Seelische Gesundheit

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Fachhochschule Fulda - Fachbereich Sozialwesen
Vordiplomarbeit
Seelische Gesundheit
Eine Studie zum Vergleich von Theorie und
„Experten“ - Meinung
Vorgelegt von:
Lucia Wübbeling
Lärchenweg 10
84453 Mühldorf
[email protected]
Matrikel-Nr.: 120199
Referent: Prof. Dr. Christian Schulte-Cloos
Koreferent: Prof. Dr. Michael Wolf
Fulda, Dezember 2004
Seelische Gesundheit – eine Studie zum Vergleich von
Theorie und Expertenmeinung
1
Einleitung
1
I Theorie
2
Was ist Seelische Gesundheit?
3
2.1
Der Begriff allgemein – verschiedene Erklärungsansätze
3
2.2
Eine Theorie der seelischen Gesundheit (nach Becker)
5
3
Bedingungen für Seelische Gesundheit
10
3.1
Innerfamiliäre Umwelt – Erziehung
11
3.2
Außerfamiliäre soziale Umwelt
16
3.3
Persönlichkeit
18
3.4
Biologische Faktoren
21
4
Zusammenfassung
25
II
Expertenmeinung
1
Einleitung und Datenerhebung zur Stichprobe
26
2
Ergebnisse: Was ist Seelische Gesundheit?
28
3
Ergebnisse: Bedingungen für Seelische Gesundheit
30
4
Zusammenfassender Vergleich und Wertung
36
III
Resümee und Ausblick
1
Erkenntnisse aus Theorie und Expertenmeinung
37
2
Blick zurück und Gedanken über die Zukunft
39
3
Literaturhinweis:
Anhang:
I
Fragebogen
II
Auswertungstabellen
Seelische Gesundheit – eine Studie zum Vergleich von
Theorie und „Expertenmeinung“
1
Einleitung
Seelische Gesundheit ist ein sehr zentrales und wichtiges Thema im Leben eines jeden
Menschen. Schon allein die Zunahme von Gesundheitstipps, (pseudo-) psychologischen
Themen und die Diskussion in allen Medien – auf unterschiedlichem Niveau - zeigt ein hohes
Interesse der Gesamtbevölkerung daran.
Ich persönlich habe mich für dieses Thema entschieden, weil ich den Ansatz den Blick auf
das Gesunde und Positive im Menschen zu richten, sympathisch, interessant und überzeugend
finde. Ich war in meiner fast 25jährigen beruflichen Praxis als Erzieherin, da ich mit
Menschen mit Behinderung, Störungen, besonderen Problemen etc. gearbeitet habe, wohl
häufig auf das Kranke, Schwache, Fehlende konzentriert. Darin birgt sich meiner Erfahrung
nach die Gefahr für Pädagogen reparieren, ausbessern und umändern zu wollen, wo es doch
viel besser und wirkungsvoller ist zu stärken, zu fördern, aufzubauen und zu loben.
Interessant finde ich dieses Thema auch vor dem Hintergrund der enormen Entwicklung in
der Fachwelt der Medizin und Psychologie zum Thema Gesundheit und Krankheit. Während
z.B. im 19. Jhd. die Medizin sehr stolz auf ihre Forschungsergebnis im Bereich der Anatomie
des menschlichen Körpers war und sich als erfolgreiche „Reparaturwerkstatt“ präsentierte,
hatte die Psychologie noch nicht viel entgegen zu setzen. Auch die Menschen, die aufgrund
psychischer und/oder sozialer Probleme in der Gesellschaft, vor allem in der Arbeitswelt nicht
„funktionierten“ und für kriegerische Einsätze nicht „taugten“, sollten in den Arbeitshäusern
„repariert“ werden. Es zählte alleine die Funktionalität des Menschen im Hinblick auf die
stark vaterländisch orientierte Politik dieser Zeit.
Im 20. Jhd. entwickelte sich die Psychologie und eroberte sich als Geisteswissenschaft einen
gleichberechtigten Status neben den Naturwissenschaften, was nicht nur in der Medizin,
sondern auch allmählich in der Gesamtbevölkerung ein Umdenken bewirkte.
Die WHO definierte 1946 erstmals den Gesundheitsbegriff neu: „als Zustand vollkommenen
körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als die Abwesenheit von
Krankheit“ (www.weltgesundheitstag.de/2001/Themen/pott.html) Diese öffentliche
Distanzierung von der ausschließlich biologisch-medizinischen Sichtweise erregte damals viel
Kritik. Aber der Trend zum Paradigmenwechsel vom biomedizinischen Modell zum
biopsychosozialen Modell setzte sich durch und führte zu einer ganzheitliche Sichtweise des
Menschen, sowohl in der Psychologie als auch zunehmend in der Medizin.
Hintergrund meiner Arbeit sind im wesentlichen zwei Fragen: „Was ist eigentlich seelische
Gesundheit“ und „welche Voraussetzungen, Bedingungen ermöglichen seelische
Gesundheit.“
Ich werde zuerst aktuelle Theorien der Wissenschaft vorstellen, wobei ich mich dabei
hauptsächlich auf Becker (1995) beziehe, weil mir seine Darstellung am anschau-lichsten und
ausführlichsten erscheint. Im folgenden Abschnitt werde ich die Aus-wertung meines
Fragebogens darlegen, den ich bei Fachleuten aus der Praxis der psychosozialen Betreuung
erhoben habe und werde ihn in Verbindung mit der Theorie setzen.
Im abschließenden Resümee werde ich kurz meine Erkenntnisse aus Theorie und
Expertenmeinung skizzieren und versuchen die beiden Ausgangsfragen zusammenfassend zu
beantworten.
Problematisch war für mich den großen Umfang dieses Themas in das knappe Format einer
Vordiplomarbeit zu zwängen. Ich habe aus der Vielzahl interessanter Teilaspekte jene
ausgewählt, die ich zur Bearbeitung dieses Themas für grundsätzlich relevant halte.
I
2
Theorie
Was ist seelische Gesundheit?
Der Begriff der „seelischen Gesundheit“ ist ein sehr weitreichender, deshalb werde ich der
Begriffsklärung das nächste Kapitel widmen. Ich stelle zuerst einige Definitionen bekannter
Fachleute und dann die ausführliche Theorie von Becker vor.
2.1
Der Begriff allgemein und aus verschiedenen Sichtweisen der Fachwelt
Allgemein wird der Begriff Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff folgendermaßen definiert:
„Gesundheit und Krankheit sind keine einheitlichen Begriffe, sondern stellen immer eine
bestimmte individuell und soziale Konstruktion der Wirklichkeit dar. Nach Faltermaier
(1994), der verschiedene Bestimmungsstücke für eine Konzeption des Begriffes Gesundheit
zusammengetragen hat, bedeutet Gesundheit einen bestimmten körperlichen und psychischen
Zustand des Individuums, der von einer relativen Freiheit von Beschwerden,
Beeinträchtigungen und Krankheit gekennzeichnet ist, sich jedoch nicht allein darauf
beschränkt. Gesundheit ist zudem ein Teil der Identität einer Person und setzt von Seiten des
Individuums Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion voraus. Weil sich das Individuum in
der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt ständig verändert, muss Gesundheit immer wieder
hergestellt werden. So wird deutlich, dass Gesundheit nicht als statischer Zustand gesehen
werden kann, sondern vielmehr als Prozess. Von einer systemtheoretischen Perspektive aus
betrachtet, ist ein Individuum dann als gesund zu bezeichnen, wenn es sich in einem
dynamischen Gleichgewicht zwischen Person und Umwelt befindet. Diese Person-UmweltInteraktion ist auch ein sozialer Prozess, und somit ist die Gesundheit nicht nur ein auf ein
Individuum begrenztes Phänomen, sondern immer nur vor dem Hintergrund des jeweiligen
sozialen Kontext verständlich“ (Ziegelmann, 2002 in Schwarzer, 2002, 149).
Antonovsky (1987) versteht in seinem Modell der Salutogenese Gesundheit als Kontinuum
zwischen den Polen Gesundheit und Krankheit bzw. zwischen den Determinanten (vgl.
Wydel, et al, 2000, 99):
Hochgesundheit ------ Normalgesundheit ------ Mindergesundheit
„Wir sind alle terminale Fälle. Aber solange wir einen Atemzug Leben in uns haben, sind wir
alle bis zu einem gewissen Grad gesund“ (Antonovsky, in Wydel, et al, 2000, 99).
Becker definiert die seelische Gesundheit im Speziellen: „Seelische Gesundheit ist die
Fähigkeit zur Bewältigung externer und interner Anforderungen“ (Becker, 1995, 188).
Siegmund Freud soll auf die Frage, welche Fähigkeiten den seelisch gesunden Menschen
auszeichnen, geantwortet haben: Lieben und Arbeiten. In dieser Kurzformel steht „Lieben“
für einen genitalen Charakter sowie sexuelle Genussfähigkeit (vgl. Becker, 1995, 200).
Fromm (1960, 65) leitet seine Definition seelischer Gesundheit wie folgt ein: „Geistigseelische Gesundheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, zu lieben und schöpferisch zu
sein. [...]“. An verschiedenen Stellen seines umfangreichen Gesamtwerkes erläutert er, dass er
unter Liebesfähigkeit „produktive Liebe“ mit den Attributen Fürsorge für den anderen,
Verantwortungsgefühl, Achtung und Verständnis versteht (Fromm, 1980, in: Becker, 1995,
200).
Die WHO hat im Laufe der Zeit verschiedene Definitionen für Gesundheit gegeben. 1946
lautete sie „Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, psychischen und sozialen
Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und
Gebrechlichkeit.“(http://www.weltgesundheitstag,de/2001/Themen/faltblattpschges. html).
Diese Definition wurde damals kritisiert und zu weitgehend empfunden. 2001 formulierte sie
spezieller auf seelische bzw. psychische Gesundheit wie folgt: Psychische Gesundheit – Basis
unseres Wohlbefindens: „Ich fühle mich leicht und locker, innerlich wohlig warm, bin
zufrieden mit mir selbst sowie den Menschen um mich herum und bin voller Lebensfreude.
Ich habe das Gefühl, dass nichts auf der Welt mich ernsthaft aus der Bahn werfen kann, dass
Probleme lösbar und Rückschläge ver-kraftbar sind.“
(http://www.weltgesundheitstag,de/2001/Themen/faltblattpschges.html Auf den Punkt
gebracht meint sie: „Keine Gesundheit ohne Psychische Gesundheit“.
(http://www.weltgesundheitstag,de/2001/Themen/faltblattpschges.html).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich im Wesentlichen alle Ausführungen auf den
„Zustand seelische Gesundheit“ beziehen, diesen aber in Abhängigkeit setzen von der
Fähigkeit des Menschen die Anforderungen des Lebens zu bewältigen.
2.2
Eine Theorie der seelischen Gesundheit (nach Becker)
„Seelische Gesundheit ist die Fähigkeit zur Bewältigung externer
und interner (psychischer) Anforderungen“ (Becker 1995, 188)
Becker unterscheidet zunächst zwischen:
der seelischen Gesundheit als Zustand (SGZU): d.h. die aktuelle Befindlichkeit, in
Abhängigkeit von förderlichen oder belastenden Lebensbedingungen oder der
momentanen Funktions- und Leistungsfähigkeit, sie unterliegt also zeitlichen
Fluktuationen
und der seelischen Gesundheit als relativ stabiler Eigenschaft (SGE), diese ergibt sich aus
dem Mittelwert der Schwingungen des SGZU um ein mittleres Niveau
(vgl. Becker 1995, 187).
Beim zweiten Punkt gibt er gleichzeitig auch sieben Indikatorenbereiche für Zustände der
körperlichen und seelischen Gesundheit, die ich im Folgenden zusammengefasst wiedergebe:
-
positive vs. negative emotionale Befindlichkeit
-
hohes Energieniveau vs. Antriebsschwäche
-
Expansivität vs. Defensivität
-
Leistungsfähigkeit vs. Funktionsstörungen
-
Selbsttranszendenz vs. Selbstzentriertheit
-
Autonomie vs. Hilfesuchen und Abhängigkeit
-
hohes vs. niedriges Selbstwertgefühl
(vgl. Becker 1995, 186)
Die Fähigkeit zur Bewältigung externer Anforderungen ist laut Becker wie oben erwähnt sehr
wichtig für das Erlangen und Erhalten von seelischer Gesundheit.
Externe Anforderungen sind Anforderungen, die von der Umwelt ausgehen. Dies sind zum
einen Erwartungen der sozialen Umwelt (Rollenverpflichtungen) und zum anderen
Anpassungsleistungen an soziokulturelle Normen sowie ökonomische und physika-lische
Kontextbedingungen (vgl. Becker, 1995, 189).
Die Umwelt wirkt aber nicht nur auf den Menschen ein, sondern der Mensch auch auf seine
Umwelt, er steht also in ständiger Interaktion mit ihr und kann deshalb mitbe-stimmen und sie
mitgestalten, z. B. welche sozialen Rollen er übernimmt, welchen beruflichen Anforderungen
er sich stellt, etc. (vgl. Becker, 1995, 189).
Becker beschreibt zwei Ebenen der Bewältigung von externern Anforderungen: die Ebene der
adäquaten Repräsentation der Wirklichkeit und die der Kompetenzen.
Zur Ebene der adäquaten Repräsentation der Wirklichkeit gibt er wie auch andere Theoretiker
der seelischen Gesundheit zwei Modelle an: das Umweltmodell und das Selbstmodell.
Das Umweltmodell: „[...]Unter [den] Theoretikern [...] besteht weitgehender, jedoch nicht
vollständiger Konsens darüber, dass ein seelisch Gesunder in der Lage ist, die für ihn
handlungsrelevante Umwelt im Großen und Ganzen realistisch wahrzunehmen. Menschen mit
psychischen Störungen neigen hingegen zu mehr oder weniger starken Verzerrungen der
realen Umweltbedingungen, sei es im Sinne ihrer Wünsche und Befürchtungen oder ihrer
unbewussten Motive. Beispiele für Realitätsverzerrungen wären das tiefgreifende,
ungerechtfertigte Misstrauen und die Verdächtigungen paranoider Persönlichkeiten,
Wahnvorstellungen oder Halluzinationen Schizophrener oder die [...] kognitiven Fehler
Depressiver (z.B. willkürliche Schlussfolgerungen oder Personalisierung). Personen mit
geringer seelischer Gesundheit (bzw. schlechter Erwachsenenanpassung) verwenden im
Vergleich zu solchen mit hoher seelischer Gesundheit häufiger psychotische und unreife
Mechanismen (z.B. wahnhafte Projektion, Verleugnung) und seltener reife Mechanismen
(z.B. Humor, Antizipation oder Bedürfnisaufschub). Zu derartigen Verzerrungen in
bestimmten Bereichen des Umweltmodells kann es aus einer Reihe von Gründen kommen,
die insbesondere von Tiefenpsychologen beschrieben wurden. Exemplarisch verweisen wir
auf unverarbeitete traumatische Erlebnisse oder auf Erfahrungsmuster und Schemata, die in
gestörten Familien erworben wurden und im Sinne einer Generalisierung unbewusst auf neue
Situationen übertragen werden.“ (Becker, 1995, 192).
Das Selbstmodell: neben der realistischen Einschätzung der Umwelt ist auch die realistische
Einschätzung der eigenen Person von großer Bedeutung für die Bewältigung externer
Anforderungen. „Es enthält Informationen über die eigene Identität bzw. über das Selbst“
(Becker 1995, 143)
Eine weitere Ebene für die Bewältigung externer Aufgaben sieht er in der Ebene der
Kompetenzen. „Kompetenzen sind die Verfügbarkeit und angemessene Anwendung von
Verhaltensweisen (motorischen, kognitiven und emotionalen) zur effektiven
Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssituationen, die für das Individuum und/oder seine
Umwelt relevant sind.“ (Sommer, 1977,75; in: Becker 1995, 198)
„Ich fühle mich dem Leben und seinen Schwierigkeiten gut gewachsen“ – diese Aussage
eines seelisch Gesunden, lässt darauf schließen, dass er über ausreichende Kompetenzen
(Ressourcen) verfügt, die internen und externen Anforderungen seines Lebens zu meistern
(vgl. Becker 1995, 199).
Vergleichbar ist diese Beschreibung mit dem Begriff „Kohärenzgefühl“, das in der Theorie
der Salutogenese von Antonovsky wie folgt definiert wird: „....eine globale Orientierung, die
zum Ausdruck bringt, in welchem Umfang man ein generalisiertes, überdauerndes und
dynamisches Gefühl des Vertrauens besitzt, dass die eigene innere und äußere Umwelt
vorhersagbar ist und dass mit großer Wahrscheinlichkeit die Dinge sich so entwickeln
werden, wie man sie vernünftigerweise erwarten kann.“ (Antonovsky, 1979, 123; in:
Schwarzer, 2002, 267f).
Ein anderer, inhaltlich vergleichbarer Begriff wäre die Selbstwirksamkeitserwartung, was die
subjektive Gewissheit bedeutet, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund
eigener Kompetenz bewältigen zu können. Dieses Konzept beruht auf der sozial-kognitiven
Theorie von Bandura (1997, in: Schwarzer, 2002, 521ff).
Neben spezifischen aufgaben- bzw. berufsbezogenen Kompetenzen benötigt ein seelisch
Gesunder vor allem soziale Kompetenzen, von denen folgende mir am wichtigsten
erscheinen:

Liebesfähigkeit:
die Bedeutung der Liebesfähigkeit für seelische Gesundheit ist allgemein anerkannt.
Während Freud mit dem Begriff „Lieben“ die sexuelle Genussfähigkeit beschreibt, die er
für seelische Gesundheit sehr wichtig findet, versteht Fromm sie als produktive „Liebe“ ,
Fürsorge, Verantwortung und Verständnis für andere. Liebesfähigkeit als soziale
Kompetenz bedeutet sich anderen zuwenden, Zuneigung zu zeigen sowie Einfühlsamkeit
und Empathie entgegen zu bringen. Und sie ist gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung
für die Erhöhung der eigenen Ressourcen. Denn wer Anderen mit Zuneigung und
Verständnis für seine Bedürfnisse begegnet, wird auch von ihnen positive Gefühle,
Dankbarkeit und Verständnis zurückbekommen, es findet eine wechselseitige Belohnung
statt und damit wird die Liebesfähigkeit erweitert. Hier liegt ein positiver Kreislauf vor.
Wer aber misstrauisch und ablehnend anderen Menschen begegnet, wird auch selbst
wenig Zuneigung und soziale Unterstützung erfahren. Dadurch werden seine
mangelnden Ressourcen noch weniger, was zu einem negativen Kreislauf führen kann
(vgl. Becker 1995, 200).
Dazu ist mir noch ein prägnanter Satz aufgefallen, der lautet: „Menschen, die –
begünstigt durch ihre Liebesfähigkeit – über eine gute soziale Integration verfügen, sind
vor einer der schlimmsten Quellen von Unzufriedenheit geschützt: der Vereinsamung.“
(Becker, 1995, 202).

Selbstwertgefühl:
eng verbunden mit der Liebesfähigkeit ist das Selbstwertgefühl. Menschen, die sich
selbst achten und lieben, sind auch in der Lage andere zu achten und zu lieben. Hier
ergibt sich ein ähnlicher Kreislauf wie bei der Liebe: wer andere achtet und schätzt, wird
auch selbst Wertschätzung erfahren, es erfolgt eine gegenseitige Aufwertung oder eben
umgekehrt. ( vgl. Becker, 1995, 202)

Expansivität, Selbstbehauptung, Durchsetzungsvermögen:
hier zeichnen sich Geschlechtsunterschiede ab, während für Männer die
Selbstbehauptung wichtiger ist, beschreiben Frauen die Liebesfähigkeit als bedeutender.
Aus klinischen Beobachtung geht hervor, dass viele Psychiatriepatienten Angst vor
Selbstbehauptung haben. Sozialängste, Phobien und Angstneurosen können Folgen sein
(vgl. Becker, 1995, 202ff).
Auch die Fähigkeit zur Bewältigung interner Anforderungen ist nach Becker wie oben schon
erwähnt sowohl eine Grundvoraussetzung als auch ein Zeichen für die seelische Gesundheit
des Menschen. Bei den internen Anforderungen unterscheiden wir zwischen angeborenen
Bedürfnissen, erworbenen Sollwerten, die die eigene Person betreffen wie eigenen Zielen,
Wünschen, „Ichideal“ und die, die umgebende soziale Gesellschaft (Kultur) vorgibt wie
soziale Werte, Regeln, Normen und Vorschriften (vgl. Becker 1995, 204ff). Erläuternd sei
hierzu angemerkt:
Bedürfnisse:
„Um seine seelische Gesundheit zu bewahren oder zur fördern, muss ein Mensch in der Lage
sein, seine angeborenen Bedürfnisse (allein oder mit Unterstützung anderer) in hinreichendem
Ausmaß zu befriedigen. Je besser ihm dies gelingt, desto höher ist – ceteris paribus – der Grad
seiner seelischen Gesundheit“ (Becker, 1995, 205). Wir unterscheiden folgende
Grundbedürfnisse – hier am Beispiel der Arbeitssituation erklärt:

Physiologische Bedürfnisse können in unserer Industriegesellschaftlich weitgehend
befriedigt werden. Darüber, wie weit sich physisch belastende Bedingungen
(Schichtarbeit, etc.) auf die seelische Gesundheit auswirken, liegen – laut Becker -keine
aussagekräftigen Studien vor.

Explorationsbedürfnis: interessante, abwechslungsreiche Tätigkeiten fördern, monotone
gefährden eher die seelische Gesundheit.

Bedürfnis nach Selbstaktualisierung: dazu dient wiederum eine interessante,
herausfordernde Tätigkeit am besten, wobei die wahrgenommene Kontrolle über die
Arbeit noch bedeutsamen Einfluss hat.

Bedürfnis nach Orientierung: die Arbeit ist für fast alle Menschen die Basis der
Existenzsicherung. Deshalb ist die Unsicherheit über den Erhalt des Arbeitsplatzes sehr
belastend. Der Verlust des Arbeitsplatzes zählt somit zu den folgereichsten Auslösern
psychischer Probleme.

Bedürfnis nach Bindung: „Der Arbeitsplatz eignet sich einerseits gut dazu, Bedürfnisse
nach Zugehörigkeit und sozialem Austausch zu befriedigen, er kann andererseits auch
starke Belastungen hervorrufen, wenn beispielsweise die Zusammenarbeit und
Kommunikation mit Arbeitskollegen gestört ist, wenn es zu häufigen Konflikten mit
Vorgesetzten oder Untergebenen kommt oder wenn man zu wenig Beachtung und
Unterstützung erhält“ (Krieger,1992, in Becker 1995, 27).

