Vorlesungsskript

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Magdalena Hahn-Ritzkat
Dipl. Soz. Päd. (FH)
Gruppenarbeit GESU
Reader zum Seminar „Gruppenarbeit“
Wintersemester 2003/2004
Gliederung
Gliederung
Gliederung .................................................................................................................................. 2
Einleitung ................................................................................................................................... 3
A.
Anfangssituationen ......................................................................................................... 5
Aufgabe 1: ............................................................................................................ 8
Aufgabe 2: ............................................................................................................ 8
B.
Phasen des Gruppenprozesses ........................................................................................ 9
I. Forming ........................................................................................................................ 10
Aufgabe 3: .......................................................................................................... 12
II. Storming ....................................................................................................................... 14
III.
Norming ................................................................................................................... 17
IV.
Performing ................................................................................................................ 19
D.
Gruppendynamik .......................................................................................................... 21
E.
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung ................................................................ 27
Sündenbock, Außenseiter ..................................................................................................... 27
Aufgabe 4: .......................................................................................................... 35
Rollenverteilung ................................................................................................................... 35
F.
Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 40
G.
Anhang ......................................................................................................................... 41
Wandzeitung......................................................................................................................... 41
Kennenlernspiel .................................................................................................................... 42
Kennenlernspiel .................................................................................................................... 43
Namenskette ......................................................................................................................... 44
© Magdalena Hahn-Ritzkat (MHR) 2003
[email protected]
Einleitung
Einleitung
Die ausgewählten Texte im „Reader”1,2 habe ich
zusammengestellt, um Ihr Wissen und Handwerkszeug für
Ihrer Arbeit mit Gruppen zu erweitern.
Unabhängig davon, ob Sie

thematisch ausgerichtete Gruppen anbieten mit
dem Ziel, Information zu vermitteln oder

in eine Teamgruppe eingebunden sind, deren
Ziele optimale Organisation der Arbeit durch
Kooperation und Arbeitsteilung sind oder

psychosoziale, selbstreflexive Gruppen
leiten, mit dem Ziel der Verhaltensänderung
und dem Training sozialer Kompetenz,
Der Erfolg hängt davon ab, ob das Mannschaftsspiel
gelingt. Immer werden Sie, wenn auch mit
unterschiedlichem Fokus, mit der Dynamik der Gruppe
arbeiten können und müssen.
In der Sozialen Arbeit, sowie in der Gruppenarbeit gibt
es selten Standardsituationen und Standardantworten.
Es kommt darauf an, bei unterschiedlichsten Aufgaben in
verschiedensten Gruppen in der konkreten Situation
handlungsfähig zu sein. Diese stellt immer ein
komplexes System dar, z. B. Kommunikation oder
Rollenkonstellation in Gruppen.
Jede Gruppe ist einmalig. Immer gilt es, Ihr
Handwerkszeug auf diese Situation abzustimmen, also zu
wissen, wie Sie komplexe Systeme zu befragen haben und
wie Sie fragend analysieren.
1
Reader, engl., der: Lesebuch mit Auszügen aus der [wissenschaftlichen] Literatur und verbindendem Text.
DUDEN Fremdwörterbuch, 3. Aufl. DUDEN Band Nr. 5, Bibliographisches Institut AG, Mannheim 1974
2
Die ausgewählten Textstellen sind im Schriftfont >>Times New Roman<< formatiert. Mein verbindender,
eigener Text steht in >>Courier New<<.
3
Einleitung
Aus meiner Sicht kommt es darauf an, dass Sie in der
praktischen Arbeit mit einer bestimmten Gruppe
 Ihre Wahrnehmung,
 Ihr Handeln und
 die daraus resultierenden Folgen
reflektieren und als professionelles Handwerkszeug
einsetzen.
Außerdem müssen Sie
 die Phänomene in der Gruppe,
 das Gruppenentwicklung und
 das Verhalten des Einzelnen
miteinander in Bezug setzen und zielführend befragen.
Damit hätten Sie eine hohe Kompetenz erreicht.
Die Kompetenz des zielführenden Fragens zu erwerben,
setzt Wissen über Wirkfaktoren und Gruppendynamik
sowie Erfahrung in Gruppen voraus.
Für eine kompetente Gruppenleitung (GL) ist eine
theoretische Grundlage notwendig plus eine hohe,
selbstreflexible Kompetenz, die wir nur in der
Begegnung und Auseinandersetzung mit Anderen erwerben
können.
