Orgel-Mensch! So richtig mit übernatürlichen Kräften! Du bist doch aus der großen Orgel, oder nicht? Ja, natürlich, du bist es ja, mein lieber Orgel-Sohn! Also. Es ist ganz einfach: Du gehst auf den höchsten Punkt am Rande des Daches dieser Halle. Dann gebe ich dir einen Schubs - und schon kommen die lieben, Orgel-loyalen Engelchen und puffern dich weich und sanft ab, gerade so kurz vor dem Boden. Oder schon früher. Wie du willst. Du kannst das ja mit den Engeln noch bereden, ob du mehr etwas Schockierendes, oder mehr so etwas Schwebendes, Magisches vorziehst. Auf jeden Fall wird der Erfolg total sein. Glaub' mir, ich kenne diese Königshausener, ich weiß, auf was die stehen! Bei Wundern dieser Art sind die immer total hin. Dann sind die nicht mehr zu bremsen in ihrer Verehrung für die große Orgel. Glaub's mir, ich weiß es! Danach kannst du ihnen deine Ideen von der Orgel verkündigen. Ich ziehe mich dann diskret zurück. Aber wenigstens diesen Tipp, diese kleine Hilfestellung wollte ich dir noch geben. Ich werde dich jetzt alleine lassen. Das heißt - eigentlich würde ich doch auch gerne zugucken, wenn du gestattest, du gestattest doch? Ja, natürlich gestattest du es mir. Bist ja ein gutes Kerlchen. Also, wie wär's? Wollen wir gleich zur Königshausener Vielzweckhalle starten?" Der Brotmensch stand noch immer gekrümmt da. Nach einer Weile sagte er: "Kommt nicht in Frage. Ich vertraue nur auf die Orgel." Der Lichtblitzdonnerbomber kam ins Schwitzen. Heftig gestikulierend, und sich gewaltig zusammenreißend, um nicht ausfallend zu werden, flötete er weiter: "Ja, ja, ja, ja. Das meine ich ja auch! Ich meine, du sollst das ja nicht für mich tun, sondern doch für die lieben Humusse in diesem verdammten - äh, 'tschuldigung liebholden Königshausen! Es ist doch für DEINE Sache! Für DEINE Mission, für DEINE Orgel! Du kannst dich ja auch selbst hinabstürzen - äh, ich meine, eben dieses klitzekleine Hüpferchen tun! Ich stell' mich dann unsichtbar unten hin, unter die Zuschauer. Ja, genau, ich glaube, so machen wir es, so wird es ein voller Erfolg! Wie hätte ich so blöd sein können, anzunehmen, dir gefiele es, von mir einen Schubs zu kriegen! Als ob du feige sein könntest..." Der Lichtblitzdonnerbomber lachte gekünstelt. Er hatte alle Mühe, Haltung zu bewahren. "Nein, ich lasse mich nicht auf solche magischen Tricks ein", sagte der Brotmensch ruhig und bestimmt. "Aber, aber, lieber Orgel-Sohn, mein lieber Orgel-Mensch! Das ist doch kein magischer Trick! Zugegeben, es sieht vielleicht wie einer aus. Aber denk' doch an die religiöse Erwartung deiner lieben Königshausener Schäfchen, deiner lieben Wuschelschäfchen! Du mußt ihnen doch ein wenig entgegenkommen! Du liebst doch diese lieben, kleinen Humusse so sehr! Außerdem kannst du doch dadurch dein BESONDERES Vertrauen zur großen Orgel unter Beweis stellen! Ein GANZ BESONDERES Vertrauen, nämlich!" "Eben das ist es, was mich daran stört. Wieso ein GANZ BESONDERES Vertrauen? Die große Orgel wird mir genau die Portion Vertrauen schenken, die ich gerade brauche. Ich brauche nichts mehr. Ich brauche kein GANZ BESONDERES Vertrauen unter Beweis zu stellen, weil ein GANZ BESONDERES Vertrauen nämlich eines wäre, das ich mir selbst aufgebaut hätte! Wem sollte ich damit imponieren? Der großen Orgel etwa? Den Menschen unter den Königshausenern, die sowieso nie die Orgel zu Gesicht bekommen werden? Und außerdem, wieso bist du eigentlich so krampfhaft an dieser Sache interessiert? Warum willst du mir einen Weg leichter machen, der nur als ein schwerer Weg zum wirklichen Erfolg führen kann? Außerdem hast du vergessen, daß ich kein Orgel-Mensch bin, sondern ein Mensch. Ich bin hierher als Mensch gekommen und ich werde keine übernatürlichen Mächte der Orgel in Anspruch nehmen, wo es nicht ausdrücklich von der Orgel selbst zugelassen ist. Und in diesem Falle sehe ich bei weitem kein grünes Licht von der Orgel. Das ist nur eine typische AusgebrochenenIdee! Immer wollt ihr Ausgebrochenen testen, wie weit ihr an den Felsabhang hinkriechen könnt, ohne hinunterzufallen. Warum soll ich die Fürsorge der Orgel testen? Ich weiß doch, daß ich der Orgel vertrauen kann! Warum sollte ich Experimente mit der Orgel und den Engeln spielen, so mir nichts dir nichts, auf Unfall komm' 'raus?" Der Brotmensch hatte sich während seiner Antwort aufgerichtet und schaute am Lichtblitzdonnerbomber vorbei zum Horizont, wo gerade die Sonne unterging. Er lächelte zum ersten Mal und blinzelte verspielt mit den Augen, in denen sich der rote Glutball der untergehenden Sonne spiegelte. Oskar gefiel es, den abgemagerten Brotmenschen anzusehen. Nur kurz wandte er seinen Blick zum Lichtblitzdonnerbomber. Wie erschrak er da! Der Lichtblitzdonnerbomber war pechschwarz geworden und versprühte kleine, orangefarbene Funken. Plötzlich war es wie ein gewaltiges Bersten und der Lichtblitzdonnerbomber verschwand in einer sich unter ihm öffnenden Erdspalte. Dabei stieß er fürchterliche Flüche und Krächzlaute aus. Der Brotmensch schien davon völlig ungerührt. Wieder faßte der Engel Oskar am Ärmel. "Schluß mit der Vorstellung", meinte er. Dabei wäre Oskar noch gerne einen Augenblick geblieben, denn gerade kamen wundersame Lichtwesen von oben herab, die sich um den Brotmenschen zu scharen begannen. Aber schon waren Oskar und der Engel wieder im Tunnel. Oskar wunderte sich, daß ihn diese Lektionen nicht ermüdeten. Er konnte es vielmehr kaum erwarten, seine Fragen zu stellen: "Warum war denn dieser Brotmensch so abgemagert? Und was meinte er mit "Gebacken-Werden"? Was hat es mit diesem "Schlüssel der Herrschaft" auf sich?" Der Engel lächelte. "Ja, das sind schon komische Umschreibungen für das, was wirklich geschehen ist. Vieles davon ist selbst für uns Engel im tiefsten Grunde völlig unverständlich, gedanklich immer nur am Rande und auch dann nur schwer nachzuvollziehen. Die Orgel hat nämlich viele Geheimnisse. Vieles läßt sich einfach nicht ergründen. Du mußt auch nicht alles wissen. Was für dich wichtig ist zu verstehen, ist, daß in diesem Brotmenschen der wahre Humanismus verwurzelt ist. Es war der Orgel ganz wichtig, daß der Brotmensch eine wahre menschliche Natur hat. Das wurde natürlich sofort von den Engeln angezweifelt, die sich so über die Idee der Orgel, Humusse über Engel herrschen zu lassen, geärgert hatten. Nun gab es Stimmen, die behaupteten, der Brotmensch sei eigentlich ein Übermensch. Die Orgel habe eingesehen, daß die Sache mit den Humussen schief gelaufen war. Der Lichtblitzdonnerbomber hatte die ersten Humusse ja zum Desertieren verleitet, mit Erfolg. Seitdem waren alle Humusse immer gegen die Orgel eingestellt, auch wenn manche von ihnen trotzdem gemäß den Ordnungen der Orgel leben wollten. Viele behaupteten also, die Orgel habe jetzt diesen Brotmenschen gesandt als ganz normalen Menschen, aber doch heimlich etwas in ihn hineingebaut, das ihn engelhafter, übernatürlicher, göttlicher mache. Die Schwierigkeit dabei war, daß der Brotmensch ja tatsächlich dem innersten Wesen der Orgel genau entsprach, ja sozusagen mit ihr identisch war und ist. So lag es also nahe, die Orgel zu verdächtigen, sie spiele jetzt nur Theater, der Brotmensch sei nur scheinbar ein Mensch und wäre in Wirklichkeit von einer weitaus „besseren“, engelshaften, nichtmenschlichen Substanz als die kleinen, schwachen, zerbrechlichen Humusse. Daß dem nicht so war, sollte nun bewiesen werden. Auch der Brotmensch wurde aus ganz normalem Humusmaterial hergestellt – allerdings stellte nun die Orgel all das Genetische so ein, dass gewissermassen die Ausgangsposition des ursprünglichen Humus-Projektes wieder erlangt wurde – ein perfektes Wesens, mit Leben nur von Gott, aber eben auch aus sterblichem Humusmaterial hergestellt. Die Orgel verlieh ihm ihr Leben, wie bei den ersten Humussen auch, nur daß diesmal auch eine irdische Mutter eine spezielle Rolle dabei spielte und nicht direkt Kompost verwendet wurde. Die Vaterrolle wurde von der Orgel selbst übernommen. Das Resultat war ein zweiter Anfangs-Humus. Auch er konnte Hunger empfinden, war auf Wasser und Nahrung angewiesen. Auch er hatte Wünsche, Hoffnungen, Ängste. Auch er hätte gerne in einer schönen Naturlandschaft, in einem schönen Haus gelebt. Es ist wichtig, daß dies richtig verstanden wird, denn nicht für irgendwelche eingebildeten Wesen, sondern für ganz konkrete, auf Erden wandelnde Humusse sollte der Brotmensch auftreten. Er sollte als Mensch den Menschen eine neue Möglichkeit geben, wieder in die Stellung zu gelangen, aus der sie gefallen waren. Denn kein Mensch kann selbst, aus eigener Anstrengung, in diese Stellung gelangen. Nun wurde die Orgel selbst zu einem Humus und stellte sich somit ganz auf die gleiche Stufe wie die Humusse. Du hast sicher bemerkt, wie der Lichtblitzdonnerbomber immer versuchte, den Brotmenschen ein klitzekleines Stückchen höher als die Menschheit aufsteigen zu lassen. Denn dann könnten er und alle Engel der Orgel sagen: Was willst du, dies ist nicht der ursprüngliche Humus, der die Welt beherrschen sollte, sondern ein Halbgott, oder ein Phantom, oder ein verkleideter Engel. Er hungert zwar eine Zeitlang herum, wie die Humusse, aber wenn er dann doch ein Brötchen braucht, zaubert er sich eben eins, so wie alle anständigen und halbwegs begabten Halbgötter es machen würden. Wenn er Erfolg bei der religiösen Elite haben möchte, führt er Salto-Mortale-Sprünge in Königshausen vor. Dann wäre der Brotmensch kein Mensch, sondern ein Halbgott geworden. Alles wäre verpatzt gewesen. Die Orgel hätte sich bis auf die Knochen blamiert. Manche Engel hätten gelacht: Gib's auf, du kannst aus diesem toten Pflanzenmaterial nie und nimmer ein Wesen erschaffen, das wirklich über uns herrschen wird! Versuch's doch lieber mit uns, deinen vortrefflichen, superintelligenten, hyperilluminierten Engeln! Veranstalte doch einen Wettbewerb, damit wir sehen, welche Sorte Engel am besten dafür geeignet ist, das Universum zu richten! Die Folgen wären unübersehbar gewesen." "Wäre dann die Orgel wohl in eine Zwangslage gekommen?", wunderte Oskar sich. Der Engel überlegte einen Augenblick und meinte dann: "Ja, in gewisser Weise schon, obwohl es natürlich in letzter Konsequenz so ist, daß die Orgel, die ja alles erschaffen hat, von keinerlei Umständen abhängig ist. Sie kann nicht von ihrer eigenen Schöpfung zu etwas gezwungen werden. Und es gibt keinen Bereich, der nicht zu ihrer Schöpfung gehört. Die Humusse hätten ja auch nach ihrem Ungehorsam keinerlei Anrecht darauf gehabt, Ordnungen der Orgel zu empfangen. Die Orgel hätte tatsächlich mit einer völlig neuen Schöpfung anfangen können. Sie brauchte die bestehende Schöpfungsordnung nicht, um im Bereich des Wirklichen zu sein, sie ist ja selbst die alle Wirklichkeit Bestimmende. Aber dies führt jetzt zu weit. Jedenfalls ist es nicht dazu gekommen, daß der Brotmensch auf die Versuchungen des Lichtblitzdonnerbombers einging. Statt dessen begründete er eine neue Art von Humanität, die nichts weiter als die ursprünglich von der Orgel vorgesehene ist.“ „Hm, ja das leuchtet einigermaßen ein, aber wie können nun andere davon profitieren?“ wunderte sich Oskar. „Ja, jetzt paß auf, das ist nun eine ganz entscheidende Sache. Die Frage ist ja, wie schaffte der Brotmensch es, den anderen Humussen einen Zugang zu dieser neuen Art von Humanität, von Mensch-Sein zu eröffnen? Wie konnte erreicht werden, daß das Ausgebrochen-Sein der Humusse, die von den ersten Humussen herstammten, überwunden werden konnte? Durch eine Reihe von paradoxen Umkehrungen, durch ein Auf-den-Kopf-Stellen der hiermit zusammenhängenden Fakten. Was war passiert? Die ersten Humusse hatten alles, was sie brauchten und noch mehr dazu und dies alles im Überfluß. Folglich, das heißt, gemäß besagter Umkehrung, hatte der Brotmensch in dieser Episode seit vielen Tagen nichts und obendrein nicht einmal das, was ein Mensch zum Überleben braucht und war nahe daran, an Hunger zu sterben. Die ersten Humusse hatten ein klares Verbot, eine ganz bestimmte Art von Zwetschgen nicht anzurühren. Es gab keinen Grund, dieses Verbot zu mißachten, hatten sie doch tausend andere Arten von viel schöneren Früchten. Der Brotmensch dagegen hatte kein klares Verbot, Brot zu zaubern und es gab Tausende von scheinbar vertretbaren Gründen, in seiner Lage Steine zu Brot zu machen. Die Humusse waren mit Vitaminen nur so vollgepackt. Das biologische Leben des Brotmenschen hing an einem dünnen Fädchen. Die Humusse ließen sich doch zum Zwetschgenessen verleiten und brachen somit aus ihrer Bahn aus. Der Brotmensch ließ sich nicht zum Herstellen eines bescheidenen Brotes verleiten und blieb in seiner Bahn, obwohl diese gar nicht einmal so klar umschrieben war in dieser Sache. Aber mehr noch: Die Humusse bekamen trotz ihres Aus-der-Bahn-geworfenSeins immer wieder neue Möglichkeiten, Hilfe von der Orgel zu bekommen. Der Brotmensch aber, obwohl er ganz und gar nicht aus der Bahn gesprungen war, erlebte paradoxerweise genau das bittere Gegenteil: Er wurde von der Orgel verlassen und wurde gebacken und zerrupft wie ein Brot, das man unter die Tauben verteilt." Aufgebracht stöhnte Oskar: "Ach! Nein! So ein tapferer Wüstenwanderer, gerade wurde der mir richtig sympathisch, wie er sich nicht von diesem Monster hat herumkriegen lassen, ... und jetzt so eine Nachricht, also wirklich! Wie konnte so etwas zugelassen werden? Zerrupft sagst du, zerstückelt? In einem Ofen gebacken? Das finde ich aber ungerecht. Wenn ich wieder von so etwas Ungerechtem hören soll, bleibe ich lieber hier in diesem wattierten Warteraum, dann kannst du alleine in den Tunneln ein- und ausfahren! Wie traurig! Was sollte denn damit bewerkstelligt werden? Zu was sollte das etwas nütze sein? Was hat sich die Orgel bloß dabei gedacht?" "Ja, diese Sache ist in der Tat höchst traurig und makaber und gleichzeitig das Bemerkenswerteste, das überhaupt je passiert ist in dieser Welt. Die Wichtigkeit dieses Geschehnisses ist nicht zu überbieten. Denn dadurch wurden drei Dinge bewirkt: Erstens, durch das Backen und Zerbrechen des Brotes wurde erreicht, daß die anderen Humusse es verspeisen und so etwas von dem Brotmenschen in sich hineinbekommen können und auch selbst mit der Zeit zu kleinen Brotmenschen würden. Das Zweite, das damit untrennbar zusammenhängt, ist dies: Dadurch, daß der Brotmensch wirklich ein gebackenes und zerrupftes Brot wurde, konnte die Orgel feierlich erklären, daß alles Zerrupft-Sein der anderen Humusse aufgehoben werden könne und außerdem wurde auch das Zerrupft-Sein und Gebacken-Sein des Brotmenschen selbst aufgehoben und der Brotmensch bekam einen Körper, der nicht nur für das Leben auf der Erde, sondern auch für das Leben in der Gegenwart der großen Orgel selbst geeignet ist. Genau dadurch wurde der Engelswelt verkündigt: Hier ist jemand, der auf seine GottGleichheit verzichtet hat. Und genau deshalb ist er jetzt der erste Humus, der ganz klar auch die Engel hier in der Gegenwart Gottes richten kann, denn schaut nur, er ist ja schon da! Hier ist jemand, der auf ein schönes Leben im Komposthaufen Erde verzichtete. Und genau deshalb ist er jetzt der erste Humus, der auf einer neuen Erde leben wird und außerdem in vielen anderen auf der alten Erde weiterlebt. Hier ist jemand, der sich hätte verteidigen können, der Anspruch auf Legionen von Engeln gehabt hätte und der sich statt dessen backen und zerkrümeln ließ. Und genau deshalb ist er jetzt derjenige, der den Schlüssel zur Herrschaft über alles erhält. Und alle die, die diese Brotmensch-Humanität annehmen, bekommen Anteil an dieser Herrschaft. Hier hätte jemand in der Autorität der Orgel sprechen können: 'Du Stein, werde ein Brot!', und tat es nicht, um den Menschen gleich zu bleiben. Und genau deshalb wurden seine Worte die Worte der Orgel, ja mehr noch, er wurde gewissermaßen das Mundstück der Orgel selbst. Hier ist jemand schwach geworden. Und genau deshalb ist er jetzt der Stärkste. Hier ist jemand nicht angenommen worden. Und genau deshalb sind gerade seine Lehren jetzt die am schnellsten sich Ausbreitendsten. Und so weiter und so fort. Das Backen, das Zerrissenwerden des Brotmenschen war gewissermaßen ein Angelpunkt, nach dessen Erreichen sich die ganze paradoxe Umkehrung in symmetrischer Weise andersherum fortsetzte, wie eine Feder, die sich beim Anziehen ausdehnt und nach dem Loslassen wieder zurückschnappt. Was vorher zum Nachteil des Brotmenschen war, wurde jetzt sein Vorteil. Was vorher wie eine Niederlage aussah, wurde jetzt ein Sieg. Und so weiter und so fort. Und noch etwas wurde bewerkstelligt durch diesen makabren und traurigen Vorfall: Nämlich, drittens, wurden alle Engel, die vorher Zweifel an den Erfolgschancen des Humusprojektes der Orgel angemeldet hatten, lächerlich gemacht. Zähneknirschend mußten sie die Überlegenheit der HumusSpezies eingestehen, die der Brotmensch stellvertretend für alle Humusse vorgeführt hatte. Sie mußten eingestehen, wenn sie es auch nie begreifen werden können, daß gerade die schwache, Orgel-abhängige Art der Humusse ihr Vorteil ist, wobei "Vorteil" hier nicht im Sinne eines innewohnenden Potentials gemeint ist. Gerade das Fehlen jeglichen Eigenpotentials ist hier der "Vorteil". Und das Schlimmste für besagte Engel: Sobald sie nun einen Blick zur Orgel hinauf wagen, sehen sie gleich neben der Orgel ein gebackenes und zerrissenes Brot, das wie ein Mensch aussieht und das die Schlüssel aller Herrschaft und aller Macht in der Hand hält. Für die Engel, die der Orgel gegenüber nicht argwöhnisch eingestellt sind, ist dies ein erfreulicher Anblick. Denn sie freuen sich ja, wenn die Orgel recht behält. Aber für die anderen, die gar schon ihre Schalen verloren haben, eine grauenerregende Ansicht." Oskar schwieg eine Weile. Dann bemerkte er: "Ja, also ich muß schon sagen, das ist ja toll! Aber warum muß ich das alles wissen?" Der Engel ging ein paar Schritte hin und her und fuhr dabei fort: "Nun, leider gab und gibt es auch viele Leute, die die neue Brotmensch-Humanität ganz und gar nicht verstehen wollten und die deshalb auch ihrerseits keine kleinen Brotmenschen werden, und das, obwohl sie dauernd vom Brotmenschen reden, oder, besser gesagt, um den Brotmenschen herum reden. Sie haben eine falsche Vorstellung vom Brotmenschen. Sie sagen "Brotmensch" und denken dabei an eine engelhafte Gestalt, an eine Art Halbgott, an ein Wesen, das von der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen ist und von einer höheren Substanz ist, als der Humussubstanz; kurz, sie glauben in Wirklichkeit an genau die Art von Wesen, zu der der Lichtblitzdonnerbomber den Brotmenschen gerne gemacht hätte. So entstand eine Brotmensch-Religion, die im Grunde gar keine ist. In Wirklichkeit haben nämlich die Engel erneut eine Möglichkeit gefunden, bei den Menschen dazwischenzufunken. Diesmal ging und geht es nicht darum, die Humuserbsubstanz durch Vermischung zu verfälschen, wie in der vorhergehenden Lektion. Das war ja nun den Engeln verwehrt. Statt dessen beeinflussen sie nun das DENKEN der sich mit dem Brotmenschen Beschäftigenden derart, daß diese an einen engelhaften Halbgott Namens "Brotmensch" zu glauben beginnen und somit auf keinen Fall zu der Brotmensch-Humanität gelangen werden. Sehr häufig passiert dies gerade in deiner Zeit, lieber Oskar. Es ist leider eine Tatsache, daß die Engel, die sich nicht mit den Humus-Plänen der Orgel abfinden wollen, auch in deiner Gegenwart einen sehr großen Teil der sich mit dem Brotmenschen Auseinandersetzenden beeinflussen. Und zwar so sehr, daß kaum jemand an die Brotmensch-Humanität glaubt. Im Gegenteil, es ist sogar so weit gekommen, daß die Menschen vor Schreck zusammenzucken, wenn sie das Wort "Brotmensch" hören. Sie denken dann nämlich unweigerlich, sie müßten ihre Menschlichkeit aufgeben und unmenschlich werden, wenn sie sich ernsthaft auf die Brotmensch-Auseinandersetzung einlassen. Und der Lichtblitzdonnerbomber reibt sich die Hände. Er konnte zwar den Brotmenschen nicht aufhalten. Aber er kann die Menschen vom Brotmenschen abhalten, ihnen einen falschen Brotmenschen vorgaukeln, einen Brotmenschen, so wie er ihn gerne gehabt hätte. Eine Veranschaulichung dessen zeigen wir dir jetzt in der vierten Lektion. Sie wird dich sehr interessieren." Der vierte Tunnel war niedriger gelegen und Oskar mußte sich ein wenig bücken. Das Durchgleiten dagegen gestaltete sich wie immer mühelos. Die Verschneidung Oskar wurde erst nach einigen Sekunden gewahr, daß er und der Engel sich nicht mehr im Tunnel befanden, denn sie waren in einem sehr dunklen Raum, der nur von zwei Kerzen spärlich beleuchtet wurde. Nach und nach konnte Oskar die Umrisse von Menschen ausmachen. Sie saßen in zwei Reihen von je fünf bis sechs Personen. Insgesamt mußten sich etwa 30 Personen in diesem Raum befinden. Einige dieser Personen tuschelten leise untereinander. Dann stand einer von seinem Platz auf und sagte feierlich: "Die Versammlung ist eröffnet." Die Kerzen wurden zwei weiteren Personen gereicht, die damit Fackeln an den Seitenwänden anzündeten. Im dem hellen Flackern der nun verstärkten Beleuchtung konnte Oskar sehen, daß viele der Personen weiße Tücher um den Kopf gewickelt hatten. Der Redner vorne erinnerte Oskar an einen seiner früheren Arbeitskollegen, der mit unlauteren Heilungsmethoden Schlagzeilen gemacht hatte und danach hinter Gittern gelandet war. Er flüsterte dem Engel ins Ohr: "Sind wir hier in einer antiken Psychiatrie?" Der Engel schüttelte den Kopf und legte einen Finger auf seinen olivgrünen Mund. "Liebe Mitbeschäftigende," sagte der Redner, "heute wollen wir uns wieder damit beschäftigen, was der Brotmensch von uns will, jawohl, was er von uns will. Diesmal geht es um unseren Körper. Was hat der Brotmensch gesagt, sollen wir tun, wenn eines unserer Körperteile uns zu etwas verleitet, das nicht mit seinem Willen übereinstimmt?" Der Redner blickte mechanisch nach rechts und links in die Zuhörerschaft. Ohne eine Antwort abzuwarten, trompetete er weiter: "Ausreißen sollen wir es! Von uns wegwerfen! Ausreißen und wegwerfen! So sei es. Nun wißt ihr ja, welches Körperteil uns am meisten dazu verleitet, den Willen des Brotmenschen zu übertreten. Ich brauche dazu nun wohl nichts mehr zu sagen. So. Nun ist wieder eine Zeit, in der Berichte von euch zur Ehre des Brotmenschen vorgetragen werden dürfen. Ich darf bitten!" Ein junger Mann stand langsam und schwerfällig auf und stellte sich hinter das Rednerpult. Er hatte einen auffallend