Bedürfnis nach Achtung: Aufgaben, die von anderen als bedeutungsvoll eingeschätzt
werden, erfolgreich zu erledigen und dafür Anerkennung zu erhalten, trägt fraglos zur
Stabilisierung und Förderung des Selbstwertgefühls bei und dies ist, wie oben schon
erklärt, ein wichtiger Indikator für seelische Gesundheit
(vgl. Becker, 1995 ,204ff).
Insgesamt lässt sich an diesem Beispiel feststellen, dass der Arbeitsplatz ein wichtiger
Umweltbereich für den Menschen und den Erhalt seiner seelischen Gesundheit ist, was später
auch noch bei den Expertenmeinungen zum Ausdruck kommt. Neben der wichtigen
Bedeutung als Grundsicherung der eigenen Existenz (und die der Familie), erweist er sich als
bedeutende Quelle für die Befriedigung interner Bedürfnisse.
Wie gut dies gelingt, hängt allerdings von den eigenen Kompetenzen und Ressourcen des
Menschen ab, die ihn befähigen, die fachlichen und sozialen Anforderungen zu bewältigen
(vgl. Becker, 1995, 208).
erworbene Sollwerte: Ziele, Wünsche, Ichideal:
Jeder Mensch hat mittel- und langfristige Ziele, die ihm Sinn und Perspektive geben. Das
Erreichen der Ziele hängt davon ab, wie gut ihm eine Balance zwischen hartnäckiger
Zielverfolgung und flexibler Anpassung an veränderte Umstände, Fehleinschätzungen,
Misserfolge, etc. gelingt. Das Setzen von (erreichbaren) Zielen und deren erfolgreiche
Erarbeitung trägt vor allem auch wesentlich zur Sinnerfülltheit bei, einem wichtigen Indikator
für seelische Gesundheit. Außerdem hat der Mensch eine Wunschvorstellung davon, wie er
sein möchte. Dem gegenüber steht die subjektive Wahrnehmung, wie er ist. Je näher sich das
„Idealich“ und das „Realich“ kommen, umso stabiler ist die seelische Gesundheit.
soziale Werte, Normen, Regeln:
Der Mensch ist ein soziales Wesen und lebt als solches in einer Gemeinschaft, die viele
(formelle und informelle) Werte, Normen und Regeln vorgibt, die er weitgehend, aber nicht
uneingeschränkt, verinnerlichen soll und die prinzipiell sein Verhalten steuern. Wie gut diese
interne Anforderung erfüllt werden kann, hängt davon ab, wie human diese Werte sind und
wie sie subjektiv bewertet werden. Wird ein Wert unrealistisch, überhöht eingeschätzt, kann
es zu neurotischem Verhalten kommen. Wer z.B. den Wert Leistungsfähigkeit zu hoch
einschätzt, kommt zu einer unrealistischen, unerfüllbaren Leistungsnorm, womit er sich selbst
überfordert und somit neurotische Störungen (Angststörungen) begünstigt (vgl. Becker 1995,
213).
Zusammenfassend bedeutet das, dass die Stabilität bzw. der Grad der seelischen Gesundheit
eines Menschen dem Ausmaß seiner Fähigkeiten zur Bewältigung interner und externer
Anforderung entspricht.
3
Bedingungen für seelische Gesundheit
Nach dieser Begriffsklärung komme ich nun zu den Voraussetzungen für seelische
Gesundheit. Was braucht der Mensch, um seelisch gesund zu sein oder was haben die
Menschen, die als seelisch gesund eingeschätzt werden? Dies ist die Fragestellung, die ich in
diesem Kapitel in Angriff nehmen werde.
Die Unterscheidung zwischen einer inner- und eine außerfamiliären Umwelt soll die
besondere Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung und der Erziehung herausheben.
3.1
Innerfamiliäre Umwelt - Erziehung
Ungeachtet der Frage, wie groß sich der Anteil der Vererbung auf die Persönlichkeitsbildung
des Menschen auswirkt, besteht Einstimmigkeit darüber, dass das Erziehungsverhalten der
Eltern zu den folgenreichsten Einflüssen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zählt
(vgl. Becker, 1995, 243).
Becker stellt in seinem Circumplexmodell der Bedingungen (Abb.1) acht Hauptdimensionen
von Erziehungsstilen dar. Er ist ursprünglich von zwei Hauptdimensionen und ihren
Gegenpolen ausgegangen: „Wertschätzung“ mit dem Gegenpol „Geringschätzung“ und
„Fordernde Kontrolle“ mit dem Gegenpol „Freiheit“ (dargestellt auf den vertikalen und
horizontalen Achsen). Da aber Erziehung bzw. Einflussnahme von Eltern, Erziehern und
anderen wichtigen Bezugspersonen auf das Kind/die Person nicht eindimensional verläuft,
ergeben sich in der Bedingtheit untereinander weitere wichtige Dimensionen (dargestellt auf
den Querachsen): aus der Kombination „Wertschätzung“ und „Freiheit“ resultiert das
Bedingungsmuster „Bestätigung“, aus „Wertschätzung“ und „fordernder Kontrolle“ resultiert
„fördernde Anleitung“ usw. (siehe Abbildung 1). Daraus ergeben sich insgesamt acht
Dimensionen (fett gedruckt), die Becker in weitere ergänzende Begriffe untergliedert (vgl.
Becker 1995, 261ff).
Becker weist darauf hin, dass sein Modelle, dargestellt in den Abbildungen 1 – 3, nicht nur in
der Interaktion zwischen Eltern, Erziehern, Lehrern und Kindern anzuwenden sind, sondern
auch bei Ehe- und Lebenspartnern, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Vorgesetzten und
Untergebenen sowie Therapeuten und Klienten (vgl. Becker 1995, 280). Dazu ein Beispiel
aus der ehelichen Beziehung: „ein Mann registriert, dass seine Frau ihm Dinge verheimlicht
[...] ferner beklagt sie, dass sie sich nicht aufraffen könne und unter ständiger Spannung stehe
[...] und sich wertlos fühle.“ (Becker 1995, 281). In diesem Falle ließe sich das
Verhaltensmuster primär als „sich unterwerfen“ (Abb. 2) charakterisieren. Nach Abb. 1 wäre
der in Betracht zu ziehende komplementäre Bedingungskomplex ein Muster der
„Unterdrückung“ . Möglicherweise ist die eheliche Beziehung dadurch gestört, dass der
Ehemann – vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein – seine Ehefrau unterdrückt, d.h. zu
stark kontrolliert und reglementiert und ihr zu wenig Wertschätzung und Liebe zeigt (Becker
1995, 281).
Ebene der Bedingungen: Verhalten bedeutender
Bezugspersonen
Abb. 1: Circumplexmodell der Bedingungen (Becker 1995, 264)
Ebene des Verhaltens: kurz und mittelfristige Auswirkungen
Abb. 2: Circumplexmodell der Folgen (Becker 1995, 265)
In dieser Abbildung wird gezeigt, wie sich die Dimensionen der Erziehung kurz- und
mittelfristig auf das eigene Verhalten und Erleben auswirken wird. Wer also Wertschätzung
erfährt, wird sich selbst und andere wertschätzen, sich wohlfühlen, geliebt fühlen, usw., wer
aber Geringschätzung erlebt hat, wird sich selbst und andere gering schätzen, sich wertlos und
ungeliebt fühlen, usw. Die Oktanten der Bedingungen (Abb. 1) sind analog zu den Oktanten
der Folgen (Abb. 2) aufgebaut.
Ebene der Persönlichkeit
Abb. 3: Circumplexmodell der Persönlichkeit (Becker, 1995, 236)
In Abbildung 3 wird dargestellt, wie sich die Oktanten (Dimensionen der Bedingungen) auf
die Bildung von Persönlichkeitseigenschaften auswirken werden. Wer also Wertschätzung
erfahren hat (Abb. 1), wird sich und andere wertschätzen (Abb. 2) und dadurch eine hohe
seelische Gesundheit erfahren (Abb. 3). Wer aber Geringschätzung erfahren hat, wird sich
selbst und andere gering schätzen und eine geringe seelische Gesundheit erreichen. Auch
dieser Oktant ist analog zu den beiden vorherigen aufgebaut nach dem Muster: Bedingungen
Folgen
Persönlichkeit
Der Einfluss des Erziehungsstiles auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist vor allem
abhängig vom gesamten familiären Kontext, insbesondere von

der Geschwisterposition:
Eltern verhalten sich entgegen ihrer eigenen Annahme und Beteuerung gegenüber ihren
Kinder unterschiedlich. Es spricht vieles dafür, dass Eltern auf die
Persönlichkeitseigenschaften ihrer Kinder reagieren. In Zwillingsstudien konnte gezeigt
werden, dass eineiige Zwillinge im Jugendalter das Ausmaß an erfahrener elterlicher
Wärme signifikant ähnlicher einschätzen als zweieiige Zwillinge. Dieses Ergebnis
bedeutet entweder, dass genetische Faktoren die Art der Wahrnehmung beeinflussen
oder dass die elterliche Wärme Reaktion auf genetisch beeinflusste Eigenschaften ist.

dem Alter des Kindes:
Die Effekte elterlicher Vernachlässigung z.B. sind in den ersten Lebensjahren wesentlich
gravierender als bei Jugendlichen, zumal sich diese besser widersetzen und entziehen
können

dem Temperament des Kindes:
Kinder sind keinesfalls passive Empfänger elterlicher Beeinflussungsversuche, sondern
bestimmen ihrerseits das elterliche Verhalten mit. Wenn z.B. Söhne ein schwieriges
Temperament in der Kindheit besitzen, lockern Mütter ihre Kontrolle und tolerieren
mehr Aggressivität – vielleicht, weil das Temperament der Söhne es ihnen schwer macht,
eine strenge Kontrolle aufrechtzuerhalten.

dem Geschlecht des Kindes und dem Geschlecht des Elternteils, der das erzieherische
Verhalten ausübt, und von der Tatsache, ob wie meistens zwei Elternteile erziehen und
ob noch weitere für das Kind bedeutende Bezugspersonen (Großeltern, Geschwister,
etc.) Einfluss haben.

Von der Dauer und der Ausprägung der Dimension erzieherischen Verhaltens.
Eltern und Erzieher üben nicht ausschließlich einen Bedingungsfaktor aus, sie variieren
in unterschiedlichen Kontexten.

Sowie von den anderen Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung wie genetische
Determination und Einflüssen der außerfamiliären Umwelt
(vgl. Becker 1995, 270 u. 280).
Als Zusammenfassung dieses Themas finde ich ein Zitat von Richter interessant:
„Das Kind erfährt von seinen Eltern jedoch nicht nur eine Summe von Gewährungen,
Verboten und äußeren Maßnahmen. Tiefer und nachhaltiger wird es von den affektiven
Strebungen, den Ängsten und Konflikten der Eltern beeindruckt, die es gleichsam neben oder
hinter den äußeren erzieherischen Praktiken mit erstaunlicher Einfühlung errät. Diese
Tiefenschicht der bis ins Unbewusste hineinreichenden affektiven Einstellungen der Eltern
muss mitberücksichtig werden, wenn man ihren Effekt auf die seelische Entwicklung des
Kindes überprüfen will.“ (Richter 1967, 14, in Becker 1995, 293).
3.2
Außerfamiliäre, soziale Umwelt
Diesbezüglich stelle ich eine systemische Perspektive vor, die die Bedeutung der Interaktion:
Mensch - Umwelt und ihre Bedingtheit verdeutlicht.
„Jeder Mensch besitzt Fähigkeiten, die es ihm erlauben, seine Umwelt (zumindest in
bestimmten Grenzen) zu beeinflussen. Diese Einflussnahme ist auf unterschiedliche Arten
möglich. Wir können beispielsweise bestimmte Umwelten aktiv aufsuchen und vermeiden,
oder wir können Aspekte der uns umgebenden Umwelt verändern. Die Eigenschaften eines
Menschen bestimmen mit, wie er seine Umwelt gestaltet“ (Becker 1995, 227).
Man kann die eben angesprochenen verschiedenen Umwelten wie folgt unterscheiden:

die „objektive“ Umwelt einer Person, die aus der Sicht außenstehender Beobachter
beschrieben wird ( = Außenperspektive – auf dem Urteil einer größeren Zahl
unabhängig einschätzender Personen basierend) und

die von der Person subjektiv wahrgenommene Umwelt ( = individuelle
Innenperspektive).
Beide Perspektiven brauchen sich nicht zu decken. So kann eine Umwelt aus der
Außenperspektive als ungefährlich erscheinen, während sie von Person A als bedrohlich
wahrgenommen wird (vgl. Becker 1995, 228).
Diese Unterschiede zwischen den beiden Sichtweisen der Innen- und Aussen- perspektive
werden an folgenden Beispielen deutlich gemacht:

Realistisch vs. verzerrt wahrgenommene Umwelten: die Wahrnehmung bezieht sich nicht
nur auf die aktuelle Reizaufnahme und –verarbeitung, sondern auch auf gespeichertes
Wissen, Überzeugungen und Annahmen, die die Umwelt betreffen. Eine stark verzerrte
Wahrnehmung findet man bei Patienten mit psychischen Störungen, wie z.B. bei
Paranoiden, die sich von feindseligen Menschen umzingelt fühlen, oder bei Phobiekern,
die ihre irrationale, unkontrollierbare Angst daran hindert, alleine das Haus zu verlassen.
Neben der Verzerrung führt auch die stark selektive Wahrnehmung (ausblenden,
verdrängen oder verleugnen von wichtigen oder unliebsamen Aspekten) zu
unrealistischer Einschätzung der Umwelt.
Seelisch Gesunde hingegen sind zu einer weitgehend realistischen Wahrnehmung ihrer
Umwelt in der Lage: sehen Gefahren dort, wo sie tatsächlich vorhanden sind, schätzen
die Einstellungen und Gefühle ihrer Mitmenschen im allgemeinen richtig ein, sehen
mehrere Seiten einer Person oder Sache, ohne Unliebsames auszublenden, vertreten
rationale Überzeugungen dafür, sich mit ihrer Umwelt erfolgreich auseinander zusetzen
und die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

Passende vs. unpassende Umwelt: Seelisch Gesunde haben die Fähigkeit, sich eine
passende Umwelt zu suchen, entsprechend ihren (realistischen) Fähigkeiten, Neigungen
und Bedürfnissen. So wird ein gesunder Mensch, eine Ausbildung wählen, die seinen
eigenen Fähigkeiten entspricht, während psychisch gestörte Menschen nicht selten einen
Beruf ausüben, der sie dauerhaft über- oder unterfordert. Patienten mit psychischen
Störungen leiden häufig unter ihren Umweltbedingungen, weil sie aus Fehleinschätzung
der eigenen Bedürfnisse oder der Angebote an externen Ressourcen eine unpassende
Umwelt gewählt haben.

Bereichernde vs. bedrohliche Umwelt: Selbstbewusste Menschen mit vertrauensvolloptimistischer Grundhaltung erscheint die Umwelt prinzipiell als vertrauenswürdig,
Geborgenheit und Sicherheit bietend. Sie sehen Veränderungen als Herausforderung und
Chance zur Befriedigung ihrer angeborenen Bedürfnisse zur Exploration und
Selbstaktualisierung. Menschen hingegen mit wenig Vertrauen sich selbst und den
eigenen Ressourcen gegenüber, erleben die Umwelt oft als bedrohlich, haben Angst vor
Veränderungen, klammern deshalb rigide an ihrer aktuellen sozialen und materiellen
Situation fest, um sich vor Neuanpassung zu schützen. Als Beispiel könnte man eine
Frau nennen, die lieber an einer unglücklichen Ehe mit einem frustrierenden, nicht zu ihr
passenden Ehemann festhält, als sich auf das Wagnis einzulassen, die Ehe aufzugeben
und einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Oder ein weiteres Beispiel wäre ein Mann,
der lieber die ungerechtfertigten Angriffe seines Vorgesetzten über sich ergehen lässt
und seine Demütigung im Alkohol ertränkt, als dem Vorgesetzten die Stirn zu bieten und
notfalls eine Entlassung zu riskieren.