4
Anfangssituationen
A. Anfangssituationen
In der einschlägigen Literatur zur Gruppenarbeit wird
die Bedeutung der Anfangssituation besonders betont und
behandelt. In der Arbeit mit Gruppen, entscheidet der
Verlauf der ersten Sitzung oft über den Fortbestand der
Gruppe. Obwohl im Kapitel über Gruppenphasen auch die
Anfangssituation beschrieben ist, möchte ich diese
wegen ihrer Wichtigkeit hier extra behandeln.
[Schmidt-Grunert,
aaO.
S.
204]
Jedes
Gruppenmitglied
kann
sich
an
Anfangssituationen und Ängsten in Gruppen erinnern, die sie mehr oder weniger
angenehm erlebt haben, sei es im Kindergarten, in der Schule, in Freizeitgruppen und
nicht zuletzt im Studium. Jede und jeder hat sich selbst in großen, oft
unüberschaubaren Gruppen und in kleinen, überschaubaren Gruppen erfahren und
erlebt. Anfangssituationen können diese Erfahrungen reaktivieren,
[Antons, aaO. S.301] Das einzelne Gruppenmitglied sieht sich insbesondere am Anfang
einer Gruppe oder eines Seminar mit einer neuen Situation konfrontiert. Es ist aus
seiner gewohnten psychischen und sozialen Umwelt heraus in eine ihm fremde Umgebung
versetzt. So ist ihm z. B. das Seminargebäude [die Rehaklinik; Anm. MHR]
unbekannt, die anderen Teilnehmer sind ihm fremd, das Seminar selbst kennt es noch
nicht. Diese Situation erzeugt häufig negative Gefühle wie Unsicherheit, ängstliche
Beklommenheit, Einsamkeit, Fremdheit, Gespanntheit. Diese Gefühle sind sicher nicht bei
allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen gleicher Art und gleich stark, sie sind aber dennoch
in der Gruppe vorhanden und schaffen ein
Bedürfnis nach Strukturierung
[Hervorhebung von mir; MHR], die der unklare Situation ein Ende machen und
Orientierung bieten könnte. In dieser Phase stehen für die Teilnehmer folgende Fragen
unterschiedlich stark im Vordergrund
— Wer bin ich hier, wer soll ich hier sein?
Wie soll ich mich hier verhalten, welche meiner vielen Rollen soll ich spielen?
— Wer sind die anderen?
Was kann ich von ihnen erwarten? Wie werde ich auf sie wirken? Wer hat
hier Einfluss und Anerkennung, bestimmt das Gruppengeschehen? Kann ich
mich hier behaupten und von wem kann und will ich mich beeinflussen
lassen
— Was kommt hier auf mich zu?
Werde ich fähig sein, meine Ziele zu erreichen? Werde ich überfordert sein? Welche
Folgen wird mein Verhalten in der Gruppe haben? Werde ich fähig sein, die
negativen Folgen zu ertragen?
5
Anfangssituationen
Wie können Sie sich optimal auf einen Gruppenanfang
vorbereiten?
Die beste Vorbereitung für jeden Gruppenbeginn ist,
sich in die Teilnehmer hineinzuversetzen und sich ihre
Unsicherheiten bewusst zu machen (siehe die voran
gestellten Ausführungen von Antons). Als AnfängerIn,
mit eigener Nervosität, übersieht man die Angst der
anderen leicht oder interpretiert ihr Verhalten aus der
eigenen Unsicherheit heraus.
Gruppenteilnehmer (GT) verhalten sich in dieser
Situation meist zurückhaltend und abwartend. Als GL
könnte man dies fälschlicherweise als Desinteresse,
persönliche Ablehnung oder Widerstand deuten.
Eine andere Form der Situationsbewältigung ist es, wenn
Gruppenmitglieder versuchen, Fremdheit, Angst und
Distanz zu leugnen und durch vorschnelle Kontaktangebote versuchen, dies zu überwinden. („Ich finde
Euch alle so toll hier; wer kommt noch mit auf ein
Bier?”) Unabhängig davon, welche Form die Gruppenmitglieder (GM) zur Situationsbewältigung auch
anwenden, hier sind Sie als GL gefragt und gefordert.
Generelle Aufgaben der GL in Anfangssituationen sind:

Angstabbau durch Strukturierung
Die GL bestimmt , am besten sehr genau, mit
klaren Vorgaben den Ablauf des Geschehens in
der ersten Runde. Meine Erfahrung ist, das
Gruppen schnell überfordert sind, wenn man
gleich zu Beginn - z.B. methodisches Vorgehen mit den GM diskutiert.)

Orientierung geben durch Information über
- die Einrichtung,
- alle organisatorischen Daten zum
Gruppenangebot z.B.(Pausen, Dauer,
Rauchen, Anfangs- und Endzeiten,
Erfrischungsgetränke usw.)
- Konzept,
- Ziel,
- Geschichte
6
Anfangssituationen

Modell sein durch die persönliche Vorstellung
als GL.