stumpfen Blick. Sein Kopf war mit weißen Tüchern umwickelt. Ohne einen Blickkontakt mit der Zuhörerschaft zu suchen, ratterte er seinen "Bericht" herunter: "Ich bin Calo, 22 Jahre alt. Ich wollte auch dem Brotmenschen ganz treu sein. Seit ich seinen Willen erfüllt habe, fühle ich mich viel freier. Seitdem ich überwunden worden bin, kann ich seinen Willen erfüllen. Ich möchte auch weiterhin in allem treu sein." Ohne auf eine etwaige Reaktion der Zuhörer zu warten, schlurfte er wieder zu seinem Zuhörerplatz. Sogleich wankte der nächste zum Rednerpult. Auch er sah starr vor sich hin und sprach in der gleichen monotonen, von aller Wortmelodie befreiten Weise: "Ich bin Tiro, 19 Jahre. Auch ich möchte ganz treu sein. Seit der Überwindung wachse ich stetig im Willen des Brotmenschen. Ich möchte auch weiterhin in allen Dingen treu sein." Noch ein dritter, ein vierter und ein fünfter standen auf und gaben ihre "Berichte". Diese entsprachen, bis auf unmerkliche Abweichungen, in Form, Inhalt und Vortragsweise den beiden vorhergehenden. Alle hatten weiße Tücher um den Kopf gewickelt. Der Redner stand währenddessen etwas abseits vom Rednerpult im Hintergrund und zog ein süßlich-triumphierendes Gesicht. Nachdem der fünfte Berichterstatter fertig war, klopfte ihm der Redner väterlich auf die Schulter und sagte: "Gut gemacht, Zirro. Auch ihr anderen, Calo, Tiro, Uruz und Benterel. So. Nun wollen wir unsere Versammlung beschließen." Eine Seitentür ließ Tageslicht hereinbrechen. Langsam drängten sich die Zuhörer hinaus. Der Engel faßte Oskar am Ärmel und flüsterte ihm ins Ohr: "Siehst du den Jungen dort mit der rosagrauen Tunika? Den mit den schwarzen Locken? Komm, wir wollen ihm folgen in das Haus seiner Eltern." Oskar und der Engel folgten dem Jüngling. Sie kamen an ein weißgetünchtes Haus mit kleinen Fensteröffnungen und einem kuppelgekrönten Flachdach. Sie schlüpften dicht hinter dem Jungen her in einen atriumsähnlichen Innenhof, in dessen Mitte ein Springbrunnen leise plätscherte. Aufziehende, dunkle Wolken spiegelten sich in der leicht gekräuselten Wasseroberfläche. Gequält seufzte der Junge auf und ließ sich auf ein Lager aus geflochtenen Binsen fallen. "Mirano, bist du's?" rief eine Frauenstimme aus dem Haus. Der Junge schwieg und sah zu den Wolken hinauf. Leise knarrten die dürren Äste eines abgestorbenen Weinstocks, der über das Dach hinausgewachsen war und nun vom Wind bewegt wurde. "Es wird ein Gewitter geben", sagte der Junge. "Du bist's, Mirano, wie schön!", klang die Frauenstimme wieder. Eine rundliche Frau mit zusammengeknoteten, schwarzen Haaren trat aus dem Haus in den Innenhof. "Schön, daß du da bist. Das Essen ist fast fertig. Vater kommt auch gleich. Er holt Gäste vom Hafen ab. Sie sind vorhin dort eingelaufen." "Wer ist es denn?" "Überraschung! Es sind Leute, die dich bestimmt sehr interessieren. Aber sieh' nur, da kommen sie schon!" Miranos Vater war ein untersetzter Mann mit Halbglatze und buschigen Augenbrauen. Er schien ganz vertieft in eine lebhafte Unterhaltung mit den zwei Männern, die er vom Hafen abgeholt hatte und machte ausladende, von gewichtigen und tiefsinnigen Äußerungen zeugende Handbewegungen. Schließlich waren die drei am Haus angekommen. Freudig führte der Vater seine Gäste in den Innenhof und begrüßte die Mutter und Mirano. "Darf ich vorstellen, meine liebe Frau Coralia. Epipathos, du kennst sie ja noch von früher. Und dies ist unser Sohn Mirano. Coralia, Mirano, dies sind Sylvanicus Metrius und sein Begleiter, mein alter Freund Epipathos Lucullus. Sie kommen gerade von der Insel Rhododendros. Auch dort beschäftigen sich schon viele Leute mit dem Brotmenschen. Sylvanicus und Epipathos haben dort dem großen und berühmten Lehrer Pepulos Postus geholfen. Und nun laßt uns zu Tisch gehen. Ihr seid sicher ausgehungert, nach so einer langen Seereise." Das Essen war lang und ausgiebig. Miranos Eltern ließen es an nichts fehlen. Nach dem Essen blieben die drei Männer und Mirano unter sich. Miranos Vater eröffnete die Gesprächsrunde: "Nun lieber Sylvanicus, sagt an, wie steht es mit Pepulos' Arbeit unter den Rhododendrossern? Sind viele Leute Brotmensch-Interessierte geworden?" Sylvanicus legte die Kuppen seiner gespreizten Finger aufeinander und bildete seine Hände zu etwas, das wie ein rechtwinklig konzipiertes Dachgerüst aussah. Sylvanicus schien der Typ von Mensch zu sein, der gerne etwas genau und erfolgreich zu Ende führt. Er war jünger als Miranos Vater, aber wesentlich älter als Mirano. Oskar bemerkte, daß er striemenförmige Narben auf seinen sonnengebrannten Unterarmen hatte. Sylvanicus holte tief und konzentriert Luft, bevor er antwortete: "Lieber Maro, ich weiß fast nicht, mit was ich anfangen soll. Es gibt so vieles zu berichten von der Arbeit dort. Ja, es stimmt, viele Leute beschäftigen sich nun mit dem Brotmenschen. Viel, viel mehr als vor fünf Jahren, als Pepulos gerade seine erste Pionierarbeit dort abgeschlossen hatte. Aber Quantität ist nun mal nicht alles. Mit den vielen Leuten wachsen auch die Probleme. Und der Lichtblitzdonnerbomber schläft natürlich auch nicht, sondern ist wirksam, mit seinen Arbeitern. Viele der irrigen Meinungen, die von den ausgebrochenen Engeln verbreitet wurden, konnten von Pepulos erfolgreich bekämpft werden. Aber eine große Irrlehre hält sich fest wie Pech und Schwefel und bringt vor allem junge Menschen ziemlich durcheinander. Das Schlimme dabei ist, daß nicht nur die Dreistigkeit und Frechheit zunimmt, mit der die Vertreter dieser Irrlehre Menschen verführen und ausbeuten, sondern, daß sich diese Vertreter auch noch in raffiniertester Weise organisieren und zwar im ganzen Lorbeerimperium. Sogar hier in eurem schönen Kerykikos soll es einen von diesen gewieften Füchsen geben - einen gewissen Quackus, einen ganz ausgekochten Burschen." Mirano saß wie vom Blitz getroffen da und blickte beschämt unter den Tisch. Er bekam hochrote Ohren und wagte nicht, seinen Kopf zu bewegen. "Was für eine kuriose Irrlehre ist es denn, die die armen Leute dort so schrecklich verwirrt?", fragte Maro, Miranos Vater. "Das Raffinierte dabei ist die Vorgehensweise. Zuerst tun sie ganz so wie Pepulos und reden genau wie er. Dann erwecken sie bei ihren Opfern den Eindruck, es fehle ihnen noch sehr viel, um dem Brotmenschen zu gefallen. Und dann verkaufen sie ihnen Methoden, die es einem erleichtern sollen, den Willen des Brotmenschen zu tun. Diese Methoden sind aber solche, die den ursprünglichen Plan der Orgel mit dem Brotmenschen völlig ad absurdum führen. Die Orgel wollte ja, daß wir Humusse eine Möglichkeit bekommen, zu der ursprünglichen Humus-Humanität zurückzugelangen. Der ganze Kompostkerl Mensch, so wie er von der Orgel konzipiert ist, von der Fußsohle bis zum Scheitel, sollte wieder im Abglanz der Orgel erstrahlen. Vor ihm sollten die Engel weichen, denn die ursprüngliche Mensch-Herrlichkeit, durch den Brotmenschen zurückgebracht, sollte von ihm ausgehen. Natürlich nur von denen, die den Brotmenschen auch wirklich als den Humus-Prototyp schlechthin erkennen und von seinem gebrochenen Brotlaib essen und sich dann auch selbst zu Broten umwandeln lassen, die gebacken und zerrupft werden. Was lehren aber nun besagte Herren? Sie behaupten, man könne so wie man ist, dem Brotmenschen niemals gleich werden. Man müsse daher selbst Hand anlegen und ein wenig von seinem Körper abschnippeln. Nur dann käme man in die Lage, das Gesetz der Orgel befolgen zu können. Was jene unglückseligen Menschen, die auf diese entsetzliche Torheit hereinfallen, aber nicht sehen, ist die Tatsache, daß eben dann, wenn ein Stückchen von ihrem Körper fehlt, der Lichtblitzdonnerbomber und die anderen ausgebrochenen Engel sich vor die Orgel stellen können und spotten können, nach der folgenden Weise: "Siehst du, die Humusse sind nicht perfekt konzipiert. Nur wenn sie sich verstümmeln, verschneiden; wenn sie sich zu Unmenschen, zu tierhaften Monstern machen, können sie willig den Willen eines anderen befolgen. Sonst sind sie nie in der Lage, deine Gesetze zu befolgen. Und auch nun befolgen sie deine Gesetze nicht, sondern nur die Anweisungen derer, die sie verstümmelt haben." Aber damit noch nicht genug. Das Fatale ist, daß diese Verstümmelten nun nie mehr die Brotmensch-Humanität erlangen können. Denn sie sind ja keine hundertprozentigen Menschen mehr. Der Brotmensch hat sich aber nur für hundertprozentige Menschen backen und zerkrümeln lassen, nicht für solche, die sich eines Teils ihrer Menschlichkeit aus eigenen Stücken entledigen. Für solche, die durch Mißgeburt oder Unfall ihrer Menschlichkeit zum Teil verlustig gegangen sind, hat die Orgel sicherlich einen besonderen Weg. Darüber wissen wir nichts Genaues, wir wissen nur, daß die Orgel gerecht ist und zu ihren Humussen steht. Aber für die, die ihr Geschaffen-Sein mutwillig verachten, weil sie auf die Ohrenbläserei der Ausgebrochenen hörten statt auf die großen Zusammenhänge der Lehren des Brotmenschen, und so der Orgel ins Gesicht speien, gibt es keine Tür mehr. Wie auch die Engel keinen Wiederbringer haben, der sie nach einer Desertation wieder auf ihre Bahn zurückbringen könnte, so haben auch jene, durch eigene Dummheit Verschnittene, keinen Brotmenschen mehr, der für sie alles noch einmal wiederholt, was er schon getan hatte. Sie sind sozusagen von der ganzen Brotmensch-Sache unwiederbringlich ausgeschlossen." "Das ist ja furchtbar!", rief Maro dazwischen. "Aber wieso fallen so viele darauf herein?" Sylvanicus holte noch einmal tief Luft und stieß sie leise seufzend durch seine Zähne wieder hinaus. Er kniff die Lippen zusammen und kräuselte seine sonnengebräunte Stirn. "Genau das ist nun das Ungeheuerliche. Sie pirschen sich ja gerade an Menschen heran, die sich für den Brotmenschen interessieren; die Gleichgültigen lassen sie in Ruhe. Nun haben diese Burschen die Taktik von Räubern. Sie stehlen Wahrheiten, Teilaspekte der Wahrheit, Zitate des Brotmenschen, reißen diese aus dem Zusammenhang, wandeln sie gemäß ihrer bösartigen Ziele geschickt um - und voilà: Eine zusammenhängende Lehre über die Orgel und den Brotmenschen, die hieb- und stichfest zu sein scheint. Und die dabei, um 180 Grad verdreht, der Wahrheit genau entgegensteht." "Aber hat nicht der Brotmensch selbst gesagt, daß wir ein Körperteil, das uns dazu bringt, etwas nicht-orgelgemäßes zu tun, ausreißen und von uns werfen sollen?" fragte Mirano, der sich wieder getraut hatte, aufzusehen. "Ja, genau, das ist auch so ein Brotmensch-Zitat, das gerne von den Verstümmlern ausgeschlachtet wird für ihre Ziele. Was aber meinte der Brotmensch wirklich damit? Er redete damals mit eingebildeten Königshausenern, die auf ein kleines Krätzerchen an ihrem Körper stolz waren, welches sie sich als Zeichen ihres Königshausener Bürgerrechts zugelegt hatten. Dieses Krätzerchen nun war ursprünglich einmal tatsächlich von der Orgel vorgeschrieben gewesen, vor sehr langer Zeit. Es sollte die Königshausener Ursippe daran erinnern, daß sie nicht alles nach ihrem eigenen Dickkopf tun können. Außerdem hatte es medizinische Gründe. Es wurde nur bei Männern durchgeführt. Diese Tatsache allein beweist, daß jenes Krätzerchen an sich nicht dazu da war, besser vor der Orgel dastehen zu können. Obwohl es klar von der Orgel vorgeschrieben war. Sonst müßte man ja folgern, nur Männer könnten sich die Gunst der Orgel erwerben, was sowieso von vornherein eine falsche Vorstellung wäre. Die Königshausener meinten nun aber gerade, daß sie sich durch das Krätzerchen gewissermaßen bei der Orgel eingekauft hätten. Es traten immer wieder Dichter und Gelehrte auf, die ihnen klar sagten: "Manche Leute haben kein Krätzerchen und sind gerechter als ihr. Ihr habt zwar eins, aber das macht euch keinen Deut besser." Deren Veröffentlichungen und Darbietungen wurden übrigens wiederholt untersagt, sind aber gut aufbewahrt worden von aufrichtigen Wissenschaftlern. Der Brotmensch kam nun und kitzelte an der gleichen empfindlichen Stelle. Er sagte: "Wenn ihr meint, daß euch das Krätzerchen gerechter macht, dann müßt ihr auch konsequent euer falsches Denken weiterdenken. Dann müßt ihr nämlich auch die Körperteile von euch werfen, die euch zur Ungerechtigkeit dienlich sind." Und im Ungerechtigkeiten Machen waren die Weltmeister. Sie hätten ihren Leib total zerstückeln und wie Hundefutterfleischbröckchen in der Gegend umherwerfen müssen. Kurz, ihr ganzer Körper war durch und durch verwerflich, Krätzerchen hin, Krätzerchen her. Und das trifft übrigens auch für alle Humusse zu, nicht nur für die korrupten Halsabschneider im alten Königshausen. Was muß also ein Humus tun? Er muß seinen alten Menschen als "weggeworfen" betrachten und den neuen, den Brotmensch-Menschen in sich aufsaugen. Natürlich ist dies auch nur ein Bild. Gemeint ist damit, daß man sich eben völlig identifiziert mit dem Brotmenschen. So wie ein verrückter Fan von einem Gelehrten schließlich auch so spricht und denkt wie der Gelehrte, der sein Idol ist, so soll ein Humus ein Fan vom Brotmenschen werden, bis er schließlich auch so spricht und denkt wie dieser. Den gleichen verwerflichen Körper hat er zwar immer noch. Aber er tut damit jetzt das, was der Brotmensch getan hätte. Er verwendet seine Beine, seine Arme und alles andere mit Haut und Haar für die Gerechtigkeit, für das Noble, für das Edle, für die wahre Schönheit, Würde und Weisheit. Und genau das ist es, was die Engel in den Wahnsinn treibt. Wie können verwerfliche Körper den Willen der Orgel tun, wenn auch nie perfekt, aber doch immerhin in großem Ausmaß? Dieses läßt ihnen keine Ruhe. Sogar die Engel, die der Orgel willensmäßig verbunden sind, zerbrechen sich darüber den Kopf und würden nur zu gerne wissen, wie solches zugeht. Warum ausgerechnet diese wurmstichigen, schwachen, zerbrechlichen Kreaturen in den erhabenen Handlungsvorstellungen der Orgel aufgehen. Und das Tollste kommt noch: Wenn der Humus, der das Brotmensch-Brot in sich hat, wieder zu totem Kompost wird und in der Erde fault, oder zu Asche verbrennt und in die Atmosphäre gewirbelt wird, wird er in Wirklichkeit erst recht zu den Sphären des Himmels erhöht! Stellt euch das vor: Ganz oben die Orgel, in ihrem unzugänglichen Licht. Dann die Kompostwesen, die nun einen verwandelten Kompost an sich haben, aber eben doch Kompost. Sie sind dort immer noch so, wie sie die Orgel konzipiert hatte. Nur in himmelsgerechter Version, mit den entsprechenden Extra-Ausstattungen. Anti-Fäulnis-Faktor, geruchsneutral, und so weiter. Aber ansonsten Kompost. Körper, Humus-Körper. Und darunter erst die Engel, mit ihren wunderbaren und erhabenen Lichtgestalten, die, wenn sie uns jetzt und heute erschienen, so erschrecken könnten, daß wir uns alle sofort flach zu Boden werfen würden! Aber dann werden wir trotzdem über sie erhöht sein, so schwer es auch zu glauben ist. Das ist es, was die Orgel vor hat, Freunde! Manchen Himmelswesen paßt dies nun eben ganz und gar nicht. Und nun setzen diese alles daran, die Leute von der Brotmensch-Humanität fernzuhalten, diese zu pervertieren, zu verfälschen, nachzuäffen, den Leuten den Appetit darauf zu verderben." "Schön und gut", warf Mirano wieder ein. "Aber wenn ich doch merke, daß ich den Willen der Orgel nicht tun kann! Muß man da nicht doch etwas nachhelfen? Ist es nicht doch ein Zeichen BESONDEREN Ernstes und BESONDEREN, lobenswerten Eifers, wenn man das, was einen zur Ungerechtigkeit, zum Unedlen, Niederträchtigen und Würdelosen verleitet, von sich trennt? Muß nicht der Wille des Menschen erst ganz zerbrochen daliegen, bis der Brotmensch etwas daraus machen kann? Ihr sagtet ja selbst, der Mensch muß seinen alten Menschen als weggeworfen betrachten. Ist es nicht konsequenter, ihn nicht nur als solchen zu betrachten, sondern ihn tatsächlich, in der Realität, wegzuwerfen? Auf die Ganzheit des Körpers zu verzichten, um näher zur Orgel zu gelangen? Seine Identität zerstören zu lassen, um die Identität des Brotmenschen zu erlangen? Müssen wir nicht durch eigenen Verzicht auf unser Ich, auf unser Wesen, einen Vertrag mit der Orgel bestätigen?" Maro starrte seinen Sohn fassungslos an. "Mirano!" rief er nur. Soviel bohrende Fragen hätte er seinem Sohn nicht zugetraut. Sylvanicus antwortete gezielt: "Was denn für einen Vertrag? Wir einen Vertrag mit der Orgel abschließen? Könnten wir das überhaupt? Niemals! Wenn jemand einen Vertrag abschließt, dann nur die große Orgel selbst. Es ist ihr überlassen, ob wir uns auf den Brotmenschen einlassen oder nicht. Es sieht zwar so aus, als ob auch wir uns entscheiden. Und so müssen wir auch ausrufen und immer wieder die Menschen wachrütteln: Entscheidet euch richtig! Aber in Wirklichkeit ist es nur die Orgel, die entscheidet. Wenn sie uns dazu bestimmt, ein kleiner Brotmensch zu werden, dann werden wir es werden. Es ist kein leichter Weg. Manchmal scheint der Brotmensch weit weg zu sein. Der Brotmensch selbst rief ja im Backofen: "Vater, warum hast du mich verlassen!" Es wird kein gefahrloser Weg sein. Es gibt nur den Schutz, den die Orgel für angebracht hält. Ansonsten haben wir keinerlei Garantie, daß wir nicht reißenden Hyänen, Gefahren auf Reisen und Verfolgungen anheim fallen werden. Sieh, doch meine Narben hier. Siehst du sie?" Sylvanicus hielt Mirano seine Unterarme entgegen. "Ich bekam sie von einem Lorbeersoldaten, den ein paar fanatische Königshausener Patrioten gegen mich aufhetzten. Sie waren nicht einverstanden, mit meiner Art und Weise, die Sache mit dem Brotmenschen zu erklären. Du siehst also, ich bin nicht darauf erpicht, meinen Körper gut durchzubringen. Aber nicht ich bin derjenige, der in dieser Sache handelt. Nicht ich lasse meinen Leib verschneiden. Andere tun es gegen meinen Willen. Der Weg in den Fußstapfen des Brotmenschen ist kein bequemer Weg. Man stößt häufig mit seinen Füßen irgendwo an. Man hat keinen Anspruch auf Engel, die einen vor jedem Wehwehchen beschützen. Manchmal schickt die Orgel Engel, die uns beschützen, manchmal nicht. Es ist dies nicht unsere Sache. Der Weg mit dem Brotmenschen ist auch kein eindeutiger Weg. Wir haben keinerlei Garantie, daß wir alles gleich richtig machen. Es kann vorkommen, daß man in eine Sackgasse gerät und wieder umkehrt und einen besseren Weg weiterläuft. Es kann vorkommen, daß man zwei oder drei richtige Möglichkeiten gehen kann. Und doch ist es die große Orgel, die über allem wacht, nicht unsere Schlauheit, nicht unsere hellseherischen Fähigkeiten, den Willen der Orgel erahnen zu können, sind es, die uns richtig gehen lassen. Du sagst, du hast Schwierigkeiten, den Willen der Orgel zu tun. Es ist gut, daß du dies ehrlich erkennst. Viele Menschen scheren sich ja bekanntlich einen Dreck darum. Aber, du wirst es nicht glauben: Ich habe die gleichen Schwierigkeiten! Manche dieser Schwierigkeiten treten in den Hintergrund. Dumme Gedanken zum Beispiel. Man beschäftigt sich mehr und mehr mit dem Brotmenschen, und dann hat man einfach weniger Zeit dafür. Aber auch mir kommt es noch häufig genug vor, daß ich unsinnige Tagträume habe. Ja, oftmals, wenn ich in Gefängnissen saß, und niemanden hatte, mit dem ich reden konnte, gingen mir die ekelhaftesten Gedanken durch den Kopf! Bin ich deshalb von der Orgel verstoßen? Nein! Was soll ich nun tun? Gar nichts! Ich kann ja nichts! Ich werde einfach weiter mich mit dem Brotmenschen auseinandersetzen und so mehr und mehr von seinen Gedanken erfüllt. Aber perfekt werden wir nie. Das brauchen wir auch nicht. Die Orgel gibt jedem so viel von dem Brot des Brotmenschen, wie man ihrer Meinung nach braucht. Es liegt nicht an uns, zu bestimmen, wie brotmensch-ähnlich wir schon sind. Keine Zeit für narzißtische Spiegelschauerei! Sei also nicht besorgt, wenn du feststellst, du kannst den Willen der Orgel nicht tun. Die Tatsache, daß du dies feststellst, beweist, daß du auf dem richtigen Weg bist. Dann versuchst du nämlich nicht mehr selber, diesen Willen zu tun. Statt dessen bleibt dir nur noch der Brotmensch selbst als letzte Rettung. Statt also selbst zu versuchen, dich in eine imaginäre Brotmensch-Schablone hineinzwängen zu lassen, die von weiß wer wem mit List und Tücke entworfen wurde, von dem einen enger, von dem anderen weiter; solltest du so wie du bist, den Brotmenschen selbst ergreifen. Sein Brot essen. Sein Wasser trinken. Weiter nichts. Mehr kannst du nicht tun. Alles andere tut das Brot in dir. Nur paß' auf, das du kein vergiftetes Brot erwischst. Vorsicht vor dem Sauerteig! Prüfe genau, ob es echtes Brotmensch-Brot ist. Die Prüfmerkmale dafür kannst du aus den Zitaten des Brotmenschen selbst heraushören." "Aber gelten nicht die Vorschriften der Orgel auch für uns?" entgegnete Mirano. "Freilich, warum sollten wir eine Ausnahme bilden, nur weil uns die Orgel mit dem Brotmenschen in Berührung brachte! Bei der Orgel gibt es keine Extrawurst. Jeder ist in gleicher Weise den Vorschriften unterstellt. Aber nun schau dir einmal jene an, die anderen eine größere Stärke, diese Vorschriften zu halten, versprechen, durch ihre Quacksalberei. Halten sie diese Vorschriften selbst? Mitnichten! Statt dessen beuten sie ihre Opfer aus, wie eine Spinne, die einer Fliege den Saft aus dem Chininpanzer herausschlürft. Sie isolieren ihre Rekruten von Familie, Freunden und Gesellschaft. Sie machen Unterschiede zwischen ihren Zöglingen und teilen sie ein, in marionettenhafte und weniger marionettenhafte. Sie treiben doppelte Moral, indem sie den einen diese und jenen andere Verhaltenskodexe aufzwingen. So brechen sie sämtliche Vorschriften, die sich auf das Zusammenleben mit den Mitmenschen beziehen, alle, ohne Ausnahme. Aber damit nicht genug: Sie greifen auch nach den Sternen; sie vergreifen sich an der Autorität der Orgel. Sie spielen selbst den Höchsten, bestimmen eigene Vorschriften und Paragraphen, und machen dem Brotmenschen den Platz streitig, den er hat. Sie selbst wollen nun Vermittler sein zwischen der Orgel und den Menschen. Dies betrachten sie dann auch noch als ihren BESONDEREN Verdienst für die Orgel und die Menschen, als den Verdienst, mit dem sie selbst sich einen BESONDEREN Platz im Himmel ergattern meinen zu können. Nur um nicht selbst den Weg zu gehen, versperren sie anderen den Weg. Um selbst dem Backofen entgehen zu können, fritieren sie andere bis zur Unansehnlichkeit. Dabei putzen sie sich lächerlich heraus, wie ein eitler Pfau. Sie bieten einen falschen Ersatz für den Brotmenschen an, einen BrotmenschenTalisman. Diesen verscherbeln sie dann ihren Opfern für