Fachhochschule Fulda - Fachbereich Sozialwesen Vordiplomarbeit Seelische Gesundheit Eine Studie zum Vergleich von Theorie und „Experten“ - Meinung Vorgelegt von: Lucia Wübbeling Lärchenweg 10 84453 Mühldorf [email protected] Matrikel-Nr.: 120199 Referent: Prof. Dr. Christian Schulte-Cloos Koreferent: Prof. Dr. Michael Wolf Fulda, Dezember 2004 Seelische Gesundheit – eine Studie zum Vergleich von Theorie und Expertenmeinung 1 Einleitung 1 I Theorie 2 Was ist Seelische Gesundheit? 3 2.1 Der Begriff allgemein – verschiedene Erklärungsansätze 3 2.2 Eine Theorie der seelischen Gesundheit (nach Becker) 5 3 Bedingungen für Seelische Gesundheit 10 3.1 Innerfamiliäre Umwelt – Erziehung 11 3.2 Außerfamiliäre soziale Umwelt 16 3.3 Persönlichkeit 18 3.4 Biologische Faktoren 21 4 Zusammenfassung 25 II Expertenmeinung 1 Einleitung und Datenerhebung zur Stichprobe 26 2 Ergebnisse: Was ist Seelische Gesundheit? 28 3 Ergebnisse: Bedingungen für Seelische Gesundheit 30 4 Zusammenfassender Vergleich und Wertung 36 III Resümee und Ausblick 1 Erkenntnisse aus Theorie und Expertenmeinung 37 2 Blick zurück und Gedanken über die Zukunft 39 3 Literaturhinweis: Anhang: I Fragebogen II Auswertungstabellen Seelische Gesundheit – eine Studie zum Vergleich von Theorie und „Expertenmeinung“ 1 Einleitung Seelische Gesundheit ist ein sehr zentrales und wichtiges Thema im Leben eines jeden Menschen. Schon allein die Zunahme von Gesundheitstipps, (pseudo-) psychologischen Themen und die Diskussion in allen Medien – auf unterschiedlichem Niveau - zeigt ein hohes Interesse der Gesamtbevölkerung daran. Ich persönlich habe mich für dieses Thema entschieden, weil ich den Ansatz den Blick auf das Gesunde und Positive im Menschen zu richten, sympathisch, interessant und überzeugend finde. Ich war in meiner fast 25jährigen beruflichen Praxis als Erzieherin, da ich mit Menschen mit Behinderung, Störungen, besonderen Problemen etc. gearbeitet habe, wohl häufig auf das Kranke, Schwache, Fehlende konzentriert. Darin birgt sich meiner Erfahrung nach die Gefahr für Pädagogen reparieren, ausbessern und umändern zu wollen, wo es doch viel besser und wirkungsvoller ist zu stärken, zu fördern, aufzubauen und zu loben. Interessant finde ich dieses Thema auch vor dem Hintergrund der enormen Entwicklung in der Fachwelt der Medizin und Psychologie zum Thema Gesundheit und Krankheit. Während z.B. im 19. Jhd. die Medizin sehr stolz auf ihre Forschungsergebnis im Bereich der Anatomie des menschlichen Körpers war und sich als erfolgreiche „Reparaturwerkstatt“ präsentierte, hatte die Psychologie noch nicht viel entgegen zu setzen. Auch die Menschen, die aufgrund psychischer und/oder sozialer Probleme in der Gesellschaft, vor allem in der Arbeitswelt nicht „funktionierten“ und für kriegerische Einsätze nicht „taugten“, sollten in den Arbeitshäusern „repariert“ werden. Es zählte alleine die Funktionalität des Menschen im Hinblick auf die stark vaterländisch orientierte Politik dieser Zeit. Im 20. Jhd. entwickelte sich die Psychologie und eroberte sich als Geisteswissenschaft einen gleichberechtigten Status neben den Naturwissenschaften, was nicht nur in der Medizin, sondern auch allmählich in der Gesamtbevölkerung ein Umdenken bewirkte. Die WHO definierte 1946 erstmals den Gesundheitsbegriff neu: „als Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als die Abwesenheit von Krankheit“ (www.weltgesundheitstag.de/2001/Themen/pott.html) Diese öffentliche Distanzierung von der ausschließlich biologisch-medizinischen Sichtweise erregte damals viel Kritik. Aber der Trend zum Paradigmenwechsel vom biomedizinischen Modell zum biopsychosozialen Modell setzte sich durch und führte zu einer ganzheitliche Sichtweise des Menschen, sowohl in der Psychologie als auch zunehmend in der Medizin. Hintergrund meiner Arbeit sind im wesentlichen zwei Fragen: „Was ist eigentlich seelische Gesundheit“ und „welche Voraussetzungen, Bedingungen ermöglichen seelische Gesundheit.“ Ich werde zuerst aktuelle Theorien der Wissenschaft vorstellen, wobei ich mich dabei hauptsächlich auf Becker (1995) beziehe, weil mir seine Darstellung am anschau-lichsten und ausführlichsten erscheint. Im folgenden Abschnitt werde ich die Aus-wertung meines Fragebogens darlegen, den ich bei Fachleuten aus der Praxis der psychosozialen Betreuung erhoben habe und werde ihn in Verbindung mit der Theorie setzen. Im abschließenden Resümee werde ich kurz meine Erkenntnisse aus Theorie und Expertenmeinung skizzieren und versuchen die beiden Ausgangsfragen zusammenfassend zu beantworten. Problematisch war für mich den großen Umfang dieses Themas in das knappe Format einer Vordiplomarbeit zu zwängen. Ich habe aus der Vielzahl interessanter Teilaspekte jene ausgewählt, die ich zur Bearbeitung dieses Themas für grundsätzlich relevant halte. I 2 Theorie Was ist seelische Gesundheit? Der Begriff der „seelischen Gesundheit“ ist ein sehr weitreichender, deshalb werde ich der Begriffsklärung das nächste Kapitel widmen. Ich stelle zuerst einige Definitionen bekannter Fachleute und dann die ausführliche Theorie von Becker vor. 2.1 Der Begriff allgemein und aus verschiedenen Sichtweisen der Fachwelt Allgemein wird der Begriff Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriff folgendermaßen definiert: „Gesundheit und Krankheit sind keine einheitlichen Begriffe, sondern stellen immer eine bestimmte individuell und soziale Konstruktion der Wirklichkeit dar. Nach Faltermaier (1994), der verschiedene Bestimmungsstücke für eine Konzeption des Begriffes Gesundheit zusammengetragen hat, bedeutet Gesundheit einen bestimmten körperlichen und psychischen Zustand des Individuums, der von einer relativen Freiheit von Beschwerden, Beeinträchtigungen und Krankheit gekennzeichnet ist, sich jedoch nicht allein darauf beschränkt. Gesundheit ist zudem ein Teil der Identität einer Person und setzt von Seiten des Individuums Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion voraus. Weil sich das Individuum in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt ständig verändert, muss Gesundheit immer wieder hergestellt werden. So wird deutlich, dass Gesundheit nicht als statischer Zustand gesehen werden kann, sondern vielmehr als Prozess. Von einer systemtheoretischen Perspektive aus betrachtet, ist ein Individuum dann als gesund zu bezeichnen, wenn es sich in einem dynamischen Gleichgewicht zwischen Person und Umwelt befindet. Diese Person-UmweltInteraktion ist auch ein sozialer Prozess, und somit ist die Gesundheit nicht nur ein auf ein Individuum begrenztes Phänomen, sondern immer nur vor dem Hintergrund des jeweiligen sozialen Kontext verständlich“ (Ziegelmann, 2002 in Schwarzer, 2002, 149). Antonovsky (1987) versteht in seinem Modell der Salutogenese Gesundheit als Kontinuum zwischen den Polen Gesundheit und Krankheit bzw. zwischen den Determinanten (vgl. Wydel, et al, 2000, 99): Hochgesundheit ------ Normalgesundheit ------ Mindergesundheit „Wir sind alle terminale Fälle. Aber solange wir einen Atemzug Leben in uns haben, sind wir alle bis zu einem gewissen Grad gesund“ (Antonovsky, in Wydel, et al, 2000, 99). Becker definiert die seelische Gesundheit im Speziellen: „Seelische Gesundheit ist die Fähigkeit zur Bewältigung externer und interner Anforderungen“ (Becker, 1995, 188). Siegmund Freud soll auf die Frage, welche Fähigkeiten den seelisch gesunden Menschen auszeichnen, geantwortet haben: Lieben und Arbeiten. In dieser Kurzformel steht „Lieben“ für einen genitalen Charakter sowie sexuelle Genussfähigkeit (vgl. Becker, 1995, 200). Fromm (1960, 65) leitet seine Definition seelischer Gesundheit wie folgt ein: „Geistigseelische Gesundheit ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, zu lieben und schöpferisch zu sein. [...]“. An verschiedenen Stellen seines umfangreichen Gesamtwerkes erläutert er, dass er unter Liebesfähigkeit „produktive Liebe“ mit den Attributen Fürsorge für den anderen, Verantwortungsgefühl, Achtung und Verständnis versteht (Fromm, 1980, in: Becker, 1995, 200). Die WHO hat im Laufe der Zeit verschiedene Definitionen für Gesundheit gegeben. 1946 lautete sie „Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechlichkeit.“(http://www.weltgesundheitstag,de/2001/Themen/faltblattpschges. html). Diese Definition wurde damals kritisiert und zu weitgehend empfunden. 2001 formulierte sie spezieller auf seelische bzw. psychische Gesundheit wie folgt: Psychische Gesundheit – Basis unseres Wohlbefindens: „Ich fühle mich leicht und locker, innerlich wohlig warm, bin zufrieden mit mir selbst sowie den Menschen um mich herum und bin voller Lebensfreude. Ich habe das Gefühl, dass nichts auf der Welt mich ernsthaft aus der Bahn werfen kann, dass Probleme lösbar und Rückschläge ver-kraftbar sind.“ (http://www.weltgesundheitstag,de/2001/Themen/faltblattpschges.html Auf den Punkt gebracht meint sie: „Keine Gesundheit ohne Psychische Gesundheit“. (http://www.weltgesundheitstag,de/2001/Themen/faltblattpschges.html). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich im Wesentlichen alle Ausführungen auf den „Zustand seelische Gesundheit“ beziehen, diesen aber in Abhängigkeit setzen von der Fähigkeit des Menschen die Anforderungen des Lebens zu bewältigen. 2.2 Eine Theorie der seelischen Gesundheit (nach Becker) „Seelische Gesundheit ist die Fähigkeit zur Bewältigung externer und interner (psychischer) Anforderungen“ (Becker 1995, 188) Becker unterscheidet zunächst zwischen: der seelischen Gesundheit als Zustand (SGZU): d.h. die aktuelle Befindlichkeit, in Abhängigkeit von förderlichen oder belastenden Lebensbedingungen oder der momentanen Funktions- und Leistungsfähigkeit, sie unterliegt also zeitlichen Fluktuationen und der seelischen Gesundheit als relativ stabiler Eigenschaft (SGE), diese ergibt sich aus dem Mittelwert der Schwingungen des SGZU um ein mittleres Niveau (vgl. Becker 1995, 187). Beim zweiten Punkt gibt er gleichzeitig auch sieben Indikatorenbereiche für Zustände der körperlichen und seelischen Gesundheit, die ich im Folgenden zusammengefasst wiedergebe: - positive vs. negative emotionale Befindlichkeit - hohes Energieniveau vs. Antriebsschwäche - Expansivität vs. Defensivität - Leistungsfähigkeit vs. Funktionsstörungen - Selbsttranszendenz vs. Selbstzentriertheit - Autonomie vs. Hilfesuchen und Abhängigkeit - hohes vs. niedriges Selbstwertgefühl (vgl. Becker 1995, 186) Die Fähigkeit zur Bewältigung externer Anforderungen ist laut Becker wie oben erwähnt sehr wichtig für das Erlangen und Erhalten von seelischer Gesundheit. Externe Anforderungen sind Anforderungen, die von der Umwelt ausgehen. Dies sind zum einen Erwartungen der sozialen Umwelt (Rollenverpflichtungen) und zum anderen Anpassungsleistungen an soziokulturelle Normen sowie ökonomische und physika-lische Kontextbedingungen (vgl. Becker, 1995, 189). Die Umwelt wirkt aber nicht nur auf den Menschen ein, sondern der Mensch auch auf seine Umwelt, er steht also in ständiger Interaktion mit ihr und kann deshalb mitbe-stimmen und sie mitgestalten, z. B. welche sozialen Rollen er übernimmt, welchen beruflichen Anforderungen er sich stellt, etc. (vgl. Becker, 1995, 189). Becker beschreibt zwei Ebenen der Bewältigung von externern Anforderungen: die Ebene der adäquaten Repräsentation der Wirklichkeit und die der Kompetenzen. Zur Ebene der adäquaten Repräsentation der Wirklichkeit gibt er wie auch andere Theoretiker der seelischen Gesundheit zwei Modelle an: das Umweltmodell und das Selbstmodell. Das Umweltmodell: „[...]Unter [den] Theoretikern [...] besteht weitgehender, jedoch nicht vollständiger Konsens darüber, dass ein seelisch Gesunder in der Lage ist, die für ihn handlungsrelevante Umwelt im Großen und Ganzen realistisch wahrzunehmen. Menschen mit psychischen Störungen neigen hingegen zu mehr oder weniger starken Verzerrungen der realen Umweltbedingungen, sei es im Sinne ihrer Wünsche und Befürchtungen oder ihrer unbewussten Motive. Beispiele für Realitätsverzerrungen wären das tiefgreifende, ungerechtfertigte Misstrauen und die Verdächtigungen paranoider Persönlichkeiten, Wahnvorstellungen oder Halluzinationen Schizophrener oder die [...] kognitiven Fehler Depressiver (z.B. willkürliche Schlussfolgerungen oder Personalisierung). Personen mit geringer seelischer Gesundheit (bzw. schlechter Erwachsenenanpassung) verwenden im Vergleich zu solchen mit hoher seelischer Gesundheit häufiger psychotische und unreife Mechanismen (z.B. wahnhafte Projektion, Verleugnung) und seltener reife Mechanismen (z.B. Humor, Antizipation oder Bedürfnisaufschub). Zu derartigen Verzerrungen in bestimmten Bereichen des Umweltmodells kann es aus einer Reihe von Gründen kommen, die insbesondere von Tiefenpsychologen beschrieben wurden. Exemplarisch verweisen wir auf unverarbeitete traumatische Erlebnisse oder auf Erfahrungsmuster und Schemata, die in gestörten Familien erworben wurden und im Sinne einer Generalisierung unbewusst auf neue Situationen übertragen werden.