Eine fast immer passende Vorstellung für die Gruppenleitung stellt diese Standard-Situationseröffnung von
Schulz von Thun dar:
 „Warum” und „wozu” bin ausgerechnet ich





in dieser Rolle,
ausgerechnet heute,
ausgerechnet hier,
ausgerechnet mit Ihnen und
ausgerechnet zu diesem Thema zusammen?
Diese Eröffnung können Sie der Situation entsprechend
kurz oder ausführlich gestalten. Auch für die
Vorstellungsrunde der GM können Sie diese Eröffnung
wählen, dann aber den Punkt „in dieser Rolle”
weglassen.
Strukturierung der Vorstellungsrunde
Durch die Vorgabe einer auf die Gruppe zugeschnittenen
Vorstellungsrunde bekommen die GM zur weiteren
Orientierung Informationen übereinander.
Bei der Planung der Vorstellungsrunde für die GM
beachten Sie bitte:





alle soziale Daten, die Sie von den GM
wissen: Alter, Geschlecht, Beruf, Soziale
Schicht, usw.
Gruppengröße
Beziehungen der GM untereinander,
Wie häufig findet die Gruppe statt (einmal,
zehnmal)?
Ist es eine offene oder geschlossene
Gruppe?
7
Anfangssituationen
Aufgabe 1:
Ergänzen Sie bitte weiter, und begründen Sie
die Bedeutung für die Gestaltung der
Vorstellungsrunde
Im Anhang finden Sie einige Übungen für Vorstellungsrunden3.
Aufgabe 2:
Wählen Sie für eine fiktive Gruppe eine der
Vorstellungsrunden aus und begründen Sie, warum Sie
diese für geeignet oder ungeeignet halten. (Siehe
hierzu auch eine Mind Map4 Übersicht)
Merke:
Für Anwendungen von Übungen gilt generell:
Übungen aus Büchern können eine gute Anregung
sein. Sie sollten sie nicht 1:1 anwenden, ohne
geprüft zu haben, ob sie für das Ziel der
Veranstaltung in der konkreten Gruppe sinnvoll
sind.
Manchmal reichen kleine Änderungen, um Übungen
auf die Situation anzupassen.
3
Dießner, Helmar; aaO. , S.28-31
4
mindmap, engl.. (1) Eine Mind Map ist die graphische Darstellung eines Konzeptes, Begriffes, Planes oder
Ähnlichem, dessen konstitutive Elemente und Zusammenhänge in bildhafter Form gezeigt werden. Dadurch
lässt sich ein kompakter Überblick bieten, der das Verständnis und das Memorisieren erleichtert.
(2) [ http://www.masternewmedia.com/issue22/mind_mapping.htm ] “Mind maps are a simplified version of
concept maps developed (and copyrighted) by Toni Buzan (http://www.mind-map.com/) as a graphical tool to
unlock the potential of the brain. A nice FAQ about mind maps explaining their key features and history is
available at: http://members.ozemail.com.au/~caveman/ Creative/ Mindmap/mindmapfaq.html“
8
Gruppenphasen
B. Phasen des Gruppenprozesses
Für Ihre Arbeit mit Gruppen möchte ich Sie auf
folgendes hinweisen:
Der Entwicklungsprozess von Gruppen kann unter
verschiedenen Gesichtspunkten erforscht und
beschrieben werden. Auch hier gilt, dass alle
Modelle Versuche darstellen, einen hochkomplexen
Vorgang, - die Dynamik in Gruppen - zu
systematisieren und Ableitungen für die Arbeit in
und mit Gruppen zu erlangen.
Gruppenphasen verlaufen sehr selten nach dem
Lehrbuch bzw. sind in ihren verschiedenen
Erscheinungsformen und Gesichtern nicht jederzeit
zu erkennen.
Trotzdem halte ich es für sinnvoll, sich damit
auseinander zu setzen, weil es Ihre Wahrnehmung
schärft und Ihnen in der Arbeit mit Gruppen eine
Orientierungshilfe sein kann. Sie haben damit eine
Systematisierung zur Verfügung, mit der Sie z.B.
einen Gruppenverlauf analysieren können.
Merke: Jede „große” Gruppenphase beinhaltet auch alle
anderen Phasen im Kleinen. (Auch im Forming, gibt es
kleine Stormings, Normings und Performings.)
Das Gruppenphasenmodell von Stahl, mit
Interventionsempfehlung für den Coach, ist vor allem
eine Arbeitshilfe für Teams, Themen- u.
Arbeitsgruppen.
Stahl hat ein bekanntes Phasenmodell von Tuckman
dargestellt und erweitert.