lumpiges, dreckiges Geld!" Mirano schluckte schwer. Sie schwiegen eine Zeitlang. Der symmetrieliebende Sylvanicus hatte während des Sprechens mit zwei erhobenen Zeigefingern rhythmische Taktschläge veranstaltet. Nun standen die "Taktstöcke" einige Sekunden lang regungslos in der Luft. Danach legte er seine Hände flach auf den Tisch, wobei er mit den Fingern ein kleines Trapez bildete. Epipathos hatte die ganze Zeit geschwiegen. Er war etwas älter, etwa so alt wie Maro. Er hatte ein rundes, sympathisches Gesicht, das von einer mit Leberflecken überzogenen Glatze gekrönt war. Runde, wäßrige Augen sahen Mirano liebevoll an. Nun faßte er Mirano an der Hand. "Mein lieber Junge. Du bist doch noch so jung. Warum willst du dir dein Leben zerstören lassen, von Menschen, die in Wirklichkeit die Orgel verachten. Glaub' mir, das Leben mit dem Brotmenschen ist ein schönes Leben. Es kann entsagungsvoll sein, aber es ist doch ein schönes Leben. Du bist doch ein begabter und intelligenter Junge. Was für eine Bereicherung für diese Stadt, welch eine Freude für deine Eltern! Du kannst Großes bewirken und vielen helfen. Laß' dich nicht von zwielichtigen Leuten hinters Licht führen. Es gibt noch so vieles zu erfahren und zu sehen auf dem Weg. Schäme dich nicht, ein Mensch zu sein. Der Brotmensch war auch einer. Nimm seine Menschlichkeit an, anstatt deine eigene zu zerstören. Du kannst uns glauben. Wir stehen hinter dir. Sylvanicus meint es gut mit dir. Er hat vielen geholfen. Du tust gut daran, auf ihn zu hören. Nicht weil ich es sage. Es kann schmerzhaft sein, die Wahrheit zu hören. Aber auch der beste Arzt muß einmal eine schmerzhafte Therapie verordnen. Nur Quacksalber versprechen eine schnelle Heilung, die ihnen Geld bringt und dem Patienten Leid zufügt, viel größeres Leid, als bei der wahren Medizin." Mirano schwieg und verzog sein Gesicht, da er mit den Tränen kämpfen mußte. "Also, ich, ich bin der Epipathos. Aus Thiaturata. Du kannst mich auch einfach "Epi" nennen, so nennt mich dein Vater auch. Ich war jetzt mit Sylvanicus ein halbes Jahr auf Rhododendros. Hast du schon einmal von den Stierkämpfen dort gehört? Sie finden jedes Jahr, im Frühling statt. Es ist ein farbenprächtiges, wildes Spektakel. Willst du uns besuchen, im nächsten Frühling? Ich werde dort sein, Sylvanicus wahrscheinlich auch. Du wirst viele wunderbare Freundschaften schließen. Es ist immer gut für junge Menschen wie dich, einmal aus allem 'raus zu kommen." Epipathos blickte aufmunternd zu Maro hinüber, der regungslos dasaß und hilflos vor sich hin starrte. "Ich denke dein Vater wird es dir erlauben. Auch er meint es nur gut mit dir, glaub' es mir. Ich kenne ihn schon sehr lange. Schon aus einer Zeit, in der du noch nicht geboren warst. Er ist ein guter Mensch und meint es ernst mit dem Brotmenschen." Da konnte Mirano seine Tränen nicht mehr länger halten. Er stand eilends auf, entschuldigte sich mit halbverständlichen Worten und huschte in sein Zimmer, das in dem gegenüberliegenden Flügel des Hauses integriert war, auf der anderen Seite des Innenhofs. Oskar und der Engel hörten noch eine Zeitlang den verbleibenden drei Männern zu. Inzwischen war es dunkel geworden und es hatte leicht angefangen zu nieseln. In der Ferne war Wetterleuchten zu sehen. "Ein sehr sympathischer Junge", sagte Epipathos. "Ach, wie ist er tiefsinnig, was für ein Sturm tobt in ihm. Wunderbar, diese Jugendlichen." Sylvanicus saß mit verkrallten Fingern und leicht vorgebeugtem Oberkörper da. Er war auf einmal ganz bleich. Entsetzen spiegelte sich in dem hageren, klugen Gesicht. "Was hast du, Sylvanicus, ist dir nicht wohl?" "Ich ahne nichts Gutes. Hoffentlich ist dieser Junge nicht an Quackus geraten. Er hört sich nämlich fast danach an." Maro sprang von seinem Stuhl hoch. "Was, mein Sohn, in den Fängen dieser Krake? Das wäre ja furchtbar! Ich will ihn gleich morgen früh zur Rede stellen." "Du mußt dich vorsichtig herantasten, Maro. Dieser Quackus beherrscht die Kunst der Gehirnwäsche. Er bleut den jungen Leuten ein, ihre Eltern wären von der Gegenseite gesteuert. Mirano wird also, wenn meine Vermutung stimmt, auf eine panische Reaktion deinerseits mit noch mehr Trotz reagieren. Es wird nicht leicht sein. Ich hoffe nur, meine Vermutung ist falsch." Der Engel faßte Oskar am Ärmel und zog ihn in den Innenhof. Oskar merkte, daß ihm der Regen nichts anhaben konnte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, im Regen zu stehen und nicht naß zu werden. "Wir werden jetzt in das Zimmer des Jungen gehen. Erschrick nicht, wir werden diesmal direkt durch die Wand steigen. Du wirst einen ausgebrochenen Engel erleben. Keine sehr angenehme Begegnung. Also, sei darauf gefaßt, und schrei’ nicht los. Diese Viecher sehen nämlich nicht sehr hübsch aus." Oskar nickte. Nach allem, was er bisher mit dem Engel erlebt hatte, glaubte er nicht, Angst verspüren zu können. Das Durchsteigen durch die Wand war schon ein recht seltsames Erlebnis. In dem Zimmer des Jungen war es sehr dunkel. Nur eine kleine Kerze erleuchtete eine Art Kommode. Ab und zu war das Leuchten von Blitzen in der Ferne durch ein kleines, oben spitzzulaufendes Fenster zu sehen. Der Regen war nun so stark geworden, daß das herannahende Donnergrollen nur als dumpfe Schwingung wahrgenommen wurde und noch nicht als etwas akustisch Hörbares. Der Junge lag auf den Knien und murmelte leise etwas vor sich hin. Dann legte er sich auf sein Bett und weinte. Nach einer Weile kniete er sich wieder hin und sprach diesmal lauter: "Lieber Brotmensch, ich weiß nicht, was ich tun soll. Antworte mir doch mit einer Botschaft. Stimmt es, was dieser Sylvanicus gesagt hat, oder soll ich auf Quackus hören?" Er schwieg eine Zeitlang, mit gebeugtem Kopf. Danach kramte er aus dem Wandschrank eine Papierrolle hervor. Er raschelte ein wenig damit herum, und las dann laut: "...sie haben die Dichter und die Lehrer. Auf die sollen sie hören... !" Enttäuscht ließ Mirano die Papierrolle fallen, die sich von alleine zu zwei zusammenhängenden Röhren zurückrollte. Er kramte einen kleinen Spiegel hervor und betrachtete sich darin. "Soll ich mein Ich zerstören lassen oder bei diesen Lehrern auf der Insel Urlaub machen?", fragte er sein Spiegelbild leise. Oskar konnte das Spiegelbild des Jungen im Schein der Kerze gut sehen. Ab und zu erleuchtete das Licht der Blitze auch die Umrisse des Jungen selbst. Er war so darin vertieft, das Spiegelbild Miranos zu betrachten, daß er zuerst nicht merkte, wie sich von hinten etwas wie eine leuchtende Rauchfahne auf den Jungen zu bewegte. Oskar biß sich auf seine unsichtbaren Lippen. Ein elektrisierender Schauer fuhr durch seine unsichtbare Kopfhaut. Die Rauchfahne formierte sich zu einer katzenhaften Fratze, mit kleinen, starren Pupillen und einem breiten, frech verzogenen Maul. Vor dem Ohr des Jungen machte die Katzenfratze halt und zischelte: "Du traust dich doch sowieso nicht, du Feigling. Bist ja noch viel zu sehr verliebt in dich selber!" Der Junge senkte den Kopf und seufzte. Der Katzenfratzen-Engel stieß ein dünnes, langes Röhrchen aus seinem Maul. Langsam verschwand das Röhrchen in einem Ohr des Jungen. Nun war Mirano mit der für ihn unsichtbaren und unmerklichen Fratze verbunden. Nach einer Weile begann der Junge in einem merkwürdigen, theatralischen Sing-Sang-Tonfall zu sprechen: "Du hast mich überführt, Brotmensch! Ich wollte ja nur meine Haut retten, ein schönes Leben haben. Fast hätten mich diese fleischlichen Menschen dazu überredet. Ihre Argumente waren fleischlich, nicht geistlich. Fast wäre ich darauf hereingefallen. Vergib' mir, daß ich einen Augenblick fast daran geglaubt hätte. Ich sehe ja, daß ich so wie ich bin, deinen Willen nicht tun kann. Nun will ich dir treu sein und tun, was du willst. Ich weiß nun, daß Quackus die wahre Lehre von dir verbreitet. Ich will mein Ich nicht länger ungeschoren davonkommen lassen. Gleich morgen werde ich zu Quackus gehen und Ernst machen mit dem Weg. Mögen meine Eltern sagen, was sie wollen, mögen alle über mich lachen, es gibt kein Zurück mehr. Hiermit verspreche ich dir, meinen Vertrag mit dir vollends zu unterzeichnen! So sei es!" Inzwischen war das Gewitter näher gekommen und Donner und Blitze wechselten sich in erstaunlich kurzen Zeitabständen ab. Etwas Elektrisierendes, Drückendes lag in der Luft. Der Katzenfratzen-Engel rollte sein Röhrchen wieder ein. Danach formte er einen Teil seines Mauls zu einer kleinen Trompete, ging damit ganz nahe an das Ohr des Jungen heran und röchelte: "Gleich morgen! Erst morgen? So viel also ist dir der Brotmensch wert, daß du erst morgen Ernst machst mit seinen Vorschriften? Und was ist, wenn der Brotmensch dich diese Nacht holen will? Wirst du nicht vor Scham zusammensinken? Denk' an all die üblen Gedanken, die du hattest und auch haben wirst, wenn du nicht Ernst machst!" "Ja, natürlich, was sage ich, gleich, sofort will ich zu Quackus eilen! Ich danke dir, lieber Brotmensch! Nun hast du mich völlig überwunden. Ich danke dir, daß du alle meine Pläne zerstört hast!", säuselte Mirano wieder. Schnell erhob er sich und ging in eine Ecke des Zimmers. Er schob ein Stück Holz im Fußboden zur Seite und holte ein kleines Säckchen heraus. "Stierkämpfe", brummelte er verächtlich. "Zu heidnischen Festen wollten die mich holen!" Eilig warf er sich einen schweren, ärmellosen Mantel mit Kapuze über. Leise schob er den Riegel der Tür zur Seite und huschte in den Innenhof hinaus. Oskar und der Engel folgten ihm. Nun regnete es in Strömen. Auf Zehenspitzen und immer an den Wänden entlang schlich sich Mirano am Haupthaus vorbei und nach draußen auf die Straße. Sylvanicus, Epipathos und Maro waren zu Bett gegangen. Noch einmal sah sich Mirano nach dem Haus seiner Eltern um. Wie ein gestrandetes Schiff lag es traurig da und behauptete sich tapfer im strömenden Regen. Oskar und der Engel folgten dem Jungen über schlüpfrige, überschwemmte Schlammwege und glitschige Kopfsteinpflaster. Plötzlich wurde der Regen so stark, daß Oskar Schwierigkeiten hatte, den Jungen zu sehen. "Da, dort ist er!", rief der Engel. "Geh' du nur immer hinter mir her, ich kann ihn auch so sehen!" Oskar nickte. Gleich danach zuckte er erschreckt zusammen, denn gerade traf ein Blitz mit fürchterlichem Krachen einen nur wenige hundert Meter entfernten Felsen, der zwischen den Häusern aufragte. "Komm!" rief der Engel wieder. Schließlich kamen sie an das Haus, in dem sie Mirano zum ersten Mal gesehen hatten. Mirano klopfte wie wild an die große, hölzerne Eingangstür. In einem Zimmer brannte noch ein trübes Licht. Quackus ließ nicht lange auf sich warten. Wie ein Habicht, der eine Maus erspäht, blickte er triumphierend auf Mirano herab. "Ich habe dich erwartet, Mirano." Mirano blinzelte mit den Augen, als er zu Quackus aufsah, denn es tropfte von dem Vordach, unter dem Quackus geschützt stand, in seine Augen. "Hast du das Geld dabei?" Mirano nickte. "Gut." Quackus sah sich nach links und rechts um, wie ein zerzaustes Erdhörnchen, das nach Feinden Ausschau hält, bevor es seinen Bau verläßt. "Dann komm. Wir können gleich anfangen." Mirano stieg die Eingangstufen hinauf. Schnell schlüpften Oskar und der Engel hinterher. Durch einen stockdunklen Korridor kamen sie in ein fensterloses, niedriges Zimmer. Ein Stuhl mit merkwürdigen Lederriemen. Ein schäbiger Schreibtisch. Zwei junge Männer mit weißen Tüchern um den Kopf standen regungslos in einer Ecke. Es roch nach einer beißenden Säure und nach einem Geruch, den Oskar von Leichenhallen her kannte. Während seines Praktikums hatte er öfters Leichen seziert. Quackus holte eine kleine, blaue Amphora aus dem Schreibtisch. Sie war mit einem Korken verschlossen. Quackus tat, als ob er müde wäre und gähnte ungeniert. Dann drehte ein wenig am Korken und sah dann mit gespieltem Ernst zu Mirano. "Dieses Zeug wird leider auch immer teurer..." Mirano griff unter seinen Mantel und holte das Säckchen hervor. "Das Geld! Natürlich, wie konnte ich das vergessen... !" Schwarze und kupfergrüne Münzen mit unregelmäßigen Rändern ergossen sich auf dem Tisch. Wie tote Mistkäfer purzelten sie übereinander, bis sie regungslos auf dem Tisch liegen blieben. Bei Quackus war nun von einer Müdigkeit nichts mehr zu sehen. Er lebte richtig auf. Mit großen Augen und breitem Grinsen zählte er das Geld. Oskar konnte es nicht glauben, wie jemand für diese schmuddeligen Metallstücke, die eher wie mißlungene Hartplastikknöpfe aussahen, eine derartige Begeisterung empfinden konnte. Obwohl er diese Art Münzen aus Museen kannte, hätte es ihn nun einige Überwindung gekostet, diese auch nur anzurühren. "Stimmt." vermerkte Quackus. Mit einem Haps nahm eine messingbeschlagene Holztruhe, die nun ihr Maul öffnen durfte, die Knöpfe in sich auf. "Wasser", sagte Quackus im Tonfall eines routinierten Chirurgen. Eine Schale dampfend-heißen Wassers wurde von einem dritten jungen Mann gebracht. Auch er hatte weiße Tücher um den Kopf gewickelt. Quackus' behaarte Hände, an denen einige goldene und silberne Ringe prangten, planschten ausgiebig in dem heißen Wasser. "Schlafelixier", befahl Quackus weiter. Die blaue Amphora wurde dem verdutzten Mirano unter die Nase gehalten. Die zwei anderen Helfer fingen ihn auf, als er in sich zusammensackte. Dabei fiel Oskar das Mosaik des Fußbodens mit seinen mannigfaltigen Rechteckmotiven auf. Man hörte das Zurren von Ledergurten. Das Mosaik wurde nun durch herabfallende, schwarze Halbkreise, den Locken Miranos, in seiner Viereckssymmetrie gestört. Wieder das Plätschern von heißem Wasser. "Messer", tönte es vom Schreibtisch. In Sekundenschnelle entstand ein rotes Viereck auf dem bleichen, rasierten Vorderschädel Miranos. Seine Außenlinien wurden dicker und dicker. Einer der Helfer tupfte das Blut ab und das Viereck begann aufs Neue, erst dünne, dann dicke Außenseiten zu haben. Vorsichtig wurde ein viereckiges Stück Haut auf eine kleine Schale platziert. "Säure." Nun stand Quackus auf, und tauchte ein Tuch in die Säure, die ihm gereicht wurde. Oskar konnte nicht sehen, was Quackus machte und schob den Engel ein wenig zur Seite, damit er alles mitbekam. Quackus betupfte das freigewordene blutige Stück Schädel kurz mit dem Tuch. Nach ein paar Minuten betastete er den Schädel. Oskar wollte es nicht glauben: Der Schädel war biegsam geworden! "Schon weich", sagte Quackus leise zu sich selbst. Nun war es ein Leichtes, ein rundes Loch in den Schädel hineinzuschneiden. Der Anblick der darunterliegenden rosa-grauen Masse war für Oskar nichts Außergewöhnliches. Quackus schnitt ein bißchen davon mit einem löffelartigen Messer heraus. "Fertig. Zumachen." Oskar wurde ganz zappelig vor Spannung. Gleich würde er erfahren, wie man in der Antike geöffnete Schädeldecken wieder schließt. Die Sache mit der Säure allein war für ihn schon eine weltbewegende Entdeckung. Er wollte noch näher an den Tatort herantreten, als ihn plötzlich der Engel am Arm schnappte und mit ungeheuerlicher Wucht durch den Tunnel zurückkatapultierte. "Wieso mußten wir ausgerechnet jetzt hierher zurück?" jammerte Oskar. "Können wir nicht wenigstens noch für ein paar Minuten dorthin, wo wir gerade waren. Du mußt nämlich wissen, ich habe einmal ein Referat über antike Kopfoperationsmethoden geschrieben. Mit Analysen von Schädeln aus Gräbern und so weiter. Darin habe ich mich besonders mit dem Thema "Wiederverschließen des geöffneten Schädels in der Antike" befaßt. Bitte, bitte, laß' mich noch ein paar Minuten nach unten. Ich würde zu gerne wissen, wie dieser Gauner den Schädel wieder verschließt! Ich verspreche dir auch, ich werde nichts davon veröffentlichen. Ehrenwort." Der Engel schüttelte ungläubig den Kopf und lächelte. "Mein lieber Oskar. Wir haben dich nicht hierher geholt, um dir Anatomieunterricht zu erteilen. Vergiß die Sache mit dieser Lobotomie und laß uns jetzt zum Wesentlichen unserer Lektion kommen." Oskar ärgerte sich sehr darüber, daß der Engel sein Interesse so gänzlich ignorierte. Konnte er denn nicht verstehen, wie ein Wissenschaftler fühlt? Er sah ein, daß es keinen Zweck hatte, mit dem Engel weiter zu feilschen und schwieg resigniert. "Glaub mir Oskar, wenn du dich erst einmal mit den Büchern beschäftigt haben wirst, die wir dir zuspielen werden, wirst du noch viel interessantere Dinge erforschen können als Neurochirurgie. Das, was du hier erlebst, wirst du ja sowieso alles vergessen. Sei also nicht traurig, daß du keinen Anatomieunterricht bekommst. Laß uns nun über die Hintergründe dieser Geschichte nachdenken." "Ja, also, diese Geschichte war ja wirklich sehr traurig. Die armen Eltern von diesem Jungen! Eins habe ich allerdings nicht ganz verstanden: In der vorhergehenden Lektion war es doch der Lichtblitzdonnerbomber, der dem Brotmenschen die Schönheit der Welt vorgaukelte. Nun war es dieser sympathische Epipathos, den ich gewiß nicht für einen Helfershelfer des Lichtblitzdonnerbombers halte, der dem Mirano das Leben in der Welt wieder schmackhaft machen wollte, und ihn sogar zum Besuch von ganz heidnischen Stierkämpfen ermunterte. Wie passen diese beiden Dinge zusammen?" Der Engel zeigte mit einem Finger auf Oskar. "Sehr gut, daß dir das aufgefallen ist. Wie du ja aus dem Mund des Brotmenschen lernen konntest, lügt der Lichtblitzdonnerbomber immer, daß sich die Balken biegen. Viele fallen auf seine Lügen herein und glauben dann an ein Universum, das von zwei entgegengesetzen Mächten beherrscht wird, die sich ganz oben, auf gleicher Höhe befindend, bekämpfen. Dem Lichtblitzdonnerbomber ist diese Lüge recht. Denn dann steigt er gewissermaßen zu einer der Orgel ebenbürtigen Position hinauf. Natürlich nur in seiner Einbildung. Aber nun darf er sich an dem falschen Glauben der Leute erfreuen, die auf diese Lüge hereinfallen. In Wirklichkeit ist es nämlich so, daß die Orgel allein alle Fäden in der Hand hält, und der Lichtblitzdonnerbomber auch nur eine Marionette der Orgel ist. Dies will er natürlich nicht wahrhaben. Er will ja sogar über der Orgel stehen. Großen Eindruck schindet er bei vielen Leuten mit seinem sogenannten Mächteverband. Er will damit glauben machen, alle ausgebrochenen Engel seien ausnahmslos auf seiner Seite. Nun, eine unverwechselbare Ähnlichkeit läßt sich freilich nicht leugnen. Die Ziele aller Ausgebrochenen sind die gleichen: Rechthaberei vor der Orgel, Vereiteln des Planes mit den Humussen, und so weiter. Es gibt auch zahlenmäßig starke Verbünde von solchen Engeln. Aber selbst diese Verbünde halten nicht für immer. Die aus der Bahn Ausgebrochenen fallen ja immer weiter in das Nichts, jeder in eine andere Richtung, wie Splitter zweier zusammengeprallter Himmelskörper. Von einem gut durchorganisierten Mächteverbund aller Ausgebrochenen kann also gar keine Rede sein. Der Brotmensch wußte das genau. Er wußte, ein Mächteverband, wie der des Lichtblitzdonnerbombers und der ausgebrochenen Engel, der nicht einmal unter sich selbst einig ist, hat keinen Bestand. Er wußte, daß er der Starke ist, der in das Haus der Welt eindringen und den vermeintlichen Besitzer fesseln wird. Er wußte, daß die Herrschaft auf seinen Schultern liegt, und das erst recht nach seinem schmerzvollen Gebackenwerden. Er wußte, daß diese Welt von der Orgel geliebt ist, und daß er deshalb Mensch wurde und die Humusse durch sein Brot zu wahren Humussen machen soll, so viele wie möglich. Durch den vom Lichtblitzdonnerbomber vergebens erheischten Kniefall hätte er diesem recht gegeben. Er hätte damit behauptet: "Seht alle her, der Lichtblitzdonnerbomber hat tatsächlich Macht über die Welt, ganz wie er behauptet." Traurig ist nun die Wahrheit, daß es unzählige, sich mit dem Brotmenschen Beschäftigende gibt, die dem Lichtblitzdonnerbomber dies trotzdem glauben. Sie glauben, alle Dinge dieser Welt seien ausnahmslos aus dem Machtbereich des Lichtblitzdonnerbombers. So trauen sie sich dann kaum noch aus dem Haus. Sie wollen ja nichts mehr mit dem Lichtblitzdonnerbomber zu tun haben. Sie schließen sich ein in Ghettos mit anderen, die die gleiche falsche Meinung haben. So wie dieser Mirano, der nun Zeit seines Lebens im Ghetto der von Quackus Verstümmelten vegetierte. Und was hat der Lichtblitzdonnerbomber damit erreicht? Ganz einfach, es gibt keine Brotmenschen in der Welt mehr! Daß der erste Brotmensch in die Welt kam, konnte er nicht verhindern. Aber er schafft es, möglichst viele der sich mit dem Brotmenschen Beschäftigenden von der Welt zu isolieren. Natürlich geht dies nur mittels eines Netzwerks von Lügen, woraus folgt, daß die so "kaltgestellten" BrotmenschInteressierten auch von den Wahrheiten und Lehren des Brotmenschen selbst isoliert werden. Sie glauben dann an einen falschen Brotmenschen. Außerdem ist es eine traurige Tatsache, daß viele derer, die vorgeben, ehrliches Interesse am Brotmenschen zu haben, in Wirklichkeit in der Geschichte und Gegenwart jenen Kniefall vor dem Lichtblitzdonnerbomber getan haben, den der Brotmensch selbst nicht tat. Sie taten dies, um eine Abkürzung zu tätigen, einen schnelleren Weg, der sich dann leider als eine fatale Sackgasse mit einer Falle an ihrem Ende entpuppte. Oder, speziell in Quackus' Fall, sie taten diesen Kniefall, weil sie in Wirklichkeit dem Geld dienen wollen und nicht dem Brotmenschen. Viele andere, die diesen Kniefall tätigten, dachten gar, dadurch ihren Glaubensgenossen einen Dienst tun zu können. Ein kleiner Kompromiß nur, dachten sie, dann bin ich an der Schaltzentrale... Irrtum! Die Schaltzentrale sitzt ganz woanders, nämlich beim gebackenen und zerbröselten Brot und seinem Machtgefüge, welches ein Machtgefüge ist, das für immer bestehen wird. Durch jenen Kniefall verkünden diejenigen, die ihn tun: "Wir glauben zwar an die große Orgel, aber wir glauben nicht, daß das Machtgefüge des Brotmenschen dasjenige ist, das wirklich Bestand haben wird. Wir glauben nicht, daß du, Brotmensch, die Herrschaft haben kannst. Diese Welt bleibt doch immer die gleiche. Sieh doch, wie der Lichtblitzdonnerbomber einen Schachzug nach dem anderen tätigt. Wir glauben zwar an dich, Brotmensch, aber wir müssen auch dem Lichtblitzdonnerbomber Tribut geben, auch ihm gebührt Anbetung, sonst kommen wir nicht durch im Leben. Wie nämlich sollten wir sonst in der Welt bestehen können? Also lassen wir alles so, wie es ist. Nachher dann, oben bei der Orgel, ja, da gibt's nur die Macht der Orgel. Aber hier müssen wir die nötigen Kompromisse mit dem Lichtblitzdonnerbomber schließen, denn hier ist er ja derjenige, der Macht hat." So etwas in