Anziehende vs. abstoßende soziale Umwelt: Seelisch Gesunde zeichnen sich dadurch aus,
dass sie sich mit Interesse, Zuneigung und Tatkraft der Umwelt und ihrem wichtigsten
Teil, dem Mitmenschen zuwenden; sie meistern drei große Aufgaben: Arbeit, Liebe und
Gemeinschaft. Kranke hingegen versagen bei diesen Aufgaben, weil sie selbstzentriert
nur um die eigene Person kreisen. Mitmenschen werden als Bedrohung empfunden und
folglich entweder gemieden, bekämpft oder entwertet (vgl. Becker 1995, 234ff).
Daraus lässt sich als Zusammenfassung schließen, dass nicht die Umwelt an sich
ausschlaggebend ist als Bedingung für seelische Gesundheit, sondern vor allem die
Fähigkeiten der Person, sie realistisch einschätzen, als interessante Herausforderung zu
empfinden und mit ihr in bereichernde Interaktion treten zu können.
Mit welchen Fähigkeiten bzw. Ressourcen aber der Mensch ausgestattet ist, hängt wiederum
von der Frühprägung in der innerfamiliären Umwelt ab.
Wird ein Neugeborenes wohlwollend aufgenommen, erlebt es seine unmittelbare Umwelt
(Familie) sicher und liebevoll, prägt dies sein Urvertrauen, dass die eigene Person und die
Umwelt prinzipiell gut sind. Wir sehen hier also ganz deutlich die Bedingtheit der beiden
Faktoren: innerfamiliäre und außerfamiliäre Umwelt untereinander.
Anmerken möchte ich noch, dass es allerdings vom Alter und Entwicklungsstand des
Menschen abhängt, inwieweit er eigene Einflussnahme auf die Wahl einer Umwelt hat, und
wie groß die Möglichkeit der Einwirkung auf die ihn unmittelbar umgebende Umwelt ist. Ein
Kind z.B. kann sich nicht aussuchen, in welches Milieu es hineingeboren wird, welche
Bedingungen es ursprünglich vorfindet. Eine interessante Studie von Renate Höfer zeigt z.B.
wie viel gefährdender die Umwelt von „Jugendhilfejugendlichen“ ist, als die von
Jugendlichen in „normaler, intakter“ bürgerlicher Umwelt. Besonders hebt sie hierbei die
vermehrt auftretenden Risikofaktoren wie Alkohol, Drogen, Kriminalität, Prostitution, etc.
hervor sowie die Vorbildfunktion ungünstiger Modelle für Konfliktlösestrategien (Gewalt)
(vgl. Höfer, 2000,25).
3.3
Persönlichkeit
Darüber, was Persönlichkeit ausmacht, machen sich Gelehrte seit vielen Jahren Gedanken.
Seelische Gesundheit, ist ein wichtiges Merkmal der Persönlichkeit und steht so in engem
Zusammenhang mit deren Entwicklung.
Persönlichkeit ist das überdauernde, einzigartige Muster der inneren Erfahrung
(Wahrnehmung und Denken) und des Verhaltens eines Menschen.
Hippokrates ist vor mehr als 2000 Jahren davon ausgegangen, dass der Charakter auf dem
Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten beruht (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle).
Auf diese Lehre aufbauend differenzierte später der griechische Arzt Galen die vier
Temperamentstypen: sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch (vgl. Lawton,
in „Gehirn und Geist“ 3/2004).
In den vergangenen hundert Jahren haben Psychologen viele verschiedene Modelle und
detaillierte Fragebögen entworfen, um zu entschlüsseln, wie jemand typischerweise denkt,
handelt und fühlt (Lawton, in „Gehirn und Geist“ 3/2004). Zur Zeit ist das bekannteste
Modell das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit („Big Five“).
Es geht davon aus, dass die Vielzahl der Persönlichkeitseigenschaften auf fünf grundlegende
Dimensionen der Persönlichkeit zurückgeführt werden können.
Dies sind Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit für
Erfahrungen, wie aus nachstehender Tabelle ersichtlich ist.
Dimension der
Untergliederung in jeweils sechs Persönlichkeitseigenschaften
Persönlichkeit
Wärme, Geselligkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Aktivität, Suche
Extraversion
nach Aufregung, positive Gefühle
Vertrauen, Offenheit / Direktheit, Selbstlosigkeit / Interesse am
Verträglichkeit
Anderen, Nachgiebigkeit, Bescheidenheit / Nichtarroganz,
Gefühlsbetontheit
Kompetenzgefühl, Ordnungsliebe / Ordentlichkeit,
Gewissenhaftigkeit Normorientierung / Pflichterfüllung / strenges Überich,
Leistungsorientierung / Leistungsstreben, Selbstdisziplin /
Ausdauer, Besonnenheit
Ängstlichkeit, Feindseligkeit, Depression, Befangenheit /
Neurotizismus
Selbstunsicherheit, Impulsivität, Verletzlichkeit
Offenheit für
Erfahrungen
Fantasie, Ästhetik / Kunst, Gefühle, Handlungen, Ideen, Werte
(vgl. Becker 1995, 4ff)
Extraversion/Offenheit: geselligen, fröhlichen Menschen fällt es leichter, soziale Kontakte zu
pflegen und Unterstützung einzuholen. Bei starker Ausprägung einzelner Facetten besteht
allerdings die Gefahr zu einer höheren Risikobereitschaft, die mit gesundheitsgefährdendem
Verhalten verbunden ist.
Gewissenhaftigkeit (Kontrolliertheit): Ausdauer, Sorgfalt und Pflichtbewusstsein scheinen
gesundheitliche Schutzfaktoren zu sein. Gewissenhafte zeigen ein besseres
Gesundheitsverhalten und haben eine erhöhte Lebenserwartung.
Neurotizismus hingegen ist ein gesundheitlicher Risikofaktor. Ebenso verhält es sich mit
Unverträglichkeit / Rücksichtslosigkeit (dem Gegenpol von Verträglichkeit). Personen mit
hoher Unverträglichkeit (Misstrauen, Feindseligkeit, Zynismus, rechthaberische Arroganz)
verfügen über ineffiziente Konfliktlösestrategien, gefährden ihre sozialen Beziehungen und
neigen zu gesundheitsabträglichem Verhalten (Vgl. Becker, in Schwarzer, 2002, 384f ).
Ist die Verträglichkeit, insbesondere die Selbstlosigkeit und Nachgiebigkeit allerdings zu
stark ausgeprägt, sind dadurch Fähigkeiten wie Selbstbehauptung und
Durchsetzungsvermögen beeinträchtigt. Es ist davon auszugehen, dass auf dem Kontinuum
zwischen den beiden Polen Verträglichkeit und Unverträglichkeit eine mittlere Position am
günstigsten ist.
Becker hebt die seelische Gesundheit als Dimension der Persönlichkeit hervor, als Gegenpol
zum Neurotizismus und untergliedert sie in Persönlichkeitseigenschaften auf drei Ebenen
nach folgendem Modell:
Seelische Gesundheit
Seelisch-körperliches
Wohlbefinden
Sinnerfülltheit
Selbstvergess
enheit
Selbstaktualisierung
Beschwerdefreiheit
Expansivität
Autonomie
Selbst- und fremdbezogene Wertschätzung
Selbstwertgefühl
Liebesf
ähigkeit
Abb. 4
Die untere Ebene beschreibt die enger gefassten Eigenschaften, die in Zusammenwirkung mit
anderen eine mittlere Ebene der weiter gefassten Persönlichkeitseigenschaften ergeben.
Diesen wiederum übergeordnet steht die Persönlichkeitsdimension: „Seelische Gesundheit“
(vgl. Becker 1995, 37).
Zusammenfassend kann man sagen, dass ein Konsens darüber besteht, dass
Persönlichkeitsmerkmale sowohl auf angeborene, biologische Voraussetzungen als auch auf
soziale Lernerfahrung in der Umwelt zurückzuführen sind. Wie hoch der Anteil des
jeweiligen Faktors ist, darüber gibt es (noch) keine empirisch untermauerten Theorien.
3.4
Biologische Faktoren
Nach der kurzen Darstellung der nichterblichen Dimension der (inner- und außer-familiären)
„Umwelt“ werde ich nun auf die erbliche, genetische Determinante, die „Anlage“ eingehen
und sie im Folgenden kurz beschreiben:
Die Genetik
Die Genetik des Verhaltens wirkt über die Biochemie. Die Grundeinheiten der Vererbung, die
Gene, bestehend aus DNA (Desoxyribonukleinsäure). Die DNA bestimmt, welche
biochemischen Substanzen durch die Gehirnzellen und andere Körperzellen erzeugt bzw.
nicht erzeugt werden. Dieses biochemische Gleichgewicht steuert wiederum die Tätigkeit des
Nervensystems, das seinerseits dem Verhalten zugrunde liegt. Der genetische Einfluss ist bei
normalem Verhalten genauso stark wie bei krankem Verhalten – man denkt nur
normalerweise nicht daran [...]. Vererbung und Umwelt arbeiten sowohl bei normalem als
auch bei anormalen Verhalten zusammen (Bourne E. u. R. Ekstrand, 2001, 35).
Obwohl bereits viel über die Funktionsweise der DNS bekannt ist, ist noch unklar, wie
genetisches Material das Verhalten und die Persönlichkeit eines Menschen bestimmt.
Hinweise darauf liefern nur einige Forschungsergebnisse bezüglich der Vererbung von
genetisch bedingten Erkrankungen, wie z.B. Trisomie 21 (Down-Syndrom) oder ChoreaHuntington. Es gilt als erwiesen, dass physische Ähnlichkeiten innerhalb einer Familie zu
einem großen Teil auf dem Erbmaterial, den Genen, beruhen. Die Grundlage für
psychologische Ähnlichkeiten hingegen ist unklar, sie kann sowohl das gemeinsame Erbgut
wie auch die gemeinsame Umwelt sein.
Für die Bedeutung des Erbgutes spricht die Zwillingsforschung, die ergab, dass auch bei
getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen, die vollkommen identisches Erbgut besitzen,
die Ähnlichkeit der psychologischen Charakteristika wesentlich höher ist als bei normalen
Geschwistern, die nur 50 % der Gene gemeinsam haben. Die hohe Korrelation legt aber einen
genetischen Beitrag nur nahe, beweist ihn nicht (vgl. Bourne e. u. R. Ekstrand, 2001, 35)
Vulnerabilität (Verwundbarkeit, Verletzlichkeit) wird auch als „Schwellensenkung“ erklärt.
Das zentrale Nervensystem bei den Betroffenen ist viel schneller und heftiger erregbar als bei
„normalen“ Menschen. Erregt wird das Nervensystem durch alle möglichen Reize wie z.B.
Licht, Berührungen usw. Alle diese Reize werden von den Betroffenen stärker
wahrgenommen. Bei Stressoren, also Reizen, die vom Gehirn als Stressauslöser
wahrgenommen werden, kann die erhöhte Sensibilität gefährlich werden, indem viel schneller
psychotisches Geschehen ausgelöst werden kann. Vulnerabilität ist eine angeborene,
genetische Disposition. Dies gilt heute besonders in der Schizophrenieforschung als sehr
wahrscheinlich. Bestätigung findet diese Annahme vor allem durch die familiäre Häufung der
Erkrankung bei Verwandten.
Dies könnte auch ein Erklärungsansatz dafür sein, warum manche Menschen trotz schlechter
familiärer Umweltbedingungen und weiterer Risikofaktoren wie Stress, traumatischer
Erlebnisse usw. ihre seelische Gesundheit weitgehend entwickeln und erhalten, und andere
schon bei weniger belastenden Umständen erkranken. Im Gegensatz zur angeborenen
Vulnerabilität spricht man auch von einem angeborenen robusten Nervensystem (vgl.
Olbrich, 1990, 18f)
Das zentrale Nervensystem und das Gehirn
Die Psyche schwebt nicht frei im Raum, sie benötigt „Materie“, einen Organismus um
überhaupt existieren zu können. Das ist beim Menschen das zentrale Nervensystem, also das
Gehirn mit (Hypophyse) und das Rückenmark. Das Nervensystem ermöglicht dem
Organismus, die Beziehung zur Umwelt zu gestalten
(vgl. CSC, 2003, in der Vorlesung: Einführung in die Psychologie).
Das Gehirn ist sozusagen die „Hardware“, die Programmierung gestaltet sich dann ein Leben
lang über die Umwelteinflüsse, am gravierendsten aber in den ersten (drei) Lebensjahren
(innerfamiliäre Sozialisation).
Das Gehirn eines Erwachsenen besteht aus bis zu 100 Milliarden Neuronen (Nervenzellen)
die über 100 Billionen von Synapsen (Kontaktstellen) mit anderen Neuronen kommunizieren.
Dieser Austausch erfolgt mittels Neurotransmittern (Gehirnbotenstoffen). Wir unterscheiden
den bereits „programmierten“ Teil des Gehirns, der die automatischen Steuerungen der
Lebensfunktionen regelt (Atmung, Blutkreislauf, Verdauung, etc.) und die unerschöpfliche
freie Speicherkapazität, die ihre Funktion durch Umwelteinflüsse bildet (vgl. Bourne E. u. R.
Ekstrad 2001, 34f).
Im Gehirn eines Neugeborenen sind bereits 100 Milliarden Neuronen (das entspricht der
gleichen Anzahl wie bei einem Erwachsenen, s.o.), die aber noch klein und unvernetzt sind. In
den ersten Lebensjahren nimmt die Zahl der Synapsen rasant zu – mit drei Jahren hat ein Kind
bereits 200 Billionen (doppelt so viel wie ein Erwachsener). Diese Zahl bleibt dann ca. sieben
Jahre relativ konstant, dann wird bis zum Jugendalter rund die Hälfte wieder abgebaut. Die
Ausbildung von doppelt so vielen Synapsen wie letztlich benötigt werden, ist ein Zeichen für
die enorme Lern- und Anpassungsfähigkeit des Säuglings und Kleinkindes. Das Neugeborene
fängt geistig praktisch bei Null an. Abgesehen von seinen Instinkten ist es weitgehend auf
Wahrnehmung und Reaktion angewiesen. Das Neugeborene ist für ganz unterschiedliche
Kulturen und Milieus offen, es hat die Fähigkeit sehr schnell unterschiedliche
Verhaltensweisen, Sprachen, Lebensstile usw. zu erlernen. Ein großer Teil der weiteren
Gehirnentwicklung bei Kindern besteht dann darin, die für ihre Lebenswelt nicht relevanten
Synapsen abzubauen und die benötigten Bahnen zwischen Neuronen zu intensivieren. So
bestimmt letztlich die Umwelt und das in ihr Erfahrene, Gelernte, Erlebte, Aufgenommene zu
einem großen Teil die Struktur des Gehirns. Diese Entwicklung setzt sich das ganze Leben
fort, unbenötigte Synapsen werden eliminiert, häufig benutzte verstärkt. Erst seit wenigen
Jahren ist bekannt, dass bis ins hohe Alter auch neue Neuronen entstehen und neue Synapsen
ausgebildet werden. Die Gehirn-entwicklung ist also ein Prozess, der von Vererbung und