“ (Becker, 1995, 192). Das Selbstmodell: neben der realistischen Einschätzung der Umwelt ist auch die realistische Einschätzung der eigenen Person von großer Bedeutung für die Bewältigung externer Anforderungen. „Es enthält Informationen über die eigene Identität bzw. über das Selbst“ (Becker 1995, 143) Eine weitere Ebene für die Bewältigung externer Aufgaben sieht er in der Ebene der Kompetenzen. „Kompetenzen sind die Verfügbarkeit und angemessene Anwendung von Verhaltensweisen (motorischen, kognitiven und emotionalen) zur effektiven Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssituationen, die für das Individuum und/oder seine Umwelt relevant sind.“ (Sommer, 1977,75; in: Becker 1995, 198) „Ich fühle mich dem Leben und seinen Schwierigkeiten gut gewachsen“ – diese Aussage eines seelisch Gesunden, lässt darauf schließen, dass er über ausreichende Kompetenzen (Ressourcen) verfügt, die internen und externen Anforderungen seines Lebens zu meistern (vgl. Becker 1995, 199). Vergleichbar ist diese Beschreibung mit dem Begriff „Kohärenzgefühl“, das in der Theorie der Salutogenese von Antonovsky wie folgt definiert wird: „....eine globale Orientierung, die zum Ausdruck bringt, in welchem Umfang man ein generalisiertes, überdauerndes und dynamisches Gefühl des Vertrauens besitzt, dass die eigene innere und äußere Umwelt vorhersagbar ist und dass mit großer Wahrscheinlichkeit die Dinge sich so entwickeln werden, wie man sie vernünftigerweise erwarten kann.“ (Antonovsky, 1979, 123; in: Schwarzer, 2002, 267f). Ein anderer, inhaltlich vergleichbarer Begriff wäre die Selbstwirksamkeitserwartung, was die subjektive Gewissheit bedeutet, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenz bewältigen zu können. Dieses Konzept beruht auf der sozial-kognitiven Theorie von Bandura (1997, in: Schwarzer, 2002, 521ff). Neben spezifischen aufgaben- bzw. berufsbezogenen Kompetenzen benötigt ein seelisch Gesunder vor allem soziale Kompetenzen, von denen folgende mir am wichtigsten erscheinen: Liebesfähigkeit: die Bedeutung der Liebesfähigkeit für seelische Gesundheit ist allgemein anerkannt. Während Freud mit dem Begriff „Lieben“ die sexuelle Genussfähigkeit beschreibt, die er für seelische Gesundheit sehr wichtig findet, versteht Fromm sie als produktive „Liebe“ , Fürsorge, Verantwortung und Verständnis für andere. Liebesfähigkeit als soziale Kompetenz bedeutet sich anderen zuwenden, Zuneigung zu zeigen sowie Einfühlsamkeit und Empathie entgegen zu bringen. Und sie ist gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung für die Erhöhung der eigenen Ressourcen. Denn wer Anderen mit Zuneigung und Verständnis für seine Bedürfnisse begegnet, wird auch von ihnen positive Gefühle, Dankbarkeit und Verständnis zurückbekommen, es findet eine wechselseitige Belohnung statt und damit wird die Liebesfähigkeit erweitert. Hier liegt ein positiver Kreislauf vor. Wer aber misstrauisch und ablehnend anderen Menschen begegnet, wird auch selbst wenig Zuneigung und soziale Unterstützung erfahren. Dadurch werden seine mangelnden Ressourcen noch weniger, was zu einem negativen Kreislauf führen kann (vgl. Becker 1995, 200). Dazu ist mir noch ein prägnanter Satz aufgefallen, der lautet: „Menschen, die – begünstigt durch ihre Liebesfähigkeit – über eine gute soziale Integration verfügen, sind vor einer der schlimmsten Quellen von Unzufriedenheit geschützt: der Vereinsamung.“ (Becker, 1995, 202). Selbstwertgefühl: eng verbunden mit der Liebesfähigkeit ist das Selbstwertgefühl. Menschen, die sich selbst achten und lieben, sind auch in der Lage andere zu achten und zu lieben. Hier ergibt sich ein ähnlicher Kreislauf wie bei der Liebe: wer andere achtet und schätzt, wird auch selbst Wertschätzung erfahren, es erfolgt eine gegenseitige Aufwertung oder eben umgekehrt. ( vgl. Becker, 1995, 202) Expansivität, Selbstbehauptung, Durchsetzungsvermögen: hier zeichnen sich Geschlechtsunterschiede ab, während für Männer die Selbstbehauptung wichtiger ist, beschreiben Frauen die Liebesfähigkeit als bedeutender. Aus klinischen Beobachtung geht hervor, dass viele Psychiatriepatienten Angst vor Selbstbehauptung haben. Sozialängste, Phobien und Angstneurosen können Folgen sein (vgl. Becker, 1995, 202ff). Auch die Fähigkeit zur Bewältigung interner Anforderungen ist nach Becker wie oben schon erwähnt sowohl eine Grundvoraussetzung als auch ein Zeichen für die seelische Gesundheit des Menschen. Bei den internen Anforderungen unterscheiden wir zwischen angeborenen Bedürfnissen, erworbenen Sollwerten, die die eigene Person betreffen wie eigenen Zielen, Wünschen, „Ichideal“ und die, die umgebende soziale Gesellschaft (Kultur) vorgibt wie soziale Werte, Regeln, Normen und Vorschriften (vgl. Becker 1995, 204ff). Erläuternd sei hierzu angemerkt: Bedürfnisse: „Um seine seelische Gesundheit zu bewahren oder zur fördern, muss ein Mensch in der Lage sein, seine angeborenen Bedürfnisse (allein oder mit Unterstützung anderer) in hinreichendem Ausmaß zu befriedigen. Je besser ihm dies gelingt, desto höher ist – ceteris paribus – der Grad seiner seelischen Gesundheit“ (Becker, 1995, 205). Wir unterscheiden folgende Grundbedürfnisse – hier am Beispiel der Arbeitssituation erklärt: Physiologische Bedürfnisse können in unserer Industriegesellschaftlich weitgehend befriedigt werden. Darüber, wie weit sich physisch belastende Bedingungen (Schichtarbeit, etc.) auf die seelische Gesundheit auswirken, liegen – laut Becker -keine aussagekräftigen Studien vor. Explorationsbedürfnis: interessante, abwechslungsreiche Tätigkeiten fördern, monotone gefährden eher die seelische Gesundheit. Bedürfnis nach Selbstaktualisierung: dazu dient wiederum eine interessante, herausfordernde Tätigkeit am besten, wobei die wahrgenommene Kontrolle über die Arbeit noch bedeutsamen Einfluss hat. Bedürfnis nach Orientierung: die Arbeit ist für fast alle Menschen die Basis der Existenzsicherung. Deshalb ist die Unsicherheit über den Erhalt des Arbeitsplatzes sehr belastend. Der Verlust des Arbeitsplatzes zählt somit zu den folgereichsten Auslösern psychischer Probleme. Bedürfnis nach Bindung: „Der Arbeitsplatz eignet sich einerseits gut dazu, Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und sozialem Austausch zu befriedigen, er kann andererseits auch starke Belastungen hervorrufen, wenn beispielsweise die Zusammenarbeit und Kommunikation mit Arbeitskollegen gestört ist, wenn es zu häufigen Konflikten mit Vorgesetzten oder Untergebenen kommt oder wenn man zu wenig Beachtung und Unterstützung erhält“ (Krieger,1992, in Becker 1995, 27). Bedürfnis nach Achtung: Aufgaben, die von anderen als bedeutungsvoll eingeschätzt werden, erfolgreich zu erledigen und dafür Anerkennung zu erhalten, trägt fraglos zur Stabilisierung und Förderung des Selbstwertgefühls bei und dies ist, wie oben schon erklärt, ein wichtiger Indikator für seelische Gesundheit (vgl. Becker, 1995 ,204ff). Insgesamt lässt sich an diesem Beispiel feststellen, dass der Arbeitsplatz ein wichtiger Umweltbereich für den Menschen und den Erhalt seiner seelischen Gesundheit ist, was später auch noch bei den Expertenmeinungen zum Ausdruck kommt. Neben der wichtigen Bedeutung als Grundsicherung der eigenen Existenz (und die der Familie), erweist er sich als bedeutende Quelle für die Befriedigung interner Bedürfnisse. Wie gut dies gelingt, hängt allerdings von den eigenen Kompetenzen und Ressourcen des Menschen ab, die ihn befähigen, die fachlichen und sozialen Anforderungen zu bewältigen (vgl. Becker, 1995, 208). erworbene Sollwerte: Ziele, Wünsche, Ichideal: Jeder Mensch hat mittel- und langfristige Ziele, die ihm Sinn und Perspektive geben. Das Erreichen der Ziele hängt davon ab, wie gut ihm eine Balance zwischen hartnäckiger Zielverfolgung und flexibler Anpassung an veränderte Umstände, Fehleinschätzungen, Misserfolge, etc. gelingt. Das Setzen von (erreichbaren) Zielen und deren erfolgreiche Erarbeitung trägt vor allem auch wesentlich zur Sinnerfülltheit bei, einem wichtigen Indikator für seelische Gesundheit. Außerdem hat der Mensch eine Wunschvorstellung davon, wie er sein möchte. Dem gegenüber steht die subjektive Wahrnehmung, wie er ist. Je näher sich das „Idealich“ und das „Realich“ kommen, umso stabiler ist die seelische Gesundheit. soziale Werte, Normen, Regeln: Der Mensch ist ein soziales Wesen und lebt als solches in einer Gemeinschaft, die viele (formelle und informelle) Werte, Normen und Regeln vorgibt, die er weitgehend, aber nicht uneingeschränkt, verinnerlichen soll und die prinzipiell sein Verhalten steuern. Wie gut diese interne Anforderung erfüllt werden kann, hängt davon ab, wie human diese Werte sind und wie sie subjektiv bewertet werden. Wird ein Wert unrealistisch, überhöht eingeschätzt, kann es zu neurotischem Verhalten kommen. Wer z.B. den Wert Leistungsfähigkeit zu hoch einschätzt, kommt zu einer unrealistischen, unerfüllbaren Leistungsnorm, womit er sich selbst überfordert und somit neurotische Störungen (Angststörungen) begünstigt (vgl. Becker 1995, 213). Zusammenfassend bedeutet das, dass die Stabilität bzw. der Grad der seelischen Gesundheit eines Menschen dem Ausmaß seiner Fähigkeiten zur Bewältigung interner und externer Anforderung entspricht. 3 Bedingungen für seelische Gesundheit Nach dieser Begriffsklärung komme ich nun zu den Voraussetzungen für seelische Gesundheit. Was braucht der Mensch, um seelisch gesund zu sein oder was haben die Menschen, die als seelisch gesund eingeschätzt werden? Dies ist die Fragestellung, die ich in diesem Kapitel in Angriff nehmen werde. Die Unterscheidung zwischen einer inner- und eine außerfamiliären Umwelt soll die besondere Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung und der Erziehung herausheben. 