dieser Art bezeugen sie damit. Epipathos nun glaubte ganz und gar nicht an diese Schwindeleien. Er war einfach jemand, der die Welt als das vom Brotmenschen Geschaffene freudig annahm. Er wußte natürlich auch, daß viele der schönen Dinge auf dieser Welt tatsächlich vom Lichtblitzdonnerbomber stark beeinflußt werden. Daß es viel Böses in dieser Welt gibt. Daß auch die Stierkämpfe eine grausame Sache sind. Aber er ging hin, zu diesen Stierkämpfen und machte neue Freunde, die er dann später mit den Ideen des Brotmenschen in Berührung brachte. So war Epipathos einer, der in Lichtblitzdonnerbomber-Terrain vordrang, und dem Lichtblitzdonnerbomber einen Humus nach dem anderen vor der Nase wegschnappte. Auch der Brotmensch selbst kümmerte sich nicht um Leute, die schon meinten, alles über die Orgel zu wissen, um diese nun noch aufgeblasener zu machen. Nein, statt dessen war er häufig mit ganz miesen Pennern und Betrügern und sonstigem heruntergekommenen Gesindel zusammen. Er wurde ihr Freund und gab auch ihnen eine Möglichkeit, zu der neuen Humanität zu gelangen. Dies war sehr wichtig, denn diese neue Humanität war ja nicht nur für Hochnäsige gedacht gewesen. Es sollte vielmehr bewiesen werden, daß kein Humus so tief sinken kann, als daß ihn nicht die neue Humus-Humanität wieder zu einem wahren Humus machen kann. So ist also der Brotmensch-Mensch in der Welt, obwohl er nicht von der Welt ist, sondern auf eine umgewandelte Welt wartet. Der Ruf des Lichtblitzdonnerbombers, der da lautete: "Nimm diese Welt von mir an", war ein Ruf, der meinte: "Gib deine Hoffnung auf. Erkenne mich als Meister über diese Welt an und baue auf meine Lügen, damit du in dieser Welt zu etwas kommst." Die Ermutigung, die Epipathos dem Mirano gab, war dagegen ein Ruf, der lautete: "Freue dich an dieser Welt. Sie ist von der Orgel gemacht worden. Freue dich daran, zu sehen, wie auch du dazu beitragen kannst, daß sie mehr und mehr durch die Brotmensch-Ideen umgewandelt wird. Freue dich auf die Welt, die der Brotmensch bringen wird! Laß dich nicht ins Bockshorn jagen und isoliere dich nicht von allem und jedem! Wir haben die Freiheit, alles zu kosten und zu genießen, wenn wir es nur auf Brotmensch-menschliche Weise tun, nicht aus bösartigen, egozentrischen Motiven." Oskar dachte eine Weile nach. "Und was ist danach aus der Brotmensch-Humanität geworden?", fragte er. "Ja, leider haben sich die beiden Brotmensch-Beschäftigungs-Versionen, die du gerade erleben konntest, immer mehr miteinander vermischt. Damals waren es noch sehr extreme und krasse Unterschiede. Es gab auch noch Leute, die, so wie dieser Sylvanicus, klar wußten, wie sie die Sache mit dem Brotmenschen richtig interpretieren müssen. Die Schriften dieser Männer, auch des Pepulos, haben auch heute noch einen weitreichenden Einfluß, wenn sie auch immer weniger verstanden werden. Mit der Zeit wurden die Quackusse weniger extrem und auch die Sylvanicusse weniger schneidend. Es bildete sich eine Art Mischmasch heraus, das die Leute mit der Zeit mehr und mehr in ein System von Vergewaltigungen der Menschlichkeit und Denkfaulheiten einzwängte. Ab und zu gab es mal wieder einen oder mehrere, die die Schriften eines Sylvanicus oder mit ihm Geistesverwandten aus den Archiven ausbuddelten und neu auf den Leuchter stellten. Dann gab es herrliche, machtvolle, gewaltige, erhabene Aufbrüche. Wie Blumen, die anfingen zu welken und nun endlich Wasser bekamen, blühten die Menschen auf, sprossen Stätten des Denkens und der Kultur aus dem Erdboden. Aber immer nur für relativ kurze Zeit. Nur allzu schnell waren wieder neue Quackusse in immer neuen Gewändern am Werk, die unmerklich die herrliche Blumenpracht wie fleischfressende Pflanzen untergruben. Bevor man sich's versah, war das ganze schöne Beet wieder voll von Fliegenfallen. Entsetzlich. Mit der Zeit wurden es die Menschen leid. Sie wollten andere Wege finden, ihre Würde und ihre Erhabenheit zu finden, als durch die Beschäftigung mit dem Brotmenschen. Sie wollten nun überhaupt nichts mehr hören von der Orgel und dem Brotmenschen, Quackus hin, Sylvanicus her. Das war natürlich ein fataler Fehler. Aber durch den gewaltigen Tumult, den diese Desillusionierten nun veranstalteten, wurden auch einige aufrichtige Brotmensch-Interessierte wachgerüttelt und zum Nachdenken und Neuformulieren angespornt. Komm, wir wollen dir einmal einen kleinen Ausschnitt aus dieser Zeit zeigen!" "Nicht zu fassen, wie viele Tunnel es hier gibt!", bemerkte Oskar. Diesmal verschwanden sie in einem Tunnel, der schräg über ihnen lag. Selbst denken "In die Ecke!", fauchte ein kauzartiges, knallrotes Gesicht. Gläserne, ausdruckslose Augen blitzten böse auf hinter kleinen, dicken Brillengläsern. Oskar zuckte instinktiv zusammen und sah sich nach einer geeigneten Ecke um - aber die wurde gerade besetzt von einem kleinen Jungen, der sich akkurat dorthin bewegt hatte, der Klasse den Rücken zudrehte und mit der gewünschten Portion gespielter Scham folgsam nach unten blickte. Oskar und der Engel saßen in einer engen, hölzernen Schulbank, die im rechten Winkel zu den anderen Schulbänken stand, wahrscheinlich einer Art Büßerbänkchen. "Ist jemand anderes da, der die Frage beantworten kann?" Das Kauzgesicht schritt in militärischer Manier zwischen den Bänken hin und her. Neben einer Bank mit einem kleinen Rotschopf blieb es ruckartig stehen. "Du, Rudi! Der Rotschopf zuckte zusammen. "Hat Gott den Menschen böse und verkehrt erschaffen?" "Äh, ja, also, ich würde sagen,... ja!" Das Kauzgesicht plusterte sich bedrohlich auf. Unschuldig schlug der rothaarige Knirps die Augen auf, schaute zu dem Kauzgesicht hinauf und sagte leise, aber bestimmt: "Wenn Cornelius 'nein' gesagt hat, und deswegen in die Ecke muß, dann ist doch wohl 'ja' richtig!" Einige in der Klasse kicherten. "Ruhe im Saal!", tobte der Kauz. "Cornelius mußte in die Ecke, weil er den Rest des Textes nicht auswendig wußte, nicht weil er mit 'nein' geantwortet hatte. Das 'nein' war schon richtig, aber ihr müßt auch den Rest der Antwort hersagen können. Es sind noch zwei Monate und ihr müßt den Katechismus auswendig können. Morgen wiederholen wir noch einmal alles. Wehe, wenn ihr dann die Fragen eins bis elf nicht beherrscht. Für heute ist der Unterricht beendet." Oskar und der Engel folgten dem Rotschopf über Wiesen und Feldwege, an weißgeränderten, schmucken Windmühlen, knorrigen, vom Wind geneigten Bäumen vorbei, zu einem Deich. Fröhlich schlenderte der Junge auf der Deichkrone dem Wind entgegen. Plötzlich blieb er stehen und lächelte. Dann hob er einen Stein auf und schlich sich auf Zehenspitzen weiter. Ein geschickter Wurf - und der Stein plumpste in die Nähe von zwei Angelruten. Zwei Männer drehten sich erschreckt um. "Du bist's, Rudi, du alter Lausbub!" rief einer der beiden Angler. "Komm' und setz' dich zu uns. Erzähl' uns ein wenig von der Schule. Wir sind noch sehr dumm und wollen viel von dir lernen. Die Fische beißen heute sowieso nicht an. Den letzten hast du ja wahrscheinlich gerade vertrieben!" Die Männer lachten und machten dem Jungen ein Stück Decke zwischen ihnen frei. Oskar und der Engel nahmen hinter den dreien auf dem grünen, saftigen Gras Platz. Sie saßen eine Zeitlang nur still vor sich hin und betrachteten das Wasser des träge dahinfließenden Flusses. Auf dem gegenüberliegenden Deichufer spielten Kinder mit Flugdrachen. "Diesmal hat der alte Piet mehr Würmer als Fische!", spottete der Jüngere der beiden Männer und nickte mit dem Kopf in die Richtung, in der der leere Holzeimer seines Freundes stand. "Sei ruhig, Jan. Sonst krabbeln die Würmer auch noch weg!", entgegnete der Ältere und zog an seiner Pfeife. "Nun, mein lieber Rudi, was gibt's neues aus der Welt der Wissenschaft? Was habt ihr heute gelernt?" "Der Religionslehrer nimmt mit uns den Katechismus durch. Er will, daß wir alles auswendig lernen. Er hat uns gefragt, ob Gott den Menschen böse und verkehrt erschaffen habe. Der Cornelius vom Bäcker van Zoot hat gesagt, nein. Dafür mußte er sich in die Ecke stellen. Ich habe dann gesagt, ja. Damit war er aber auch nicht zufrieden. Was meint ihr denn, ja oder nein?" "Was, so einen wankelmütigen Religionslehrer habt ihr? Na, der wollte wohl eine ganze Litanei heruntergeleiert haben, nach dem Ja oder Nein!" rief Jan aus. "Ja, er will, daß wir die ganzen langen Texte auswendig wissen!" jammerte Rudi. "Aber was meint ihr denn nun, ja oder nein? Hat Gott die Menschen böse und verkehrt erschaffen oder nicht?" "Eine interessante Frage", sagte Jan und zog seine Stirn in Falten. "Ich bin ja mit solchen Dingen normalerweise überhaupt nicht vertraut. In der Schule war ich nie eine besondere Leuchte. Aber, du wirst es kaum glauben, erst kürzlich habe ich mit meinen Bruder Eugen genau über diese Sache gestritten. Du weißt doch, mein jüngerer Bruder Eugen, der in Leyden studiert. Jetzt kommt er immer so hochnäsig daher. Und was für verrückte Theorien der manchmal zu uns nach Hause schleppt! Stell' dir vor, erst kürzlich sagte er mir doch allen Ernstes, Gott, falls es ihn geben sollte, habe die Menschen zuerst als Tiere geschaffen, die sich dann von selbst weiterentwickelt hätten. Und darum wären natürlich die Menschen nicht selbst daran schuld, daß sie ab und zu böse und unkultiviert sind. Das seien dann eben noch Reste ihrer tierischen Natur. Sozusagen das blaue Blut der Vorfahren, die sich von Baum zu Baum geschwungen haben, wie diese behaarten Ungetüme in Java, wo der Tabak vom alten Piet herkommt." "Der würde mir jetzt wohl auch weismachen wollen, daß ich wie ein Affe aussehe, weil ich Tabak aus Java rauche", frötzelte Piet. "Oder daß meine Würmer sich am Ende vielleicht doch noch zu Fischen entwickeln, ganz von alleine, ohne meine Angel." "Ja, wer weiß. Aber der Eugen meint das wirklich im Ernst! Es soll da so einen neumodischen Gelehrten aus England geben. Einen Darfing, oder so ähnlich. Der behauptet, die Menschen stammen vom Affen ab." "Aber wieso hat uns Gott zuerst als Affen geschaffen? Wieso nicht gleich als Menschen?", fragte Rudi. "Ganz einfach", räusperte sich Piet und steckte die Pfeife ins Gras. "Wenn Gott zuerst die Affen schafft, bedeutet das, daß der Mensch ganz zufällig daraus entstanden ist. Es hätte genauso gut ein zweibeiniges Kamel daraus werden können. Wenn sich also nun die Menschen wie Affen oder Kamele benehmen, dann sagen sie einfach, tja, hätte Gott doch gleich von Anfang an etwas Gescheites aus uns gemacht. So haben sie dann eine gute Ausrede, wenn sie zornig wie ein Affe oder störrisch wie ein Kamel sind." Rudis Unterkiefer klappte auf vor Staunen. "Oder", ergänzte Piet, "sie machen von vornherein Schluß mit Gott. Sie sagen, nun ja, mit Gott haben wir ja nichts direkt zu tun. Er hat ja nur die Affen geschaffen, aber uns nicht. Wir sind sozusagen auf unserem eigenen Mist gewachsen. Warum sollten wir also vor Gott Angst haben? Warum sollten wir meinen, etwas von ihm erwarten zu können? Auf diese Weise schleichen sie sich an Gott vorbei, so wie ihr kleinen Racker euch manchmal in der Pause aus dem Schulhof schleicht, damit ihr euch eine blaue Stunde machen könnt, wenn nach der Pause der kurzsichtige Lehrer Fidelius dran ist mit dem Unterricht! Der alte Fidelius sieht ja nichts mehr von dem, was sich hinter der zweiten Bank abspielt, denkt ihr - und schwups! seid ihr verschwunden. Damit tut ihr dem armen Kerl aber wirklich weh und schadet euch selbst am meisten. Er ist doch der beste und liebevollste Lehrer von allen und meint es nur gut mit euch." Rudi kniff sein mit Sommersprossen übersätes Gesicht zusammen, schloß die Augen und wurde ein wenig rot. Jan und Piet blinzelten zustimmend einander an. "Aber damit noch nicht genug. Mein Bruder ging noch weiter und behauptete, nur von Gott losgelöst könnte der Mensch sein wahres Potential finden", fuhr Jan fort. "Seinen Pott im Aal?", fragte Rudi. "Po-ten-tial. Das heißt soviel wie Stärke, seine Möglichkeiten, etwas zu ändern, und so weiter." "Meint er damit, Gott würde den Menschen daran hindern wollen, etwas zu ändern, wenn etwas schlecht ist?" "Genau. Aber das ist doch ein hanebüchener Unsinn. Gerade Gott wollte doch, daß die Menschen eben nicht alles einfach dem Zufall überlassen. Dauernd erließ er eine Vorschrift nach der anderen, damit sie nicht untergehen. So wie die Schiffe, die nachts, vom Meer kommend, in den Hafen einlaufen, Leuchtzeichen bekommen. Die Leuchtturmwärter wollen nicht die Schiffe den Untiefen und Sandbänken, also dem Zufall überlassen. Sie wollen den Schiffen zeigen, wo's lang geht, damit sie nicht auflaufen und mit Mann und Maus ersaufen." Wieder legte Piet seine Pfeife ins Gras und sagte: "Dein Bruder Eugen würde sich nun aber wehren, wenn du diese Sache so vereinfachst, Jan. Die Menschen, die so denken, wie er; die die Bücher geschrieben haben, in denen er studiert hat, waren ja auch nicht ganz dumm. Auch sie haben sich etwas dabei gedacht. Sie haben sich vorher die Leute, die dauernd von Gott reden, genau angesehen. Wenn es nämlich etwas zu ändern gab, waren just diese frommen Herrschaften auf einmal ganz mucksmäuschenstill. Sie hatten alle Angst um ihre Pfründe und Pfarrsitze, und daß sich vielleicht ein böser König über sie ärgern könnte und aus dem Land ausweisen würde. Statt also dann genau zu überlegen, was Gott gerne geändert haben würde, haben sie sich vor die armen, benachteiligten Leute gestellt und achselzuckend gesagt: Gott will es nun einmal so, daß ihr benachteiligt seid, daran kann man nichts ändern. Fügt euch gefälligst in euer Schicksal und haltet den Kopf hin. Dann haben sie ihnen ein Eckchen vom Himmel zugesagt, wenn sie den Kopf hinhalten würden. Manche einfältigen Leute haben ihnen das abgekauft und haben brav ihren Kopf hingehalten. Aber mit der Zeit lernten immer mehr lesen und schreiben. Lernst du auch fleißig weiter lesen und schreiben, Rudi?" Rudi schob kokett seinen Unterkiefer vor und nickte eifrig. "Fein. Also, auch damals lernten immer mehr Leute lesen und schreiben. Deswegen konnten sie sich informieren, was andere Leute gedacht haben. Und manche fingen dann etwas ganz Gefährliches an: Sie dachten auf einmal selbst. Sie stellten fest, daß sie denken können. Sie merkten, daß wenn sie denken, daß Nord Süd ist und nicht Nord, dann ist es so, wenigstens in ihren Gedanken. Daran kann sie keiner hindern, auch kein Kompaß, auch wenn es in Wirklichkeit gar nicht stimmt, was sie denken. Sie können es trotzdem immer so weiter denken. Sie können auch ganz ausgefuchst sein und sagen, für mich gibt es weder Nord noch Süd. Ich denke mir einen ganz neuen Pol aus, der eine Vermischung von Nord und Süd ist. Den nenne ich dann Sord oder Nüd. Oder Nüsord. Ja, und als dann der König wieder kam und sagte: 'Haltet euren Kopf hin", da haben auf einmal ein paar Leute gar nicht mehr reagiert. Sie standen nur da und grinsten. Der König war außer sich und holte gleich seine Pfaffen. Sie sagten dann brav wieder ihr bewährtes Sprüchlein auf: 'Wenn ihr nicht euren Kopf hinhaltet, bekommt ihr kein Eckchen im Himmel.' Siegessicher meinte nun der König, er hätte diese Leute wieder in der Tasche. Aber da geschah das Unglaubliche: Diese Leute sagten einfach: Vielleicht ist die ganze Sache mit Gott und dem Himmel ja nur von euch ausgedacht worden, damit wir unseren Kopf hinhalten. Wir stellen aber fest, daß wir ganz anders denken können darüber. Wer weiß, vielleicht ist am Ende unser Denken richtig und das Eurige falsch. Zum ersten Mal war ein Soldat auf diese Idee gekommen. Er diente im dreißigjährigen Krieg. Das war so ein verrückter Krieg, in dem sich die Leute wegen ihren Auffassungen über Gott gegenseitig abschlachteten. Der eine dachte so über Gott. Der andere anders. Der erste konnte sich nicht vorstellen, daß man auch anders denken könne über Gott. Deshalb mußte er dem anderen beweisen, daß ihm Gott helfen würde, dem anderen die Kehle durchzuschneiden." Rudi griff sich erschrocken an seinen Hals. Piet bemerkte zufrieden den Schockeffekt, den er ausgelöst hatte und fuhr fort: "Ja. Und als die sich nun so gegenseitig niedermetzelten und das Blut in Strömen floß, saß jener Soldat in seinem Zelt und dachte: Komisch, die bekämpfen sich nur wegen Denkarten, die sie gar nicht selbst ausgedacht haben, sondern von anderen aufgezwungen bekommen. Wieso sollte ich für das Denken eines anderen den Kopf hinhalten? Ich kann doch selbst denken! Ich denke, also bin ich. Ich weiß nicht, wer von diesen beiden kriegerischen Parteien Recht hat. Vielleicht gar keine. Vielleicht alle beide, und sie haben nur Mißverständnisse wegen unwichtigen Wortklaubereien. Aber eins weiß ich: Ich bin ich. Wenn ich mir ins Ohr zwicke, merke ich es und kein anderer. Also kann nur mein eigenes Denken für mich ein Denken sein, auf das ich mich verlassen kann." Rudi sah ungläubig aus der Wäsche. "Heißt das, daß wenn ich ganz fest daran denke, daß Nord Süd ist, daß es dann auch so wird?" "Eben nicht. Schau her, ich zeige es dir." Piet kramte einen kleinen, in Messing eingefaßten Kompaß aus seiner Tasche. "Ui, ein richtiger Kompaß!" Rudi stellte sich auf den Knien auf und blickte fasziniert auf die kleine, blau und rot gefärbte Nadel. "Siehst du diesen kleinen Doppelzeiger? Es ist ein kleiner Magnet, der in der Mitte aufgespießt ist, aber so, daß er sich locker bewegen kann. Wenn du nun den Kompaß so bewegst, daß das "N" dort auf dem Papier darunter genau unter dem kleinen "n" auf der Nadel erscheint, dann ist dort, wo die beiden "n"s hinzeigen, Norden. Und daran läßt sich nichts ändern. Du kannst zwar das Papier darunter verschieben oder verdrehen, aber das kleine "n" wird trotzdem immer noch Richtung Norden zeigen. Du kannst dann auch anders darüber denken, wo Norden liegt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß Norden eben doch im Norden liegt, egal wie stark du den Kompaß schüttelst und rüttelst und drehst." Rudi schüttelte den Kompaß ein wenig und blickte mit weiten, aufgerissenen Augen auf die Nadel, die sich mit eiernden Bewegungen immer wieder sicher Richtung Norden bewegte. "Das ist es nämlich, was dieser Soldat übersehen hatte. Manche Dinge ändern sich einfach nicht, egal wie man darüber denkt. Es ist natürlich dumm, zu glauben, dort wäre Norden, wenn dort gar nicht Norden ist, nur weil jemand mich dann damit austricksen will. Aber es ist auch genauso dumm, nicht daran zu glauben, daß dort Norden ist, wenn dort wirklich Norden ist, nur weil man es gerne hätte, daß dort Süden wäre." Nur ungern gab Rudi den Kompaß wieder her. Piet verstaute ihn tief in seiner Tasche. "Für sich selbst muß man schon denken. Damit hatte der Soldat recht. Aber was das anbetrifft, was über meine eigene Person hinausgeht, wie zum Beispiel das Zusammenleben mit anderen Menschen oder die Frage, ob es Gott und den Himmel gibt oder nicht, kann man nie wissen, was wirklich stimmt, nur aus der Kraft des eigenen Denkens heraus. Man braucht Leuchtturmwärter, die einem weiterhelfen. Man muß auch aufpassen, den Leuchtturm nicht mit einem brennenden Haus zu verwechseln. Dann kann man nämlich auch auf Grund laufen. Man muß schon selbst denken, aber man braucht auch Hilfe von anderswo her." "Gerade sagst du das Stichwort, das ich gesucht hatte," sagte Jan. "Das Zusammenleben mit anderen Menschen. Mein Bruder Eugen behauptete nämlich nun: Weil sich durch diese Leute, die dauernd von Gott reden, nichts geändert habe, sollten die Menschen lieber ohne Gott versuchen, eine bessere, gerechtere und glücklichere Menschheitsordnung aufzubauen. Durch ihr eigenes Denken, ihre eigene Stärke könnten sie besser zu einer gerechten Ordnung kommen, bei der jeder gleich viel bekommt." "Aber gegen was waren die denn nun eigentlich, gegen die Leute, die dauernd von Gott redeten, oder gegen Gott selbst?", fragte Rudi. "Genau das ist auch so ein Mißverständnis dieser Leute. Sie merkten nämlich gar nicht, daß sie "Gott" und die Pfaffen praktisch gleichsetzten. Sie waren eigentlich nur gegen die Pfaffen. Aber weil diese Pfaffen dauernd von Gott redeten und dadurch ihre eigenen Interessen geschickt absicherten, meinten nun diese selbstdenkenden Leute, bestimmt wäre auch an Gott selbst etwas faul. Und das war natürlich ein Irrtum. Warum sollte sich Gott von ein paar Bösewichten, die sich Pfaffen nennen, vorschreiben lassen, auch ein Bösewicht zu sein?" "Gott war also immer noch der gleiche Gott, obwohl den Leuten der Appetit auf ihn verdorben worden war!" Rudi war stolz darauf, etwas begriffen zu haben. "Ganz genau. Genauso wie der Nordpol immer noch am Nordpol liegt, auch wenn mir andere Leute Angst vor dem Nordpol machen wollten. Und jetzt kommen wir auf deine anfängliche Frage zurück. Gott hatte nämlich den Menschen zuerst gut erschaffen. So gut, daß er fast eine Art Spiegelbild von Gott selbst war. Sie kamen auch prima miteinander aus. Kein Mißtrauen, keine Intrigen, Lügen, bösen Verdächtigungen. Es war ganz und gar nichts Verkehrtes an dem Menschen. Wenn der Mensch etwas sagte, war das immer ganz ehrlich und ohne Hintergedanken, wie er zum Beispiel zu Geld kommen könnte dadurch. Er brauchte ja auch gar kein Geld, er mußte nicht einmal einkaufen gehen, er bekam ja sowieso alles von Gott. So lebten sie glücklich und sehr zufrieden eine lange Zeit, bis sich jemand Drittes einschlich. Diese dritte Person sagte zu den ersten Menschen: 'Ihr müßt nicht alles glauben, was euch dieser Gott so erzählt. Er will euch nämlich hinters Licht führen. Er tischt euch zwar alle möglichen Leckerbissen auf, aber das Beste will er euch vorenthalten. Seid doch nicht dumm! Seht euch doch einmal selbst an: Ihr seid ja fast so tolle Kreaturen wie Gott selbst. Und genau davor hat er Angst, daß ihr tatsächlich so werdet wie er. Deshalb läßt er euch unmündig sein. Deshalb gibt er euch ab und zu eine kleine Vorschrift. Sonst würdet ihr ihm nämlich über den Kopf wachsen. Ihr würdet größer als er. Er müßte dann auf euch hören. Das will er aber nicht. Aber genau das wäre gerade so gut für ihn! Etwas besseres könnte es gar nicht geben für diesen Gott, als daß er unter eure Befehlsgewalt gestellt würde. Probiert es doch einmal aus. Dadurch könnt ihr Gott einen noch größeren Dienst erweisen, als wenn ihr nur immer brav seine Leckereien verspeist, wie Goldfische im Zierteich.' Die Menschen waren fasziniert von dieser Idee. Sie fragten sich verängstigt: 'Wir, diesem Gott Vorschriften machen?' Aber die Idee hat sie dennoch nicht losgelassen. Sie dachten sich, man lernt es wahrscheinlich durch