9
Gruppenphasen
Aus Schmidt-Grunert ist das Modell für
Entwicklungsstufen in Sozialarbeitsgruppen
I.
Forming
[...]Die Gründungsphase: Forming 5
Das Forming ist eine von Ungewissheit geprägte Situation, in der es der
Gruppe an Regeln mangelt, die sie beinahe aus dem Nichts entwickeln
muss.
Die wesentliche evolutionäre Leistung der Gruppe besteht auf diesem
Hintergrund in der Herausbildung einer ersten Sicherheit spendenden
Struktur, durch die die Gruppe sich nach außen abgrenzen und nach innen finden kann.
Für die einzelnen Mitglieder erweist sich das Forming als eine
aufregende Phase, die von der seelischen Wiederbelebung der
Vergangenheit geprägt ist und zunächst mit Hilfe der Übertragung alter
Verhaltensmuster bewältigt wird.
Das Klima im Forming wird als „gehemmt" beschrieben: Vorsichtige,
wir-kungsorientierte Kommunikation und Konformismus prägen das
Miteinander.
Ziel des Formings ist die Sättigung des Sicherheitsbedürfnisses der
Gruppenmitglieder.
Die Gruppe im Forming
Die Stunde Null
Bevor der Gruppenzug in das Gleisoval einfahren kann, muss er
zunächst einmal eingesetzt werden und ins Rollen kommen. Aus den
lose Versammelten, die sich am Forming-Bahnhof treffen, soll eine
Gruppe entstehen. Wie kommen sie „vom Ich zum Wir"?
Gruppen unterscheiden sich von losen Ansammlungen dadurch, dass die
Beteiligten einen Gemeinsamkeit stiftenden Gruppenvertrag 6 haben,
der sich im Verlauf des Gruppenprozesses weiter entwickelt. Und in der
Stunde Null? Woraus entwickelt sich der erste Gruppenvertrag, den die
Gruppe braucht, um ihren Prozess überhaupt anfahren zu können?
5
Stahl, Eberhard, aaO, S. 67-68 .
6
[[Anm. MHR]] Gruppenvertrag kann verstanden werden als ausgesprochene oder
unausgesprochene Übereinkunft von Normen, Werten, Verhaltensregeln usw. bis
hin zur schriftlichen Fixierung über Schweigepflicht, Teilnahmepflicht,
Gesprächsregeln usw..
10
Gruppenphasen
I.
Forming
Zwei Voraussetzungen. Jedes der in der Formingphase versammelten
Gruppenmitglieder bringt als Material für den ersten Gruppenvertrag zwei
Dinge mit:
(1)
Ein
grundlegendes
Situationsverständnis
und
damit
zusammenhängende Erwartungen hinsichtlich der offiziellen sachlichen
Ziele des Miteinanders:„Zu welchem Zweck sind wir zusammen gekommen?
(2) Damit einhergehende Vorstellungen über die angemessene Art des
Miteinanders: “Wie sollten wir angesichts dessen miteinander umgehen ?“
Aus diesen beiden Beausteinen entwickelt sich im Verlauf des Formings ein
erster locker geknüpfter Gruppenvertrag, der es den Einzelnen erlaubt,
aufeinander zuzugehen."
In dieser Situation zeigen GM häufig eine ...
[Stahl, aaO, S.88-89] Darstellungsscheu. Wann immer die Gruppe ins [...]
(Forming)7 eintritt, sind die Einzelnen aufgefordert, sich zu zeigen. Sie müssen
sich mit ihrem Wissen, ihrer Gestaltungsfähigkeit, ihren Ansichten und ihren
Schwachpunkten einbringen. Das erfordert von ihnen Risikobereitschaft, da
es durchaus passieren kann, dass ihr Wissen als „Besserwisserei", ihr
Unwissen als „Dummheit", ihre Ansichten als „untragbar" und ihr
Gestaltungswille als „Dominanz" verstanden werden. Diese Risikobereitschaft
wächst im gleichen Maße wie die Reißfestigkeit der Konventionsstruktur
zunimmt, ist also im Forming eher gering zu veranschlagen.
Leitung als Strukturersatz. Die Gruppe ist im Forming besonders anleitungsbedürftig, wenn sie arbeiten soll. Der Coach muss in aller Regel selbst Leitungsfunktionen übernehmen und seinerseits verantwortungs-, darstellungs- und
verpflichtungsfreudig sein, um das Eis zu brechen. Schwer haben es im Forming
Gruppen, die keine Führung haben bzw. die vorübergehende Wahrnehmung der
Leitungsfunktion durch Mitglieder nicht dulden; sie brauchen in der Regel lange, um wirklich arbeitsfähig zu werden.8
Damit sind wir aber schon beim nächsten Punkt: Was kann (seitens der Leitung) getan werden, um die Gruppe im Forming zu unterstützen?