Umwelt gleichermaßen bestimmt wird. Von besonderer Bedeutung ist eine sichere Mutter(Vater-) Kind –Bindung. Die Stimulierung und damit das Lernen sind viel intensiver, wenn
die Eltern sich engagiert um den Säugling bzw. das Kleinkind kümmern, warm und
empathisch reagieren. Zugleich erlebt das Kind weniger Stress (bei welchem das für die
Hirnentwicklung schädliche Cortisol ausgeschüttet wird), wird widerstandsfähiger und lernt
besser die eigenen Affekte und Emotionen zu kontrollieren. Eine sehr anregungsreiche
Umwelt, die viel eigene Lernerfahrung ermöglicht, ist sehr förderlich für die Entwicklung
sozialer und kognitiver Kompetenzen (vgl. http://www.
familienhandbuch.de/cmain/a_Hauptseite,html und http://www.psychotherapie-profbauer.de/selk.htm).
Störungen der Gehirnfunktion
Der Vollständigkeit halber möchte ich hier noch erwähnen, dass es natürlich auch Störungen
der Gehirnfunktion gibt. Hirnabhängige organische psychische Erkrankungen entstehen durch
organische Veränderungen im Gehirn. Die Ursache sind Entzündungen, Verletzungen,
Tumore oder toxische Prozesse (z.B. durch Drogen, Alkohol, Tabletten). Die psychischen
Störungen treten dann in Verbindung mit körperlichen Symptomen auf (Fieber,
Kopfverletzungen, ...) (vgl. Netolitzky u. Janssen, 1987).
Ein eigenes Problemfeld sind die Wesensveränderungen infolge eines Schädel-Hirn-Traumas,
z.B. durch Verkehrsunfällen, Gehirnblutungen, etc. Ich möchte dieses Thema aber nicht
ausweiten, es würde den Rahmen meiner Vordiplomarbeit sprengen.
Hormone
„Man kann sagen, dass alle Körperaktivitäten einschließlich des Verhaltens von zwei
interagierenden biologischen Systemen reguliert werden, dem Nervensystem und dem
endokrinen System [...]. Hormone, die vom endokrinen System abgesondert werden, dienen
als ,chemische Nachrichtenübermittler‘, indem sie zu anderen Organen wandern und deren
Aktivität beeinflussen, einschließlich des Nervensystems [...]. Umgekehrt kann das
Nervensystem verstärkte oder verminderte Aktivitäten in den endokrinen Drüsen auslösen.
Das endokrine System und das Nervensystem interagieren also“ (Bourne E. u. R. Ekstrand,
2001, 57).
Die Nebenniere z.B. produziert Hormone, die neben der Regulierung zahlreicher
Stoffwechselfunktionen, den Körper befähigen gegen Stressoren zu kämpfen. Geistiger oder
psychischer Stress kann das System aktivieren, dauerhafter Stress kann es erschöpfen, so dass
der Körper anfälliger wird (vgl. Bourne E. u. R. Ekstrand. 2001, 57).
„Das Sexualhormon ist das bekannteste und am meisten publizierte. Die Sexualhormone
bestimmen vor allem die menschliche Geschlechtsdifferenzierung während der Entwicklung
des Embryos. In geschlechtlicher und genetischer Hinsicht unterscheiden sich Mann und Frau
nur durch ein Chromosom: Frauen besitzen zwei X – Chromosome, Männer dagegen ein X
und ein Y – Chromosom. Die Geschlechtschromosomen lenken hauptsächlich die Produktion
von Sexualhormonen [...]. Das heißt, das Geschlecht eines Kindes wird dadurch bestimmt,
welche Hormone in welchem Ausmaß während des Wachstums des Fötus in den frühesten
Entwicklungsstadien vorhanden sind“ ( Bourne E. u. R. Ekstrand. 2001, 60f).
„Fortpflanzungs- und sexuelles Verhalten ist eigentlich bei allen Lebewesen außer dem
Menschen stark durch Hormone reguliert. Beim Menschen spielen lernen und Sozialisation
eine ebenso bedeutende Rolle“ ( Bourne E. u. R. Ekstrand. 2001, 60).
An dieser Stelle wird wieder deutlich, dass nie ein Aspekt alleine einen für sich
abgeschlossenen, erklärbaren Einflussfaktor darstellt, sondern dass die Wirkungsweise erst im
Gesamtkontext der Bedingungen relevant wird. Und es bleibt bei allen Erklärungsansätzen die
Frage nach der Kausalität offen, also was Ursache und was Wirkung ist. Aus systemischer
Sicht wird aus der Frage Ursache – Wirkung eine Kettenreaktion von Ursache – Wirkung –
Ursache – Wirkung - .........
4
Zusammenfassung
In der Auseinandersetzung mit den Theorien zu den einzelnen Faktoren wurde mir klar, dass
die Trennung in einzelne Bedingungen für seelische Gesundheit eine künstliche ist, die
Bedingtheit untereinander wird in jedem Unterpunkt deutlich. Dennoch finde ich sie wichtig,
weil eine Strukturierung den Blick auf die einzelnen Aspekte erleichtert.
Im Wesentlichen besteht in der Wissenschaft Einigkeit darüber, dass es zwei grundsätzliche
Einflussfaktoren für die Entwicklung des Menschen und seiner seelischen Gesundheit gibt:
Anlage und Umwelt. Offen bleibt die Frage über das Ausmaß der Anteile der beiden
wichtigsten Variablen, sie kann beim derzeitigen Stand der Forschung nicht endgültig geklärt
werden.
Besondere Beachtung aber muss die Bedeutung der Bedingtheit der Einflussvariablen
untereinander geschenkt werden. Es steht fest, dass die genetischen Anlagen bei jedem
Menschen einzigartig sind (Ausnahme: eineiige Zwillingen). Auch gibt es keine genau
deckungsgleichen Umwelten, weil jeder Mensch sie unterschiedlich erlebt und individuell
beeinflusst. Selbst Geschwister, die als Kinder der gleichen Familie aufwachsen, erleben nicht
die genau gleichen Umweltbedingungen. Zum einen erlebt und beeinflusst das Kind schon
von Geburt an durch seine Anlage das Geschehen individuell und zum anderen ergeben die
soziale Rolle, die (Geschwister-) Stellung und das Geschlecht unterschiedliche Perspektiven
auf die Umwelt. Außerdem nehmen die Kinder, da sie ja unterschiedliche Menschen sind, ihre
– objektiv gleiche – Umwelt auf unterschiedliche Weise, also subjektiv, wahr.
II
„Experten“– Meinung
1 Einleitung und Erhebung der Daten zur Stichprobe
Nach dem theoretischen folgt nun der praktische Teil dieser Vordiplomsarbeit. Dazu habe ich
mit einem selbst entwickelten Fragebogen ausgewählte Fachleute aus dem Bereich der
psychosozialen Betreuung befragt, was sie unter dem Begriff „Seelische Gesundheit“
verstehen, was ihrer Meinung nach Voraussetzungen dafür sind und wodurch sie gefährdet
werden kann.
Meine Motivation, zu dem Thema „Seelische Gesundheit“ praktizierende Fachleute aus dem
Bereich der psychosozialen Betreuung zu befragen bestand darin, dass ich der Meinung bin,
dass sich Wissenschaft vor allem darin bewährt, inwieweit sie in der Praxis Anwendung
findet, unterstützend und fördernd wirkt. Ich werde die Fachleute verschiedener
Berufsgruppen im folgenden Verlauf vereinheitlicht „Experten“ nennen.
Ich habe die Befragung bereits in den Semesterferien im Sommer 2004 durchgeführt, also vor
dem offiziellen Beginn der Vordiplomarbeit, da ich während des Semesters in Fulda keine
Gelegenheit dazu habe. Das heißt, ich habe erst nach Erhebung der Stichprobe den Theorieteil
erarbeitet, was zur Folge hatte, dass die Kapitelnamen der Theorie und die Fragestellungen
der Expertenbefragung nicht ganz einheitlich sind. Ich hoffe, die reichhaltige Fülle von
Antworten aber trotzdem richtig interpretiert und den Problemfeldern entsprechend
zugeordnet zu haben. Ich erhebe keinen Anspruch auf vollkommene Richtigkeit und
wissenschaftliche Relevanz.
Bei der Umfrage hatte ich drei verschiedene Antworttypen gemischt, nämlich zum einen
Fragen mit Antworten zum Ankreuzen, dann Fragen, bei denen als Antwort auf einer Skala
von 1 bis 10 bewertet werden sollte und schließlich Fragen mit offenen Antworten.
Im Folgenden werde ich erst die Daten zur Stichprobe vorstellen und dann Ergebnisse der
Befragung analog zu den Kapiteln des Theorieteils aufarbeiten und darstellen.
Um die Expertenmeinung bzw. die Gegenüberstellung mit der Theorie zu verdeutlichen und
anschaulich zu machen, werde ich Tabellen verwenden.
Anschließend werde ich anhand einiger Beispiele die Hypothese überprüfen, dass es
unterschiedliche Meinungen / Wertungen zwischen den Geschlechtern und den
Berufsgruppen gibt.
Daten der Stichprobe
Die befragten Personen sind – so wie ich auch - Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung
Ecksberg in Mühldorf am Inn, einer Einrichtung für geistig und psychisch behinderte
Menschen mit den Bereichen Wohnen und Arbeiten sowie ein behandelnder Psychiater,
Chefarzt im BKH Gabersee.
Die Befragung erfolgte im August und September 2004.
Die Experten hatten die Wahl, ob sie den Fragebogen im Gespräch mit mir, in ihren
Arbeitsteams oder alleine zu Hause durchführen wollen. Von den 40 verteilten Fragebogen
kamen 32 ausgefüllt zurück, der größte Teil hiervon wurde alleine ausgefüllt, 7 bevorzugten
das persönliche Gespräch mit mir.
Das Alter der befragten Personen erstreckt sich von 22 bis 55 Jahre, das Durchschnittsalter
liegt bei 41 Jahren.
Von den 32 befragten Personen sind 13 Frauen, 17 Männer und zwei gaben ihre persönlichen
Daten nicht an.
Die Stichprobe umfasst folgende Berufsgruppen:
Berufsgruppe
Psychiater:
Dipl. Psychologin:
Dipl. Sozialpädagogen
„Quereinsteiger“ SPZ1
Anzahl
1
1
8
14
Berufsgruppe
Lehrerin:
Krankenschwester:
Erzieher / HEP:
Keine Angabe:
Anzahl
1
1
3
3
Diese Personen üben folgende Tätigkeiten in der Einrichtung aus:
Tätigkeit in WfbM2
Gruppenleiter
Fachbereichsleiter
Begleitender Dienst
Behandelnder Arzt
11
2
4
1
Tätigkeit im Wohnbereich
Gruppenleiter, -mitarbeiter
7
Bereichsleiter
1
Kein Angaben
6
Tab. 1: Daten der Stichprobe
Die Dauer der ausgeübten Tätigkeit in der Einrichtung beträgt zwischen zwei und 19 Jahre,
was einen Durchschnitt von sieben Jahren ergibt.
2
Ergebnisse: Was ist seelische Gesundheit ?
Im Folgenden werde ich die Ergebnisse der Befragung analog zu den Kapiteln des
Theorieteils aufarbeiten und darstellen (Fragebogen im Anhang I).
1Quereinsteiger sind MitarbeiterInnen aus handwerklichen Berufen (Schreiner, Schlosser, etc.) die sich über die
Sonderpädagogische Zusatzausbildung für die Gruppenleitung in der WfbM (Werkstatt für Behinderte
Menschen) qualifiziert haben
2Werkstatt für behinderte Menschen
Die Frage nach dem Begriff allgemein habe ich offen gestellt, die Antworten habe ich in der
folgenden Tabelle zusammengefasst und den Themenschwerpunkten der Theorie zur SG
(seelische Gesundheit) gegenübergestellt. Übereinstimmung ergibt sich dabei bei der
Beschreibung der SG als Zustand, vor allem aber zwischen den „Fähigkeiten zur Bewältigung
des Lebens“ (Experten) und der „Fähigkeit zur Bewältigung externer Anforderungen“ im
Hinblick auf adäquate Repräsentation der Wirklichkeit und Bewältigungskompetenzen von
Becker (siehe 1.2). Bei der Anzahl der Nennungen ist noch zu beachten, dass ich Begriffe die
öfter verwendet wurden, nur einmal angeführt habe:
Theorie
Expertenmeinung
ausgeglichener Zustand, sich Wohlfühlen,
die SG als relativ stabile Eigenschaft
ergibt sich aus dem Mittelwert der
Zufriedenheit mit sich und der Welt, die
Schwingungen um ein mittleres Niveau.
innere Mitte nicht verlieren, SchwingungsIndikatoren: positive (vs. negative)
fähigkeit um eine innere Mitte, geistig und
Befindlichkeit, Expansivität (vs.
seelisches Gleichgewicht, frei sein von
Defensivität) Leistungsfähigkeit (vs.
psychischen Beeinträchtigungen durch den
Funktionsstörung) Autonomie, hohes (vs. Alltag, Identität von Körper und Seele,
niedriges) Selbstwertgefühl,
Selbstvertrauen, Einklang zwischen Geist,
Selbsttranszendenz (vs. Selbstzentriertheit) Gefühl und Umwelt, Liebe und Glück
Adäquate Repräsentation der
Klarheit, klar denken können, Einklang
Wirklichkeit: in der Lage sein, die für ihn zwischen Geist, Gefühl und Umwelt, mit
handlungsrelevante Umwelt im großen und sich und der Umwelt im Reinen sein
ganzen realistisch wahrzunehmen.
Realistische Einschätzung der eigenen
ehrlich sein zu sich selbst
Person.
Kompetenzen (Verfügbarkeit und
Anforderungen des täglichen Lebens
Anwendung von Verhaltensweisen, zur
bewältigen, Probleme lösen, Fähigkeit mit
effektiven Auseinandersetzung mit der
dem Leben ohne prof. Hilfe fertig zu
Lebenssituation): „ich fühle mich dem
werden,
Leben und seinen Schwierigkeiten
Aufbau von Ressourcen
gewachsen“
Liebesfähigkeit
die Fähigkeit zu lieben und zu arbeiten
Selbstwertgefühl
Sinnfindung,
Expansivität
einfach zu leben, ohne wenn und aber
Tab. 2: Begriffsklärung der Seelischen Gesundheit
Ebenso besteht Übereinstimmung mit der Beschreibung von seelischer Gesundheit aus der
Praxis und dem Begriff des Kohärenzgefühls, das in der Salutogenese von Antonovsky eine
zentrale Bedeutung hat: „Damit sind ein Grundgefühl und zugleich auch eine
Wahrnehmungsweise der Welt gemeint, dass wir das, was um uns herum geschieht,
ausreichend verstehen und auch beeinflussen können. Wir sind nicht hilflos, sondern verfügen
über innere und äußere Hilfsquellen [...] wesentlich am Kohärenzgefühl ist jedoch, dass wir
unser Handeln nicht nur als zweckmäßig, sondern auch als sinnvoll empfinden.“
(Antonovsky, in Schiffer, 2001, 10).
Um die Befragten auf Begriffe hinzuweisen, die ich später in der Theorie behandeln wollte,
und sie so auf meinen Fragebogen einzustimmen, habe ich in der ersten Frage fünf
Determinanten zur Zustimmung angeboten. Die 32 Befragten sollten durch Ankreuzen