Übung, einem Gott Befehle zu erteilen. Irgendwann müssen wir ja doch einmal erwachsen werden und damit anfangen. Schließlich fingen sie sogar an, sich einzubilden, es wäre ein GANZ BESONDERER Gottesdienst, Gott gleich zu werden. Dies sei Gott GANZ BESONDERS wohlgefällig, er habe es sich nur nicht getraut, dies genau zu erklären. Er hätte die Menschen nicht überfordern wollen. Wie gut, dachten sie, daß dieser Dritte uns nun darauf aufmerksam gemacht hat. Wir wollen ja Gott GANZ BESONDERS gefallen, indem wir Ihn damit überraschen, auf einmal Ihm gleich zu sein, auf gleichem Stand, wie Kollegen, mit Ihm zusammenzuarbeiten; ja, Ihm sogar ab und zu auch einmal eine kleine Vorschrift machen zu können. Dabei hatten sie aber nicht bedacht, daß diese dritte Person sie nur hereinlegen wollte. Diese dritte Person nämlich war es, die nicht nur Gott gleich, sondern auch höher sein wollte als Gott und dabei schon einmal gescheitert war. Nun war dieser Dritte nur neidisch auf Gott, daß der immer noch Seinen Platz behaupten konnte, während er selbst abgesetzt worden war. Schließlich konnten die Menschen ihre Neugierde nicht mehr bremsen. Sie wollten doch zu gerne wissen, ob sie tatsächlich über Gott stehen könnten. Und das ging natürlich schief, denn wenn sie über Gott stehen würden, wäre ja Gott nicht mehr Gott. So mußte Gott also fast gezwungenermaßen den Menschen sein Vertrauen absprechen. Fortan konnten sie sich nie wieder mit Gott unterhalten. Nur wenn Gott selbst sie anrief, dann konnten sie auch einmal etwas sagen. Aber ansonsten herrschte eine eisige Kälte zwischen Gott und den Menschen und die Menschen waren wie tot Gott gegenüber. Die Menschen mußten nun einsehen (wenn sie überhaupt einmal hin und wieder einen klitzekleinen Lichtblick hatten), daß sie, auch wenn sie von Gott getrennt waren, immer noch am besten leben konnten, alleine und miteinander, wenn sie sich nach dem orientierten, was Gott so dachte. Sie merkten auf einmal, wir sind so erschaffen worden, daß wir ohne die Ideen und Einfälle Gottes ganz langweilige, gereizte, bösartige und phantasielose Wesen sind. Wir sind so erschaffen worden, daß wir ohne Gott kein Füßchen auf den Boden bringen. Die besten Staatsordnungen sind also immer noch die, die sich an diese Erkenntnis halten, auch wenn böse Menschen sogar damit es immer wieder fertigbrachten, ihren Unfug zu treiben." "Und was ist mit den Staatsordnungen, die sich nicht daran halten?", fragte Rudi. Plötzlich warf sich Piet ruckartig nach hinten und schleuderte einen hell aufblitzenden, ellenlangen Fisch aus dem Wasser. Geschickt löste er den Angelhaken von dem zappelnden Tier, das in dem Holzbottich landete. Rudi vergaß alles um ihn herum und freute sich an dem schillernden, schwach rötlich-silbern glänzenden Fisch. "Meine Würmer sind anscheinend doch nicht so ohne", bemerkte Piet trocken, "manchen scheinen sie gut zu schmecken." "Nun, die Staatsordnungen, die versuchen, ohne die Ideen Gottes den Menschen Glück und Zufriedenheit zu bringen, sind ziemlich stark gefordert", sagte Jan, der es verschmerzt zu haben schien, von Piet in der Anglerkunst übertroffen worden zu sein. "Sie müssen ja nun selbst Gott spielen. Wahrscheinlich werden solche Staatsordnungen in der Zukunft entstehen. Die Führer solcher Staaten werden dann wahrscheinlich wie Götter verehrt werden, denn sie nehmen ja den Platz Gottes ein. Um den Leuten nun Glück und Zufriedenheit zu bringen, sagen sie einfach: Jeder soll gleich viel haben. Schön und gut. Aber dabei gibt es ein Problem: Jeder meint nämlich, er müsse mehr haben. Die Leute sind nun nicht mehr an einen Gott gebunden, dem sie Rechenschaft geben müssen. So können sie tun, was sie für richtig halten. Ich will es dir an dem Beispiel des Fisches erklären, den Piet gerade gefangen hat. Nehmen wir einmal an, wir, Piet und ich, sind beide Leute, die von Gottes Vorschriften überhaupt nichts halten. Nun komme ich und sage, Piet, du mußt mir einen halben Fisch abgeben, damit wir beide gleich viel haben. Dann sagt Piet, gib du mir dann auch einen halben Wurm. Angle auch du so lange, bis auch du einen genau gleich großen Fisch hast, den wir dann an der genau gleichen Stelle wieder teilen, damit ich die andere Hälfte von dir zurückbekomme. Oder er ist schlau und gerissen und sagt, nein, ich muß diesen Fisch unter den Bewohnern meines Dorfes aufteilen. Jeder bekommt einen winzigen Bissen ab. So jedenfalls sagt er es mir. Zu Hause brät er sich den Fisch aber dann doch heimlich in Butter und ißt ihn ganz alleine. Danach hat er dann ein ganz schlechtes Gewissen. Aber, mit der Zeit wird auch sein Gewissen abgestumpft und er wird ein gefräßiger Fischvertilger. Oder, ich bin noch gerissener als er und sage, Piet, dieser Fisch ist beschlagnahmt. Gib ihn mir, denn ich muß ihn unter die Bewohner meines Dorfes aufteilen. Dazu bin ich bestimmt worden. Werden dadurch die Menschen glücklicher? Wahrscheinlich wird nur der Fisch schlecht. Oder wir balgen uns, und der Fisch springt zurück in den Fluß. Oder Piet kratzt mir am Ende die Augen aus, mit seinen Angelhaken. Wahrscheinlich werden wir dann nie wieder Lust zum Fischen haben. Wenn wir aber nach den Ideen Gottes vorgehen, sage ich einfach, Piet, ich gratuliere dir zu deinem Fang. Ich weiß ja, daß Neid und Geiz gegen Gottes Ideen sind. Vielleicht schießt dann dem Piet sogar eine besondere Portion göttlicher Ideen durch seinen Kopf und er lädt mich zum Essen ein. Aber ich werde es nicht darauf abgesehen haben. Dann könnte ich nämlich zu einem Pfaffen werden, der sagt, Piet, wenn du mich nicht zum Fischessen einlädst, verlierst du dein Eckchen im Himmel. Das wäre dann genau so dumm und bösartig. Jedenfalls ist eine solche Staatsordnung von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weil nämlich seit Urzeiten die Menschen tatsächlich böse und verkehrt sind und aus eigenen Anstrengungen nichts daran ändern können." "Dann stimmt es also doch, was du zuerst gesagt hattest, was diese Pfaffen auch behaupteten, daß man nichts ändern könne?" Rudi sah verwirrt und entmutigt drein. "Nein, nein, nein. Man kann nichts daran ändern, daß man an sich böse und verkehrt ist. Aber man kann mit den Ideen Gottes, die nämlich gut sind, trotzdem vieles verändern. Dazu braucht man allerdings ziemlich viel Mut von Gott selbst, denn nicht alle wollen es mit den Ideen Gottes halten. Die meisten sind ganz glücklich mit ihrer Bosheit, durch die sie den anderen das Geld aus der Tasche ziehen. Es käme ihnen nicht in den Kopf, sich zu ändern. Aber Gott will nicht, daß dies alles so bleibt. Er gibt uns Anleitungen und Denkanstöße, wie wir die Welt um uns herum ändern können." "Gibt mir Gott auch eine Anleitung, wie ich meine Lehrer dazu bringe, mir bessere Noten zu geben?" fragte Rudi. "Ich würde sagen, nein. Du weißt ja selbst, daß du dich auf deinen Hosenboden setzen und fleißig sein mußt. Viele Menschen aber meinen, Gott würde auch ihre eigene, selbstverschuldete Faulheit und Gerissenheit absegnen. Diese Menschen meinen, Gott sei immer auf ihrer Seite, egal, wie faul und dumm sie sind. Sie meinen, Gott habe ihnen eine Extraerlaubnis erteilt. Immer wenn bei ihnen das Denken aufhört, führen sie Gott an. Gott muß dann für sie weiterdenken. Manche meinen auch, sie könnten Gott durch etwas anderes beeindrucken, als durch das, was er schon von vorneherein vorgeschrieben hat. Nehmen wir einmal an, du würdest glauben, der Lehrer gäbe dir bessere Noten, wenn du dafür heimlich andere Schüler bei ihm verpetzt. Das wäre ja ungerecht den anderen Schülern gegenüber, die fleißig waren und auch nur die gleiche Note bekommen. Manche Leute aber meinen, wenn sie auf andere Menschen mit dem Finger zeigen, bekommen sie einen Extrabonus von Gott. Gott würde dann bei ihren eigenen Fehlern alle Fünfe gerade sein lassen. Gott, so glauben sie, würde ihnen auf die Schulter klopfen und sagen: Gut gemacht, mein kleiner Spion. Andere Leute wiederum wollen Informationen von Gott über andere Kanäle haben, als denen von Gott vorgeschriebenen. Sie sind wie Kinder in der Schule, die beim Anderen abgucken. Statt also, wie vorgeschrieben, selbst zu lernen und nachzudenken, schreiben sie einfach ab. Nur, bei Gott geht das nicht. Er macht es dann nämlich so, daß die Arbeit des Banknachbars für denjenigen, der abschreibt, ganz anders aussieht und voll von Fehlern ist. So geht es denen, die statt sich über die Ideen Gottes zu informieren, zum Jahrmarkt gehen und eine Wahrsagerin aufsuchen. Oder auf Träume achten. Oder so etwas Ähnliches tun. Sie meinen dann, sie hätten heimlich von Gott abgeschrieben, ihm über die Schulter geguckt. Aber in Wirklichkeit bekommen sie auf diese Weise eine ganz falsche Information." Rudi machte große Augen, in denen sich der Jahrmarkt zu spiegeln schien. Nach einer Weile fragte er: "Wie war das noch mal mit dem Pott im Aal, was meinte Eugen damit?" "Das Po-ten-tial. Eugen behauptete, der Mensch wäre erst so richtig Mensch, wenn er sich von Gott losgelöst habe. Die wahre Menschlichkeit ist eine, die nur vom Menschen selbst entwickelt werden kann. Dies folgern sie aus der Tatsache, daß manche Pfaffen den Menschen verboten haben, selbst zu denken. Nun meinten diese Leute, die so wie Eugen denken, daß die Beschäftigung mit den Ideen Gottes das Ende alles eigenen Denkens bedeute. Wer an Gott glaubt, springt gewissermaßen in ein dunkles Loch, meinen diese Leute. Nur wer selbst denkt, kann zu etwas Sicherem gelangen. Aber dabei ist Gott ganz und gar nicht dagegen, daß die Leute selbstständig denken. Nur, weil der Mensch als Spiegelbild Gottes geschaffen wurde, kann er am besten denken, wenn er Denkanstöße von Gott erhält. Die moderne Wissenschaft ist ja auch keine Erfindung von diesem Darling." "Darfinn", verbesserte Piet. "Ja, also von diesem Darfling. Der Mensch soll ja denken und sich die Welt untertan machen. Er soll nicht vom Zufall gesteuert sein. Er soll Gottes Ideen weiterdenken. Gott hat ihn ja als denkendes Wesen geschaffen. Nun ist aber der Denkapparat ohne Gottes Ideen völlig untauglich. Schau' dir mal diesen Drachen dort drüben an!" Jan zeigte auf einen bunten Drachen, den eine Gruppe Kinder jauchzend und lachend auf dem gegenüberliegenden Deich an einer Schnur festhielten. Der Wind ließ ihn aufsteigen, bald ging er wieder hinab. Wenn er herunterzukommen drohte, rannten die Kinder ein Stück auf dem Deich und gaben so dem Drachen wieder Auftrieb. "Wenn kein Wind da wäre, würde dieser Drachen schlaff auf dem Speicher liegen. Er würde verstauben und man würde ihn vielleicht sogar vergessen. Er ist nun mal als ein fliegendes Stück Papier und Holz gebaut worden, daß nur im Wind fliegt. Ohne Wind ist er nichts. Genauso ist auch der Mensch. Ohne die Gedanken Gottes ist er ein schlaffes Stück buntes Papier. Nur wenn Gott kommt und auf das Papier schreibt, steigt es auf und kann andere erfreuen. So kann auch der Mensch seine wahre Menschlichkeit nur mit der Hilfe dessen finden, der ihn erbaut hat." "Jan, hilfst du mir auch, einen Drachen zu bauen? Ich habe es einmal versucht, aber ich schaffe es nicht alleine. Bitte, Jan!" "Hm, ich weiß nicht, ob ich so etwas heute noch kann. Es ist schon lange her, daß ich meinen letzten Drachen gebaut habe. Ich will einmal auf dem Speicher nachsehen. Vielleicht habe ich ja noch einen von früher. Den kannst du dann haben. Komm morgen nachmittag mal bei mir vorbei. Aber versprechen kann ich nichts!" "Oh, toll, ich bekomme einen eigenen Drachen!", schwelgte Rudi. Der alte Piet hatte währenddessen geschwiegen und seine Pfeife weitergeraucht. Nun war ihm der Tabak ausgegangen. Er klopfte seine Pfeife am Rande des Fischeimers aus. Oskar sah, wie sich das schwarze Innere der Pfeife plötzlich immer mehr zu vergrößern schien. Schließlich wurde sie zu einem riesigen schwarzen Loch und bevor Oskar entsetzt ausrufen konnte: "Was ist das denn?", waren sie schon wieder in dem Tunnel verschwunden. "Mann, hast du mich erschreckt!" rief Oskar aus. "Hättest du mich nicht genauso gut durch ein Loch in der Erde zurückbringen können in dieses Labyrinth?" "Freilich, freilich", gluckste der Engel vergnügt. "Aber ich wollte dich auch noch einmal necken. Wir haben jetzt nämlich nur noch eine Lektion zusammen. Optische Täuschungen sind mein Lieblingsschabernack." Da konnte auch Oskar nicht mehr ernst bleiben und mußte kichern. "Und ich dachte immer, im Himmel wäre alles todernst. Das heißt, so dachte ich, falls es einen Himmel geben sollte, was ich ja nicht glaubte." "Und was du auch wiederum nicht glauben wirst, wenn du zurückgeholt wirst." setzte der Engel hinzu. Oskar wollte etwas einwenden, aber er ließ es dann doch sein. Er merkte, daß er in dieser Sache kein Mitspracherecht hatte. "In der nächsten und letzten Lektion werden wir uns etwas in der Zukunft ansehen", sagte der Engel. Danach erkläre ich dir, was wir versuchen werden, dir auf der Erde als Aufgabe zu geben, für den Fall, daß du dich mit 'ja' entscheidest. Also, komm mit. Ein Freund von mir wartet dort schon auf mich und wird uns alles erklären." Schon glitten sie, durch den leicht gekrümmten sechsten Tunnel, schräg nach oben. Superandroiden "Da seid ihr ja endlich!", rief ihnen ein dunkelblau schimmernder, riesiger Engel zu. Er war etwas größer als Oskars Engel und anders gefärbt. Aber vom allgemeinen Körperbau und Gesicht ähnelten sich die beiden Engel. Neugierig und mit traurigem Gesichtsausdruck besah sich der dunkelblaue Engel den mitgebrachten Menschen. "Ist das dieser Neurologe, den du für die Erhaltung der Brotmensch-Humanität mit einspannen willst?" fragte der dunkelblaue Engel und blickte matt auf Oskar. "Ja", sagte Oskars Engel. "Gefällt er dir? Er heißt Oskar." "Hm. Weiß nicht. Jedenfalls scheint er noch ein richtiger Mensch zu sein. Willkommen, Oskar, in einer traurigen Zukunft. Vielleicht kannst du das, was du hier siehst, in deiner Zeit noch für ein paar Menschen oder Jahre abbremsen", sagte der dunkelblaue Engel melancholisch. "Hier ist kaum noch Humanität zu finden. Von einer BrotmenschHumanität ganz zu schweigen. Lange kann es so nicht mehr weiter gehen. Wir Engel wissen fast nicht mehr, ob wir auf Tiere oder auf Menschen aufpassen. Wir sind schon richtig verunsichert." "Ja, aber was um Himmels willen ist denn passiert, in dieser Zeit hier?" fragte Oskar. Er war auf das Schlimmste gefaßt. "Hat es eine Umweltkatastrophe gegeben, eine von wandelbaren Viren verursachte Seuche, schlimmes Leid durch Kriege?" Ein kurzes, kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über das Gesicht des dunkelblauen Engels. "Ach, ihr lieben Menschen aus dem 21. Jahrhundert. Immer noch Angst vor Krankheiten und Seuchen. Du wirst es kaum glauben, Oskar, aber genau das Gegenteil ist nun hier das Hauptproblem." Oskar zog seine unsichtbare Stirn in Falten und starrte seine beiden Engelsbegleiter ungläubig an. "Das Gegenteil? Wie soll ich das verstehen, von was das Gegenteil?" "Von Leid. Natürlich nicht von dem Leid, das durch Hunger oder Kriege entsteht. Davon gibt es immer noch genug, wenn auch an weniger Plätzen auf der Erde. Aber es gibt kein Leid mehr durch Krankheiten und Seuchen." Oskar fühlte sich wieder einmal verschaukelt. "Aber das ist doch wunderbar! Das Ziel eines jeden Mediziners! Was soll daran problematisch sein? Der Brotmensch hat doch auch Leute von Krankheiten befreit! Was wollt ihr denn nun?" Der dunkelblaue Engel zog einen riesigen, schwarzen Vorhang zur Seite. Der Blick wurde frei auf eine Art Labor, in dem rosarote, wärmeflaschenähnliche Beutel in Reih und Glied nebeneinander lagen. Die Beutel waren mit Unmengen von kleinen Schläuchen verbunden und pulsierten leicht. "Siehst du diese Beutel dort? Das sind Gebärmuttern aus künstlichem Gewebe. Mit Hilfe der Gentechnologie hergestellt. Das Heranzüchten von menschlichen Embryos außerhalb von menschlichen Körpern ist ja noch menschlich vertretbar. Aber nun schau dir einmal an, was durch diese Schläuche dort fließt!" Der dunkelblaue Engel reichte Oskar eine Art Fernglas. Durch dieses Instrument konnte Oskar erkennen, wie durch manche der dünnen Schläuche von Zeit zu Zeit kleine, silbergraue Partikelchen nach oben in die Beutel flossen. "Was ist das für ein Zeugs?", fragte Oskar beklommen. "Jedes dieser kleinen, grauen Partikel sind ganze Universen von mikroskopisch kleinen Mikrorobotern. Sie werden von einem riesigen Roboter hergestellt, wie eine Art künstlicher Viren. Mit dem herstellenden Roboter sind sie ständig in Verbindung. Sie ändern die Gensubstanz der Embryos dann nach Wunsch dieses Roboters. Bei manchen Embryos werden ganze Körperteile durch aneinandergekettete Mikroroboter ersetzt. Die Mikroroboter passen auf, daß sich keine Krankheitskeime festsetzen können und vernichten diese sofort. Sie ändern den Stoffwechsel des Menschen derart, daß er eine zehnmal höhere Immunität bekommt und unter viel härteren Bedingungen problemlos funktionieren kann. Vererbbare Krankheiten gibt es sowieso keine. Jede einzelne Zelle wird von den Mikrorobotorn kontrolliert. Von jeder Zelle, die sich neu bildet, wird dem zentralen Roboter Meldung gemacht. Alle Informationen über diese Zelle werden mitgeteilt: Wachstumsgeschwindigkeit und -Richtung, Art der Zelle, sowie die gesamte DNS-Abfolge, alles. Sollte es eine Krebs- oder Wucherzelle sein, wird sie sofort abgetötet. Stimmt die DNS irgendwo nicht mit den Vorstellungen des Roboters überein, dringt ein Mikroroboter-Virus in den Zellkern ein, und repariert die DNS der betreffenden Zelle." Oskar blickte noch einmal fasziniert durch das Fernglas. "Aber was ist nun, wenn dieser Roboter spinnt?", fragte er. "Es gibt eine ganze Legion davon, die sich weltweit gegenseitig kontrollieren. Aber du hast das Problem schon richtig erkannt. Denn, egal ob die Roboter gut oder schlecht funktionieren, der Mensch ist nun kein Mensch mehr, sondern ein biologischer Ableger seiner Maschinen. Noch gibt es ein paar wenige, einigermaßen menschliche Menschen. Aber es dauert nicht mehr lange und es gibt nur noch Mischlinge, Kreuzungen zwischen Maschine und Mensch." Oskar schluckte schwer. Der dunkelblaue Engel fuhr fort: "Das Schlimmste dabei ist, daß diese Kreaturen nun nicht mehr die BrotmenschHumanität annehmen können. Denn der Brotmensch ist ja gerade durch viel Leid zu demjenigen geworden, der allein anderen die wahre Humanität weitergeben kann. Und auch die kleinen Brotmenschen, die das Brot gegessen haben, können nur durch das Leid dieses Brotmenschen weiter wachsen in der Brotmensch-Humanität. Ihr Leid kann auch nur deshalb gelindert werden, und gänzlich umgewandelt werden in Freude, weil der Brotmensch selbst ein Mensch war. Aber diese Mischlinge - das sind ja keine richtigen Menschen mehr. Ich fürchte, die werden niemals die Möglichkeit bekommen können, von der Brotmensch-Materie-Umwandlung profitieren zu können. Sie sind ja mit Leib und Seele an diesen Roboter angeschlossen. Ihre gesamte Materie steht unter dem völligen Einfluß der Maschine. Dann müßte der Brotmensch nochmals kommen, diesmal als Brotroboter. Aber das wird nicht stattfinden. Die Orgel hat den Humus ja als einen schwachen, zerbrechlichen Menschen geschaffen, aus totem Kompost. Dies aber sind hieb- und stichfeste Superandroiden. Was sollen wir noch auf die aufpassen müssen? Das sind ja nicht mehr die Menschen, die Gott konzipiert hat. Sie können kein Leid empfinden. Sie können auch keine Freude mehr empfinden, keine Liebe, keine Sehnsucht nach Veränderung, keine Leidenschaft für die Ideen Gottes. Sie können niemanden mehr ermuntern, erfreuen, auslachen, zur Rede stellen, beweinen, überraschen. Sie können nicht übermütig, ausgelassen oder tollpatschig werden. Statt dessen funktionieren sie einfach reibungslos. Jegliches unnötige Verbrennen von Energie wird vermieden. Es gibt kein Spiel mehr, keine Spekulation, keine kurzweilige Unterhaltung. Man hat keine Träume mehr, keine Wünsche. Alle notwendige Zufuhr von Sauerstoff und Nahrung wird ja dem Roboter gemeldet. Es geht alles vollautomatisch. Es gibt keine Verzweiflung, kein Erschauern mehr vor etwas Höherem, keine Hingabe, kein stilles Meditieren. Die Zeiten für sämtliche Aktivitäten werden von dem Roboter bestimmt. Geringe Gefühlsschwankungen werden durch gelegentliche Umleitung von Neurotransmitterströmen der Bedarfssituation angepaßt. Das Ableben des Androiden wird so lange wie möglich hinausgezögert. Wird der Androide dann schließlich doch unbrauchbar, wird er abgestellt und seine Zellkomponenten dem Zellversuchslabor zugeführt. Unnötiger emotionaler Energieund Zeitverbrauch durch ein etwaiges Trauern über den so verschrotteten Androiden wird durch Auslöschen der betreffenden Erinnerung per mikrorobotorisierter Neuronenbeeinflussung vermieden." Resigniert, mit genau bemessenen Schritten, machte der dunkelblaue Engel den Vorhang wieder zu. Der Engel Oskars wandte sich zu dem dunkelblauen Engel und schüttelte ihm die Hand. "Ich danke dir. Mehr muß er nicht wissen. Melde du dich auch mal bei mir." Nachdem auch Oskar sich von dem dunkelblauen Engel verabschiedet hatte, schwebten sie wieder nach unten. Bevor Oskar etwas sagen konnte, fing der Engel mit seiner Abschiedsrede an: "Lieber Oskar. Wir sind nun am Ende der Lektionen angekommen. Laß mich noch einmal alles schnell zusammenfassen. Wie du bemerkt hast, wurde in allen sechs Lektionen die Humanität angegriffen. In der ersten Lektion haben wir gesehen, wie die Engel zu allererst einmal das Konzept Mensch überhaupt in Frage gestellt haben. Die Erschaffung des Menschen konnte aber nicht verhindert werden. Auch nach dem Vertrauensbruch mit ihm hatte Gott die Sache mit dem Menschen noch nicht aufgegeben. In der zweiten Lektion sahen wir dann, wie die Humanität durch Vermischung mit Engeln verdorben wurde. In der dritten Lektion haben wir gesehen, wie der Brotmensch von der Menschlichkeit der Menschen entfremdet werden sollte durch ein Höherstellen, durch eine Umwandlung seiner selbst in einen Halbgott. In der vierten Lektion wurde die wahre Brotmensch-Humanität dann durch Verstümmelung des Körpers unerreichbar gemacht. In der fünften Lektion haben wir Leuten zugehört, die in einer Zeit lebten, in der zwar die Humanität auf einen hohen Leuchter gestellt wurde, aber verneint wurde, daß diese Humanität göttlichen Ursprungs ist. Außerdem wurde die Brotmensch-Humanität verlacht und eine eigene, selbsterdachte Humanität an ihre Stelle gerückt. Und nun, zuletzt, haben wir gesehen, wie die Humanität wieder verdorben wurde, diesmal