3.1 Innerfamiliäre Umwelt - Erziehung Ungeachtet der Frage, wie groß sich der Anteil der Vererbung auf die Persönlichkeitsbildung des Menschen auswirkt, besteht Einstimmigkeit darüber, dass das Erziehungsverhalten der Eltern zu den folgenreichsten Einflüssen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zählt (vgl. Becker, 1995, 243). Becker stellt in seinem Circumplexmodell der Bedingungen (Abb.1) acht Hauptdimensionen von Erziehungsstilen dar. Er ist ursprünglich von zwei Hauptdimensionen und ihren Gegenpolen ausgegangen: „Wertschätzung“ mit dem Gegenpol „Geringschätzung“ und „Fordernde Kontrolle“ mit dem Gegenpol „Freiheit“ (dargestellt auf den vertikalen und horizontalen Achsen). Da aber Erziehung bzw. Einflussnahme von Eltern, Erziehern und anderen wichtigen Bezugspersonen auf das Kind/die Person nicht eindimensional verläuft, ergeben sich in der Bedingtheit untereinander weitere wichtige Dimensionen (dargestellt auf den Querachsen): aus der Kombination „Wertschätzung“ und „Freiheit“ resultiert das Bedingungsmuster „Bestätigung“, aus „Wertschätzung“ und „fordernder Kontrolle“ resultiert „fördernde Anleitung“ usw. (siehe Abbildung 1). Daraus ergeben sich insgesamt acht Dimensionen (fett gedruckt), die Becker in weitere ergänzende Begriffe untergliedert (vgl. Becker 1995, 261ff). Becker weist darauf hin, dass sein Modelle, dargestellt in den Abbildungen 1 – 3, nicht nur in der Interaktion zwischen Eltern, Erziehern, Lehrern und Kindern anzuwenden sind, sondern auch bei Ehe- und Lebenspartnern, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Vorgesetzten und Untergebenen sowie Therapeuten und Klienten (vgl. Becker 1995, 280). Dazu ein Beispiel aus der ehelichen Beziehung: „ein Mann registriert, dass seine Frau ihm Dinge verheimlicht [...] ferner beklagt sie, dass sie sich nicht aufraffen könne und unter ständiger Spannung stehe [...] und sich wertlos fühle.“ (Becker 1995, 281). In diesem Falle ließe sich das Verhaltensmuster primär als „sich unterwerfen“ (Abb. 2) charakterisieren. Nach Abb. 1 wäre der in Betracht zu ziehende komplementäre Bedingungskomplex ein Muster der „Unterdrückung“ . Möglicherweise ist die eheliche Beziehung dadurch gestört, dass der Ehemann – vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein – seine Ehefrau unterdrückt, d.h. zu stark kontrolliert und reglementiert und ihr zu wenig Wertschätzung und Liebe zeigt (Becker 1995, 281). Ebene der Bedingungen: Verhalten bedeutender Bezugspersonen Abb. 1: Circumplexmodell der Bedingungen (Becker 1995, 264) Ebene des Verhaltens: kurz und mittelfristige Auswirkungen Abb. 2: Circumplexmodell der Folgen (Becker 1995, 265) In dieser Abbildung wird gezeigt, wie sich die Dimensionen der Erziehung kurz- und mittelfristig auf das eigene Verhalten und Erleben auswirken wird. Wer also Wertschätzung erfährt, wird sich selbst und andere wertschätzen, sich wohlfühlen, geliebt fühlen, usw., wer aber Geringschätzung erlebt hat, wird sich selbst und andere gering schätzen, sich wertlos und ungeliebt fühlen, usw. Die Oktanten der Bedingungen (Abb. 1) sind analog zu den Oktanten der Folgen (Abb. 2) aufgebaut. Ebene der Persönlichkeit Abb. 3: Circumplexmodell der Persönlichkeit (Becker, 1995, 236) In Abbildung 3 wird dargestellt, wie sich die Oktanten (Dimensionen der Bedingungen) auf die Bildung von Persönlichkeitseigenschaften auswirken werden. Wer also Wertschätzung erfahren hat (Abb. 1), wird sich und andere wertschätzen (Abb. 2) und dadurch eine hohe seelische Gesundheit erfahren (Abb. 3). Wer aber Geringschätzung erfahren hat, wird sich selbst und andere gering schätzen und eine geringe seelische Gesundheit erreichen. Auch dieser Oktant ist analog zu den beiden vorherigen aufgebaut nach dem Muster: Bedingungen Folgen Persönlichkeit Der Einfluss des Erziehungsstiles auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist vor allem abhängig vom gesamten familiären Kontext, insbesondere von der Geschwisterposition: Eltern verhalten sich entgegen ihrer eigenen Annahme und Beteuerung gegenüber ihren Kinder unterschiedlich. Es spricht vieles dafür, dass Eltern auf die Persönlichkeitseigenschaften ihrer Kinder reagieren. In Zwillingsstudien konnte gezeigt werden, dass eineiige Zwillinge im Jugendalter das Ausmaß an erfahrener elterlicher Wärme signifikant ähnlicher einschätzen als zweieiige Zwillinge. Dieses Ergebnis bedeutet entweder, dass genetische Faktoren die Art der Wahrnehmung beeinflussen oder dass die elterliche Wärme Reaktion auf genetisch beeinflusste Eigenschaften ist. dem Alter des Kindes: Die Effekte elterlicher Vernachlässigung z.B. sind in den ersten Lebensjahren wesentlich gravierender als bei Jugendlichen, zumal sich diese besser widersetzen und entziehen können dem Temperament des Kindes: Kinder sind keinesfalls passive Empfänger elterlicher Beeinflussungsversuche, sondern bestimmen ihrerseits das elterliche Verhalten mit. Wenn z.B. Söhne ein schwieriges Temperament in der Kindheit besitzen, lockern Mütter ihre Kontrolle und tolerieren mehr Aggressivität – vielleicht, weil das Temperament der Söhne es ihnen schwer macht, eine strenge Kontrolle aufrechtzuerhalten. dem Geschlecht des Kindes und dem Geschlecht des Elternteils, der das erzieherische Verhalten ausübt, und von der Tatsache, ob wie meistens zwei Elternteile erziehen und ob noch weitere für das Kind bedeutende Bezugspersonen (Großeltern, Geschwister, etc.) Einfluss haben. Von der Dauer und der Ausprägung der Dimension erzieherischen Verhaltens. Eltern und Erzieher üben nicht ausschließlich einen Bedingungsfaktor aus, sie variieren in unterschiedlichen Kontexten. Sowie von den anderen Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung wie genetische Determination und Einflüssen der außerfamiliären Umwelt (vgl. Becker 1995, 270 u. 280). Als Zusammenfassung dieses Themas finde ich ein Zitat von Richter interessant: „Das Kind erfährt von seinen Eltern jedoch nicht nur eine Summe von Gewährungen, Verboten und äußeren Maßnahmen. Tiefer und nachhaltiger wird es von den affektiven Strebungen, den Ängsten und Konflikten der Eltern beeindruckt, die es gleichsam neben oder hinter den äußeren erzieherischen Praktiken mit erstaunlicher Einfühlung errät. Diese Tiefenschicht der bis ins Unbewusste hineinreichenden affektiven Einstellungen der Eltern muss mitberücksichtig werden, wenn man ihren Effekt auf die seelische Entwicklung des Kindes überprüfen will.“ (Richter 1967, 14, in Becker 1995, 293). 3.2 Außerfamiliäre, soziale Umwelt Diesbezüglich stelle ich eine systemische Perspektive vor, die die Bedeutung der Interaktion: Mensch - Umwelt und ihre Bedingtheit verdeutlicht. „Jeder Mensch besitzt Fähigkeiten, die es ihm erlauben, seine Umwelt (zumindest in bestimmten Grenzen) zu beeinflussen. Diese Einflussnahme ist auf unterschiedliche Arten möglich. Wir können beispielsweise bestimmte Umwelten aktiv aufsuchen und vermeiden, oder wir können Aspekte der uns umgebenden Umwelt verändern. Die Eigenschaften eines Menschen bestimmen mit, wie er seine Umwelt gestaltet“ (Becker 1995, 227). Man kann die eben angesprochenen verschiedenen Umwelten wie folgt unterscheiden: die „objektive“ Umwelt einer Person, die aus der Sicht außenstehender Beobachter beschrieben wird ( = Außenperspektive – auf dem Urteil einer größeren Zahl unabhängig einschätzender Personen basierend) und die von der Person subjektiv wahrgenommene Umwelt ( = individuelle Innenperspektive). Beide Perspektiven brauchen sich nicht zu decken. So kann eine Umwelt aus der Außenperspektive als ungefährlich erscheinen, während sie von Person A als bedrohlich wahrgenommen wird (vgl. Becker 1995, 228). Diese Unterschiede zwischen den beiden Sichtweisen der Innen- und Aussen- perspektive werden an folgenden Beispielen deutlich gemacht: Realistisch vs. verzerrt wahrgenommene Umwelten: die Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Reizaufnahme und –verarbeitung, sondern auch auf gespeichertes Wissen, Überzeugungen und Annahmen, die die Umwelt betreffen. Eine stark verzerrte Wahrnehmung findet man bei Patienten mit psychischen Störungen, wie z.B. bei Paranoiden, die sich von feindseligen Menschen umzingelt fühlen, oder bei Phobiekern, die ihre irrationale, unkontrollierbare Angst daran hindert, alleine das Haus zu verlassen. Neben der Verzerrung führt auch die stark selektive Wahrnehmung (ausblenden, verdrängen oder verleugnen von wichtigen oder unliebsamen Aspekten) zu unrealistischer Einschätzung der Umwelt. Seelisch Gesunde hingegen sind zu einer weitgehend realistischen Wahrnehmung ihrer Umwelt in der Lage: sehen Gefahren dort, wo sie tatsächlich vorhanden sind, schätzen die Einstellungen und Gefühle ihrer Mitmenschen im allgemeinen richtig ein, sehen mehrere Seiten einer Person oder Sache, ohne Unliebsames auszublenden, vertreten rationale Überzeugungen dafür, sich mit ihrer Umwelt erfolgreich auseinander zusetzen und die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Passende vs. unpassende Umwelt: Seelisch Gesunde haben die Fähigkeit, sich eine passende Umwelt zu suchen, entsprechend ihren (realistischen) Fähigkeiten, Neigungen und Bedürfnissen. So wird ein gesunder Mensch, eine Ausbildung wählen, die seinen eigenen Fähigkeiten entspricht, während psychisch gestörte Menschen nicht selten einen Beruf ausüben, der sie dauerhaft über- oder unterfordert. Patienten mit psychischen Störungen leiden häufig unter ihren Umweltbedingungen, weil sie aus Fehleinschätzung der eigenen Bedürfnisse oder der Angebote an externen Ressourcen eine unpassende Umwelt gewählt haben. Bereichernde vs. bedrohliche Umwelt: Selbstbewusste Menschen mit vertrauensvolloptimistischer Grundhaltung erscheint die Umwelt prinzipiell als vertrauenswürdig, Geborgenheit und Sicherheit bietend. Sie sehen Veränderungen als Herausforderung und Chance zur Befriedigung ihrer angeborenen Bedürfnisse zur Exploration und Selbstaktualisierung. Menschen hingegen mit wenig Vertrauen sich selbst und den eigenen Ressourcen gegenüber, erleben die Umwelt oft als bedrohlich, haben Angst vor Veränderungen, klammern deshalb rigide an ihrer aktuellen sozialen und materiellen Situation fest, um sich vor Neuanpassung zu schützen. Als Beispiel könnte man eine Frau nennen, die lieber an einer unglücklichen Ehe mit einem frustrierenden, nicht zu ihr passenden Ehemann festhält, als sich auf das Wagnis einzulassen, die Ehe aufzugeben und einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Oder ein weiteres Beispiel wäre ein Mann, der lieber die ungerechtfertigten Angriffe seines Vorgesetzten über sich ergehen lässt und seine Demütigung im Alkohol ertränkt, als dem Vorgesetzten die Stirn zu bieten und notfalls eine Entlassung zu riskieren. Anziehende vs. abstoßende soziale Umwelt: Seelisch Gesunde zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit Interesse, Zuneigung und Tatkraft der Umwelt und ihrem wichtigsten Teil, dem Mitmenschen zuwenden; sie meistern drei große Aufgaben: Arbeit, Liebe und Gemeinschaft. Kranke hingegen versagen bei diesen Aufgaben, weil sie selbstzentriert nur um die eigene Person kreisen. Mitmenschen werden als Bedrohung empfunden und folglich entweder gemieden, bekämpft oder entwertet (vgl. Becker 1995, 234ff). Daraus lässt sich als Zusammenfassung schließen, dass nicht die Umwelt an sich ausschlaggebend ist als Bedingung für seelische Gesundheit, sondern vor allem die Fähigkeiten der Person, sie realistisch einschätzen, als interessante Herausforderung zu empfinden und mit ihr in bereichernde Interaktion treten zu können. Mit welchen Fähigkeiten bzw. Ressourcen aber der Mensch ausgestattet ist, hängt wiederum von der Frühprägung in der innerfamiliären Umwelt ab. Wird ein Neugeborenes wohlwollend aufgenommen, erlebt es seine unmittelbare Umwelt (Familie) sicher und liebevoll, prägt dies sein Urvertrauen, dass die eigene Person und die Umwelt prinzipiell gut sind. Wir sehen hier also ganz deutlich die Bedingtheit der beiden Faktoren: innerfamiliäre und außerfamiliäre Umwelt untereinander. Anmerken möchte ich noch, dass es allerdings vom Alter und Entwicklungsstand des Menschen abhängt, inwieweit er eigene Einflussnahme auf die Wahl einer Umwelt hat, und wie groß die Möglichkeit der Einwirkung auf die ihn unmittelbar umgebende Umwelt ist. Ein Kind z.B. kann sich nicht aussuchen, in welches Milieu es hineingeboren wird, welche Bedingungen es ursprünglich vorfindet. Eine interessante Studie von Renate Höfer zeigt z.B. wie viel gefährdender die Umwelt von „Jugendhilfejugendlichen“ ist, als die von Jugendlichen in „normaler, intakter“ bürgerlicher Umwelt. Besonders hebt sie hierbei die vermehrt auftretenden Risikofaktoren wie Alkohol, Drogen, Kriminalität, Prostitution, etc. hervor sowie die Vorbildfunktion ungünstiger Modelle für Konfliktlösestrategien (Gewalt) (vgl. Höfer, 2000,25). 