Interventionsansätze im Forming
In allen Phasen des Gruppenprozesses, auch im Forming, ist es die Aufgabe des
Coaches, Katalysator der Gruppenvertragsentwicklung zu sein: Die Entwick7
[[Anm. MHR]] Korrektur von mir
8
[[Anm. MHR]] In der Sozialarbeit gibt es überproportional viele Teams
oder Gruppen ohne Leitung.
Meine Erfahrung ist, dass sich dahinter häufig ein nicht eingestandener
Wunsch nach Leitung verbirgt. Einzelne Gruppenmitglieder, die leiten
wollen, gestatten weder sich noch anderen diese hervorgehobene Position.
Der Einzelne beugt sich der Gruppennorm eines überhöhten Ideals von „alle
sind gleich kompetent”; niemand ist besonders qualifiziert oder
unqualifiziert.
In solchen Situationen ist es sinnvoll und Aufgabe der GL, zu klären,
welche Beweggründe hinter der Teamentscheidung liegen und sie bewusst
werden zu lassen, ohne dass zwangsläufig daraus eine Veränderung erfolgen
muss.
11
Gruppenphasen
I.
Forming
lung einer Konventionsstruktur zu ermöglichen oder voranzubringen. Er muss
der „Appellohrigkeit" (Schulz von Thun, 1981) des Beginns entgegenkommen
und Konformität ermöglichen, indem er hilft, offizielle Ziele zu klären und
Konventionen zu entwickeln. Gleichzeitig muss er Individualität, Ausdrucksorientierung und „Appell-Schnabeligkeit" ermutigen.
Gerade, wer es als Leiter mit seiner Gruppe eilig hat, tut gut daran, in dieser
Phase langsam voranzugehen, denn eine Gruppe, die ohne primäre Konventionsstruktur arbeiten soll und muss, tut dies in aller Regel ineffizient. Aus Leitungssicht sind vier Aspekte besonders wesentlich, wenn es gilt, der Gruppe einen guten Start zu ermöglichen:
(1)
(2)
(3)
(4)
Gewissheit vermitteln,
Wahrheit der Situation veröffentlichen,
Konflikte verschieben und
Scheu und Zurückhaltung akzeptieren.
Der Coach unterstützt die einzelnen Mitglieder dabei, Gewissheiten zu erlangen:
 Gewissheit über zwischenmenschliche Grundregeln,
 Gewissheit über offizielle Ziele und
 Gewissheit über die Zugehörigkeit zur Gruppe.
Konventionen setzen. Der Coach macht der Gruppe zu Beginn deutlich, welche
Regeln er zunächst setzen will (z.B. in Bezug auf Arbeitszeiten, Anrede,
Zwischenfragen etc.) und welche dieser Regeln mit seinem Einverständnis in
Frage gestellt und geändert werden dürfen. Damit nimmt er der Gruppe eine
große Last ab.
Offizielle Ziele vorgeben. Der Coach sollte seinen inhaltlichen „Fahrplan" offenlegen (z.B. durch Aushängen eines Übersichtsplanes), so dass jeder Teilnehmer
abzuschätzen vermag, inwieweit er angesichts der offiziellen Ziele auf seine
Kosten kommen wird.
Akzeptation vor Konfrontation. Der Coach sollte für seinen Kontakt zu den
Teilnehmern die Regel „Akzeptation vor Konfrontation" beherzigen. Konzentrieren Sie sich bei allen auf jene Ausschnitte der Persönlichkeit, die Sie mehr
oder minder vorbehaltlos annehmen können und tolerieren Sie in dieser Phase
andere Aspekte, die Sie auf Dauer nicht werden hinnehmen können. Jede Kritik
an Teilnehmern wird im Forming seitens der Betroffenen als Zurechtweisung
erlebt und von den anderen als „typische Kostprobe des Leiterverhaltens" gewertet
Aufgabe 3:
Wie können Sie in einer solchen Situation z. B. auf
einen/e Vielredner(in) eingehen und ihn/sie in
seinem/ihren Redefluss stoppen, ohne dass Sie das
Verhalten in einer Form zum Problem machen, mit dem
sich die Gruppe zu beschäftigen hat.
12
Gruppenphasen
I.
Forming
13
Gruppenphasen
II.
II.
Storming
Storming
[Stahl, aaO., S. 95]
Die Streitphase: Storming
Das Storming ist die Phase, die der Klärung von Zielkonflikten in der
Gruppe dient.