aber nicht durch Engel, sondern durch die Schöpfungen des Geschöpfes Mensch. Die Humanität wurde also nacheinander in Frage gestellt und beneidet, danach durch Vermischung mit Engeln verdorben, danach durch Inanspruchnahme der eigenen Göttlichkeit fast entfremdet von sich selbst, danach verschnitten, danach ersetzt durch eine von Gott unabhängige Scheinhumanität und zuletzt mutiert und manipuliert. Nun wollen wir dich fragen, ob du uns gerne helfen würdest, daß nicht mehr so viele Menschen ver-engelt, verschnitten, robotorisiert und so von der eigentlichen Menschlichkeit, von der Brotmensch-Menschlichkeit, entfremdet werden. Du kannst 'ja' oder 'nein' sagen. Wie schon zu Anfang gesagt, wenn du 'nein' sagst, erwachsen dir daraus keine Probleme mit uns. Du wirst alles vergessen und wieder ein ganz normaler Neurologe. Wenn du aber 'ja' sagst, wirst du zwar auch alles vergessen, aber wir werden dir Bücher über den Weg streuen, mittels derer du durch eigenes Forschen zu jemandem wirst, der für die Brotmensch-Humanität eintreten wird. Nun, Oskar, was meinst du?" Erwartungsvoll blickte der Engel Oskar an. Oskar schwieg und sah betreten nach unten. "Da gibt es noch ein Problem. Gedanklich finde ich alles sehr überzeugend und würde auch gerne für eure Sache eintreten. Aber ich habe noch ein emotionales Problem. Wenn ich mich darauf einlasse, werde ich ja einmal ein Mensch, der dauernd von Gott redet, oder nicht? Mein Vater, der berühmte Psychiater Dr. Vitus von Linnewitz, hat mir, als ich noch ein Junge war, immer eingebleut: "Oskar, es gibt Leute, die reden dauernd von Gott. Laß dich nicht auf solche Leute ein, denn sie sind nur eingebildet und wollen über den anderen stehen. Manchmal bekomme ich solche dann schließlich sogar in meine Praxis. Laß dich nie mit solchen religiösen Schwätzern ein, hörst du?" So hat er mir immer gesagt. Und nun habe ich Schwierigkeiten mit dem Gedanken, ich könnte am Ende auch so ein eingebildeter Mensch werden. Ich würde bei dem Gedanken an das, was mir mein Vater immer gesagt hat, vor Scham in den Erdboden versinken. Kannst du das verstehen?" Der Engel nickte. "Lieber Oskar, du sollst doch kein eingebildeter religiöser Mensch werden. Gerade diese Menschen stehen uns ja am meisten im Weg bei der Heranbildung von wahrer Brotmensch-Humanität. Aber ich weiß, was du meinst. Ich glaube, ich könnte dir noch schnell eine Szene zeigen, aus der du den damit zusammenhängenden Sachverhalt noch klarer erkennen kannst. Es ist eine Geschichte vom Ende der Zeit. Diese Lektion war eigentlich nicht geplant, aber ich denke, ich kann sie dich sehen lassen. Ich werde dich dann direkt vom Ende dieser Lektion zurückholen lassen. Allerdings müßtest du dich dann jetzt schon entscheiden, wegen deiner Mitarbeit, ob du einverstanden bist, oder nicht. Du kannst mir vertrauen, diese letzte Lektion wird dich auch emotional überzeugen, daß es richtig ist, für die wahre Humanität einzustehen." Oskar nickte. Er dachte sich, erinnern werde ich mich ja sowieso an nichts mehr. Und letztendlich hängt ja nicht mein letztendliches Schicksal davon ab, wie der Engel am Anfang gesagt hatte. Und überhaupt: Wieso werde ich überhaupt gefragt? Wegen dem Unfall haben sie mich ja auch nicht gefragt, den haben sie einfach verursacht, diese Burschen, und jetzt wollen sie höflich sein. Nun ja, interessant war diese Reise ja schon. Ich bin ihnen nicht sauer. Was soll's, ob ich nun ein paar Bücher mehr lese, oder nicht, darauf soll es nicht ankommen. Ich sage einfach ja, dann sind die hier zufrieden. Wieso soll ich mich jetzt noch lange mit diesem Engel herumstreiten. "Ich sage zu!", ließ er verlauten. Der Engel klopfte Oskar auf die Schultern und umarmte ihn. Danach deutete er auf eine Art Deckenluke, die sich genau über ihnen befand. "Dies ist der Tunneleingang für die Extrazugabe. Er wird so gut wie nie benutzt. Ich muß ihn erst aufschrauben. So. Warte, gleich hab’ ich's. So, jetzt. Komm, ich ziehe dich hinauf!" Wie in einem finsteren Paternoster stiegen sie diesen Tunnel hinauf. Es war der Längste von allen. Das Gewand Plötzlich befanden sie sich in der Vorhalle eines Schlosses. Sie war bis zum Bersten voll mit Menschen unterschiedlichster Art. Einige berittene Diener des Königs riefen laut Anweisungen in die Menge: "Achtung, Achtung, alle herhören! Hier ist eine Mitteilung der königlichen Garderobe. Die Frauen gehen bitte zum Eingang dort unter dem großen Portal rechts, die Männer bitte links zum Eingang, der genau gegenüber liegt. Sie werden gebadet und bekommen alle ein einheitliches Gewand!" Oskars Blick fiel auf eine Ecke neben einer großen Wendeltreppe, in der sich vier Männer erfreut unterhielten. Sie schienen Freunde zu sein, die sich nach langer Zeit wiedertrafen. Ein großer, stämmiger Mann der Gruppe sagte: "Na, wer hätte das gedacht, daß wir uns hier alle wiedertreffen!" Ein hochgewachsener, hagerer Mann mit maskenhaften Gesichtszügen sagte erstaunt: "Was, ihr seid auch hier? Du, der Klempner..." "Ja", rief ein Dritter triumphierend, "denk' mal an, nicht nur du, Bäcker, auch der Klempner, sogar ich, der Schneider und auch der Fleischer ist hier bei mir!" Der Klempner sagte: "Na so was, das halbe Handwerk unserer Stadt Pampenhausen hat sich hier eingetroffen! Kommt, laßt uns eine Weile plaudern. Bis wir drankommen in der königlichen Garderobe, kann es noch ziemlich lange dauern." Er wies auf die riesige Menschenmenge, die vor den Portalen geduldig wartete. "Ja", stimmte der Schneider zu, "laßt uns ein wenig plaudern. Nun stellt euch das vor! Ich dachte auch erst, was für ein besonderer Glückspilz ICH bin, daß die königlichen Diener ausgerechnet mich aufgegabelt haben, und wen treff` ich? Unseren lieben Fleischer! Na, da habe ich mich aber auch gefreut, nicht ganz unbekannt zu sein hier!" Der Fleischer sah verwirrt und unbeholfen drein, und sagte dann leise: "Eingeladen bei einer HOCHZEIT! Ich war noch nie auf einer Hochzeit! Und dann auch noch beim König! Auf einem richtigen Schloß! ICH eingeladen... Schloß... König... " Er schloß einen Augenblick die Augen und wisperte dann: "Ich weiß' gar nicht, wie mir wird! Das gibt's doch gar nicht!" Der Klempner stellte sich vor den Fleischer und belehrte ihn freundlich: "Ja, mein lieber Fleischer, so was gibt's eben doch! Der Königsdiener, der mich aufgegabelt hat, hat mir die Sache nämlich erklärt: Also, du hast doch gehört, wie dieser König seine eigene Stadt Königshausen zerstört hat." "Das war vielleicht ein Ding!", rief der Schneider entrüstet dazwischen. "Ein König schickt seine Armee gegen seine EIGENE Stadt und läßt sie zerstören! Habe in meinem Geschichtslexikon keinen vergleichbaren Fall finden können. Und dabei waren die Königshausener doch so stolz auf ihren König!" Der Klempner fuhr fort: "Tja, solche Leute wie in Königshausen gab's eben auch nur in Königshausen! Sie waren zwar stolz auf ihren König und hängten überall Bilder auf von ihm und seiner Familie, aber als er sie einladen wollte zur Hochzeitsfeier seines Sohnes, da scherten sie sich einen Dreck darum. Mehr noch, einige von ihnen trieben sogar ihren Spott mit den Königsdienern und brachten ein paar von denen um!" "Von Königshausenern umgebrachte Königsdiener!", echauffierte sich der Schneider. "Unglaublich, aber wahr!" "Ja," sagte der Klempner weiter, "und dem König wurde das natürlich zu bunt, und da hat er eben seinen Dienern befohlen, einfach die einzuladen, die sie antreffen würden, egal, ob sie Überlebende aus dem Königshausener Gebiet sind, oder Leute aus anderen Nationalitäten, wie zum Beispiel aus unserem geliebten Pampagonien. Und da wir gerade zur Handwerksmesse in Königshausen unterwegs waren, wurden auch wir angetroffen und eingeladen. Wir haben die Handwerksmesse sausen lassen und sind der Einladung gefolgt. Übrigens hat diese Messe sowieso nicht mehr stattfinden können wegen der totalen Zerstörung von Königshausen." Der Bäcker hatte die ganze Zeit über mit verschränkten Armen und verschmitzter Miene zugehört, wie jemand der eine Trumpfkarte in der Hand hält. Nun ließ er die Katze aus dem Sack: "Daß es mit den Königshausenern so kommen würde, war ja abzusehen. Schon immer hatte der König Ärger mit diesen störrischen Leuten. Ich hatte mir sowieso gedacht, wenn überhaupt jemand es verdient hat, eingeladen zu werden vom ihm, dann doch nur seine Freunde, so wie wir Bäcker es sind!" Mit erhobenem Kinn musterte der Schneider den Bäcker und fragte ihn im Tonfall eines Kindes, dem man einen Besitz streitig machen will: "Du willst uns doch nicht etwa weismachen wollen, daß DU diesen König schon kennst?" Der Bäcker war sichtlich erfreut über das Erstaunen der anderen. "Nun, ich kann es euch ja sagen. Der König würde es euch ja sonst auch erzählen. Also. Ich war früher lange Zeit Hofbäcker bei diesem König. Der Vater dieses jetzigen Königs, also der Großvater des Bräutigams war damals schon verärgert über das arrogante Benehmen der Königshausener Bäckerzunft. Und wie die mit den Preisen gewuchert haben! Und so hat der König dann eben nach einem pampagonischen Bäcker Ausschau gehalten und hat ihn auch bekommen: Nämlich meinen Vater. Ich habe dann meine Bäckerlehre an diesem Hof gemacht. Jetzt haben sie so eine moderne Brotbackmaschine. Aber ich hatte immer noch Kontakt zum König, und manchmal kriegten wir auch größere Aufträge von ihm, für Backwaren die sie hier mit ihrer Maschine nicht selber hinkriegen." Die anderen drei Männer standen mit geöffnetem Mund staunend da. Schließlich räusperte sich der Klempner und sagte: "Jetzt wissen wir also, warum dein Laden immer mal wieder ein paar Tage geschlossen war, mit einem Schild: "Geschlossen wegen Geschäftsreise". Mit gespielter Bescheidenheit zuckte der Bäcker mit den Schultern. "Ist ja auch 'ne Ecke weg, dieser Hof, von uns zu Hause aus. Lieferungen hierher konnte man nicht an einem Nachmittag erledigen." "Da brat' mir doch einer 'nen Storch!", platzte es aus dem Schneider heraus. "Der alte Bäcker Sauerteig war schon mal hier! Und hat hier gearbeitet! Und wir haben nichts davon gewußt! Der Bäcker zuckte wieder lässig mit den Schultern. "Man tut, was man kann. Dort wo die Brötchen gebraucht werden, da backt man sie eben." Argwöhnisch murrte der Klempner zum Bäcker: "Es ist dir wohl nicht schlecht gegangen hier, was?" Mit unverhohlenem Stolz sagte der Bäcker: "Ja, also ein LEBEN war das hier, ich sag's euch, ein LEBEN! Könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Und natürlich könnt ihr mich auch gar nicht verstehen, ihr kennt ja den König gar nicht. Ich kenne ihn aber! Ich habe mich auch schon viel mit ihm persönlich unterhalten. Aber was sage ich, davon habt ihr ja gar keine Ahnung. Was hier für Feste gefeiert wurden! Dagegen ist dieses Hochzeitsfest ja ein Klacks." Der Schneider blinzelte den Bäcker mißtraurisch an und bohrte: "War ja aber auch bestimmt ein ziemlicher Stress und Druck, in so einem Hof zu arbeiten?" Gelassen gab der Bäcker zur Antwort: "Nun, manchmal mußte man sich schon ganz schön sputen. Aber unterdrückt wurden wir nie. Außerdem hatten wir ja eine GANZ BESONDERE Beziehung zu dem König. Als der jetzige König nämlich noch klein war, spielte er uns Bäckern immer wieder mal einen Streich. Dafür wurde unseretwegen oft ein Auge zugedrückt, wenn nicht alles so klappte wie gewünscht. Wir brauchten uns nicht unterdrücken zu lassen, denn wir waren ja gewissermaßen Spielkameraden vom König. Gewiß freut er sich jetzt auch, mich wiederzusehen." Nachdenklich sagte der Klempner: "Dann bist du also gewissermaßen doppelt eingeladen: Einmal wegen der allgemeinen Einladung, die wir auch bekamen, und ein zweites Mal, wegen deiner besonderen Kenntnis vom König!" Sie schwiegen für eine Weile. Schließlich sagte der Schneider: "Ich bin ja gespannt, was es für ein Gewand gibt. Ich habe schon viel gehört von den kostbaren Gewändern, die es an diesem Hof gibt. Und gleich so viele, für so viele Leute! Die Verarbeitung soll ganz außergewöhnlich sein, es sollen nicht mal Nähte zu sehen sein! Der Klempner schwärmte: "Ja, dieser König läßt sich nicht lumpen. Großzügigkeit wird hier großgeschrieben. Es ist ja auch ein wichtiger Anlaß, die Hochzeit seines Sohnes. Die möchte der König in einem besonderen Glanz abhalten." Er wandte sich zum Bäcker und fragte diesen: "Freust du dich auch schon auf dein Gewand?" Der Bäcker ließ sich nicht auf die Gefühlsebene des Klempners herab, sondern antwortete im Tonfall eines erfahrenen Reiseleiters: "Diese Gewänder sind weltspitze. Wir mußten sie auch immer tragen, wenn ein Fest hier war. Aber dieses Mal möchte ich den König überraschen. Er soll mich gleich erkennen, daß ich sein alter Spielkamerad, der Bäcker Sauerteig bin. Er wird mich gleich an meiner weißen Bäckermütze erkennen." Entsetzt rief der Schneider aus: "Mit einer BÄCKERMÜTZE zur Hochzeit!?" Besorgt zeigte sich auch der Klempner: "Und was, wenn der König dich nicht mehr wiedererkennen sollte, wird er nicht sauer werden, und dich rausschmeißen?" Großzügig über das Unwissen seiner Freunde hinwegsehend und von ihrer Besorgnis völlig unbeirrt belehrte der Bäcker sie: "I wo, ich kenne ihn doch gut. Ich habe doch so viel PERSÖNLICH mit ihm geredet. Ganz bestimmt erkennt er mich wieder. Vor allem natürlich, wenn ich so zu ihm komme, WIE ICH BIN, mit Bäckermütze und allem. Aber davon abgesehen gönne ich euch ja euer Gewand. Ihr könnt ja nur mit diesem Gewand vor dem König bestehen. Was mich anbetrifft, ich bin ein besonderer Fall. Ich kann bestehen vor dem König, nicht aufgrund des von ihm ausgeteilten Gewandes, sondern aufgrund meiner persönlichen Beziehung zu ihm, aufgrund meiner Arbeit und meines Lebens mit ihm, und aufgrund der vielen Gespräche, die ich mit ihm geführt habe. Was euch betrifft, ihr habt es schon nötig, dieses Gewand." Abwertend schielte der Bäcker auf den alten Metzgerkittel des Fleischers. Der Fleischer strich sich verlegen über seine Kleider. Seine Hose glänzte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er roch nach Knoblauch, alter Blutwurst und Naphthalin. Um das Gespräch zu einem Abschluß zu bringen, rief der Bäcker schließlich freudigjovial: "Aber ein Bad werde ich mir auch verpassen lassen, es reicht schon, daß ich Sauerteig heiße, ich muß ja nicht auch nach Sauerteig riechen!" Alle lachten. Langsam bewegten auch sie sich nun zu der königlichen Garderobe. Oskar folgte der sich langsam vorwärts schiebenden Menge. Er beobachtete, wie der Schneider, der Klempner und der Fleischer gebadet wurden und ein neues Gewand bekamen. Die Gewänder, die sie bekamen, waren unbeschreiblich. Von einer Farbe und einer Beschaffenheit, wie sie Oskar noch nie gesehen hatte. Schließlich stieg auch der Bäcker in die königliche Badeanstalt. Nach einer Weile kam er wieder hervor, mit nassen Haaren und mit einem königlichen Bademantel für die Hochzeitsgäste. Ein sehr muskulöser königlicher Garderobendiener trat ihm entschlossen entgegen, als er gerade auf seine Bäckerkleidung zusteuerte, die er vor dem Bad auf einem Stuhl abgelegt hatte. Freundlich, aber bestimmt sagte der Garderobendiener: "Alte Kleidung bitte dort drüben abgeben!" Dabei wies er auf eine Tür. Ruhig und völlig unbeirrt sagte der Bäcker: "Langsam, langsam, nicht so hastig. Dies ist MEINE Kleidung. Ich habe das Recht und die Freiheit, sie anzuziehen, wann es mir paßt!" Verdutzt sah sich der Königliche Garderobendiener den Bäcker an. Einen Augenblick lang schien er erstaunt zu sein, über die ruhige Selbstsicherheit, die der Bäcker ausstrahlte. Dann setzte er seine königliche Amtsmiene auf, sah seitlich am Bäcker vorbei und schnarrte militärisch: "Alte Kleidung darf nicht angezogen werden zum Hochzeitsfest. Befehl vom König. Einheitliche Festkleidung vorgeschrieben. Bitte zur Tür mit dem Schild "Festkleidung" und dort ausgelegte Kleidung anziehen. Sonst KEIIIN EINTRITT zum Festsaal. "KEIIIN EINTRITT zum Festsaal", äffte der Bäcker den Garderobendiener nach. "Ja, genau richtig, 'KEIIIN EINTRITT zum Festsaal', freilich, freilich, 'KEIIIN EINTRITT zum Fessstsaaaal'". Überlegen-spöttisch lächelte der Bäcker den Garderobendiener an und klopfte ihm väterlich auf die Schulter. "Seit wann arbeitest du denn hier, mein Junge?" Der königliche Garderobendiener war völlig verwirrt. "Hä?", brachte er nur heraus. "Seit wann du hier arbeitest, verstehen, capito? Seit wann bist du hier eingestellt?" Wieder klopfte der Bäcker dem Garderobendiener auf die Schultern. Oskar sah, wie der königliche Garderobendiener anfing, verstört zu werden. Er schien sich verunsichert zu fragen, ob dieser Bäcker nicht tatsächlich lieber in Ruhe gelassen werden sollte. Für einen Augenblick sah er sich nach seinem Amtskollegen um, der durch die weitläufigen Säulenhallen der königlichen Garderobe in der Ferne zu sehen war. Dann schien er es sich anders zu überlegen. Vielleicht hatte er Angst, wegen einer Unkenntnis über die Person des Bäckers ausgelacht zu werden. Nun bleib ihm nichts anderes übrig, als auf die psychologische Gesprächsführung des Bäckers einzugehen. Zaghaft gab er dem Bäcker zur Antwort: "Na ja, eigentlich noch nicht so lange." "Und?", raunte der Bäcker, "wie schmeckt dir diese Arbeit, mein Kleiner? Macht der König manchmal Ärger?" Der königliche Garderobendiener schien sich zwar zu ärgern über die Bezeichnung "Kleiner", die ihm der etwa dreißig Jahre ältere Bäcker zugute kommen ließ. Er wagte es aber nicht, seinen Unmut darüber sichtbar werden zu lassen. "Nun ja", sagte er, "klagen kann man eigentlich nicht, nur manchmal hat der König so eine seltsame Einstellung bezüglich..." Schon hatte der Bäcker seinen Kopf so geneigt, daß der Garderobendiener ihm bequem etwas ins Ohr flüstern konnte. Der Bäcker lächelte verschmitzt und nickte allwissend mit dem Kopf. "Tja ja ja ja, genau wie sein Vater, genau wie sein Vater. Aber trotzdem gute Könige alle beide." Sich ganz wie zu Hause fühlend, wies der Bäcker dem Garderobendiener einen Platz auf einer Sitzgruppe zu. Sie setzten sich beide. Der Bäcker legte dem Garderobendiener den Arm um die Schultern, sah ihm ernst in die Augen und raunte ihm mit Nachdruck zu: "Was wir geredet haben, muß natürlich unter uns bleiben, capito? So mein Lieber, nun wünsch' ich mir, daß du immer schön brav deinen Dienst für meinen König tust, und keinen Ärger machst, klar? Aber nun sag' mir doch, mein Kleiner, wen heiratet denn der Königssohn eigentlich, wer ist denn die Erwählte?" Der Königliche Garderobendiener kam ins Schwitzen. Anscheinend durfte er den Namen der Erwählten nicht nennen. Aber er wußte, daß er jetzt in der Falle saß, da er mit dem Bäcker über den König getratscht hatte. Nun mußte er den Bäcker abspeisen, damit dieser ihn nicht wiederum verpetzen würde. "Mann", stöhnte er nervös. "Sie stellen vielleicht Fragen! Hören, Sie, Mann, wir Garderobendiener dürfen das nicht verraten. Der König will nämlich selbst persönlich die Braut vorstellen. Aber da es ja sowieso in ein paar Stunden alle wissen, will ich es Ihnen sagen. Aber bitte verraten Sie es keinem weiter, vor der offiziellen Vorstellung. Und sagen Sie ja nicht, daß ich es Ihnen verraten habe." "Keine Sorge", versicherte der Bäcker, "Keine Sorge, mein Sohn, ich werde schweigen wie ein Grab. Will ja deine Karriere nicht vermasseln." Der königliche Garderobendiener sah sich sorgfältig um. Dann sagte er leise: "Also, der Königssohn heiratet die Prinzessin Liesl von Westerreich." Leise pfiff der Bäcker durch die Zähne. "Ach du liebes Bißchen! Die Liesl ist's also. Na, war ja abzusehen. Die kannten sich ja schon als Kinder. Mann, konnte die aber trotzig werden! Und die Ordentlichste war sie ja auch nicht. Eheprobleme wird's bestimmt geben. Aber ein goldiges Paar, die beiden! So, so, die Liesl. Tja, ja, ja, die jungen Leute eben! Da stürzen sie sich einfach so in eine Ehe... Nun, meinen Segen können sie haben." Verstohlen blickte der königliche Garderobendiener in eine Richtung, in der eine Tür mit der Aufschrift "Festkleidung" zu sehen war. "So, und was wird jetzt mit der Festkleidung?" Der Bäcker hatte sich aufgestellt und sah den Garderobendiener von oben an. "Darüber mach' du dir mal keine Gedanken, mein Kleiner. Ich bin nämlich ein guter Freund vom König. Er kennt mich noch aus einer Zeit, vor deiner Einstellung, als ich hier als Bäcker gearbeitet habe. Die Sache mit dem einheitlichen Festgewand ist ja super. Da braucht sich keiner schlecht angezogen zu fühlen. Aber für mich diesmal nicht. Ich möchte nämlich dem König eine Überraschung machen, und mich in Bäckerkleidung zeigen, damit er mich gleich unter den vielen anderen Leuten erkennen kann. So eine weiße Bäckermütze fällt ja sehr auf, da sieht er mich dann sofort. Ich habe früher viel mit ihm persönlich gesprochen, auch in letzter Zeit noch, wenn ich an ihn geliefert habe. Die Firma Sauerteig aus Pampenhausen ist dir ja sicherlich ein Begriff. So, und nun wünsche ich dir viel Erfolg in deinem weiteren beruflichen Werdegang, mein Kleiner! Vielleicht sehen wir uns mal wieder." Langsam und genüßlich zog der Bäcker seine Bäckerkleidung an. Zuletzt setzte er sich seine Bäckermütze auf und korrigierte sie auf ihren Sitz hin vor einem Spiegel. Dabei ließ er sich ausgiebig Zeit. Der königliche Garderobendiener sah genervt auf seine Uhr und auf die Menge, die sich vor dem königlichen Badezimmer angehäuft hatte. Endlich schlurfte der Bäcker gemächlich und leise schmatzend auf eine Tür mit der Aufschrift "Zum Festsaal" zu. Dabei brummelte er vor sich hin: "...So, so, die Liesl also..." Leise zupfte der Engel Oskar am Ärmel. "Komm", sagte er, "wir wollen nun das Ganze aus der Perspektive des Königs betrachten!" Ehe sich's Oskar versah, befanden sie sich in einem Hinterraum, der durch eine Glaswand von einer riesigen Empore getrennt war. Dahinter war ein noch gigantischerer Festsaal zu sehen, der mit Tausenden und Abertausenden von ausladenden, üppig verzierten Kronleuchtern erhellt wurde. "Die königliche Empore", erklärte der Engel leise. "Das Glas dieser Wand ist einseitig dunkel verspiegelt, so daß man zwar aus diesem Hinterraum aus den gesamten Festsaal gut überblicken kann, aber keiner vom Festsaal aus in den Hinterraum schauen kann." Aus dem Festsaal drang himmlische Orgelmusik. Plötzlich trat der König aus einer Seitentür in den Hinterraum. Oskar konnte seine Krone nicht lange ansehen, seine unsichtbaren Augen schmerzten von ihrem Gefunkel und Glänzen. Der König begann, nervös auf und ab zu laufen. Ab und zu warf er einen Blick durch die Glaswand