3.3 Persönlichkeit Darüber, was Persönlichkeit ausmacht, machen sich Gelehrte seit vielen Jahren Gedanken. Seelische Gesundheit, ist ein wichtiges Merkmal der Persönlichkeit und steht so in engem Zusammenhang mit deren Entwicklung. Persönlichkeit ist das überdauernde, einzigartige Muster der inneren Erfahrung (Wahrnehmung und Denken) und des Verhaltens eines Menschen. Hippokrates ist vor mehr als 2000 Jahren davon ausgegangen, dass der Charakter auf dem Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten beruht (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle). Auf diese Lehre aufbauend differenzierte später der griechische Arzt Galen die vier Temperamentstypen: sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch und melancholisch (vgl. Lawton, in „Gehirn und Geist“ 3/2004). In den vergangenen hundert Jahren haben Psychologen viele verschiedene Modelle und detaillierte Fragebögen entworfen, um zu entschlüsseln, wie jemand typischerweise denkt, handelt und fühlt (Lawton, in „Gehirn und Geist“ 3/2004). Zur Zeit ist das bekannteste Modell das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit („Big Five“). Es geht davon aus, dass die Vielzahl der Persönlichkeitseigenschaften auf fünf grundlegende Dimensionen der Persönlichkeit zurückgeführt werden können. Dies sind Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit für Erfahrungen, wie aus nachstehender Tabelle ersichtlich ist. Dimension der Untergliederung in jeweils sechs Persönlichkeitseigenschaften Persönlichkeit Wärme, Geselligkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Aktivität, Suche Extraversion nach Aufregung, positive Gefühle Vertrauen, Offenheit / Direktheit, Selbstlosigkeit / Interesse am Verträglichkeit Anderen, Nachgiebigkeit, Bescheidenheit / Nichtarroganz, Gefühlsbetontheit Kompetenzgefühl, Ordnungsliebe / Ordentlichkeit, Gewissenhaftigkeit Normorientierung / Pflichterfüllung / strenges Überich, Leistungsorientierung / Leistungsstreben, Selbstdisziplin / Ausdauer, Besonnenheit Ängstlichkeit, Feindseligkeit, Depression, Befangenheit / Neurotizismus Selbstunsicherheit, Impulsivität, Verletzlichkeit Offenheit für Erfahrungen Fantasie, Ästhetik / Kunst, Gefühle, Handlungen, Ideen, Werte (vgl. Becker 1995, 4ff) Extraversion/Offenheit: geselligen, fröhlichen Menschen fällt es leichter, soziale Kontakte zu pflegen und Unterstützung einzuholen. Bei starker Ausprägung einzelner Facetten besteht allerdings die Gefahr zu einer höheren Risikobereitschaft, die mit gesundheitsgefährdendem Verhalten verbunden ist. Gewissenhaftigkeit (Kontrolliertheit): Ausdauer, Sorgfalt und Pflichtbewusstsein scheinen gesundheitliche Schutzfaktoren zu sein. Gewissenhafte zeigen ein besseres Gesundheitsverhalten und haben eine erhöhte Lebenserwartung. Neurotizismus hingegen ist ein gesundheitlicher Risikofaktor. Ebenso verhält es sich mit Unverträglichkeit / Rücksichtslosigkeit (dem Gegenpol von Verträglichkeit). Personen mit hoher Unverträglichkeit (Misstrauen, Feindseligkeit, Zynismus, rechthaberische Arroganz) verfügen über ineffiziente Konfliktlösestrategien, gefährden ihre sozialen Beziehungen und neigen zu gesundheitsabträglichem Verhalten (Vgl. Becker, in Schwarzer, 2002, 384f ). Ist die Verträglichkeit, insbesondere die Selbstlosigkeit und Nachgiebigkeit allerdings zu stark ausgeprägt, sind dadurch Fähigkeiten wie Selbstbehauptung und Durchsetzungsvermögen beeinträchtigt. Es ist davon auszugehen, dass auf dem Kontinuum zwischen den beiden Polen Verträglichkeit und Unverträglichkeit eine mittlere Position am günstigsten ist. Becker hebt die seelische Gesundheit als Dimension der Persönlichkeit hervor, als Gegenpol zum Neurotizismus und untergliedert sie in Persönlichkeitseigenschaften auf drei Ebenen nach folgendem Modell: Seelische Gesundheit Seelisch-körperliches Wohlbefinden Sinnerfülltheit Selbstvergess enheit Selbstaktualisierung Beschwerdefreiheit Expansivität Autonomie Selbst- und fremdbezogene Wertschätzung Selbstwertgefühl Liebesf ähigkeit Abb. 4 Die untere Ebene beschreibt die enger gefassten Eigenschaften, die in Zusammenwirkung mit anderen eine mittlere Ebene der weiter gefassten Persönlichkeitseigenschaften ergeben. Diesen wiederum übergeordnet steht die Persönlichkeitsdimension: „Seelische Gesundheit“ (vgl. Becker 1995, 37). Zusammenfassend kann man sagen, dass ein Konsens darüber besteht, dass Persönlichkeitsmerkmale sowohl auf angeborene, biologische Voraussetzungen als auch auf soziale Lernerfahrung in der Umwelt zurückzuführen sind. Wie hoch der Anteil des jeweiligen Faktors ist, darüber gibt es (noch) keine empirisch untermauerten Theorien. 3.4 Biologische Faktoren Nach der kurzen Darstellung der nichterblichen Dimension der (inner- und außer-familiären) „Umwelt“ werde ich nun auf die erbliche, genetische Determinante, die „Anlage“ eingehen und sie im Folgenden kurz beschreiben: Die Genetik Die Genetik des Verhaltens wirkt über die Biochemie. Die Grundeinheiten der Vererbung, die Gene, bestehend aus DNA (Desoxyribonukleinsäure). Die DNA bestimmt, welche biochemischen Substanzen durch die Gehirnzellen und andere Körperzellen erzeugt bzw. nicht erzeugt werden. Dieses biochemische Gleichgewicht steuert wiederum die Tätigkeit des Nervensystems, das seinerseits dem Verhalten zugrunde liegt. Der genetische Einfluss ist bei normalem Verhalten genauso stark wie bei krankem Verhalten – man denkt nur normalerweise nicht daran [...]. Vererbung und Umwelt arbeiten sowohl bei normalem als auch bei anormalen Verhalten zusammen (Bourne E. u. R. Ekstrand, 2001, 35). Obwohl bereits viel über die Funktionsweise der DNS bekannt ist, ist noch unklar, wie genetisches Material das Verhalten und die Persönlichkeit eines Menschen bestimmt. Hinweise darauf liefern nur einige Forschungsergebnisse bezüglich der Vererbung von genetisch bedingten Erkrankungen, wie z.B. Trisomie 21 (Down-Syndrom) oder ChoreaHuntington. Es gilt als erwiesen, dass physische Ähnlichkeiten innerhalb einer Familie zu einem großen Teil auf dem Erbmaterial, den Genen, beruhen. Die Grundlage für psychologische Ähnlichkeiten hingegen ist unklar, sie kann sowohl das gemeinsame Erbgut wie auch die gemeinsame Umwelt sein. Für die Bedeutung des Erbgutes spricht die Zwillingsforschung, die ergab, dass auch bei getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen, die vollkommen identisches Erbgut besitzen, die Ähnlichkeit der psychologischen Charakteristika wesentlich höher ist als bei normalen Geschwistern, die nur 50 % der Gene gemeinsam haben. Die hohe Korrelation legt aber einen genetischen Beitrag nur nahe, beweist ihn nicht (vgl. Bourne e. u. R. Ekstrand, 2001, 35) Vulnerabilität (Verwundbarkeit, Verletzlichkeit) wird auch als „Schwellensenkung“ erklärt. Das zentrale Nervensystem bei den Betroffenen ist viel schneller und heftiger erregbar als bei „normalen“ Menschen. Erregt wird das Nervensystem durch alle möglichen Reize wie z.B. Licht, Berührungen usw. Alle diese Reize werden von den Betroffenen stärker wahrgenommen. Bei Stressoren, also Reizen, die vom Gehirn als Stressauslöser wahrgenommen werden, kann die erhöhte Sensibilität gefährlich werden, indem viel schneller psychotisches Geschehen ausgelöst werden kann. Vulnerabilität ist eine angeborene, genetische Disposition. Dies gilt heute besonders in der Schizophrenieforschung als sehr wahrscheinlich. Bestätigung findet diese Annahme vor allem durch die familiäre Häufung der Erkrankung bei Verwandten. Dies könnte auch ein Erklärungsansatz dafür sein, warum manche Menschen trotz schlechter familiärer Umweltbedingungen und weiterer Risikofaktoren wie Stress, traumatischer Erlebnisse usw. ihre seelische Gesundheit weitgehend entwickeln und erhalten, und andere schon bei weniger belastenden Umständen erkranken. Im Gegensatz zur angeborenen Vulnerabilität spricht man auch von einem angeborenen robusten Nervensystem (vgl. Olbrich, 1990, 18f) Das zentrale Nervensystem und das Gehirn Die Psyche schwebt nicht frei im Raum, sie benötigt „Materie“, einen Organismus um überhaupt existieren zu können. Das ist beim Menschen das zentrale Nervensystem, also das Gehirn mit (Hypophyse) und das Rückenmark. Das Nervensystem ermöglicht dem Organismus, die Beziehung zur Umwelt zu gestalten (vgl. CSC, 2003, in der Vorlesung: Einführung in die Psychologie). Das Gehirn ist sozusagen die „Hardware“, die Programmierung gestaltet sich dann ein Leben lang über die Umwelteinflüsse, am gravierendsten aber in den ersten (drei) Lebensjahren (innerfamiliäre Sozialisation). Das Gehirn eines Erwachsenen besteht aus bis zu 100 Milliarden Neuronen (Nervenzellen) die über 100 Billionen von Synapsen (Kontaktstellen) mit anderen Neuronen kommunizieren. Dieser Austausch erfolgt mittels Neurotransmittern (Gehirnbotenstoffen). Wir unterscheiden den bereits „programmierten“ Teil des Gehirns, der die automatischen Steuerungen der Lebensfunktionen regelt (Atmung, Blutkreislauf, Verdauung, etc.) und die unerschöpfliche freie Speicherkapazität, die ihre Funktion durch Umwelteinflüsse bildet (vgl. Bourne E. u. R. Ekstrad 2001, 34f). Im Gehirn eines Neugeborenen sind bereits 100 Milliarden Neuronen (das entspricht der gleichen Anzahl wie bei einem Erwachsenen, s.o.), die aber noch klein und unvernetzt sind. In den ersten Lebensjahren nimmt die Zahl der Synapsen rasant zu – mit drei Jahren hat ein Kind bereits 200 Billionen (doppelt so viel wie ein Erwachsener). Diese Zahl bleibt dann ca. sieben Jahre relativ konstant, dann wird bis zum Jugendalter rund die Hälfte wieder abgebaut. Die Ausbildung von doppelt so vielen Synapsen wie letztlich benötigt werden, ist ein Zeichen für die enorme Lern- und Anpassungsfähigkeit des Säuglings und Kleinkindes. Das Neugeborene fängt geistig praktisch bei Null an. Abgesehen von seinen Instinkten ist es weitgehend auf Wahrnehmung und Reaktion angewiesen. Das Neugeborene ist für ganz unterschiedliche Kulturen und Milieus offen, es hat die Fähigkeit sehr schnell unterschiedliche Verhaltensweisen, Sprachen, Lebensstile usw. zu erlernen. Ein großer Teil der weiteren Gehirnentwicklung bei Kindern besteht dann darin, die für ihre Lebenswelt nicht relevanten Synapsen abzubauen und die benötigten Bahnen zwischen Neuronen zu intensivieren. So bestimmt letztlich die Umwelt und das in ihr Erfahrene, Gelernte, Erlebte, Aufgenommene zu einem großen Teil die Struktur des Gehirns. Diese Entwicklung setzt sich das ganze Leben fort, unbenötigte Synapsen werden eliminiert, häufig benutzte verstärkt. Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass bis ins hohe Alter auch neue Neuronen entstehen und neue Synapsen ausgebildet werden. Die Gehirn-entwicklung ist also ein Prozess, der von Vererbung und Umwelt gleichermaßen bestimmt wird. Von besonderer Bedeutung ist eine sichere Mutter(Vater-) Kind –Bindung. Die Stimulierung und damit das Lernen sind viel intensiver, wenn die Eltern sich engagiert um den Säugling bzw. das Kleinkind kümmern, warm und empathisch reagieren. Zugleich erlebt das Kind weniger Stress (bei welchem das für die Hirnentwicklung schädliche Cortisol ausgeschüttet wird), wird widerstandsfähiger und lernt besser die eigenen Affekte und Emotionen zu kontrollieren. Eine sehr anregungsreiche Umwelt, die viel eigene Lernerfahrung ermöglicht, ist sehr förderlich für die Entwicklung sozialer und kognitiver Kompetenzen (vgl. http://www. familienhandbuch.de/cmain/a_Hauptseite,html und http://www.psychotherapie-profbauer.de/selk.htm). Störungen der Gehirnfunktion Der Vollständigkeit halber möchte ich hier noch erwähnen, dass es natürlich auch Störungen der Gehirnfunktion gibt. Hirnabhängige organische psychische Erkrankungen entstehen durch organische Veränderungen im Gehirn. Die Ursache sind Entzündungen, Verletzungen, Tumore oder toxische Prozesse (z.B. durch Drogen, Alkohol, Tabletten). Die psychischen Störungen treten dann in Verbindung mit körperlichen Symptomen auf (Fieber, Kopfverletzungen, ...) (vgl. Netolitzky u. Janssen, 1987). Ein eigenes Problemfeld sind die Wesensveränderungen infolge eines Schädel-Hirn-Traumas, z.B. durch Verkehrsunfällen, Gehirnblutungen, etc. Ich möchte dieses Thema aber nicht ausweiten, es würde den Rahmen meiner Vordiplomarbeit sprengen. Hormone „Man kann sagen, dass alle Körperaktivitäten einschließlich des Verhaltens von zwei interagierenden biologischen Systemen reguliert werden, dem Nervensystem und dem endokrinen System [...]. Hormone, die vom endokrinen System abgesondert werden, dienen als ,chemische Nachrichtenübermittler‘, indem sie zu anderen Organen wandern und deren Aktivität beeinflussen, einschließlich des Nervensystems [...]. Umgekehrt kann das Nervensystem verstärkte oder verminderte Aktivitäten in den endokrinen Drüsen auslösen. Das endokrine System und das Nervensystem interagieren also“ (Bourne E. u. R. Ekstrand, 2001, 57). Die Nebenniere z.B. produziert Hormone, die neben der Regulierung zahlreicher Stoffwechselfunktionen, den Körper befähigen gegen Stressoren zu kämpfen. Geistiger oder psychischer Stress kann das System aktivieren, dauerhafter Stress kann es erschöpfen, so dass der Körper anfälliger wird (vgl. Bourne E. u. R. Ekstrand. 2001, 57). „Das Sexualhormon ist das bekannteste und am meisten publizierte. Die Sexualhormone bestimmen vor allem die menschliche Geschlechtsdifferenzierung während der Entwicklung des Embryos. In geschlechtlicher und genetischer Hinsicht unterscheiden sich Mann und Frau nur durch ein Chromosom: Frauen besitzen zwei X – Chromosome, Männer dagegen ein X und ein Y – Chromosom. Die Geschlechtschromosomen lenken hauptsächlich die Produktion von Sexualhormonen [...]. Das heißt, das Geschlecht eines Kindes wird dadurch bestimmt, welche Hormone in welchem Ausmaß während des Wachstums des Fötus in den frühesten Entwicklungsstadien vorhanden sind“ ( Bourne E. u. R. Ekstrand. 2001, 60f). „Fortpflanzungs- und sexuelles Verhalten ist eigentlich bei allen Lebewesen außer dem Menschen stark durch Hormone reguliert. Beim Menschen spielen lernen und Sozialisation eine ebenso bedeutende Rolle“ ( Bourne E. u. R. Ekstrand. 2001, 60). An dieser Stelle wird wieder deutlich, dass nie ein Aspekt alleine einen für sich abgeschlossenen, erklärbaren Einflussfaktor darstellt, sondern dass die Wirkungsweise erst im Gesamtkontext der Bedingungen relevant wird. Und es bleibt bei allen Erklärungsansätzen die Frage nach der Kausalität offen, also was Ursache und was Wirkung ist. Aus systemischer Sicht wird aus der Frage Ursache – Wirkung eine Kettenreaktion von Ursache – Wirkung – Ursache – Wirkung - ......... 4 Zusammenfassung In der Auseinandersetzung mit den Theorien zu den einzelnen Faktoren wurde mir klar, dass die Trennung in einzelne Bedingungen für seelische Gesundheit eine künstliche ist, die Bedingtheit untereinander wird in jedem Unterpunkt deutlich. Dennoch finde ich sie wichtig, weil eine Strukturierung den Blick auf die einzelnen Aspekte erleichtert. Im Wesentlichen besteht in der Wissenschaft Einigkeit darüber, dass es zwei grundsätzliche Einflussfaktoren für die Entwicklung des Menschen und seiner seelischen Gesundheit gibt: Anlage und Umwelt. Offen bleibt die Frage über das Ausmaß der Anteile der beiden wichtigsten Variablen, sie kann beim derzeitigen Stand der Forschung nicht endgültig geklärt werden. Besondere Beachtung aber muss die Bedeutung der Bedingtheit der Einflussvariablen untereinander geschenkt werden. Es steht fest, dass die genetischen Anlagen bei jedem Menschen einzigartig sind (Ausnahme: eineiige Zwillingen). Auch gibt es keine genau deckungsgleichen Umwelten, weil jeder Mensch sie unterschiedlich erlebt und individuell beeinflusst. Selbst Geschwister, die als Kinder der gleichen Familie aufwachsen, erleben nicht die genau gleichen Umweltbedingungen. Zum einen erlebt und beeinflusst das Kind schon von Geburt an durch seine Anlage das Geschehen individuell und zum anderen ergeben die soziale Rolle, die (Geschwister-) Stellung und das Geschlecht unterschiedliche Perspektiven auf die Umwelt. Außerdem nehmen die Kinder, da sie ja unterschiedliche Menschen sind, ihre – objektiv gleiche – Umwelt auf unterschiedliche Weise, also subjektiv, wahr. II „Experten“– Meinung 1 Einleitung und Erhebung der Daten zur Stichprobe Nach dem theoretischen folgt nun der praktische Teil dieser Vordiplomsarbeit. Dazu habe ich mit einem selbst entwickelten Fragebogen ausgewählte Fachleute aus dem Bereich der psychosozialen Betreuung befragt, was sie unter dem Begriff „Seelische Gesundheit“ verstehen, was ihrer Meinung nach Voraussetzungen dafür sind und wodurch sie gefährdet werden kann. Meine Motivation, zu dem Thema „Seelische Gesundheit“ praktizierende Fachleute aus dem Bereich der psychosozialen Betreuung zu befragen bestand darin, dass ich der Meinung bin, dass sich Wissenschaft vor allem darin bewährt, inwieweit sie in der Praxis Anwendung findet, unterstützend und fördernd wirkt. Ich werde die Fachleute verschiedener Berufsgruppen im folgenden Verlauf vereinheitlicht „Experten“ nennen. Ich habe die Befragung bereits in den Semesterferien im Sommer 2004 durchgeführt, also vor dem offiziellen Beginn der Vordiplomarbeit, da ich während des Semesters in Fulda keine Gelegenheit dazu habe. Das heißt, ich habe erst nach Erhebung der Stichprobe den Theorieteil erarbeitet, was zur Folge hatte, dass die Kapitelnamen der Theorie und die Fragestellungen der Expertenbefragung nicht ganz einheitlich sind. Ich hoffe, die reichhaltige Fülle von Antworten aber trotzdem richtig interpretiert und den Problemfeldern entsprechend zugeordnet zu haben. Ich erhebe keinen Anspruch auf vollkommene Richtigkeit und wissenschaftliche Relevanz. Bei der Umfrage hatte ich drei verschiedene Antworttypen gemischt, nämlich zum einen Fragen mit Antworten zum Ankreuzen, dann Fragen, bei denen als Antwort auf einer Skala von 1 bis 10 bewertet werden sollte und schließlich Fragen mit offenen Antworten. Im Folgenden werde ich erst die Daten zur Stichprobe vorstellen und dann Ergebnisse der Befragung analog zu den Kapiteln des Theorieteils aufarbeiten und darstellen. Um die Expertenmeinung bzw. die Gegenüberstellung mit der Theorie zu verdeutlichen und anschaulich zu machen, werde ich Tabellen verwenden. Anschließend werde ich anhand einiger Beispiele die Hypothese überprüfen, dass es unterschiedliche Meinungen / Wertungen zwischen den Geschlechtern und den Berufsgruppen gibt. Daten der Stichprobe Die befragten Personen sind – so wie ich auch - Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Ecksberg in Mühldorf am Inn, einer Einrichtung für geistig und psychisch behinderte Menschen mit den Bereichen Wohnen und Arbeiten sowie ein behandelnder Psychiater, Chefarzt im BKH Gabersee. Die Befragung erfolgte im August und September 2004. Die Experten hatten die Wahl, ob sie den Fragebogen im Gespräch mit mir, in ihren Arbeitsteams oder alleine zu Hause durchführen wollen. Von den 40 verteilten Fragebogen kamen 32 ausgefüllt zurück, der größte Teil hiervon wurde alleine ausgefüllt, 7 bevorzugten das persönliche Gespräch mit mir. Das Alter der befragten Personen erstreckt sich von 22 bis 55 Jahre, das Durchschnittsalter liegt bei 41 Jahren. Von den 32 befragten Personen sind 13 Frauen, 17 Männer und zwei gaben ihre persönlichen Daten nicht an. Die Stichprobe umfasst folgende Berufsgruppen: Berufsgruppe Psychiater: Dipl. Psychologin: Dipl. Sozialpädagogen „Quereinsteiger“ SPZ1 Anzahl 1 1 8 14 Berufsgruppe Lehrerin: Krankenschwester: Erzieher / HEP: Keine Angabe: Anzahl 1 1 3 3 Diese Personen üben folgende Tätigkeiten in der Einrichtung aus: Tätigkeit in WfbM2 Gruppenleiter Fachbereichsleiter Begleitender Dienst Behandelnder Arzt 11 2 4 1 Tätigkeit im Wohnbereich Gruppenleiter, -mitarbeiter 7 Bereichsleiter 1 Kein Angaben 6 Tab. 1: Daten der Stichprobe Die Dauer der ausgeübten Tätigkeit in der Einrichtung beträgt zwischen zwei und 19 Jahre, was einen Durchschnitt von sieben Jahren ergibt. 2 Ergebnisse: Was ist seelische Gesundheit ? Im Folgenden werde ich die Ergebnisse der Befragung analog zu den Kapiteln des Theorieteils aufarbeiten und darstellen (Fragebogen im Anhang I). 