Die wesentliche evolutionäre Leistung der Gruppe besteht darin, bestehende
Widersprüche zwischen Gruppenmitgliedern aufzudecken, und die
Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit ebenso wie Alternativen für
später zu treffende Entscheidungen zu klären. Die Gruppe differenziert sich
nach innen aus und entfaltet ihr Konfliktpotential. Für die einzelnen
Mitglieder ist das Storming eine Zeit des Farbe-Bekennens; sie müssen sich
in der Gruppe als Individuum mit eigenen (auch abweichenden)
Bedürfnissen abgrenzen und den Kontakt zu den anderen Mitgliedern entlang
dieser Grenzen gestalten. Wir beschreiben fünf Voraussetzungen für den
konstruktiven Verlauf des Stormings und stellen Interventionen vor, die diese
Voraussetzungen erfüllen helfen.
Die Gruppe im Storming
Nach dem Forming verfugt die Gruppe über eine Sicherheit spendende Konventionsstruktur, über einen gemeinsamen Nenner nach innen und eine Abgrenzung nach außen. Das erste große Ziel „Dazugehören" ist für alle Beteiligten vorläufig erreicht. Als nächstes steht eine weitergehende Differenzierung nach innen
an, die dadurch vorankommt, dass Unterschiede deutlich hervortreten.
[Stahl, aaO., S. 117-118]
Interventionsansätze im Storming
Die Rolle des Coaches. Manche Auftraggeber und viele Gruppenmitglieder erwarten, dass eine tüchtige Gruppe ohne Storming auskommt. Ebenso erwarten sie
von einem kompetenten Leiter, dass er der Gruppe Scherereien erspart. Zusätzlich
haben nicht wenige Gruppenleiter das inoffizielle Ziel, die Gruppe jederzeit im
Griff zu haben.
Wer immer derartige Erwartungen hegt, fällt einem Missverständnis zum Opfer,
das wir als „Ideologie des guten Willens" beschrieben haben: Jede Gruppe, die
nicht vollständig autoritär geleitet wird, indem ihr alle Ziele gesetzt und alle Wege
vorgegeben werden und deren Verfolgung überwacht wird, muss sich selbst
organisieren. Und das bedeutet: Sie braucht das Storming zu ihrer Entwicklung so
notwendig wie eine Pflanze die Sonne zum Wachstum.
Deshalb ist ein „hilfreicher" Leiter, der die Gruppe konsequent befriedet, ein
Hemmschuh der Gruppenentwicklung. Die Rolle des Coaches ist im Storming (wie
14
Gruppenphasen
II.
Storming
in allen anderen Phasen) die eines Katalysators: Er bringt den notwendigen Prozess
voran, ohne Einfluss auf den Inhalte auszuüben.
Wenn der Coach „Aktien" im Gruppengeschehen hat - Ziele, die er in und mit der
Gruppe erreichen möchte - geschieht dies aus einer anderen Rolle heraus, z.B. als
Vorgesetzter, Teilnehmer oder Lehrer der Gruppe. In diesem Falle tut er gut daran,
seine Rollenvielfalt und seine Rollenwechsel transparent zu machen. Andernfalls
gerät er bei den Teilnehmern zu Recht unter Manipulationsverdacht und ist damit
als Katalysator des Gruppenprozesses kaum noch tauglich.
Wie ein Sprengmeister sich Gedanken darüber machen muss, auf welche Art und
Weise er eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg unschädlich macht, wird
der Gruppenleiter daraufhinarbeiten, das Storming in konstruktive Bahnen zu
lenken. Auf Lage und Ausmaß des „Sprengstoffes" haben jedoch beide keinen
Einfluss. Und beide würden im Sinne ihres Auftrages fahrlässig handeln, wenn sie
dieses Ausmaß ignorieren oder verniedlichen würden.
Die folgenden Hinweise für Interventionen im Storming sind deshalb immer darauf
gerichtet, konstruktives Storming zu fördern und destruktiven Entgleisungen
vorzubeugen.
Sie wenden sich an Leiter, die sich in dieser Phase als „Klärungshelfer" (Thomann
u. Schulz von Thun, 1988), nicht als „Friedensengel" oder „Feuerwerker"
verstehen.