angeben, welche der genannten sie für maßgeblich für die Entstehung psychischer Gesundheit
halten. Bei den persönlichen Gesprächen trat wiederholt die Frage nach der Bedeutung des
Begriffes „Schicksal“ auf. Es stellte sich heraus, dass jeder der Befragten eine andere
Vorstellung davon hatte. Ebenso traten Fragen zum Begriff „Persönlichkeitsmerkmal“ auf. Es
ergaben sich daraus philosophisch orientierte Diskussionen. Möglicherweise beeinflusst das
auch das in der folgenden Tabelle zusammengefasste Ergebnis, weil für viele die
Begriffsklärung von Schicksal, und zum Teil auch von Persönlichkeitsmerkmal, offen blieb:
Schicksal
Persönlichkeitsmerkmal
Genetisch determiniert
Ergebnis von Erziehung (Elternhaus)
Ergebnis von Lernerfahrung im sozialen Umfeld
13
13
23
27
27
Tab. 3: Abstimmung der Determinanten
Es besteht eine große Übereinstimmung darüber, dass seelische Gesundheit das Ergebnis
mehrer Faktoren ist, denn von den Befragten kreuzten wenige nur einen einzigen der oben
genannten Faktoren an. Die übrige Verteilung kann aus der unten stehenden Tabelle
entnommen werden.
Faktoren:
Nennungen:
Tab. 4: Faktoren
1
3x
2
5x
3
12x
4
7x
5
5x
Zusammenfassung:
Die hohe Übereinstimmung bezüglich der wichtigsten Einflussfaktoren Familie und Umwelt
entspricht auch der herrschenden Meinung in der Wissenschaft. (siehe 2.1) Gefolgt werden sie
von der genetischen Determinanten, die in der Psychologie, wie auch in der Medizin, immer
mehr im Focus des Interesses steht. Dies geschieht wohl nicht zuletzt weil die Genforschung
sich in den letzten Jahren enorm entwickelt hat. Ebenso gibt es immer mehr Forschungen
bezüglich der Frage, warum manche Menschen bei schlechten Bedingungen erkranken und
andere bei ähnlich schlechten Umständen nicht.
3
Ergebnisse: Bedingungen für seelische Gesundheit
Die besondere Bewertung der Bedeutung des Faktors innerfamiliäre Umwelt, die im letzten
Kapitel schon angeklungen ist, bestätigt sich noch deutlicher in Frage 3 und 5, und auch in
den Bewertungsskalen von Frage zehn, die ich im folgenden Abschnitt „innerfamiliäre
Umwelt“ zusammenfassend darstellen und erläutern werde.
Innerfamiliäre Umwelt – Erziehung und Elternhaus
Diese Ergebnisse habe ich aus den offenen Antworten der Fragen drei, fünf, sieben und neun
erarbeitet und durch die Bewertungen einzelner Aspekte der Frage zehn ergänzt.
In Frage fünf, der Frage nach der Bedeutung der Familie für seelische Gesundheit, war die
Antwort fast vollkommen einheitlich mit 28 Nennungen für sehr wichtig und vier Nennungen
für wichtig bedeutend hilfreich.
In Frage neun geht aus den freien Antworten hervor, welches Alter für die Entwicklung bzw.
den Erhalt der seelischen Gesundheit die Experten für besonders wichtig erachten:
Nennungen
Lebensalter, -phase
Kindheit und frühe Kindheit
Pubertät, Jugend
Adoleszenz, junge Erwachsene ab 18, Arbeitsbeginn, Familiengründung
Midlife, Menopause (40 – 50)
Alter Rente
20
13
08
03
03
Es gibt kein Alter in dem seelische Gesundheit nicht gefährdet ist
Tab. 5: Lebensalter
32
Die Bedingungen und Faktoren der familiären Umwelt, die besonders fördernd oder
gefährdend für die seelische Entwicklung sind, werden in den freien Antworten zu den Fragen
drei, fünf und sieben sehr ausführlich dargestellt. Hier habe ich die angegebenen Begriffe
wörtlich übernommen und thematisch zusammengefasst, wie aus der nachstehenden Tabelle
ersichtlich ist:
Fördernde Bedingungen
normale, intakte Familie
Geborgenheit, Sicherheit, Angenommen sein
stabile, sichere Bindung, Zusammenhalt
Nennungen
12
09
06
positive Entwicklung, glückliche Kindheit
Trost, Unterstützung, stärkender Hintergrund
Förderung, Lernen, Fördern von Kompetenzen
Selbständigkeit, Selbstwertvermittlung, Abgrenzung
Positive Autorität, angemessene Sanktionen
Gefährdende Bedingungen
06
06
05
05
02
Nennungen
Gewalt, Missbrauch
Mangelnde Bildung von Urvertrauen
Vernachlässigung, mangelnde Zuwendung, Liebe
schwieriges Elternhaus, kaputte Familie
Beziehungsprobleme der Eltern, Scheidung
Mangelnde Vorbereitung aufs Leben
Fehlen von Autorität
Tab. 6: fördernde und gefährdende Bedingungen für SG
13
07
05
04
03
02
01
Die gefährdenden Bedingungen wurden vor allem in der Frage 7, der Frage nach den
häufigsten und gravierendsten Gefahren für die psychische Gesundheit angegeben.
Auch hier lässt sich gut ein Bezug zur Theorie herstellen, und zwar im Vergleich mit dem
Circumplexmodell der Bedingungen ( Abb. 1, S. 12), indem Becker das direkte Verhalten der
bedeutenden Bezugsperson (Eltern) gegenüber der Person (Kind) beschreibt. Eine
Übereinstimmung von Theorie und Praxis, die von den Experten verkörpert wird, sehe ich vor
allem in folgenden vier der Oktanten von Becker:
Dimension des Verhaltens der
Bezugsperson nach Becker:
Begriffe von Experten:
Bedingungen für hohe seelische Gesundheit
Wertschätzung (achten, annehmen, Liebe Geborgenheit, Sicherheit, angenommen
zeigen, Verständnis zeigen, Hilfe anbieten, sein, Selbstwertvermittlung, Trost,
vertrauen,...)
Unterstützung
Fördernde Anleitung (anleiten, anregen,
Fördern, Lernen, Fördern von
helfen, behüten, beschützen,
Kompetenzen, stärkender Hintergrund,
unterrichten,..)
Unterstützung, Selbständigkeit fördern
Bedingungen für niedrige seelische Gesundheit (Gefahren)
Geringschätzung (Desinteresse zeigen,
Mangelnde Zuwendung und Liebe,
verletzten, demütigen, quälen, misstrauen, Mangelnde Bildung von Urvertrauen,
ablehnen,..)
Gewalt, Missbrauch
Vernachlässigung (vernachlässigen,
Vernachlässigung, fehlen von Autorität
gleichgültig sein, seinen Pflichten nicht
nachkommen,..)
Tab. 7: Vergleich zwischen Becker / Experten zu Bedingungen für SG
Man sieht in diesen Bedingungen eine hohe Übereinstimmung zwischen der
wissenschaftlichen Theorie und der Meinung der Experten. Widersprüchliche Aussagen
bezüglich fördernden vs. gefährdenden Bedingungen gibt es bei dieser Erhebung nicht.
In Frage 10 habe ich verschiedene Faktoren für innerfamiliäre Umwelt angegeben und um die
Bewertung auf einer Skala von 1 – 10 gebeten (1=unwichtig, 10= sehr wichtig).
Kriterium
Bindung / Beziehung
Erziehung / Erziehungsstile
Umwelt (innerfamiliär)
Tab. 8: Auswertung innerfamiliärer Kriterienkatalog
Bewertungsdurchschnitt
9.89
8,04
8,13
Insgesamt bestätigt das Ergebnis der Expertenmeinung eine hohe Bedeutung der
interfamiliären Umwelt für die Entwicklung seelischer Gesundheit, was ja mit der Theorie
übereinstimmt.
Außerfamiliäre, soziale Umwelt
Becker schenkt den Umweltbedingungen nur systemische Beachtung. Er geht davon aus, dass
jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, seine Umwelt – zumindest in bestimmten Grenzen – selbst
zu beeinflussen. Er behandelt die Frage, worin sich die Umwelten von Personen mit hoher
und niedriger Gesundheit unterscheiden. Er geht aber nicht darauf ein, welche objektiven oder
subjektiv wahrgenommenen Umweltbedingungen sich positiv oder negativ auf die
Entwicklung der seelischen Gesundheit von Menschen auswirkt. Anders sieht es in der
Expertenbefragung aus. Hier geht es um die Erfassung konkreter Bedingungen der Umwelt,
die als Unterstützung oder als Gefahr gesehen werden. Die Experten sollten in Frage 7 die
häufigsten und gravierendsten Gefahren nennen, in Frage 3 die förderlichen Bedingungen,
die sie im Bezug auf seelische Gesundheit als wichtig erachten:
Als häufigste und gravierendste Gefahren wurden folgende genannt:
Live events3
Unfall
Tod
Schicksalsschlag
Scheidung, Trennung
Andauernde Belastungen
05
06
05
05
Stress, Überforderung, Leistungsdruck
Arbeitslosigkeit, Verlust der Arbeitsstelle
Seelische Gewalt (Mobbing)
schlechtes, instabiles Umfeld, schwere
Lebenssituation
Traumatische Erlebnisse 02 Ablehnung durch andere
Gewalt, Missbrauch
07 Einsamkeit, Isolation
Tab. 9: Gefahren in der soz. Umwelt für SG
10
06
05
05
05
03
Als positive, inhaltliche Aspekte einer fördernden Umwelt wurden genannt:
stabile, ausgeglichene, harmonische Umwelt, gesund, fördernd
Freunde, menschliche Beziehungen, Kommunikation, eingebunden, anerkannt
Günstige Bedingungen: Beruf, Ausbildung, Wohnsituation
Liebe, Sex
14
12
04
04
3Live events sind kritische, unvorhersehbare Lebensereignisse, die eine hohes Maß an Lebensveränderung mit
sich bringen und das bislang aufgebaute Person-Umwelt-Passungsgefüge bedrohen.
sinnvolle Aufgaben, Arbeit
Tab. 10: fördernde Aspekte der soz. Umwelt
03
Es ergibt sich an dieser Stelle die Frage, inwieweit der Mensch nun Verantwortung trägt oder
Möglichkeiten hat, auf seine Umwelt einzuwirken, bestimmte Umwelten aufzusuchen oder zu
meiden. Diese Frage habe ich so konkret nicht gestellt, ich verweise hier auf Frage vier, in der
nach der Selbstverantwortung für den Erwerb eines positiven Selbstkonzeptes gefragt wurde.
Bezüglich Selbstverantwortung und Umwelt gibt es in den Fragebögen folgende Aussagen:
Selbstverantwortung wurde ab einem bestimmten Lebensalter angegeben: zwei der Befragten
sind der Meinung, dass Selbstverantwortung ab dem 7. Lebensjahr beginnt, zehn Experten
nannten die Pubertät als Beginn dafür und drei das 18. Lebensjahr. Eine Lebenslange
Selbstverantwortung, entsprechend der Entwicklung gaben vier Experten an.
Es werden folgende Bereich angegeben, für die die Experten Selbstverantwortung und
Einflussmöglichkeiten des Einzelnen sehen:
Aufbau eines unterstützenden sozialen Umfeldes (Familie, Freunde)
Entscheidung für den rechten Weg (Familie, Beruf)
sich helfen und behandeln lassen, prof. Hilfe in Anspruch nehmen
„Jeder ist seines Glückes Schmied“
Tab. 11: Selbstverantwortung für SG
4
4
4
1
Es gibt also insgesamt 13 Angaben für Selbstverantwortung mit einer Gegenstimme, die das
Schicksal als alleinverantwortlich bewertet. Daraus ließe sich schließen, dass die Experten
durchaus Selbstverantwortung bzw. Einflussmöglichkeiten auf ihre Umwelten sehen. Da die
Frage aber nicht spezifisch darauf gerichtet war, sehe ich die Gefahr, zu spekulativ und
interpretativ auszuwerten, deshalb möchte ich es nicht weiter verfolgen.
Zusammenfassend stelle ich fest, dass die Bedeutung der sozialen Umwelt durchaus hoch
eingeschätzt wird als Bedingungsfaktor für seelische Gesundheit, im Vergleich zur
innerfamiliären Umwelt (8,13) nur weniger als einen Bewertungspunkt geringer (Frage zehn
wurde zu dem Aspekt „unmittelbares soziales Umfeld (Verwandte, Freunde, Kollegen)“ mit
durchschnittlich 7,42 bewertet).
Ein unmittelbarer Vergleich der Ergebnisse zwischen Theorie und Expertenmeinung lässt sich
an dieser Stelle leider nicht vornehmen, da die Betrachtungsperspektiven zu unterschiedlich
waren (Theorie – systemisch, Experten – inhaltlich).
Persönlichkeitsmerkmale
Becker hat Persönlichkeitseigenschaften anhand des Trierer Persönlichkeits-fragebogens
ermittelt. Dieser Studie hat er allerdings eine Forschungsarbeit vorangestellt, die zu einem
weitgehend übereinstimmenden Begriffsverständnisses führen sollte. Er hat vor allem die
engeren Eigenschaftsbegriffe in Sprachverständnis befragter Personen verglichen, was
verstehen Menschen z. B. unter dem Merkmal „Extraversion“? Er hat dann jene als
Unterbegriffe verwendet, die am übereinstimmendsten genannt wurden.
Auch in meiner kleinen Untersuchung tauchte in den persönlichen Gesprächen mit den
Experten immer wieder Unklarheit bezüglich des Begriffs Persönlichkeits- eigenschaften auf.
Es war nicht klar, ob es eine Charaktereigenschaft oder ein Wesenszug ist oder ob
Optimismus und Pessimismus damit gemeint sind usw. Ich gebe daher zu bedenken, dass
diese Unklarheit das Ergebnis möglicherweise beeinflusst hat. Dafür, dass dieser Begriff den
Befragten nicht klar war, spricht auch, dass dieser Begriff in den offenen Fragen nicht mehr
direkt aufgegriffen wurde.
In Frage 1 wurde von den fünf genannten möglichen Ursachen für seelische Gesundheit das
Persönlichkeitsmerkmal mit 13 Nennungen an vierter Stelle platziert – punktgleich mit dem
Faktor Schicksal.
In Frage drei wurden als Faktoren, die die seelische Gesundheit positiv beeinflussen, unter
anderem Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, optimistisches Wesen, Humor und
Durchsetzungsvermögen genannt. Dies kann in etwa den Persönlichkeitseigenschaften
zugeordnet werden. Speziellere Aussagen zu dem Begriff gab es nicht.
An dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig eine exakte, klare Begriffsklärung als
Voraussetzung für die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Arbeit ist.
Biologische Faktoren
In der Theorie von Becker, die die Grundlage meiner Arbeit ist, wird zwar immer wieder
erwähnt, dass der genetische Faktor wichtig ist, er wird aber nicht näher behandelt und
beschrieben. Ebenso ist es bei den Experten. Bei den direkten Fragen nach der Wertung der
genetischen Disposition werden relativ hohe Zahlen erreicht, in den offenen Fragen wird aber
nur selten und knapp darauf eingegangen:

In Frage eins wird die Möglichkeit, dass psychische Gesundheit genetisch determiniert
ist, mit 23 Nennungen als drittstärkste angegeben, hinter Erziehung und Umwelt
(jeweils 27 Nennungen).

In Frage drei bezüglich der wichtigsten Voraussetzungen wurde dreimal Erbanlage
genannt und dreimal Freiheit von schwerwiegenden, körperlichen Störungen.

In Frage vier wurde die Selbstverantwortung dreimal verneint mit der Begründung der
genetischen Determination.

In Frage sieben wird genetische Vorbedingung bzw. -belastung dreimal als
Risikofaktor genannt

Das Thema Hormone wurde nur einmal mit einer Nennung in Frage vier
angesprochen, hier wurde die Menopause als kritische Phase erwähnt.
Ich führe diese Ergebnisse darauf zurück, dass die Experten in ihrem Berufsalltag mit dem
aktuellen, sozialen Leben zu tun haben und nicht mit Vererbungslehre. Hätte ich diese Fragen
Genetikern gestellt, wäre das Schwergewicht vermutlich genau umgekehrt gelagert gewesen.
Aber selbst die Ergebnisse der zahlreichen neuersten Forschungs- ergebnisse bezüglich
Genetik und Funktion des Zentralnervensystems können ihre Aussagen nie mit Sicherheit
treffen. Es geht dann um Annahmen, die nahe liegen, aber nicht bewiesen werden können, um
an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeiten, usw.
„Meine Hypothese“:
Nun komme ich zur Überprüfung der Hypothese, dass es geschlechts- und / oder
berufsspezifisch unterschiedliche Bewertungen der einzelnen Bedingungsfaktoren für
seelische Gesundheit gibt. Anhand von fünf ausgewählten Faktoren (siehe Frage 10), die als
maßgeblich für die Entstehung seelischer Gesundheit angegeben wurden, werde ich in der
folgenden Tabelle die Bewertungsergebnisse von Frauen und Männern, von Sozialpädagogen
und den Experten aus anderen Berufsgruppen gegenüberstellen:
Geschlechts- und berufsspezifische Bewertungsunterschiede
Aspekt:
Bindung, Beziehung
Erziehung, -stile
Umwelt (Freunde, ...)
Genetische Präposition
Frauen
8,84
8,23
7,09
7,09
Männer
9,00
7,82
7,66
6,33
DurchSoz.-Päd. Andere
Schnitt
Berufe
8,92
9,00
8,90
8,04
7,87
8,04
7,42
8,08
7,16
6,76
7,43
6,50
Hormone
6,18
Tab. 12: Bewertungsunterschiede
6,33
6,26
6,57
6,15
Wie wir sehen sind die Unterschiede jeweils geringer als ein Bewertungspunkt untereinander
und geringer als 0,5 Punkte zum allgemeinen Durchschnitt.
Die Differenzen zwischen den Individuen einer Geschlechts- bzw. Berufsgruppe hingegen
waren höher: sie lagen zwischen 3 und 10 auf der Bewertungsskala bezüglich den einzelnen
Faktoren (ausführliche Skala mit Einzelaufstellung ist im Anhang II hinterlegt).
Also wird klar, dass es keine nennenswerten Bewertungsunterschiede gibt. Die Hypothese
einer geschlechts- oder berufsspezifischen Wertung hat sich zu dem Thema: Bedingungen für
seelische Gesundheit erübrigt.
4
Zusammenfassender Vergleich und Wertung
Die Experten, die ich befragt habe, hatten, wie wir gesehen haben, ähnliche Meinungen wie
die Theoretiker, die oben besprochen wurden.
Am eindeutigsten konnte die Übereinstimmung bezüglich der seelischen Gesundheit
allgemein und der innerfamiliären Bedingungen und ihrer Bedeutung herausgearbeitet
werden.
Als unterschiedlich sind die Sichtweisen, die Perspektiven von denen aus die einzelnen
Aspekte des Themas betrachtet und bearbeitet wurden, zu erkennen. Während die
Wissenschaftlicher möglichst allgemeingültig, möglichst alle Bereiche miteinschließend
vorgehen, haben die Experten, neben ihrer theoretischen Ausbildung, vor allem ihre
praktische Umsetzung in der alltäglicher Beziehungsarbeit und die konkrete Gestaltung der
unmittelbaren Umwelt an ihrem Arbeitsplatz mit speziellen Personen als Grundlage ihrer
Erkenntnisse. Das wurde besonders in der unterschiedlichen Beschreibung der
Umweltbedingungen deutlich. Während für die Methodik des Wissenschaftlers Becker die
abstrakte, systemische Betrachtungsweise im Vordergrund steht, sind für die Experten die
konkreten, praktischen Inhalte wichtig.
III
Resümee und Ausblick
Zum Abschluss dieser Arbeit werde ich nun die erarbeiteten Aspekte zusammenfassen und
versuchen, einen Ausblick zu geben vor dem Hintergrund eines kurzen Rückblicks auf die
Geschichte.
1
Meine Fragen und Erkenntnisse aus Theorie und Expertenmeinung
Nach der Beschäftigung mit Theorien von Wissenschaftlern und Sichtweisen von Fachleuten
aus der Praxis stelle ich noch mal die Fragen: „Was aber ist nun seelische Gesundheit?“ und
„Was braucht der Mensch um seelisch gesund zu sein?“
Das Leben selbst ist weder ein „Zustand“ noch begrenzt auf einen oder wenige Faktoren, es
ist ein fortwährender Prozess dynamischer Interaktion zwischen den Dimensionen genetische
Ausstattung und Umwelt. Seelische Gesundheit ist ein wichtiger Teilaspekt in der
individuellen Lebensgeschichte jedes Menschen, er entwickelt sich in Abhängigkeit und
Bedingtheit mit allen anderen Subsystemen des komplexen „Modells Mensch“.
Bereits bei der Zeugung wird die genetische Ausstattung festgelegt, das Erbgut setzt sich zu
50% von der Mutter und zu 50 % vom Vater zusammen. Warum aber können Geschwister
dann so verschieden sein? Weil neben den festgelegten, typischen genetischen Merkmale der
„Rasse Mensch“, gehäuft ähnliche Merkmale innerhalb der Verwandtschaft aber eben auch
ganz individuelle, niemals ganz gleiche bei jeder Person wirksam werden. So hat die
Zwillingsforschung z.B. bei eineiigen Zwillingen (die eine 100%ige genetische
Übereinstimmung haben) festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass beide psychisch
erkranken, nur bei ca. 50% liegt (vgl. Bourne, et al, 2001, 35)
Die genetische Determinante halte ich für schicksalhaft.
Der menschliche Einflussbereich „Umwelt“ beginnt aber bereits für den Embryo im
Mutterleib. Die Gefühle, wie Ängste und Freude oder aber Krankheit und Not, wirken auf das
noch ungeborene Leben ein. Der neugeborene Mensch ist – im Gegensatz zu den Tieren –
sehr mangelhaft mit Instinkten ausgestattet, er ist darauf angewiesen zu lernen um zu
überleben. Die Voraussetzung dafür gibt ihm das genetisch festgelegte Zentralnervensystem,
mit einer unbegrenzten Kapazität an Aufnahme- , Verarbeitungs- und Speichermöglichkeit für
Umweltreize. Um es in der Computersprache zu formulieren: Die „Hardware“ ist also
angeboren, die „Programmierung“ bzw. „Software“ findet durch die Interaktion mit der
Umwelt statt.
Ich stimme mit der Theorie völlig überein, dass die familiären Umweltbedingungen in den
ersten Lebensjahren besonders prägend sind. Diese wird sowohl von Psychologen, Genetikern
wie auch von Gehirnforschern und „meinen“ Experten vertreten. Die Entwicklung von
Persönlichkeitseigenschaften, von Kompetenzen und vom Selbstkonzept insgesamt, erfährt in
dieser sensiblen Phase die tiefsten Prägungen, die ursächlich sind für jede weitere
Entwicklung. Dabei halte ich das grundlegende und natürliche Angenommenwerden, die
Liebe, die Wertschätzung und Verlässlichkeit für die wichtigste Dimension. Eine damit
erworbene emotionale Befriedigung und Stabilität („Urvertrauen“) begünstigt in der Folge
auch den Erwerb von Fähigkeiten, Kompetenzen und Selbständigkeit, der ein ganzes Leben
lang progressiv bleiben soll.
Ein so positiv „ausgestattetes“ Kind wird auch seine weiteren Umweltbedingungen
grundsätzlich positiv beeinflussen können und eher günstige Umwelten (Freunde, Gruppen,
Freizeitaktivitäten,...) aufsuchen. Daraus entwickelt sich ein positiver Kreislauf, der sich
fortsetzten kann, wenn er nicht durch besondere Belastungen, wie Dauerstress, traumatische
Erlebnisse, schwere Schicksalsschläge oder schwere Krankheit / Unfall gefährdet oder
unterbrochen wird. Aber auch die Krisenbewältigung ist wieder abhängig von der sozialen
Erfahrung, von erlernten Konfliktlösestrategien durch günstige oder ungünstige Modell in der
Vergangenheit und in Abhängigkeit der auch genetisch beeinflussten Verletzlichkeit.
Doch die Frage stellt sich, warum bestimmte Belastungen, z.B. Stress bei dem einen
Menschen eine psychische oder somatische Krankheit auslösen und bei dem anderen nicht?
Vielleicht hatten beide auch noch eine etwa gleich „gute oder schlechte“ Kindheit? Diese
Frage möchte ich mit Hilfe des Vulnerabilitätskonzept bzw. Diathese – Stress - Modells
anschaulich beantworten:
Dieses Modell veranschaulicht, wie die beiden Grundfaktoren, also die genetische
Ausstattung und die psychosozialen Umwelteinflüsse zum einen untereinander in
dynamischem Prozess stehen und wie zum Andern aus beiden die individuelle Verletzlichkeit
(Neigung, Bereitschaft) des Menschen entsteht, durch Stress (andauernde belastende
Umstände oder plötzliche Schicksalsschläge) die seelische Gesundheit zu beeinträchtigen
oder zu verlieren (dauerhaft oder vorübergehend).
Das Vulnerabilitätskonzept oder Diathese – Stress - Modell:
Angeborene und erworbene
Psychosoziale Einflüsse
biologische Einflüsse
Verletzlichkeit
(Neigung, Bereitschaft)
hohe
niedrige
Stress
Person A: leichte oder
schwere Erkrankung
Stress
Person B: keine bis
leichte Erkrankung
Abb. 5
Ebenso ist die Höhe der Verletzlichkeit kein stabiler Faktor, er verändert sich im Laufe des
Lebens eines Menschen, abhängig von der Veränderung der Einflussfaktoren und ihrer
Wechselwirkung untereinander.
So lange sich der dynamische Prozess unseres Lebens um einen stabilen Mittelwert bewegt,
sind wir seelisch gesund.
2
Blick zurück in die Geschichte und Ausblick
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ermöglicht uns ein Blick in die Geschichte eine
Vorstellung davon, wie sich der Begriff der Gesundheit und Krankheit des Menschen, im
Wandel der Zeit verändert hat. Dies betrifft nicht nur die Medizin und die relativ junge
Wissenschaft der Psychologie, sondern auch die Philosophie und später die Soziologie.
Ausschlaggebend für die Bedeutung des „gesunden Menschen“ war nicht zuletzt die Politik
und die Wirtschaft, die maßgeblich an der Bestimmung der ethischen Grundsätzen ihrer Zeit