1Quereinsteiger sind MitarbeiterInnen aus handwerklichen Berufen (Schreiner, Schlosser, etc.) die sich über die Sonderpädagogische Zusatzausbildung für die Gruppenleitung in der WfbM (Werkstatt für Behinderte Menschen) qualifiziert haben 2Werkstatt für behinderte Menschen Die Frage nach dem Begriff allgemein habe ich offen gestellt, die Antworten habe ich in der folgenden Tabelle zusammengefasst und den Themenschwerpunkten der Theorie zur SG (seelische Gesundheit) gegenübergestellt. Übereinstimmung ergibt sich dabei bei der Beschreibung der SG als Zustand, vor allem aber zwischen den „Fähigkeiten zur Bewältigung des Lebens“ (Experten) und der „Fähigkeit zur Bewältigung externer Anforderungen“ im Hinblick auf adäquate Repräsentation der Wirklichkeit und Bewältigungskompetenzen von Becker (siehe 1.2). Bei der Anzahl der Nennungen ist noch zu beachten, dass ich Begriffe die öfter verwendet wurden, nur einmal angeführt habe: Theorie Expertenmeinung ausgeglichener Zustand, sich Wohlfühlen, die SG als relativ stabile Eigenschaft ergibt sich aus dem Mittelwert der Zufriedenheit mit sich und der Welt, die Schwingungen um ein mittleres Niveau. innere Mitte nicht verlieren, SchwingungsIndikatoren: positive (vs. negative) fähigkeit um eine innere Mitte, geistig und Befindlichkeit, Expansivität (vs. seelisches Gleichgewicht, frei sein von Defensivität) Leistungsfähigkeit (vs. psychischen Beeinträchtigungen durch den Funktionsstörung) Autonomie, hohes (vs. Alltag, Identität von Körper und Seele, niedriges) Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Einklang zwischen Geist, Selbsttranszendenz (vs. Selbstzentriertheit) Gefühl und Umwelt, Liebe und Glück Adäquate Repräsentation der Klarheit, klar denken können, Einklang Wirklichkeit: in der Lage sein, die für ihn zwischen Geist, Gefühl und Umwelt, mit handlungsrelevante Umwelt im großen und sich und der Umwelt im Reinen sein ganzen realistisch wahrzunehmen. Realistische Einschätzung der eigenen ehrlich sein zu sich selbst Person. Kompetenzen (Verfügbarkeit und Anforderungen des täglichen Lebens Anwendung von Verhaltensweisen, zur bewältigen, Probleme lösen, Fähigkeit mit effektiven Auseinandersetzung mit der dem Leben ohne prof. Hilfe fertig zu Lebenssituation): „ich fühle mich dem werden, Leben und seinen Schwierigkeiten Aufbau von Ressourcen gewachsen“ Liebesfähigkeit die Fähigkeit zu lieben und zu arbeiten Selbstwertgefühl Sinnfindung, Expansivität einfach zu leben, ohne wenn und aber Tab. 2: Begriffsklärung der Seelischen Gesundheit Ebenso besteht Übereinstimmung mit der Beschreibung von seelischer Gesundheit aus der Praxis und dem Begriff des Kohärenzgefühls, das in der Salutogenese von Antonovsky eine zentrale Bedeutung hat: „Damit sind ein Grundgefühl und zugleich auch eine Wahrnehmungsweise der Welt gemeint, dass wir das, was um uns herum geschieht, ausreichend verstehen und auch beeinflussen können. Wir sind nicht hilflos, sondern verfügen über innere und äußere Hilfsquellen [...] wesentlich am Kohärenzgefühl ist jedoch, dass wir unser Handeln nicht nur als zweckmäßig, sondern auch als sinnvoll empfinden.“ (Antonovsky, in Schiffer, 2001, 10). Um die Befragten auf Begriffe hinzuweisen, die ich später in der Theorie behandeln wollte, und sie so auf meinen Fragebogen einzustimmen, habe ich in der ersten Frage fünf Determinanten zur Zustimmung angeboten. Die 32 Befragten sollten durch Ankreuzen angeben, welche der genannten sie für maßgeblich für die Entstehung psychischer Gesundheit halten. Bei den persönlichen Gesprächen trat wiederholt die Frage nach der Bedeutung des Begriffes „Schicksal“ auf. Es stellte sich heraus, dass jeder der Befragten eine andere Vorstellung davon hatte. Ebenso traten Fragen zum Begriff „Persönlichkeitsmerkmal“ auf. Es ergaben sich daraus philosophisch orientierte Diskussionen. Möglicherweise beeinflusst das auch das in der folgenden Tabelle zusammengefasste Ergebnis, weil für viele die Begriffsklärung von Schicksal, und zum Teil auch von Persönlichkeitsmerkmal, offen blieb: Schicksal Persönlichkeitsmerkmal Genetisch determiniert Ergebnis von Erziehung (Elternhaus) Ergebnis von Lernerfahrung im sozialen Umfeld 13 13 23 27 27 Tab. 3: Abstimmung der Determinanten Es besteht eine große Übereinstimmung darüber, dass seelische Gesundheit das Ergebnis mehrer Faktoren ist, denn von den Befragten kreuzten wenige nur einen einzigen der oben genannten Faktoren an. Die übrige Verteilung kann aus der unten stehenden Tabelle entnommen werden. Faktoren: Nennungen: Tab. 4: Faktoren 1 3x 2 5x 3 12x 4 7x 5 5x Zusammenfassung: Die hohe Übereinstimmung bezüglich der wichtigsten Einflussfaktoren Familie und Umwelt entspricht auch der herrschenden Meinung in der Wissenschaft. (siehe 2.1) Gefolgt werden sie von der genetischen Determinanten, die in der Psychologie, wie auch in der Medizin, immer mehr im Focus des Interesses steht. Dies geschieht wohl nicht zuletzt weil die Genforschung sich in den letzten Jahren enorm entwickelt hat. Ebenso gibt es immer mehr Forschungen bezüglich der Frage, warum manche Menschen bei schlechten Bedingungen erkranken und andere bei ähnlich schlechten Umständen nicht. 3 Ergebnisse: Bedingungen für seelische Gesundheit Die besondere Bewertung der Bedeutung des Faktors innerfamiliäre Umwelt, die im letzten Kapitel schon angeklungen ist, bestätigt sich noch deutlicher in Frage 3 und 5, und auch in den Bewertungsskalen von Frage zehn, die ich im folgenden Abschnitt „innerfamiliäre Umwelt“ zusammenfassend darstellen und erläutern werde. Innerfamiliäre Umwelt – Erziehung und Elternhaus Diese Ergebnisse habe ich aus den offenen Antworten der Fragen drei, fünf, sieben und neun erarbeitet und durch die Bewertungen einzelner Aspekte der Frage zehn ergänzt. In Frage fünf, der Frage nach der Bedeutung der Familie für seelische Gesundheit, war die Antwort fast vollkommen einheitlich mit 28 Nennungen für sehr wichtig und vier Nennungen für wichtig bedeutend hilfreich. In Frage neun geht aus den freien Antworten hervor, welches Alter für die Entwicklung bzw. den Erhalt der seelischen Gesundheit die Experten für besonders wichtig erachten: Nennungen Lebensalter, -phase Kindheit und frühe Kindheit Pubertät, Jugend Adoleszenz, junge Erwachsene ab 18, Arbeitsbeginn, Familiengründung Midlife, Menopause (40 – 50) Alter Rente 20 13 08 03 03 Es gibt kein Alter in dem seelische Gesundheit nicht gefährdet ist Tab. 5: Lebensalter 32 Die Bedingungen und Faktoren der familiären Umwelt, die besonders fördernd oder gefährdend für die seelische Entwicklung sind, werden in den freien Antworten zu den Fragen drei, fünf und sieben sehr ausführlich dargestellt. Hier habe ich die angegebenen Begriffe wörtlich übernommen und thematisch zusammengefasst, wie aus der nachstehenden Tabelle ersichtlich ist: Fördernde Bedingungen normale, intakte Familie Geborgenheit, Sicherheit, Angenommen sein stabile, sichere Bindung, Zusammenhalt Nennungen 12 09 06 positive Entwicklung, glückliche Kindheit Trost, Unterstützung, stärkender Hintergrund Förderung, Lernen, Fördern von Kompetenzen Selbständigkeit, Selbstwertvermittlung, Abgrenzung Positive Autorität, angemessene Sanktionen Gefährdende Bedingungen 06 06 05 05 02 Nennungen Gewalt, Missbrauch Mangelnde Bildung von Urvertrauen Vernachlässigung, mangelnde Zuwendung, Liebe schwieriges Elternhaus, kaputte Familie Beziehungsprobleme der Eltern, Scheidung Mangelnde Vorbereitung aufs Leben Fehlen von Autorität Tab. 6: fördernde und gefährdende Bedingungen für SG 13 07 05 04 03 02 01 Die gefährdenden Bedingungen wurden vor allem in der Frage 7, der Frage nach den häufigsten und gravierendsten Gefahren für die psychische Gesundheit angegeben. Auch hier lässt sich gut ein Bezug zur Theorie herstellen, und zwar im Vergleich mit dem Circumplexmodell der Bedingungen ( Abb. 1, S. 12), indem Becker das direkte Verhalten der bedeutenden Bezugsperson (Eltern) gegenüber der Person (Kind) beschreibt. Eine Übereinstimmung von Theorie und Praxis, die von den Experten verkörpert wird, sehe ich vor allem in folgenden vier der Oktanten von Becker: Dimension des Verhaltens der Bezugsperson nach Becker: Begriffe von Experten: Bedingungen für hohe seelische Gesundheit Wertschätzung (achten, annehmen, Liebe Geborgenheit, Sicherheit, angenommen zeigen, Verständnis zeigen, Hilfe anbieten, sein, Selbstwertvermittlung, Trost, vertrauen,...) Unterstützung Fördernde Anleitung (anleiten, anregen, Fördern, Lernen, Fördern von helfen, behüten, beschützen, Kompetenzen, stärkender Hintergrund, unterrichten,..) Unterstützung, Selbständigkeit fördern Bedingungen für niedrige seelische Gesundheit (Gefahren) Geringschätzung (Desinteresse zeigen, Mangelnde Zuwendung und Liebe, verletzten, demütigen, quälen, misstrauen, Mangelnde Bildung von Urvertrauen, ablehnen,..) Gewalt, Missbrauch Vernachlässigung (vernachlässigen, Vernachlässigung, fehlen von Autorität gleichgültig sein, seinen Pflichten nicht nachkommen,..) Tab. 7: Vergleich zwischen Becker / Experten zu Bedingungen für SG Man sieht in diesen Bedingungen eine hohe Übereinstimmung zwischen der wissenschaftlichen Theorie und der Meinung der Experten. Widersprüchliche Aussagen bezüglich fördernden vs. gefährdenden Bedingungen gibt es bei dieser Erhebung nicht. In Frage 10 habe ich verschiedene Faktoren für innerfamiliäre Umwelt angegeben und um die Bewertung auf einer Skala von 1 – 10 gebeten (1=unwichtig, 10= sehr wichtig). Kriterium Bindung / Beziehung Erziehung / Erziehungsstile Umwelt (innerfamiliär) Tab. 8: Auswertung innerfamiliärer Kriterienkatalog Bewertungsdurchschnitt 9.89 8,04 8,13 Insgesamt bestätigt das Ergebnis der Expertenmeinung eine hohe Bedeutung der interfamiliären Umwelt für die Entwicklung seelischer Gesundheit, was ja mit der Theorie übereinstimmt. Außerfamiliäre, soziale Umwelt Becker schenkt den Umweltbedingungen nur systemische Beachtung. Er geht davon aus, dass jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, seine Umwelt – zumindest in bestimmten Grenzen – selbst zu beeinflussen. Er behandelt die Frage, worin sich die Umwelten von Personen mit hoher und niedriger Gesundheit unterscheiden. Er geht aber nicht darauf ein, welche objektiven oder subjektiv wahrgenommenen Umweltbedingungen sich positiv oder negativ auf die Entwicklung der seelischen Gesundheit von Menschen auswirkt. Anders sieht es in der Expertenbefragung aus. Hier geht es um die Erfassung konkreter Bedingungen der Umwelt, die als Unterstützung oder als Gefahr gesehen werden. Die Experten sollten in Frage 7 die häufigsten und gravierendsten Gefahren nennen, in Frage 3 die förderlichen Bedingungen, die sie im Bezug auf seelische Gesundheit als wichtig erachten: Als häufigste und gravierendste Gefahren wurden folgende genannt: Live events3 Unfall Tod Schicksalsschlag Scheidung, Trennung Andauernde Belastungen 05 06 05 05 Stress, Überforderung, Leistungsdruck Arbeitslosigkeit, Verlust der Arbeitsstelle Seelische Gewalt (Mobbing) schlechtes, instabiles Umfeld, schwere Lebenssituation Traumatische Erlebnisse 02 Ablehnung durch andere Gewalt, Missbrauch 07 Einsamkeit, Isolation Tab. 9: Gefahren in der soz. Umwelt für SG 10 06 05 05 05 03 Als positive, inhaltliche Aspekte einer fördernden Umwelt wurden genannt: stabile, ausgeglichene, harmonische Umwelt, gesund, fördernd Freunde, menschliche Beziehungen, Kommunikation, eingebunden, anerkannt Günstige Bedingungen: Beruf, Ausbildung, Wohnsituation Liebe, Sex 14 12 04 04 3Live events sind kritische, unvorhersehbare Lebensereignisse, die eine hohes Maß an Lebensveränderung mit sich bringen und das bislang aufgebaute Person-Umwelt-Passungsgefüge bedrohen. sinnvolle Aufgaben, Arbeit Tab. 10: fördernde Aspekte der soz. Umwelt 03 Es ergibt sich an dieser Stelle die Frage, inwieweit der Mensch nun Verantwortung trägt oder Möglichkeiten hat, auf seine Umwelt einzuwirken, bestimmte Umwelten aufzusuchen oder zu meiden. Diese Frage habe ich so konkret nicht gestellt, ich verweise hier auf Frage vier, in der nach der Selbstverantwortung für den Erwerb eines positiven Selbstkonzeptes gefragt wurde. Bezüglich Selbstverantwortung und Umwelt gibt es in den Fragebögen folgende Aussagen: Selbstverantwortung wurde ab einem bestimmten Lebensalter angegeben: zwei der Befragten sind der Meinung, dass Selbstverantwortung ab dem 7. Lebensjahr beginnt, zehn Experten nannten die Pubertät als Beginn dafür und drei das 18. Lebensjahr. Eine Lebenslange Selbstverantwortung, entsprechend der Entwicklung gaben vier Experten an. Es werden folgende Bereich angegeben, für die die Experten Selbstverantwortung und Einflussmöglichkeiten des Einzelnen sehen: Aufbau eines unterstützenden sozialen Umfeldes (Familie, Freunde) Entscheidung für den rechten Weg (Familie, Beruf) sich helfen und behandeln lassen, prof. Hilfe in Anspruch nehmen „Jeder ist seines Glückes Schmied“ Tab. 11: Selbstverantwortung für SG 4 4 4 1 Es gibt also insgesamt 13 Angaben für Selbstverantwortung mit einer Gegenstimme, die das Schicksal als alleinverantwortlich bewertet. Daraus ließe sich schließen, dass die Experten durchaus Selbstverantwortung bzw. Einflussmöglichkeiten auf ihre Umwelten sehen. Da die Frage aber nicht spezifisch darauf gerichtet war, sehe ich die Gefahr, zu spekulativ und interpretativ auszuwerten, deshalb möchte ich es nicht weiter verfolgen. Zusammenfassend stelle ich fest, dass die Bedeutung der sozialen Umwelt durchaus hoch eingeschätzt wird als Bedingungsfaktor für seelische Gesundheit, im Vergleich zur innerfamiliären Umwelt (8,13) nur weniger als einen Bewertungspunkt geringer (Frage zehn wurde zu dem Aspekt „unmittelbares soziales Umfeld (Verwandte, Freunde, Kollegen)“ mit durchschnittlich 7,42 bewertet). Ein unmittelbarer Vergleich der Ergebnisse zwischen Theorie und Expertenmeinung lässt sich an dieser Stelle leider nicht vornehmen, da die Betrachtungsperspektiven zu unterschiedlich waren (Theorie – systemisch, Experten – inhaltlich). Persönlichkeitsmerkmale Becker hat Persönlichkeitseigenschaften anhand des Trierer Persönlichkeits-fragebogens ermittelt. Dieser Studie hat er allerdings eine Forschungsarbeit vorangestellt, die zu einem weitgehend übereinstimmenden Begriffsverständnisses führen sollte. Er hat vor allem die engeren Eigenschaftsbegriffe in Sprachverständnis befragter Personen verglichen, was verstehen Menschen z. B. unter dem Merkmal „Extraversion“? Er hat dann jene als Unterbegriffe verwendet, die am übereinstimmendsten genannt wurden. Auch in meiner kleinen Untersuchung tauchte in den persönlichen Gesprächen mit den Experten immer wieder Unklarheit bezüglich des Begriffs Persönlichkeits- eigenschaften auf. Es war nicht klar, ob es eine Charaktereigenschaft oder ein Wesenszug ist oder ob Optimismus und Pessimismus damit gemeint sind usw. Ich gebe daher zu bedenken, dass diese Unklarheit das Ergebnis möglicherweise beeinflusst hat. Dafür, dass dieser Begriff den Befragten nicht klar war, spricht auch, dass dieser Begriff in den offenen Fragen nicht mehr direkt aufgegriffen wurde. In Frage 1 wurde von den fünf genannten möglichen Ursachen für seelische Gesundheit das Persönlichkeitsmerkmal mit 13 Nennungen an vierter Stelle platziert – punktgleich mit dem Faktor Schicksal. In Frage drei wurden als Faktoren, die die seelische Gesundheit positiv beeinflussen, unter anderem Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, optimistisches Wesen, Humor und Durchsetzungsvermögen genannt. Dies kann in etwa den Persönlichkeitseigenschaften zugeordnet werden. Speziellere Aussagen zu dem Begriff gab es nicht. An dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig eine exakte, klare Begriffsklärung als Voraussetzung für die Gültigkeit einer wissenschaftlichen Arbeit ist. Biologische Faktoren In der Theorie von Becker, die die Grundlage meiner Arbeit ist, wird zwar immer wieder erwähnt, dass der genetische Faktor wichtig ist, er wird aber nicht näher behandelt und beschrieben. Ebenso ist es bei den Experten. Bei den direkten Fragen nach der Wertung der genetischen Disposition werden relativ hohe Zahlen erreicht, in den offenen Fragen wird aber nur selten und knapp darauf eingegangen: In Frage eins wird die Möglichkeit, dass psychische Gesundheit genetisch determiniert ist, mit 23 Nennungen als drittstärkste angegeben, hinter Erziehung und Umwelt (jeweils 27 Nennungen). In Frage drei bezüglich der wichtigsten Voraussetzungen wurde dreimal Erbanlage genannt und dreimal Freiheit von schwerwiegenden, körperlichen Störungen. In Frage vier wurde die Selbstverantwortung dreimal verneint mit der Begründung der genetischen Determination. In Frage sieben wird genetische Vorbedingung bzw. -belastung dreimal als Risikofaktor genannt Das Thema Hormone wurde nur einmal mit einer Nennung in Frage vier angesprochen, hier wurde die Menopause als kritische Phase erwähnt. Ich führe diese Ergebnisse darauf zurück, dass die Experten in ihrem Berufsalltag mit dem aktuellen, sozialen Leben zu tun haben und nicht mit Vererbungslehre. Hätte ich diese Fragen Genetikern gestellt, wäre das Schwergewicht vermutlich genau umgekehrt gelagert gewesen. Aber selbst die Ergebnisse der zahlreichen neuersten Forschungs- ergebnisse bezüglich Genetik und Funktion des Zentralnervensystems können ihre Aussagen nie mit Sicherheit treffen. Es geht dann um Annahmen, die nahe liegen, aber nicht bewiesen werden können, um an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeiten, usw. „Meine Hypothese“: Nun komme ich zur Überprüfung der Hypothese, dass es geschlechts- und / oder berufsspezifisch unterschiedliche Bewertungen der einzelnen Bedingungsfaktoren für seelische Gesundheit gibt. Anhand von fünf ausgewählten Faktoren (siehe Frage 10), die als maßgeblich für die Entstehung seelischer Gesundheit angegeben wurden, werde ich in der folgenden Tabelle die Bewertungsergebnisse von Frauen und Männern, von Sozialpädagogen und den Experten aus anderen Berufsgruppen gegenüberstellen: Geschlechts- und berufsspezifische Bewertungsunterschiede Aspekt: Bindung, Beziehung Erziehung, -stile Umwelt (Freunde, ...) Genetische Präposition Frauen 8,84 8,23 7,09 7,09 Männer 9,00 7,82 7,66 6,33 DurchSoz.-Päd. Andere Schnitt Berufe 8,92 9,00 8,90 8,04 7,87 8,04 7,42 8,08 7,16 6,76 7,43 6,50 Hormone 6,18 Tab. 12: Bewertungsunterschiede 6,33 6,26 6,57 6,15 Wie wir sehen sind die Unterschiede jeweils geringer als ein Bewertungspunkt untereinander und geringer als 0,5 Punkte zum allgemeinen Durchschnitt. Die Differenzen zwischen den Individuen einer Geschlechts- bzw. Berufsgruppe hingegen waren höher: sie lagen zwischen 3 und 10 auf der Bewertungsskala bezüglich den einzelnen Faktoren (ausführliche Skala mit Einzelaufstellung ist im Anhang II hinterlegt). Also wird klar, dass es keine nennenswerten Bewertungsunterschiede gibt. Die Hypothese einer geschlechts- oder berufsspezifischen Wertung hat sich zu dem Thema: Bedingungen für seelische Gesundheit erübrigt. 4 Zusammenfassender Vergleich und Wertung Die Experten, die ich befragt habe, hatten, wie wir gesehen haben, ähnliche Meinungen wie die Theoretiker, die oben besprochen wurden. Am eindeutigsten konnte die Übereinstimmung bezüglich der seelischen Gesundheit allgemein und der innerfamiliären Bedingungen und ihrer Bedeutung herausgearbeitet werden. Als unterschiedlich sind die Sichtweisen, die Perspektiven von denen aus die einzelnen Aspekte des Themas betrachtet und bearbeitet wurden, zu erkennen. Während die Wissenschaftlicher möglichst allgemeingültig, möglichst alle Bereiche miteinschließend vorgehen, haben die Experten, neben ihrer theoretischen Ausbildung, vor allem ihre praktische Umsetzung in der alltäglicher Beziehungsarbeit und die konkrete Gestaltung der unmittelbaren Umwelt an ihrem Arbeitsplatz mit speziellen Personen als Grundlage ihrer Erkenntnisse. Das wurde besonders in der unterschiedlichen Beschreibung der Umweltbedingungen deutlich. Während für die Methodik des Wissenschaftlers Becker die abstrakte, systemische Betrachtungsweise im Vordergrund steht, sind für die Experten die konkreten, praktischen Inhalte wichtig. III Resümee und Ausblick Zum Abschluss dieser Arbeit werde ich nun die erarbeiteten Aspekte zusammenfassen und versuchen, einen Ausblick zu geben vor dem Hintergrund eines kurzen Rückblicks auf die Geschichte. 1 Meine Fragen und Erkenntnisse aus Theorie und Expertenmeinung Nach der Beschäftigung mit Theorien von Wissenschaftlern und Sichtweisen von Fachleuten aus der Praxis stelle ich noch mal die Fragen: „Was aber ist nun seelische Gesundheit?“ und „Was braucht der Mensch um seelisch gesund zu sein?“ Das Leben selbst ist weder ein „Zustand“ noch begrenzt auf einen oder wenige Faktoren, es ist ein fortwährender Prozess dynamischer Interaktion zwischen den Dimensionen genetische Ausstattung und Umwelt. Seelische Gesundheit ist ein wichtiger Teilaspekt in der individuellen Lebensgeschichte jedes Menschen, er entwickelt sich in Abhängigkeit und Bedingtheit mit allen anderen Subsystemen des komplexen „Modells Mensch“. Bereits bei der Zeugung wird die genetische Ausstattung festgelegt, das Erbgut setzt sich zu 50% von der Mutter und zu 50 % vom Vater zusammen. Warum aber können Geschwister dann so verschieden sein? Weil neben den festgelegten, typischen genetischen Merkmale der „Rasse Mensch“, gehäuft ähnliche Merkmale innerhalb der Verwandtschaft aber eben auch ganz individuelle, niemals ganz gleiche bei jeder Person wirksam werden. So hat die Zwillingsforschung z.B. bei eineiigen Zwillingen (die eine 100%ige genetische Übereinstimmung haben) festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass beide psychisch erkranken, nur bei ca. 50% liegt (vgl. Bourne, et al, 2001, 35) Die genetische Determinante halte ich für schicksalhaft. Der menschliche Einflussbereich „Umwelt“ beginnt aber bereits für den Embryo im Mutterleib. Die Gefühle, wie Ängste und Freude oder aber Krankheit und Not, wirken auf das noch ungeborene Leben ein. Der neugeborene Mensch ist – im Gegensatz zu den Tieren – sehr mangelhaft mit Instinkten ausgestattet, er ist darauf angewiesen zu lernen um zu überleben. Die Voraussetzung dafür gibt ihm das genetisch festgelegte Zentralnervensystem, mit einer unbegrenzten Kapazität an Aufnahme- , Verarbeitungs- und Speichermöglichkeit für Umweltreize. Um es in der Computersprache zu formulieren: Die „Hardware“ ist also angeboren, die „Programmierung“ bzw. „Software“ findet durch die Interaktion mit der Umwelt statt. Ich stimme mit der Theorie völlig überein, dass die familiären Umweltbedingungen in den ersten Lebensjahren besonders prägend sind. Diese wird sowohl von Psychologen, Genetikern wie auch von Gehirnforschern und „meinen“ Experten vertreten. Die Entwicklung von Persönlichkeitseigenschaften, von Kompetenzen und vom Selbstkonzept insgesamt, erfährt in dieser sensiblen Phase die tiefsten Prägungen, die ursächlich sind für jede weitere Entwicklung. Dabei halte ich das grundlegende und natürliche Angenommenwerden, die Liebe, die Wertschätzung und Verlässlichkeit für die wichtigste Dimension. Eine damit erworbene emotionale Befriedigung und Stabilität („Urvertrauen“) begünstigt in der Folge auch den Erwerb von Fähigkeiten, Kompetenzen und Selbständigkeit, der ein ganzes Leben lang progressiv bleiben soll. Ein so positiv „ausgestattetes“ Kind wird auch seine weiteren Umweltbedingungen grundsätzlich positiv beeinflussen können und eher günstige Umwelten (Freunde, Gruppen, Freizeitaktivitäten,...) aufsuchen. Daraus entwickelt sich ein positiver Kreislauf, der sich fortsetzten kann, wenn er nicht durch besondere Belastungen, wie Dauerstress, traumatische Erlebnisse, schwere Schicksalsschläge oder schwere Krankheit / Unfall gefährdet oder unterbrochen wird. Aber auch die Krisenbewältigung ist wieder abhängig von der sozialen Erfahrung, von erlernten Konfliktlösestrategien durch günstige oder ungünstige Modell in der Vergangenheit und in Abhängigkeit der auch genetisch beeinflussten Verletzlichkeit. Doch die Frage stellt sich, warum bestimmte Belastungen, z.B. Stress bei dem einen Menschen eine psychische oder somatische Krankheit auslösen und bei dem anderen nicht? Vielleicht hatten beide auch noch eine etwa gleich „gute oder schlechte“ Kindheit? Diese Frage möchte ich mit Hilfe des Vulnerabilitätskonzept bzw. Diathese – Stress - Modells anschaulich beantworten: Dieses Modell veranschaulicht, wie die beiden Grundfaktoren, also die genetische Ausstattung und die psychosozialen Umwelteinflüsse zum einen untereinander in dynamischem Prozess stehen und wie zum Andern aus beiden die individuelle Verletzlichkeit (Neigung, Bereitschaft) des Menschen entsteht, durch Stress (andauernde belastende Umstände oder plötzliche Schicksalsschläge) die seelische Gesundheit zu beeinträchtigen oder zu verlieren (dauerhaft oder vorübergehend). Das Vulnerabilitätskonzept oder Diathese – Stress - Modell: Angeborene und erworbene Psychosoziale Einflüsse biologische Einflüsse Verletzlichkeit (Neigung, Bereitschaft) hohe niedrige Stress Person A: leichte oder schwere Erkrankung Stress Person B: keine bis leichte Erkrankung Abb. 5 Ebenso ist die Höhe der Verletzlichkeit kein stabiler Faktor, er verändert sich im Laufe des Lebens eines Menschen, abhängig von der Veränderung der Einflussfaktoren und ihrer Wechselwirkung untereinander. So lange sich der dynamische Prozess unseres Lebens um einen stabilen Mittelwert bewegt, sind wir seelisch gesund. 