[Stahl, aaO., S. 126]
Dissens festhalten. Halten Sie den mit Mühe erstrittenen Dissens fest und sorgen Sie dafür, dass er weder verniedlicht noch dramatisiert wird. Andernfalls
ginge die Gruppe ohne geklärte Ausgangslage ins Norming: „Ich habe den Eindruck, dass die wesentlichen Konfliktlinien nun deutlich geworden sind: Ein
Teil der Gruppe wünscht sich eine opulente Weihnachtsfeier, ein anderer Teil
möchte keine. Weiterhin haben Sie, Herr Friedenburg aus Ihrem Herzen keine
Mördergrube gemacht und gefordert, dass Ihr Vorgesetzter, Herr Maschweski,
nicht mehr an dieser Gruppe teilnimmt, damit Sie offen sprechen können. Dieses Ansinnen weist nun Herr Maschewski aufs Schärfste zurück, weil er sich
ausgegrenzt fühlen würde. Sagen Sie bitte sofort Bescheid, falls ich irgendwo
schief liege oder etwas unterschlagen habe. Schauen Sie abschließend bitte bei
sich nach, ob noch etwas Unausgesprochenes im Raum ist, das heraus will".
Durch diese Einladung zur Ergänzung und zum Widerspruch werden die
Beteiligten in die Verantwortung eingebunden: Wer hier und jetzt seine Zustimmung gibt, hat es schwerer, fünf Minuten später während der Vertragsverhandlungen einen neuen Streit vom Zaun zu brechen. Deshalb bedarf es auch
beim Übergang vom Storming zum Norming der Sorgfalt.
15
Gruppenphasen
II.
Storming
Konsens
(Forming)
[Stahl,aaO., S.97]
Abbildung 7. In jeder Gruppe gibt es eine Konfliktstruktur, die das Verhältnis der individuellen
Zielpools zueinander spiegelt: Das Formingthema „Dazugehören" bildet die gemeinsame
Schnittmenge der persönlichen Zielpools von A, B und C.
Darüber hinaus teilen A und B, A und C, B und C jeweils gemeinsame Ziele. Aus diesen Überschneidungen können Koalitionen erwachsen. Alles, was jenseits des Konsens liegt, birgt Konfliktstoff.
Am Ende dieser Phase geht es darum, dass sich die
Gruppenteilnehmer mit einem Restdissens in der Gruppe
versöhnen und den Dissens als Teil der Gruppe
akzeptieren lernen.
Eine hilfreiche Unterstützung der Gruppe durch die GL
kann hier die klare Benennung von Konsens und Dissens
sein.
Merke:
Oft ist es notwendig, dass die GL das Gemeinsame,
das was die Gruppe zusammenhält, immer wieder
anspricht und ins Bewusstsein ruft.
Am Trennenden entzündet sich der Konflikt und
verstellt den Blick für das Mögliche, auch bei der
GL.
16
Gruppenphasen
III. Norming
III.
Norming
[Stahl, aaO., S.127-128]
Die Vertragsphase: Norming
Das Norming ist die Phase der Vertragsbildung, in der die Vereinbarungsstruktur der Gruppe Gestalt gewinnt.
Die wesentliche evolutionäre Leistung der Gruppe besteht in der Selektion
tragfähiger Ziel. Der Zielpool der Gruppe erhält dadurch eine Ausrichtung, die
gemeinsames Handeln ermöglicht. Für die einzelnen Mitglieder ist das
Norming eine Phase der Ernüchterung, geprägt durch ein „erwachsenes" Klima.
Erwartungen werden hinsichtlich des in der Gruppe Möglichen und
Machbaren überprüft und geklärt; von Illusionen kann und muss Abschied
genommen werden. Wir beschreiben Interventionen, die der Coach als
„Moderator", „Notar" und „Schlichter" einsetzen kann, um der Gruppe durch
diese Phase zu helfen.
Die Gruppe im Norming
Vom Trennenden zum Überbrückenden
Ist das Storming konstruktiv verlaufen, herrscht anschließend in der Gruppe
eine Stimmung wie nach einem Sommergewitter: Die Luft ist rein, die Sicht ist
klar, die Atmosphäre entspannt sich. Diese nachgewitterliche Stimmung ist
geprägt von Erleichterung: die heiklen Punkte sind angesprochen worden,
nun ist vorerst das Schlimmste vorüber. Dieses Empfinden mündet bei den
Beteiligten häufig in den Wunsch „Lasst uns jetzt das Kriegsbeil begraben, die
Friedenspfeife rauchen und wieder an die Arbeit gehen!". Diesem Wunsch
lässt sich aus gruppendynamischer Sicht allerdings noch nicht vollends entsprechen: Zwischen dem Rauchen der Friedenspfeife und dem Arbeitsbeginn
müssen erst einmal die Lehren aus den vorangegangenen Konflikten gezogen
werden.
Im Storming hat sich die Konfliktstruktur der Gruppe entfaltet. Die Formingillusion „Wir wollen alle dasselbe" ist zerbrochen, statt dessen ist deutlich
geworden, welche sachlichen, zwischenmenschlichen und persönlichen Ziele
der Beteiligten nicht zusammenpassen oder einander zuwiderlaufen. Nachdem
das Trennende benannt ist, müssen wir als nächstes schauen, ob und wie wir
die bestehenden Gräben überbrücken können. Erst nach einem
entsprechenden Brückenschlag kann störungsfrei miteinander gearbeitet
werden.