zum Festsaal hinunter. Der Festsaal füllte sich langsam mit Gästen. Er musterte sie mit einem großen Fernglas. Da fühlte Oskar, wie ihm der Engel auch so ein Fernglas zusteckte. Oskar sah hindurch, in die gleiche Richtung, in die auch der König sah. Er konnte den Fleischer erblicken, der zum ersten Mal in seinem Leben himmlische Orgelmusik zu hören schien. Er schien zu Tränen gerührt zu sein. Das königliche Hochzeitsgewand stand ihm sehr gut, obwohl er ein wenig unbeholfen darin aussah. Dann beobachtete Oskar den Schneider und den Klempner. Der Schneider begutachtete das Gewand des Klempners und hielt den Mund halbgeöffnet vor Staunen. Plötzlich bewegten sich alle Köpfe in eine Richtung. Oskar setzte das Fernglas ab, um sich zu orientieren. Der König tat das Gleiche - und er und Oskar sahen einen winzigen weißen Punkt in der Menge, der wie ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Schimmelfleck auf einem alten Stück Fleisch aussah. Oskar ahnte schon, was dieses weiße Pünktchen zu bedeuten hatte. Er richtete sein Fernglas auf das Pünktchen und sah den Bäcker mit seiner weißen Bäckermütze. Um ihn herum bildete sich eine kreisförmige Leere, denn jeder schien zu vermuten, es hier mit einem besonderen Gast zu tun zu haben, hatte er doch ein anderes Gewand an als alle anderen. Jeder hielt respektvollen Abstand von ihm. Der König grollte leise. Auch er hatte den Schimmelpilz im Visier. "Der Bäcker Sauerteig!", rief er aus, wandte sich um und sagte: "Diener bitte!" Sogleich kam ein festlich herausgeputzter Hoflakai angetippelt. "Seine Exzellenz, zu Diensten!" Ohne den Hoflakaien anzusehen, befahl er: "Er bringe sofort in Erfahrung, wie es der Bäcker Sauerteig geschafft hat, an den Garderobendienern Seiner Exzellenz vorbeizukommen mit seiner Bäckerkleidung! Und spute Er sich! Seine Exzellenz will nun endlich das Fest beginnen können! Der Hoflakai hauchte: "Sehr wohl, sehr wohl, gnädige Durchlaucht." Er verbeugte sich mehrmals mechanisch und rannte los. Nach einer guten Weile kam er wieder, außer sich vor Atem. Kaum war er angekommen, da stürmte der König schon auf ihn ein: "Was konnte Er in Erfahrung bringen?" Der Hoflakai holte tief Luft und japste: "Seine Exzellenz... " Nochmals holte er tief Luft. Ungeduldig drängte der König: "Schieß Er endlich los! Wie ist der Bäcker in diesem Aufzug in den Festsaal gekommen?" Endlich konnte der Hoflakai wieder normal atmen. "Er hat einen unserer jüngeren Garderobendiener so lange beschwatzt, bis dieser ihn ziehen hat lassen. Dieser Bäcker behauptet, ein guter Freund von Seiner Exzellenz zu sein. Er hat sonst nichts gegen das Festgewand, meint aber aufgrund seiner persönlichen Freundschaft mit Seiner Exzellenz bestehen zu können vor Seiner Exzellenz, auch ohne Gewand, ja er meint gar, Seiner Exzellenz durch seine Bäckerkleidung eine besondere Freude zu bereiten, könne doch Seine Exzellenz ihn schneller und sicherer unter den anderen Gästen ausmachen dadurch." Schnell befahl der König: "Bring Er mir diesen Garderobendiener!" Der Hoflakai hatte diesen schon vorsichtshalber mitkommen lassen und in einer Ecke abgestellt. Nun winkte er ihm zu. "Seine Exzellenz!" wimmerte der königliche Garderobendiener und warf sich vor dem König auf die Knie. Der König hieß ihn aufstehen und fragte ihn: "Sag' Er mir, wieso an diesem Bäcker der königliche Befehl nicht ausgeführt wurde!" In normalem Tonfall, aber mit deutlich spürbarer Angst, antwortete der Garderobendiener: "Seine Exzellenz mögen mir vielmals verzeihen, ich habe mich sehr betören lassen von besagtem Bäcker. Es soll nie wieder vorkommen." "Dieser Bäcker scheint mit allen Tricks der psychologischen Gesprächsführung gut vertraut zu sein," sagte der Hoflakai. Wütend rief der König: "Dummes Zeug! Vor mir kann er so nicht bestehen. So sieht er aus wie der Bäcker Sauerteig, dem wir als Kinder immer Streiche gespielt haben, und nicht wie ein von mir zur Hochzeit Eingeladener. Dies ist ein Hochzeitsfest und keine Familienfeier. Alle sollen aussehen, wie von mir Begnadigte, und nicht wie selbst Eingeladene. Mit Leuten, die Bedingungen stellen, wie und wann sie kommen können auf dieses Fest, habe ich nun ein für alle Male genug. Da hatte ich schon mit den Königshausenern genug Ärger: Einer wollte erst sein Geschäft abwickeln. Der nächste mußte erst die Kühe melken. Davon habe ich ein für alle Male genug. Und nun kommt dieser Sauerteig und setzt allem noch die Spitze auf, indem er eine Extrawurst haben will in Sachen Festkleidung! Jetzt reicht's. Ich kann es nicht dulden, daß auf dem Hochzeitsfest meines Sohnes unsere Vergangenheit aufgetischt wird, auch nicht durch den lieben Bäcker Sauerteig. Jeder soll so gekleidet sein, als gäbe es keine Vergangenheit, sondern nur JETZT und HEUTE und dieses JETZT und HEUTE soll eben schön sein! Da haben wir keine Zeit für Anekdoten aus der Vergangenheit der Königsfamilie, aus der Zeit, bevor wir diese Backmaschine angeschafft haben. Dadurch wird alles nur ins Lächerliche gezogen und andere kommen sich benachteiligt vor, weil sie nicht solche Geschichten auftischen können. Wir müssen unbedingt diesen Bäcker rausholen aus der Menge, hört Er?" Weinerlich zeterte der Hoflakai: "Er läßt sich nicht herausholen, alles Zureden ist umsonst." Entschlossen brüstete sich der König: "Dann werde ICH ihn eben rausschmeißen!" Mit zitternden Händen in bescheidenem Luftraum gestikulierend, wagte der Hoflakai zu stottern: "Seine Exzellenz mögen bedenken... wie häßlich diese Sache wirken möge,... so vor allen,... immerhin handelt es sich... um einen ehemaligen Hofangestellten,... der Ruf des Hofes könnte... geschädigt werden durch eine übereilte Tat!" Freundlich blinzelte der König dem zitternden Hoflakaien zu. "Häßlich, ja häßlich wird es wirken! Und das Auftreten Sauerteigs, wirkt das nicht etwa auch häßlich? Dieses Anbiedern an Seine Exzellenz, dieses Auftrumpfen mit persönlichem Vorteil! Fürwahr, DADURCH wird der Ruf des Hofes geschädigt! Es darf nicht sein, daß andere den falschen Eindruck bekommen, wir spielten eine doppelte Moral: Ein einheitliches Gewand für die einen, ein eigenes Gewand für die speziellen Freunde! Das darf nicht sein. Dadurch wird das Ansehen der anderen in den Dreck gezogen und die Unwiderrufbarkeit des königlichen Gesetzes in Frage gestellt. Als wenn wir etwas befehlen würden, und dann doch Ausnahmen gestatten! Nein, das darf nicht sein! Wenn wir nicht auch bei den Freunden konsequent sind, wie können wir dann von den neu Dazugewonnenen ernst genommen werden?" Der König zog ein trompetenförmiges Megaphon aus einer Schublade. Nun öffnete er eine unsichtbare Tür in der Glaswand und betrat die Empore. Den nun hörbaren Jubelrufen nach zu schließen, wurde er jetzt von allen gesehen und gehört. Laut dröhnte die Stimme des Königs durch das Trompeten-Megaphon. "Hallo Sauerteig, mein lieber Freund, hörst du mich? Sag' mal, wie hast du es geschafft, hier herein zu kommen ohne hochzeitliches Festgewand?" Es herrschte einige Sekunden lang peinliche Stille. Alle hielten den Atem an. Die Erscheinung des Königs, seine peinliche Frage und die Spannung, was geschehen würde, ließen alle verstummen. Plötzlich bekam der König einen hochroten Kopf. Er brüllte mit aller Kraft in die Megaphon-Trompete: "Hofdiener! Lakaien! Garderobe! Wachen! Los, schnappt euch diesen Bäcker und fesselt ihn und werft ihn in die äußerste Finsternis hinaus! Na los, was ist? Auf, schnappt ihn euch!" Entsetzt und fasziniert verfolgte Oskar, wie die Wachen hinter dem Bäcker herrannten, der verzweifelt versucht hatte, das Weite zu suchen. Wie ein gefangenes Reh wand er sich schließlich unter ihren Händen. Oskar merkte überhaupt nicht, daß er plötzlich auch auf der Empore stand, sosehr war er von der Szene fasziniert. Dieser Bäcker war ja schon ein krummer Hund. Aber dieser endgültige, absolute Zorn des Königs ließ ihn doch selbst erzittern. Damit hatte Oskar nicht gerechnet. Er biß sich auf seine unsichtbare Zunge, als sich plötzlich über dem Festsaal, dessen Decke mit den prächtigen Kristalleuchtern nun zur Seite geschoben war, ein riesiger, pechschwarzer Abgrund auftat, wie das grinsende Maul eines Seeungeheuers. Eisige Kälte sackte in den Festsaal hinab. Ein grausiger Wind pfiff fürchterlich. Oskars unsichtbare Haare standen zu Berge. Er klapperte mit seinen unsichtbaren Knien und spürte seine unsichtbare Kopfhaut nicht mehr. Da! Jetzt ließen die Wächter den gefesselten Bäcker los. Wie von einem Magneten angezogen, stieg er in den grausigen Abgrund hinauf. Immer kleiner wurde er, wie eine Kupfermünze, die man in einen tiefen Brunnen wirft. Schon war er nicht mehr zu sehen. Aber was war das? Ruckartig verspürte Oskar, wie etwas an ihm zog. Er wurde auf einmal ganz leicht und begann zu schweben. Entsetzt sah er sich nach einer Haltemöglichkeit um. Es mußte doch etwas geben, eine Brüstung, eine Lampe! Immer schneller stieg Oskar zur Decke hinauf. Laut schrie er "Neiiin! Nicht mich auch! Ich bin doch nur Zuschauer! Neiiiin! Laßt mich herunter!" Aber da war es schon geschehen. Oskar fiel und fiel in den fürchterlichen, schwarzen Rachen hinauf. Er fiel und fiel und fiel... . Neuroplast "Nein! Nein! Nicht mich! Haltet mich fest!" Oskar wachte zappelnd und schweißgebadet auf. "Oskar, welch ein Glück, du bist zu dir gekommen!", rief eine wohlvertraute Frauenstimme. "Oskar, mein Oskarlein, wie fühlst du dich, kannst du mich sehen und hören?" Oskar war froh, seine Frau neben dem Bett sitzen zu sehen. Trotzdem hielt er immer noch den Metallrahmen des Bettes umklammert. "Ja, ich kann dich sehen, Gerdalein. Aber was ist passiert? Wo bin ich?" Oskars verkrampfte Hände begannen sich langsam von dem kalten Metall zu lösen. Im Hintergrund ein Oskar geläufiges schnurpsendes Geräusch. Sicherheitsgeprüfte Gummiräder, die auf glänzendem Linoleum ihren unscheinbaren Beitrag zur pünktlichen Ausführung des gewohnten Dienstplanes beitrugen, Tag für Tag. Das Klappern von Geschirr. "Hörst du, Oskarlein, jetzt kommt auch das Essen. Du hast bestimmt großen Hunger! Du darfst dich jetzt nicht aufregen, sondern mußt etwas zu dir nehmen. Warte, ich stelle dir das Bett hoch. So. Ist's so angenehm?" Oskar spürte einen stechenden Schmerz im Brustkorb. Nun bemerkte er, daß er ziemlich viel weißes Verbandszeug an sich trug. Er war froh, seine Arme einigermaßen frei bewegen zu können. Trotz der ziehenden Schmerzen genoß er es, zu spüren, wie das Essen langsam die ebenfalls leicht schmerzende Speiseröhre hinunterglitt. "Laß' es dir erst einmal gut schmecken, Schatz. Mach' dir keine Sorgen. Spätestens in acht Wochen bist du wieder zu Hause." Oskar prustete laut los und verschluckte sich. "ACHT Wochen? Sind die denn noch zu retten? Was wird mit meiner zweiten Doktorarbeit? Im Juni sollte sie fertig sein! Und die Verträge mit Neuroplast... ! Ach du grüne Neune, was ist überhaupt passiert? Ich war doch unterwegs zu Neuroplast! Was haben die denn gesagt, wegen meiner Forschungsarbeit? Wollen sie sie immer noch aufkaufen? Hast du etwas in Erfahrung bringen können?" Gerda lächelte verlegen und zuckte mit den Achseln. "Sei bitte nicht böse, Oskarlein. Ich habe die Telefonnummer nicht finden können. Es gibt so viele Neuroplast-Filialen im Großraum Paris. Wie sollte ich da die richtige finden können? Bestimmt melden die sich noch..." Oskar wurde wütend und wollte etwas sagen, spürte aber einen stechenden Schmerz in der Lunge und sank erschreckt zusammen, wie jemand, der einen elektrischen Schlag bekommen hat. "Ist es schlimm mit mir?" röchelte er "Oskar, mein Oskar, mein Schatzilein. Du glaubst ja gar nicht, wie froh ich bin, daß du zu dir gekommen bist. Stell' dir vor, im Rettungswagen warst du sogar sieben Sekunden lang klinisch tot. Dann diese lange Bewußtlosigkeit. Aber die Ärzte sagten mir, du würdest heute wieder zu dir kommen. Du hattest mehrere Rippen gebrochen. Auch an der Lunge haben sie etwas machen müssen. Und dann hattest du noch eine Gehirnerschütterung, Platzwunden an der Kopfhaut, einen Schlüsselbeinbruch von diesen Autogurten und verschiedene andere Verletzungen. Ich mag gar nicht alles aufzählen. Aber die Polizei meinte, du hättest unglaubliches Glück im Unglück gehabt. Du warst übrigens nicht Schuld an dem Unfall. Von einer Planierwalze hatte sich die Bremse gelöst. Diese Walze war dann auf die Fahrbahn gerollt. Stell' dir vor, was alles passieren kann. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich habe richtige Angst vor dem Autofahren bekommen. Ach, Oskar, wie schön, daß dir nichts Schlimmeres passiert ist dabei." Oskar starrte mit großen, ungläubigen Augen auf einen Gips an seinem Fuß. "Ja, ich denke, es ist tatsächlich besser, du zählst nicht alles auf. Ich kann mir ja die Zeit damit vertreiben, nach und nach alles selbst herauszufinden." witzelte Oskar. "Ach, mein Oskar, nie verlierst du deinen Humor. Aber sag mal, was hast du denn Schlimmes geträumt, gerade vorhin? Sei mal ehrlich, hattest du nicht am Ende selbst so ein komisches Engelerlebnis, von dem manche klinisch Totgewesene berichten? Du mußt es ja nicht der Öffentlichkeit erzählen. Sag es nur mir, ich sage es niemandem weiter! Ich versprech's dir." Oskar dachte scharf nach und versuchte, in sich ein Gefühl der Stille zu erzeugen, mit dem er die tiefstmöglichsten Zonen seines Unterbewußtseins ausloten könnte. "Nein, von Engeln keine Spur. Nur so eine Art Ozean, in den man versenkt wird, immer tiefer und tiefer. Es wird immer dunkler und dunkler. Man spürt, wie einem die Luft abgeschnürt wird. Und dann so ein merkwürdiger Fall nach oben. Man steigt wieder auf und möchte unten bleiben. Komisch ist das. Mann, bin ich froh, wieder atmen und lebendig sein zu können." Gerda hatte mit zitternden Händen vor dem Mund und gebanntem Blick zugehört. Nun umfaßte sie Oskars Hände. "Schrecklich, Oskar, was du alles durchmachen mußtest. Nun wollen wir uns freuen, daß du bald wieder normal leben kannst." Kokett blinzelte Gerda ihren Mann an. "Rate 'mal, was ich in der Zwischenzeit gemacht habe?" Oskar ahnte Übles. "Ich habe dein Arbeitszimmer sauber gemacht. Richtig nett sieht es nun darin aus. Es war furchtbar viel Staub überall. Sei nicht besorgt, ich habe alles wieder so hingelegt, wie es lag. Freust du dich?" Oskar war zu schwach, um Einwände zu bekunden. Er drückte seiner Frau die Hände, lächelte müde und fiel augenblicklich in einen schweren, bleiernen Schlaf. Das Buch "Zweizung, der alte Quacksalber! Die ahnen nicht, auf was sie sich einlassen, diese Neuroplast-Einkäufer! Das wird ein böses Erwachen geben. Aber wart's ab, du Füchschen, dir werde ich die Rechnung durchkreuzen! Gerda, mach’ mir bitte ein Butterbrot fertig. Ich komme heute nicht zum Mittagessen. Ich habe einiges zu tun in der Bücherei. Du weißt schon, wegen dieser Zeitungsausgabe, die ich nicht mehr finde in meinem Arbeitszimmer. Wahrscheinlich hatte ich sie sowieso schon weggeworfen. Aber wozu gibt es die Zeitungsarchive in der Universität? Wäre doch gelacht, wenn ich diesem kriminellen Pfuscher nicht das Handwerk legen könnte." Oskar packte das Butterbrot in seine Aktentasche und humpelte hinaus zu seinem funkelnagelneuen Auto. Trotz seiner Ungeduld fuhr Oskar langsam und vorsichtig, obwohl diesmal weit und breit keine Planierwalzen zu sehen waren. In der Universitätsbücherei herrschte wie immer geschäftiges Treiben. "Wo haben die bloß die Abteilung für Neurologie hinverlegt?", brummte Oskar vor sich hin und musterte einen Lageplan neben einem Aufzug. "Schon lange nicht mehr hier gewesen." Verdutzt blieb er an einem Hinweisschild stehen: "Gesperrt wegen Renovierungsarbeiten. Durchgang zu den Bereichen Neurologie-Psychiatrie bitte Gang S 3 benutzen, einen Stock tiefer". Endlich fand Oskar den Gang S 3. "Geisteswissenschaften r230 - z, Theologie a - f339" stand auf der Glastür, die zu diesem Gang führte. Hastig schleppte sich Oskar weiter. Aber was sah er da? "Verdammt, da hinten kommt dieser Zweizung. Er darf mich nicht sehen. Sonst weiß er, warum ich hier bin", dachte Oskar. Schnell versteckte er sich zwischen zwei Bücherregalen, die mit goldschriftverzierten Bänden beladen waren. Zweizung kam näher. Er schien Oskar nicht bemerkt zu haben. Oskar schnappte sich einen der alten Bände, drehte sich mit dem Rücken zum Gang und steckte seine Nase tief in das alte Buch. Es roch ziemlich muffig, wie eben antiquarische Bücher riechen. "Oscar Fidelius. Von der wahren Menschlichkeit. Königlich niederländische Hofdruckerei, 1821. Übersetzt von Justus Hurtig zu Marburg, 1831" stand in verschnörkelten Frakturlettern auf der gewellten und mit braunen Flecken übersäten Titelinnenseite. Eine Radierung von einem beleibten Mann mit dicken Brillengläsern war auf der gegenüberliegenden Seite abgedruckt. "Oskar Fidelius 1787-1846" stand darunter. Einen Augenblick lang fühlte sich Oskar merkwürdig angezogen von dem freundlichen, bescheiden lächelnden Mann. Es war ihm, als wenn dieser Namensvetter aus einer versunkenen Zeit ihn gut kennen würde, alles über ihn zu wissen schien. Die kleinen dunklen Augen unter den buschigen Brauen schienen ihm zuzuzwinkern und zu sagen: "Sei getrost, Oskar. Böse Menschen werden es nicht in die Länge treiben können." Irritiert blätterte Oskar weiter in dem Buch. Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es ihn, als er unmittelbar darauf eine Hand auf seiner Schulter verspürte. "Sieh' mal an, mein alter Kollege, der Herr Linnewitz." Oskar kannte diese näselnde Stimme, diesen hämischen Tonfall nur zu gut. "Zweizung! Sie, Sie, Sie... !" Nur mühsam konnte Oskar sich beherrschen. "Seit wann sind Sie denn an Theologie interessiert? Sie wollen doch nicht etwa Beweise für ihre kritischen Untersuchungen von Berichten klinisch Toter suchen? Sind sie da bei den Theologen nicht eher an der falschen Adresse?" Oskar rang nach Luft und löste seine Krawatte ein wenig. "Ja, warum denn eigentlich nicht?", entgegnete er mit der Trotzigkeit eines in die Ecke Getriebenen. "Wahre Wissenschaftler brauchen sich nicht vor den Argumenten der Gegenseite zu fürchten. WIR können den Vertretern der von uns dementierten These ruhig in die Augen sehen. Nur Quacksalber müssen sich fürchten vor Kritik und werden versuchen, alle diejenigen Beweise zu vertuschen, durch die ihre unseriöse Vorgehensweise aufgedeckt werden könnte!" Zweizung lachte leise und spöttisch. "Oho, hört hört, WIR, die wahren Wissenschaftler, WIR, die Doktores von Linnewitz! Sehr seriös, die Herren Doktores! Erlauben Sie mal, was haben Sie denn da für ein interessantes Buch?" Oskar war der Titel des Buches vor Schreck entfallen. Er setzte seine zerstreuteste Gelehrtenmiene auf und linste verstohlen auf eine lateinische Fußnote, die sich auf der Seite befand, die er zufällig aufgeschlagen hatte: "Ecce Homo". "Nun, es geht um eine reine Hintergrundsanalyse. Um die kulturelle Konditionierung besser verstehen zu können, die der Grund für die sich so sehr gleichenden Berichte klinisch Toter zu sein scheint. Hier in diesem Buch geht es um das Menschenbild der verschiedenen Religionen. Sehen Sie, hier zum Beispiel,..." Oskar freute sich über den Eindruck, den er bei Zweizung für seinen geblufften mühelosen Umgang mit einer für ihn fremden Materie hinterlassen würde und blätterte mit der gelassenen Treffsicherheit eines universalliterarisch versierten Dokumentenforschers in dem Buch weiter. "Sehen Sie, hier. Hier wird zum Beispiel die wahre Menschlichkeit von einer gekünstelten, frommen Menschlichkeit unterschieden. Das ist ein interessanter Standpunkt für einen Diener der Kirche. Natürlich befindet er sich mit seinen Erkenntnissen in der Minderheit unter seinesgleichen. Aber für meine Gegenbeweisführung stellen diese Gedankengänge ein fruchtbares intellektuelles Ferment dar." Oskar klappte die schweren, mit Leder eingebundenen Buchdeckel zusammen und hielt das Buch wie einen Schatz, nach dem er lange geforscht hatte, triumphierend vor sich hin, als ob er seinen Wert schätzen wollte. Er schwenkte seine Zunge unter der Unterlippe hin und her und klopfte allwissend mit den Fingern auf den Buchrücken. "Dieses Buch kann man natürlich nicht so einfach mir nichts dir nichts ausleihen, wie gewisse neuartige, populärmedizinische, den Markt überflutende Schundliteratur. Sehen Sie, es hat einen roten Punkt auf dem Buchrücken. Ich werde das ganze Buch kopieren lassen." Zweizung hatte seinen Mund zu einem spitzen, spöttischen Schnäbelchen verformt. "Und nun wollen SIE wohl den Markt erobern, mit dieser - wahren Menschlichkeit?" Oskar verstaute das Buch in dem Tragekorb, den er am Eingang der Bibliothek mitgenommen hatte. Nun schüttelte er den Kopf und schlug die Hände zusammen. "Also, diese Ausdrücke - den Markt erobern, Gewinne erzielen, die Konkurrenz besiegen. Ein rechtschaffener Arzt, der noch etwas auf den Eid des Hippokrates hält, ist nicht an schnödem Gewinn interessiert. Wissen Sie - es mag überheblich klingen, aber ein Stück weit ist jeder ernsthafte Wissenschaftler ein unverbesserlicher Idealist. Nur gewissenlose Pfuscher wollen sich durch Anbiederung an die in hartem Konkurrenzkampf befindliche Pharmaindustrie ihr Taschengeld aufbessern. Denen verkaufen sie dann das, was gerade im Trend liegt, auf diesem Markt!" Zweizung kniff die Augen böse zusammen und starrte Oskar an wie ein Habicht. "Was liegt denn ihrer Meinung nach im Trend?" Oskar ignorierte die Reaktion Zweizungs und fuhr gelassen und mit gespielter Ahnungslosigkeit fort: "Nun ja, was sich eben leicht und schnell vertreiben läßt. Die Nebenwirkungen sind da Nebensache. Auf die Erstwirkung kommt es an. Da gibt es zum Beispiel gewisse Neuroleptika, die schnell wirken, sich billig in kleinen, rosaroten Kügelchen dosieren lassen - und den Menschen in ein hilfloses Wrack verwandeln. Wie praktisch - hat man die Persönlichkeit des Menschen damit zerstört, kann sich dieser nicht mehr wehren und stellt keine Gefahr da für den Hersteller! Und die Ärzte haben weniger Arbeit. Alle sind zufrieden und glücklich." Zweizung wollte das Spiel nicht länger mitspielen. "Herr Dr. Linnewitz. Jetzt hören Sie mal gut zu. Meine Neuroleptika sind gute Ware! Deswegen hat Neuroplast sie auch gekauft. Und nicht ihre sanften Alpha-Beta-Drossler. Die können Sie meinetwegen selbst vertreiben. Vielleicht glaubt ja jemand an ihren Effekt und wird schön trandüselig davon, wenn er sich ganz fest darauf konzentriert. Neuroplast jedenfalls hat sich auf die Bedürfnisse der Anstalten eingestellt und bewährte Zweizung-Forschung aufgekauft. Damit müssen Sie sich nun einmal abfinden. Studieren Sie meinetwegen Theologie. Vielleicht können Sie damit Geld machen. Zwischen mir und Ihnen jedenfalls ist das Neuroplast-Rennen nun ein für allemal gelaufen. Es wäre auch ohne Ihren bedauerlichen Unfall so gekommen, glauben Sie mir." Oskar drückte seinen Brustkorb nach vorne, so gut es ging, bei den Schmerzen, die er immer noch hatte, schob seinen Unterkiefer vor und stellte sich herausfordernd vor Zweizung auf. "Bewährte Zweizung-Forschung! Lobotomie der fünfziger Jahre! Weggeätzte Cortexfelder! Wir werden ja sehen, was für Probleme Neuroplast bekommt mit der bewährten Ware des Herrn Zweizung! Mir tun schon die Fische leid, die das Zeug durch die Kanalisation abbekommen werden, wenn Neuroplast seine Lagerhallen ausmisten muß. Außerdem ist das Rennen noch nicht gelaufen. Ich werde Neuroplast umstimmen. Verlassen Sie sich drauf." Zweizung grinste gelassen. "Ich muß jetzt weiter. War nett, Sie wieder einmal zu treffen. Ach, übrigens - falls Sie heute noch in die neurologische Abteilung wollen - bemühen Sie sich nicht, die Ausgabe Nr. 3/94 vom Neurology World Report auszukramen. Ich habe dafür gesorgt, daß man diese Ausgabe derzeit in keiner Bibliothek in Europa und den USA bekommt. Es soll keiner auf die Idee kommen, die Neuroplast Ingenieure durch gewisse populärmedizinische Boulevardpresse-Anschwärzungen verunsichern zu können. Sie sind ja bestimmt meiner Meinung in dieser Sache - oder etwa nicht? Nun, wie dem auch sei, ich sehe, Sie haben ja sowieso schon anderweitig Lesestoff gefunden. Machen Sie's gut. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Erweitern Ihres Horizontes und weiterhin gute Besserung." Oskar war es, als wenn ihm jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf geschüttet hatte. Wie gelähmt blieb er stehen, während Zweizung mit der gespielten Etikette eines Doppelspions zum Aufzug turtelte. "Irgendwann krieg' ich dich. Dann bist du dran, das schwör' ich dir." zischte Oskar wütend durch seine Zähne. Rationalismus "Achtung! Achtung! Sonderfahrt nach Evian-les-Bains in fünf Minuten! Ich wiederhole: In fünf Minuten Abfahrt nach Evian-les-Bains! Bitte einsteigen! Es können auch Karten auf dem Schiff gekauft werden!" Ein lautes Hupsignal des weißen Touristendampfers unterstrich die Ansage wirkungsvoll. "Eine prima Idee von dir, zusammen hierher in Urlaub zu fahren, Oskar. Dieser See ist wirklich eine Perle Europas. Meine Irene versteht sich ausgezeichnet mit deiner Gerda beide haben Angst vor einer Bootsfahrt. Aber es gibt ja noch die Promenade. Dort können sie nach Herzenslust alle Cafés ausprobieren. Und wir können mal wieder als alte Freunde unter uns sein." "Ja, Henri. Schau, dort oben haben sie sich schon einen Terassenplatz erobert. Jetzt winken sie. Nein, nicht die Terasse mit den roten Schirmen. Weiter rechts, die mit den gelb-braun gestreiften Jalousien." Gemeinsam winkten die beiden Männer ihren Frauen zu. Langsam und schwerfällig drehte sich der Dampfer in die andere Richtung. Grünes Wasser wurde aufgewirbelt und dabei mit Myriaden von weißen Luftblasen und Schaumkrönchen vermischt. Oskar richtete sein Fernglas auf den Gipfel des Grammont. Danach erspähte er eine Villa am französischen Ufer. "So eine Villa müßte man haben." Er reichte Henri das Fernglas und erklärte ihm, wo die Villa zu sehen war. "Wer weiß, Oskar, vielleicht kommst du am Ende noch schneller dazu, wie du meinst. Eigentlich könntest du dich ja schon früher zur Ruhe setzen. Du könntest mit deiner Forschungsarbeit aufhören und statt dessen hin und wieder ein neues Buch schreiben. So eine Villa wäre genau das richtige Ambiente dafür." Oskar hielt seine Hand über den Augen und blinzelte auf die in der Sonne funkelnden Wellen. "Ja, Henri. Aber ich muß unter Leuten bleiben können. Wenn ich daran denke, in was für Bahnen die neurologische Forschung geraten könnte, wenn ich nicht mit meiner Stiftung immer wieder Druck gegen gewissenlose Herumschnippler und Drogenpanscher machen würde. Für die sind die Menschen ja nichts weiter als Laborratten, formbares und biegbares Biomaterial, vor dem man sich nicht zu verantworten braucht. Ich kann mich jetzt nicht einfach aus der Affäre ziehen. Es gibt noch zu viel zu tun." "Wie hat sich eigentlich dein erstes Buch verkauft, das, in dem du die Berichte klinisch Toter kritisch analysiert hattest? Ich kann mich noch daran erinnern, wie du fieberhaft an diesem Buch gearbeitet hattest. Danach trennten sich dann unsere Wege und wir haben lange Zeit nichts mehr voneinander gehört." "Ja, das ist schade. Wir sind beide keine passionierten Briefschreiber. Also, dieses Buch. Nun ja, verkauft hat es sich nicht besonders. Die Leute wollten eben gerne an diese Engelsgeschichten glauben. Um eine Gegendarstellung aus wissenschaftlicher Sicht reißen sich die Leute da auch heute nicht besonders. Wenigstens konnte ich unter Insidern etwas Gehör finden. Aber davon abgesehen halte ich auch selbst nicht mehr so wahnsinnig viel von diesem Buch." Henri hatte damit begonnen, einigen kreischenden Möwen Brotbröcklein zuzuwerfen. Jetzt unterbrach er die Fütterung, wandte sich Oskar erstaunt zu und hielt die Brottüte mit einer Faust verschlossen. "Soll das heißen, daß du am Ende selbst an Engel glaubst?" "Nun ja, gesehen habe ich natürlich keine. Aber die Sache mit dem Glauben an Engel kann nicht so einfach ad acta gelegt werden, wie das manche meinen. Es handelt sich um ein Problem, das aus mehrdimensionaler Sicht durchdacht und beurteilt werden muß. Wie du ja weißt, wir Neurologen können selbst viele Vorgänge des Gehirns nicht erklären, jedenfalls nicht mit technischen Geräten oder chemischen Untersuchungen. In letzter Konsequenz können wir uns nicht erklären WARUM das menschliche Gehirn überhaupt funktioniert, wenn wir auch vieles zu dem WIE seines Funktionierens nachweisen können. Genauso ist das auch mit den Engeln." Henri hatte den Kopf auf eine Schulter gelegt und überlegte. "Interessant. Wie bist ausgerechnet du zu dieser Haltung gekommen?" "Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich lag damals im Streit mit diesem Quacksalber Zweizung. Der hatte mir doch tatsächlich einen lukrativen Auftrag mit dem Neuroplast Pharmakonzern vor der Nase weggeschnappt. Zuerst wollten die Neuroplast-Einkäufer mit mir ins Gespräch kommen. Dann hatte ich diesen schrecklichen Unfall, du weißt schon, damals, vor sechs Jahren. Ich wollte natürlich Neuroplast die wissenschaftliche Bewertung der höchst zweifelhaften Grundlagen der Zweizung-Forschung unter die Nase halten. Zweizung hatte aber alle Beweise verschwinden lassen. Über eine Medizinervereinigung in Australien bin ich dann schließlich doch an Beweise herangekommen. Diese Berichte über Zweizung waren ja weltweit veröffentlicht worden. Aber es war zu spät. Neuroplast hatte schon zuviel investiert und wollte weiter mit Zweizung fahren. Es kam, wie es kommen mußte: Patienten fielen ins Koma, verloren ihre Erinnerung, wurden gelähmt. Skandale, Obduktionen, Gutachten, Gerichtsverfahren, Beschlagnahmung der Medikamente. Neuroplast kam damals schwer in Verruf und hat sich in mehrere kleine Betriebe aufgeteilt, die nun unter anderen Namen weiterproduzieren. Aber aus der Neuroleptika-Branche sind die jetzt ganz draußen. So ein heißes Eisen rühren die nicht mehr an. Sie würden auch kaum noch eine Zulassung für so etwas bekommen. Zweizung, dieser alte Fuchs, hat natürlich rechtzeitig Lunte gerochen und konnte sich auf eine Pazifikinsel absetzen. Dort bohrt er jetzt Löcher in Kokosnüsse statt in menschliche Schädel. Inmitten all dieser Wirren bin ich bei meinen Gängen durch die Bibliothek durch Zufall auf ein theologisches Buch gestoßen. Ich fand das Buch ganz aufregend. Es war richtig spannend. Der Schreiber dieses Buches war ein unerbittlicher Logiker, ganz anders, als ich mir bis dahin Theologen vorgestellt hatte. Er konnte einen Gedanken bis zur letzten Konsequenz durchdenken. Dabei war er mit sich selbst gnadenlos. Eine Spur von einer unaufrichtigen Motivation zu einer Argumentationsführung, ein Hauch von einem Widerspruch und - schwups! wickelte er wieder alles von vorne auf. Er hatte keinerlei Scheu, sich selbst, die Kirchen, ja die ganze Theologie hypothetisch zu Lügnern zu machen und bewies dann aus einer ganz erhabenen Vogelperspektive wieder deren Glaubwürdigkeit, nachdem er ihnen alle überflüssigen Federn unbegründeter Anmaßung ausgerupft hatte. Es ist mir dabei klar geworden, wie unlogisch wir Wissenschaftler, die wir uns immer so mit rationalem Denken brüsten, eigentlich sind. Wir sind wie Maulwürfe, für die die Erdkruste das Universum ist, weil sie nichts anderes richtig sehen können. So wurde ich also von diesem Buch herausgefordert und legte mir sozusagen die Theologie nach und nach als ein Hobby zu. Das erste Buch warf Fragen auf, und so las ich ein zweites, dann ein drittes und so weiter. Mittlerweile habe ich eine richtige kleine Bibliothek nur mit solchen Büchern." "Huch!", lachte Henri und patschte mit seiner Hand auf seinen Oberschenkel. "Der Atheist Oskar von Linnewitz liest heimlich theologische Bücher! Willst du am Ende auch einen Doktor in Theologie machen?" "Nein. Dazu bin ich zu alt. Außerdem habe ich zuviel Verantwortung in meinem Bereich. Aber von Verheimlichung keine Spur. Ich stehe zu den Erkenntnissen, die ich durch meine Beschäftigung mit der Theologie gewonnen habe. Du mußt nur einmal mein neues Buch lesen. Ich werde dir heute abend ein Exemplar geben. Ich habe nämlich immer ein paar bei mir, wenn ich verreise." "Na, da bin ich ja gespannt wie ein Flitzebogen. Aber Oskar, nun sag' mir doch einmal, glaubst du nun eigentlich an Engel, oder nicht?" Oskar hatte sich ein wenig aufgerichtet und winkte einer Gruppe von Kindern zu, die auf einem kleinen Segelboot ganz nahe an dem Dampfer vorbeiglitten. Danach machte er es sich wieder auf dem weißen Plastiksessel bequem. "Nun ja, das mit dem Glauben an die Engel ist auch so eine interessante Sache. Ist es nicht merkwürdig, mein lieber Henri, daß gerade heute immer mehr Menschen wieder an Engel glauben? Dies war ja nun beileibe nicht immer so. Man muß nur ein wenig in die Geschichte des Engelsglaubens hineinsehen. Im Mittelalter zum Beispiel war es ganz extrem. Alle nicht von Menschen beeinflußbaren Naturerscheinungen; Katastrophen, Seuchen, Bewegungen der Sterne, und so weiter, wurden damals auf die Aktivität von Engeln zurückgeführt. Dann im neunzehnten Jahrhundert kam das andere Extrem: Der Glaube an Engel verlor mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis immer mehr an Boden. Man konnte die Ursachen von Naturerscheinungen nachmessen, beweisen und unter dem Mikroskop, vermittels von Ferngläsern und auf dem Papierstreifen des Seismographen sichtbar machen. Die Engel dagegen ließen sich nicht auf Anhieb, auf Kommando sichtbar machen. So wurde der Glaube an sie in die hinterste Ecke eines Dachbodens verbannt. Dieser Dachboden hatte eine Aufschrift an seiner Tür: "Abendländische Mythologie", stand darauf. Engel seien nichts weiter als bildhafte Konkretisierungen menschlichen Wunschdenkens." "Sozusagen eine christlich-religiöse Version des Weihnachtsmanns oder der guten Märchenfee", ergänzte Henri. "Ganz genau. Und wie läßt es sich nun aber erklären, daß ausgerechnet in unserer hochtechnisierten Zeit der Glaube an Engel wieder zunimmt? Sind diejenigen, die an Engel glauben, alle ausnahmslos mit den Nerven fertig, oder auf dem Sterbebett oder Scharlatane, die anderen das Geld aus den Taschen ziehen wollen mit ihren "Engelsoffenbarungen"? Oder haben wir es mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu tun, das unabhängig von den subjektiven Grenzerfahrungen Einzelner sich in unseren Gesellschaften abspielt und für das man sozialpsychologische Erwägungen heranziehen kann? Das Verwunderliche bei der heutigen Entwicklung ist ja nicht, daß einige Menschen von Erfahrungen mit Engeln berichten. Dies hat es ja schon immer gegeben. Neu ist, daß diesen Menschen immer mehr Glauben geschenkt wird. Einige ScienceFiction-Anhänger spekulieren sogar über eine in der Zukunft mögliche wissenschaftliche Erklärung für die Engel: Sie könnten Wesen aus Antimaterie sein. Man ist also in der heutigen Zeit eher bereit, krampfhaft nach Erklärungen für die Engel zu suchen und nach jedem Grashalm zu greifen, der einen hier weiterzubringen scheint, als von vornherein die Existenz der Engel zu verneinen." "Was diese frechen Möwen anbetrifft, die zweifeln keinen Deut daran, daß in dieser Tüte Brot existiert!", witzelte Henri und warf den sich dreist nähernden Möwen wieder Brotbröcklein zu. "Aber sprich weiter, es ist sehr interessant, was du sagst. Ich bin ganz Ohr." "Ja. Wie konnte es nun zu dieser Entwicklung kommen? Dazu muß man ein wenig den geschichtlichen Hintergrund des Humanismus verstehen. Die Philosophien nach der wissenschaftlichen Revolution seit Kopernikus, die sich unter dem Begriff "Humanismus" grob verallgemeinern lassen, dieser aus der Renaissance hervorgegangene Humanismus also und dessen Ableger, gingen ja bekanntlich mehr und mehr dazu über, den Menschen als Zentrum des Universums zu betrachten. Der Mensch wurde vergöttlicht, was keinen Raum für irgend eine weitere Art von denkenden Geschöpfen über ihm mehr zuließ. Dies war im großen und ganzen die allgemeine Denkart bis zum neunzehnten Jahrhundert. Dann kam das zwanzigste Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen, Völkermorden und Diktaturen, die auch den Letzten davon überzeugten, daß der Mensch keinen sehr guten "Gott" abgibt. Obwohl Gott und die Engel offiziell abgeschafft waren, hoffte man nun insgeheim wieder auf eine Hilfe von "höherer" Instanz. Dabei waren einem auch Engel recht. Nun fing man mehr und mehr wieder damit an, an Engel zu glauben; zuerst inoffiziell und mehr spaßeshalber, dann immer ernsthafter und mit immer mehr Unterstützung der Medien. Und warum ist dies so? Weil eine ganz bestimmte Erkenntnis, die im Unbewußten der Menschen schlummert, sich nicht unterdrücken läßt. Es ist eine völlig logische Erkenntnis, kein esoterisches Wirrwarr. Die Logik dieses Denkens läßt sich nämlich wie folgt beschreiben: Der Mensch ist ein rationales, denkendes Wesen. Daß er dabei beileibe nicht immer ein sehr gutes Denken an den Tag legt, beweist die Geschichte. Der Mensch befindet sich also auf einer niedrigen Stufe der rational-denkenden Wesen. Dies bedeutet zwangsläufig, daß es noch höhere rational-denkende Wesen über ihm geben muß, denn wenn er das höchste rational-denkende Wesen wäre, würde dies bedeuten, daß rationales Denken an sich schlecht ist. Wenn aber rationales Denken an sich NICHT schlecht ist, bedeutet dies oberflächlich gesehen, daß der Mensch eben nur in sehr mangelhafter und stümperhafter Weise rational denkt, und daß es eine bessere, ja vielleicht sogar eine vollkommene Version des rationalen Denkens geben muß. So ist also die heutige Form des Glaubens an Engel eigentlich ein Glaube an das rationale Denken: Dadurch, daß man sich die Möglichkeit der Existenz höherer, denkender Wesen offenhält, beweist man, daß man der Meinung ist, das menschliche Können und Wissen sei nicht die Krönung des rationalen Denkens, es müsse noch etwas weitaus Besseres geben. Gleichzeitig lehnt man damit den reinen Materialismus ab, nach welchem es nichts über dem Menschen und seinen Ideologien gibt; nichts und niemanden, von dem der Mensch etwas zu seinem Vorteil lernen könnte, von dem er Hilfe erwarten könnte oder vor dem er sich gar zu verantworten habe." "Dann müssen also nun die Menschen die Hilfe von Engeln in Anspruch nehmen, um besser denken zu können!", meinte Henri. "Nein, eben nicht. Dies könnte man zwar bei der ersten Betrachtung meinen. Das einzige, das man jetzt aus diesen Überlegungen zunächst sicher folgern kann, ist, daß sich die Menschen einmal im Klaren darüber sein müssen, daß ihr eigenes Denken niemals der allerhöchste Maßstab sein kann. Leider kommen nur wenige zu dieser Konsequenz. Auch die, die an Engel glauben, denken dann doch wieder, ihr eigenes Denken sei der höchste Maßstab für das Bewerten ihrer Entscheidungen und Handlungen. Sie lieben es zwar, anderen eine Gänsehaut einzujagen mit ihren Engelsgeschichtchen, so abends bei einem Lagerfeuer, aber von ihren Überzeugungen, von ihren Lebensgewohnheiten wollen sie keinen Fingerbreit abweichen." "Mit anderen Worten, wir Menschen müssen unser Denken von einer höheren Instanz korrigieren lassen! Und was haben wir dann davon, wo führt dies hin?" "Dies ist nun allerdings auch nicht ganz richtig, denn die Menschen sind eigentlich von Grund auf unfähig, von sich aus zu den Erkenntnissen zu kommen, die letztendlich wirkliche Hilfe bringen. Sonst könnte ja jemand irgendeine Art von esoterischer Meditation betreiben und sich dann einbilden, er hätte nun sein Denken in den Einklang mit der höchsten Instanz gebracht, wobei er doch in Wirklichkeit nur von seiner eigenen Subjektivität berauscht ist. Es geht um weit mehr, als nur das eigene Denken korrigieren zu lassen, es geht darum, eine völlig neue menschliche Existenz zu bekommen. Um wirkliche Hilfe zu erfahren, die über das rational Begreifbare hinausgeht, braucht es eine Menschlichkeit, die über unsere eigene hinausgeht, nämlich genau die Menschlichkeit, die Gott selbst ursprünglich geplant hat für den Menschen und die uns Menschen verloren gegangen war. Zum Glück für die Menschheit hat Gott einen solchen idealen Prototyp von Mensch konkret in der Geschichte existieren lassen. Der Mensch muß diesen Gottgemäßen Urtyps von Menschen, dieser Person, habhaft werden, sonst verläuft sein Denken, sein Leben, sein Handeln so, wie es seiner eigenen Konstruktion entgegenläuft. Ein Dieselauto ist für den Betrieb mit Dieseltreibstoff konstruiert. Fülle einmal Superbenzin hinein. Was passiert? Der Motor geht dabei drauf. Die Entropie des Autos, sein Zerfall, wird wesentlich beschleunigt. Genauso ist es mit uns Menschen auch. Wir sind alle Dieselautos, die mit ganz üblem Kerosin herumstottern und deshalb alle einen irreparablen, unheilbaren Motorschaden haben. Wir sind zerbrochene Gefäße, die nicht nur gefüllt, sondern zu allererst einmal neu zusammengeklebt werden müssen, was kein Gefäß selbst kann. Wir brauchen die Menschlichkeit, die von Gott konzipiert wurde. Nur dann wird unser Zerbrochensein aufgehoben, und nicht nur das, der ganze innere Motorschaden und Todeszustand wird behoben und wir unterliegen schlußendlich der Entropie, dem Zerfall überhaupt nicht mehr. Nur unser sichtbarer Körper verfällt. Nach dem Tod bekommen wir dann einen Körper wieder, und zwar in unverweslicher Ausführung." Henri wollte etwas sagen, wurde aber von einer Ansage des Kapitäns daran gehindert. "Sehr geehrte Passagiere, in wenigen Minuten erreichen wir Evian-les-Bains. Evian-lesBains. Wir bitten Sie, beim Verlassen des Schiffes nicht zu drängeln." Henri und Oskar besahen sich die Parkanlagen und das Casino mit dem Fernglas Oskars. "Weißt du was, Oskar, am besten warten wir, bis alle das Boot verlassen haben und steigen dann als letzte aus. Dann müssen wir nicht in dem überfüllten Unterdeck schwitzen." "Eine sehr gute Idee, Henri. Lieber warten wir hier oben ein paar Minuten mehr. Wir haben es ja nicht eilig. Auch ich kann dieses Herumstehen zwischen den schwitzenden Touristen nicht ausstehen." Sie beobachteten, wie die Matrosen in ihren blauen Uniformen das Schiff mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit festzurrten. Eine aus Stahlrohren und Gitterplatten bestehende Gangway wurde hinausgerollt und auf der wegen des niedrigen Wasserstandes stark heruntergeneigten hölzernen Landungsbrücke blockiert. Schon drängten sich die ersten Touristen auf die höhergelegene Schiffsanlegermole von Evianles-Bains hinauf. Als sich der Menschenfluß auf der Gangway nach einigen Minuten verringert hatte, eilten auch Oskar und Henri nach unten. Sie gingen als letzte über die Gangway. Henri ging hinter Oskar her. Oskar hatte schon seinen Fuß auf der hölzernen Landungsbrücke, als plötzlich die Gangway auf der sie mit der Mole verbindenden Holzbrücke ratternd und quietschend nach unten absackte. Oskar verlor das Gleichgewicht und wäre unter die Gangway gerutscht, wenn ihn nicht ein auffallend großgewachsener Matrose mit weißer Uniform und verschmitztem Lausbubengesicht am Arm gepackt und auf die hölzerne Landungsbrücke hinaufgezogen hätte. Der hinter ihm laufende Henri hielt sich erschreckt am Geländer der Gangway fest und schrie kurz auf. "Kommen Sie, halten Sie sich an meiner Hand fest!", sagte der Matrose und zog Henri hinauf auf die Holzbrücke und weiter bis auf die Mole. "Puh, das war knapp! Das hätte böse ins Auge gehen können!", pustete Oskar. "Nach dem Schreck denke ich, wir haben uns zwei große Becher Eiscafé verdient!", japste Henri, "Schau, dort hinten gibt es jede Menge Cafés. Diesmal gebe ich einen aus." Sie liefen ein Stück die Mole entlang, als Oskar plötzlich stehen blieb. "Du, wir wollen zurückgehen und diesem Basketballspielertypen einen Dank aussprechen. Er hat uns möglicherweise das Leben gerettet. Auf jeden Fall hat er mich vor einem Urlaub im Krankenhaus mit Gips an beiden Füßen bewahrt!" Sie gingen zurück. Zwei Matrosen in blauer Uniform überprüften die Gangway. "Die Gangway ist in Ordnung. Dort drüben hat sich das Seil gelöst. Oder vielleicht gerissen? Werd’ ich überprüfen. Jedenfalls ist das Schiff nach hinten fort und die Gangway ist dann auch verrutscht", konstatierte der eine Matrose. "Tut uns wirklich leid, was Ihnen passiert ist", sagte der andere Matrose. "Gut, daß Sie beide so sportlich sind und weit springen konnten!" Henri und Oskar sahen sich verdutzt an. Von einem Basketballspieler in weißer Matrosenuniform war nichts zu sehen. "Ich habe ihn doch mit eigenen Augen gesehen!", flüsterte Henri aufgeregt, während sie wieder die Mole entlangliefen. "Komisch, ich könnte sogar schwören, ich hätte diesen Kerl schon einmal irgendwo gesehen. Wahrscheinlich wieder eines von diesen Déjà-Vu-Erlebnissen", raunte Oskar seinem Freund ins Ohr. "Es scheint Dinge zu geben unter dem Himmel, die sich unserer Kenntnis entziehen", meinte Henri leise. "Aber jetzt komm. Ich habe einen gewaltigen Kaffeedurst." Und schon waren sie in der Blumenpracht der Casinostadt verschwunden. Wieder tutete das Schiff. Die Möwen kreischten. Leise gluckste das Wasser unter der Mole, an deren Stützbalken sich die Wellen des Sees brachen.