2 Blick zurück in die Geschichte und Ausblick Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ermöglicht uns ein Blick in die Geschichte eine Vorstellung davon, wie sich der Begriff der Gesundheit und Krankheit des Menschen, im Wandel der Zeit verändert hat. Dies betrifft nicht nur die Medizin und die relativ junge Wissenschaft der Psychologie, sondern auch die Philosophie und später die Soziologie. Ausschlaggebend für die Bedeutung des „gesunden Menschen“ war nicht zuletzt die Politik und die Wirtschaft, die maßgeblich an der Bestimmung der ethischen Grundsätzen ihrer Zeit beteiligt waren. Aus der Antike ist uns eine philosophisch – medizinische Auffassung überliefert. Von Platon (427-347 v. Chr.) stammt die Aussage: „Gesundheit ist Harmonie und vernünftige Mischung der Gegensätze“. Hippokrates (460-380 v. Chr.) vertrat die Lehre der Körpersäfte. Die richtige Mischung von Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle bestimmen Gesundheit (vs. Krankheit). Er vertrat bereits die Ansicht, dass Gesundheit und Krankheit Körper und Seele betreffen. Er legte bei seiner Diagnose wie auch bei seiner Therapie schon großen Wert auf Umwelteinflüsse und Lebensweise des Menschen. Es herrschte in der Antike die Diskussion über das kosmologische Modell vor, das besagt, dass der Einzelne faktisch eingebunden in den Kosmos und seine Gesundheit Teil des Ganzen ist. Zum Anderen aber ist der Einzelne analog zum Kosmos sozusagen ein eigener Demiurg (Weltbaumeister, Weltenschöpfer), der in sich ruht und zugleich seine Veränderungen mitbestimmt und somit über seinen Zustand der Gesundheit verfügt (vgl. Wydler et al, 2000, 24f). Der Gedanke der Antike wirkt bis ins 16. Jhd. hinein, verfällt dann aber immer mehr, bis am Ende des 18. Jhd. der Mensch in Mitteleuropa lediglich als ökonomischer Faktor und Objekt öffentlicher Verwaltungsaktivitäten begriffen und behandelt wird. Die Arbeitskraft des Einzelnen stellt in der Zeit der Industrialisierung einen wichtigen Faktor für die Vergrößerung des nationalen Wohlstandes dar. Die Medizin entwickelt enorme technische Fortschritte, und wird im schlimmsten Fall zur „Reparaturwerkstatt“ (siehe Einleitung). Erst zum Ende des 19. Jhd. etabliert sich die Psychologie neben den Naturwissenschaften immer mehr und verhilft der Seele des Menschen wieder zu einem größeren Stellenwert. Im 20. Jhd. entwickeln bekannte Psychologen verschiedene Schulen (tiefenpsychologische, humanistische, kognitive,...), die aus verschiedenen Blickwinkeln menschliches Erleben und Verhalten, auch in Bezug auf seelische Gesundheit und Krankheit erforschen und daraus Therapieformen gründen. Seit dem Ende des 20. Jhd. geht man dazu über, diese einzelnen Sichtweisen weiter zu entwickeln und zu einer ganzheitlichen Sicht des Menschen zu verbinden und auch entsprechend für die Psychotherapie zu verwenden (vgl. Becker u. Wagner, 1999, 9) In Zukunft wird sich die Psychologie wie auch die Medizin meiner Meinung nach weiter auf eine ganzheitliche Sichtweise des Menschen und auf eine noch stärkere Beachtung seiner seelischen Gesundheit hin entwickeln. Nicht nur erfreuliche, sondern auch (ethisch) bedenkliche Fortschritte erwarte ich im Bereich der Biologie, vor allem der Genforschung. Ich finde die Frage beunruhigend, inwieweit es der Wissenschaft gelingen wird, die genetisch Ausstattung zu gestalten. Im Bezug auf die sozialen Umweltbedingungen für seelische Gesundheit befürchte ich, dass wir einen positiven „Höhepunkt“ bereits überschritten haben. Der Sozialstaat, der allen Staatsbürgern möglichst gleiche Bedingungen schaffen sollte, wird abgebaut. Die Hilfen für sozial Schwächere, für Menschen, die aus eigener Kraft nicht für gute wirtschaftliche und soziale Bedingungen sorgen können, werden gekürzt. Wie aus Theorie und Expertenmeinung hervorgeht, ist der Arbeitsplatz ein wichtiger Umweltbereich für die Sicherung seelischer Gesundheit im Hinblick auf die Sicherung der Existenz wie auch im Bereich der Selbstverwirklichung und Befriedigung von internen Anforderungen ( siehe Beispiel Arbeitswelt, S 11) Die zunehmende Arbeitslosigkeit betrifft vor allem auch junge Menschen, die keine Möglichkeit haben eine entsprechende Ausbildung oder Lehre zu machen. Ihre seelische Gesundheit ist dann in der wichtigen Phase des Übergangs ins Erwachsenenlebens besonders gefährdet. Sie werden beträchtliche Schwierigkeiten hinsichtlich Sinn- und Zielfindung haben. Ihre Möglichkeiten für Selbstaktualisierung, Aufbau von Selbstwertgefühl, soziale Anerkennung und Integration sind stark eingeschränkt bis unmöglich. Es besteht für so benachteiligte Jugendliche eine erhöhte Gefahr eines erhöhten Risikoverhaltens (Drogen, Gewalt, Kriminalität, Prostitution,...). Aber auch für Erwachsene, seelisch gesunde Menschen, bedeutet häufig der Verlust des Arbeitsplatzes nicht nur eine wirtschaftliche und existenzielle Notlage sondern auch eine soziale Ausgrenzung, und stellt damit eine Gefährdung für die Betroffenen und ihrer Familien dar. Ich kann nur hoffen, dass sich unsere Gesellschaft nicht zu weit von dem Wert der sozialen Gerechtigkeit entfernt und dem Berufsstand der Sozialpädagogen weiterhin die (finanzielle) Möglichkeit gegeben wird, da ausgleichend tätig sein zu können, wo Menschen aufgrund körperlicher, geistiger, psychischer oder sozialer Handicaps nicht in der Lage sind, selbständig für sich Bedingungen zu schaffen, die ihre seelische Gesundheit ermöglichen. Zum Abschluss möchte ich noch Dank sagen an meine Arbeitskolleginnen und Kollegen, für ihre nette Mitarbeit in Form der sehr ausführlich beantworteten Fragebögen. Ohne “meine Experten” wäre diese Arbeit so nicht möglich gewesen. 3 Literaturhinweise: Becker Peter, 1995, Seelische Gesundheit und Verhaltenskontrolle Göttingen, Bern, Toronto, Seattel, Verlag für Psychologie, Hogrefe Wagner Rudolf F u. Peter Becker (Hrsg.), 1999, Allgemeine Psychotherapie Göttingen, Bern, Toronto, Seattel, Verlag für Psychologie, Hogrefe Wiswede Günter, 2004, Lexikon der Sozialpsychologie, München, Lion, R. Oldenbourg Verlag Wydel Hans, Petra Kolip, Thomas Abel (Hrsg.) 2000, Salutogenese und Kohärenzgefühl, Grundlagen, Empirie und Praxis eines gesundheitswissenschaftlichen Konzepts Weinheim und München, Juventa Verlag Nolting Hans-Peter, Peter Paulus 1999, Psychologie lernen, eine Einführung und Anleitung Weinheim und Basel, vollständig überarbeitete Neuausgabe, Beltz Verlag Bourne L. und B. Ekstrand, 2001, Einführung in die Psychologie, Eschborn bei Frankfurt am Main, Verlag Dietmar Klotz Schwarzer R., M. Jerusalem, H. Weber (Hrsg.) 2002, Gesundheitspsychologie von A bis Z, ein Handwörterbuch, Göttingen (u.a.) Hogrefe Verlag Thule von Uexkül, et al, 2003, Psychosomatische Medizin München, Jena, Urban u. Fischer Verlag Netolitzki Hansjörg, Paul L. Janssen 1987, Neurologie und Psychiatrie in Frage und Antwort Stuttgart, New York, Georg Thieme Verlag Höfer Renate, 2000, Jugend, Gesundheit und Identität, Studien zum Kohärenzgefühl, Opladen, Leske und Buderich Olbrich R. (Hrsg.) 1990, Therapie der Schizophrenie Stuttgart, Berlin, Köln, Kohlhammer Internet: http://www.famielenhandbuch.de/cmain/a_Hauptseite.html (Stand am 11.10.04) http://www.psychotherapie-prof-bauer.de/selk.htm (Stand am 14.10.04) http://www.weltgesundheitstag.de/2001/Themen/pott.html (Stand am 14.10.04) Zeitschrift: Gehirn und Geist, 2/2004, das Magazin für Psychologie und Hirnforschung, vom Verlag: Spektrum der Wissenschaft, vorhanden im Lesesaal der FH-Bibliothek Fragebogen für Profis aus der Psycho-Sozialen Versorgung zum Thema: „ Psychische Gesundheit – Schicksal oder Persönlichkeitsmerkmal“ Angaben zur Person (freiwillig): Alter: ...................., Geschlecht: ............................. Erlernte(r) Beruf(e): ..................................................................................................................... Ausgeübte(r) Beruf / Tätigkeit:..................................................................................................... .........................................................................................seit: ...................................................... 1.) Ist psychische Gesundheit: Schicksal Persönlichkeitsmerkmal Genetisch determiniert Ergebnis von Erziehung (Elternhaus) Ergebnis von Lernerfahrung im sozialen Umfeld 2.) Was ist psychische Gesundheit überhaupt? 3.) Was sind die wichtigsten Voraussetzungen, Bedingungen, Faktoren, etc. für seelische Gesundheit? 4.) Inwieweit ist der Mensch selbst verantwortlich für seinen Erwerb eines positiven Selbstkonzeptes? (in welchem Alter?) 5.) Bedeutung der Familie und des sozialen Umfeldes? 6) Wie können Pädagogen positive, förderliche Prozesse unterstützen und konstruktiv auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen einwirken? 7.) Was sind aus Ihrer praktischen Erfahrung heraus die häufigsten oder gravierendsten Gefahren für die psychische Gesundheit? 8.) Ist jeder Mensch potentiell gefährdet seine seelische Gesundheit zu verlieren? 9.) Erkennen Sie ein Lebensalter, das für Entwicklung / Erhalt der seelischen. Gesundheit besonders wichtig ist? Gibt es ein Alter, indem sie nicht mehr gefährdet ist? 10.) Im folgenden Abschnitt bitte ich Sie, die angegebenen Kriterien (aus der Fachliteratur ) nach einer Werteskala von 1 bis 10 zu beurteilen (1= unwichtig, 10=sehr wichtig), auch für Anmerkungen dazu bin ich dankbar: Entwicklungspsychologische Aspekte: Bindung/ Beziehung zwischen Eltern u. Kind Erziehung / Erziehungsstile Befriedigung von Grundbedürfnissen Befriedigung von erworbenen Bedürfnissen („Zivilisationsbedürfnisse“) Positive Bewältigung der Entwicklungsphasen Selbstaktualisierungsmöglichkeit Umgang mit Emotionen Vermittlung von Werten, Normen, Regeln Soziales Umfeld (Lernprozesse, Modelle, Vorbilder,..) Genetische Aspekte: Genetische Präposition Hirnorganische Disposition Hormone Umweltfaktoren: Unmittelbares Soziales Umfeld (Verwandte, Freunde, Kollegen) Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsschicht / Kulturkreis Häufiger Wechsel des Umfeldes (durch Umzug, etc.) Traumatische Erlebnisse (Missbrauch, Gewalt, ...... 11.) Welche weiteren Aspekte sind Ihrer Meinung / Erfahrung nach noch wichtig für dieses Thema, die in meinen Fragen nicht berücksichtigt wurden?