beteiligt waren.
Aus der Antike ist uns eine philosophisch – medizinische Auffassung überliefert. Von Platon
(427-347 v. Chr.) stammt die Aussage: „Gesundheit ist Harmonie und vernünftige Mischung
der Gegensätze“. Hippokrates (460-380 v. Chr.) vertrat die Lehre der Körpersäfte. Die
richtige Mischung von Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle bestimmen Gesundheit (vs.
Krankheit). Er vertrat bereits die Ansicht, dass Gesundheit und Krankheit Körper und Seele
betreffen. Er legte bei seiner Diagnose wie auch bei seiner Therapie schon großen Wert auf
Umwelteinflüsse und Lebensweise des Menschen. Es herrschte in der Antike die Diskussion
über das kosmologische Modell vor, das besagt, dass der Einzelne faktisch eingebunden in
den Kosmos und seine Gesundheit Teil des Ganzen ist. Zum Anderen aber ist der Einzelne
analog zum Kosmos sozusagen ein eigener Demiurg (Weltbaumeister, Weltenschöpfer), der
in sich ruht und zugleich seine Veränderungen mitbestimmt und somit über seinen Zustand
der Gesundheit verfügt (vgl. Wydler et al, 2000, 24f).
Der Gedanke der Antike wirkt bis ins 16. Jhd. hinein, verfällt dann aber immer mehr, bis am
Ende des 18. Jhd. der Mensch in Mitteleuropa lediglich als ökonomischer Faktor und Objekt
öffentlicher Verwaltungsaktivitäten begriffen und behandelt wird. Die Arbeitskraft des
Einzelnen stellt in der Zeit der Industrialisierung einen wichtigen Faktor für die Vergrößerung
des nationalen Wohlstandes dar. Die Medizin entwickelt enorme technische Fortschritte, und
wird im schlimmsten Fall zur „Reparaturwerkstatt“ (siehe Einleitung). Erst zum Ende des 19.
Jhd. etabliert sich die Psychologie neben den Naturwissenschaften immer mehr und verhilft
der Seele des Menschen wieder zu einem größeren Stellenwert. Im 20. Jhd. entwickeln
bekannte Psychologen verschiedene Schulen (tiefenpsychologische, humanistische,
kognitive,...), die aus verschiedenen Blickwinkeln menschliches Erleben und Verhalten, auch
in Bezug auf seelische Gesundheit und Krankheit erforschen und daraus Therapieformen
gründen.
Seit dem Ende des 20. Jhd. geht man dazu über, diese einzelnen Sichtweisen weiter zu
entwickeln und zu einer ganzheitlichen Sicht des Menschen zu verbinden und auch
entsprechend für die Psychotherapie zu verwenden (vgl. Becker u. Wagner, 1999, 9)
In Zukunft wird sich die Psychologie wie auch die Medizin meiner Meinung nach weiter auf
eine ganzheitliche Sichtweise des Menschen und auf eine noch stärkere Beachtung seiner
seelischen Gesundheit hin entwickeln.
Nicht nur erfreuliche, sondern auch (ethisch) bedenkliche Fortschritte erwarte ich im Bereich
der Biologie, vor allem der Genforschung. Ich finde die Frage beunruhigend, inwieweit es der
Wissenschaft gelingen wird, die genetisch Ausstattung zu gestalten.
Im Bezug auf die sozialen Umweltbedingungen für seelische Gesundheit befürchte ich, dass
wir einen positiven „Höhepunkt“ bereits überschritten haben. Der Sozialstaat, der allen
Staatsbürgern möglichst gleiche Bedingungen schaffen sollte, wird abgebaut. Die Hilfen für
sozial Schwächere, für Menschen, die aus eigener Kraft nicht für gute wirtschaftliche und
soziale Bedingungen sorgen können, werden gekürzt.
Wie aus Theorie und Expertenmeinung hervorgeht, ist der Arbeitsplatz ein wichtiger
Umweltbereich für die Sicherung seelischer Gesundheit im Hinblick auf die Sicherung der
Existenz wie auch im Bereich der Selbstverwirklichung und Befriedigung von internen
Anforderungen ( siehe Beispiel Arbeitswelt, S 11)
Die zunehmende Arbeitslosigkeit betrifft vor allem auch junge Menschen, die keine
Möglichkeit haben eine entsprechende Ausbildung oder Lehre zu machen. Ihre seelische
Gesundheit ist dann in der wichtigen Phase des Übergangs ins Erwachsenenlebens besonders
gefährdet. Sie werden beträchtliche Schwierigkeiten hinsichtlich Sinn- und Zielfindung
haben. Ihre Möglichkeiten für Selbstaktualisierung, Aufbau von Selbstwertgefühl, soziale
Anerkennung und Integration sind stark eingeschränkt bis unmöglich. Es besteht für so
benachteiligte Jugendliche eine erhöhte Gefahr eines erhöhten Risikoverhaltens (Drogen,
Gewalt, Kriminalität, Prostitution,...). Aber auch für Erwachsene, seelisch gesunde Menschen,
bedeutet häufig der Verlust des Arbeitsplatzes nicht nur eine wirtschaftliche und existenzielle
Notlage sondern auch eine soziale Ausgrenzung, und stellt damit eine Gefährdung für die
Betroffenen und ihrer Familien dar.
Ich kann nur hoffen, dass sich unsere Gesellschaft nicht zu weit von dem Wert der sozialen
Gerechtigkeit entfernt und dem Berufsstand der Sozialpädagogen weiterhin die (finanzielle)
Möglichkeit gegeben wird, da ausgleichend tätig sein zu können, wo Menschen aufgrund
körperlicher, geistiger, psychischer oder sozialer Handicaps nicht in der Lage sind,
selbständig für sich Bedingungen zu schaffen, die ihre seelische Gesundheit ermöglichen.
Zum Abschluss möchte ich noch Dank sagen an meine Arbeitskolleginnen und Kollegen, für
ihre nette Mitarbeit in Form der sehr ausführlich beantworteten Fragebögen. Ohne “meine
Experten” wäre diese Arbeit so nicht möglich gewesen.
3 Literaturhinweise:
Becker Peter, 1995, Seelische Gesundheit und Verhaltenskontrolle
Göttingen, Bern, Toronto, Seattel, Verlag für Psychologie, Hogrefe
Wagner Rudolf F u. Peter Becker (Hrsg.), 1999, Allgemeine Psychotherapie
Göttingen, Bern, Toronto, Seattel, Verlag für Psychologie, Hogrefe
Wiswede Günter, 2004, Lexikon der Sozialpsychologie,
München, Lion, R. Oldenbourg Verlag
Wydel Hans, Petra Kolip, Thomas Abel (Hrsg.) 2000, Salutogenese und Kohärenzgefühl,
Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissenschaftlichen Konzepts
Weinheim und München, Juventa Verlag
Nolting Hans-Peter, Peter Paulus 1999, Psychologie lernen, eine Einführung und Anleitung
Weinheim und Basel, vollständig überarbeitete Neuausgabe, Beltz Verlag
Bourne L. und B. Ekstrand, 2001, Einführung in die Psychologie,
Eschborn bei Frankfurt am Main, Verlag Dietmar Klotz
Schwarzer R., M. Jerusalem, H. Weber (Hrsg.) 2002, Gesundheitspsychologie von A bis Z,
ein Handwörterbuch, Göttingen (u.a.) Hogrefe Verlag
Thule von Uexkül, et al, 2003, Psychosomatische Medizin
München, Jena, Urban u. Fischer Verlag
Netolitzki Hansjörg, Paul L. Janssen 1987, Neurologie und Psychiatrie in Frage und Antwort
Stuttgart, New York, Georg Thieme Verlag
Höfer Renate, 2000, Jugend, Gesundheit und Identität, Studien zum Kohärenzgefühl,
Opladen, Leske und Buderich
Olbrich R. (Hrsg.) 1990, Therapie der Schizophrenie
Stuttgart, Berlin, Köln, Kohlhammer
Internet:
http://www.famielenhandbuch.de/cmain/a_Hauptseite.html (Stand am 11.10.04)
http://www.psychotherapie-prof-bauer.de/selk.htm (Stand am 14.10.04)
http://www.weltgesundheitstag.de/2001/Themen/pott.html (Stand am 14.10.04)
Zeitschrift:
Gehirn und Geist, 2/2004, das Magazin für Psychologie und Hirnforschung,
vom Verlag: Spektrum der Wissenschaft, vorhanden im Lesesaal der FH-Bibliothek
Fragebogen für Profis aus der Psycho-Sozialen Versorgung zum Thema:
„ Psychische Gesundheit – Schicksal oder Persönlichkeitsmerkmal“
Angaben zur Person (freiwillig): Alter: ....................,
Geschlecht: .............................
Erlernte(r) Beruf(e): .....................................................................................................................
Ausgeübte(r) Beruf / Tätigkeit:.....................................................................................................
.........................................................................................seit: ......................................................
1.) Ist psychische Gesundheit:  Schicksal
 Persönlichkeitsmerkmal
 Genetisch determiniert
 Ergebnis von Erziehung (Elternhaus)
 Ergebnis von Lernerfahrung im sozialen Umfeld
2.) Was ist psychische Gesundheit überhaupt?
3.) Was sind die wichtigsten Voraussetzungen, Bedingungen, Faktoren, etc. für seelische
Gesundheit?
4.) Inwieweit ist der Mensch selbst verantwortlich für seinen Erwerb eines positiven
Selbstkonzeptes? (in welchem Alter?)
5.) Bedeutung der Familie und des sozialen Umfeldes?
6) Wie können Pädagogen positive, förderliche Prozesse unterstützen und konstruktiv auf die
Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen einwirken?
7.) Was sind aus Ihrer praktischen Erfahrung heraus die häufigsten oder gravierendsten
Gefahren für die psychische Gesundheit?
8.) Ist jeder Mensch potentiell gefährdet seine seelische Gesundheit zu verlieren?
9.) Erkennen Sie ein Lebensalter, das für Entwicklung / Erhalt der seelischen. Gesundheit
besonders wichtig ist? Gibt es ein Alter, indem sie nicht mehr gefährdet ist?
10.) Im folgenden Abschnitt bitte ich Sie, die angegebenen Kriterien (aus der Fachliteratur )
nach einer Werteskala von 1 bis 10 zu beurteilen (1= unwichtig, 10=sehr wichtig), auch für
Anmerkungen dazu bin ich dankbar:
 Entwicklungspsychologische Aspekte:









Bindung/ Beziehung zwischen Eltern u. Kind
Erziehung / Erziehungsstile
Befriedigung von Grundbedürfnissen
Befriedigung von erworbenen Bedürfnissen („Zivilisationsbedürfnisse“)
Positive Bewältigung der Entwicklungsphasen
Selbstaktualisierungsmöglichkeit
Umgang mit Emotionen
Vermittlung von Werten, Normen, Regeln
Soziales Umfeld (Lernprozesse, Modelle, Vorbilder,..)
 Genetische Aspekte:



Genetische Präposition
Hirnorganische Disposition
Hormone
 Umweltfaktoren:




Unmittelbares Soziales Umfeld (Verwandte, Freunde, Kollegen)
Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsschicht / Kulturkreis
Häufiger Wechsel des Umfeldes (durch Umzug, etc.)
Traumatische Erlebnisse (Missbrauch, Gewalt, ......
11.) Welche weiteren Aspekte sind Ihrer Meinung / Erfahrung nach noch wichtig für dieses
Thema, die in meinen Fragen nicht berücksichtigt wurden?
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