[Stahl, aaO., S.144]
Interventionsansätze im Norming
Der Leiter als Moderator. Im Norming hat der Leiter in erster Linie die Rolle eines Moderators inne, der die Gruppe dabei unterstützt, für die bestehenden Zielkonflikte einen angemessenen Gruppenvertrag zu entwickeln. Die Rolle des
Gruppendynamikers und Sprengmeisters (Storming) muss nur noch eingenom-
17
Gruppenphasen
III. Norming
men werden, wenn es zu Komplikationen kommen sollte. Die Interventionen im
Norming beschränken sich daher weitgehend auf das klassische Moderatorenhandwerk: Themen formulieren, Ideen sammeln und strukturieren, Ergebnisse
zusammenfassen.. Zusätzlich ist gelegentlich die Kunstfertigkeit des
Verhandlungsführers gefragt .
Ein wichtiger Grundsatz lautet: „Moderator kann nur sein, wer den Auftrag
dazu hat". Wer im Norming die Oberhand behalten will, muss allen Beteiligten
etwas zumuten dürfen, deshalb braucht er das Vertrauen der Gruppe in seine
Allparteilichkeit. Wenn dieses Vertrauen angeknackst erscheint, muss zunächst
die Beziehung der Gruppe zum Moderator geklärt werden, bevor an den Regeln der Gruppe gearbeitet werden kann.
Die Moderatorenzwickmühle. Jeder Coach, der es der Gruppe recht machen
möchte (und wer will das nicht?), gerät als Normingmoderator leicht in eine
Zwickmühle aus sich widersprechenden Erwartungen:
l» er soll „das endlose Gefeilsche" möglichst rasch über die Bühne bringen und
^ er soll vorschnelle Lösungen verhindern.
Sobald sich die Verhandlungen in der Gruppe zäh und schwierig gestalten,
werden meist Stimmen laut, die vom Coach fordern, er möge „jetzt mal auf den
Tisch hauen und einfach entscheiden". Kommt er dieser Aufforderung nach,
kann er sich der darauf folgenden Vorwürfe beinahe sicher sein, der Gruppe
Kompromisse oder Entscheidungen gegen ihren Willen aufgenötigt zu haben.
Die folgenden Phasen und Interventionsansätze sind
sehr stark auf Lern- und Arbeitsgruppen ausgerichtet.
Für Gruppen, wie sie im Gesundheitsbereich angeboten
werden, bei denen es um soziales Lernen, um Selbstreflexion, Selbsterfahrung und Copingstrategien geht,
gelten diese Interventionsansätze nur bedingt.
Will man dieses Schema auch auf diese Gruppen
anwenden, dann ist zu beachten, dass sich diese
Gruppen spätestens nach dem „Storming”, im „Forming”,
„Norming”, und „Performing” gleichzeitig bewegen.
18
Gruppenphasen
IV. Performing
IV.
Performing
[Stahl, aaO., S.153]
Die Arbeitsphase: Performing
Das Performing ist die Arbeitsphase der Gruppe, in der sich durch das
Miteinandertun aus der Vereinbarungsstruktur die Kooperationsstruktur
entwickelt.
Die wesentlichen evolutionäre Leistung der Gruppe besteht in der Restabilisierung der Gruppe. Der bestehende Vertrag gilt und wird weitgehend
eingehalten. Unkalkulierbare Veränderungen, die den Arbeitsablauf
durchkreuzen, werden durch kurzfristige Anpassungen im Geiste des
bestehenden Gruppenvertrages abgefedert.
Für die einzelnen Mitglieder bringt diese Phase Klarheit, wie nützlich der
Einzelne für die Gruppe und umgekehrt die Gruppe für ihn ist. Wesentliche
Komplikationen des Performings sind Prozessüberhänge, Versagensangst
und Aktionismus.
Wir beschreiben zwei Interventionen, die der Coach in der Rolle des
„Urlaubers" einsetzen kann.
Die Gruppe im Performing
„Endlich wird gearbeitet"
Nachdem die vordringlichen Zielkonflikte im Rahmen der Vereinbarungsstruktur geregelt worden sind, kann sich die Gruppe nun daran machen, den
verabredeten Zielen auf den vereinbarten Wegen einen Schritt näher zu kommen „Es wird endlich gearbeitet!" - dieser Seufzer ist zu Beginn des Performings von den meisten Mitgliedern zu hören.
Natürlich war auch die Entwicklung der Vereinbarungsstruktur ein schönes
Stück Arbeit. Die meisten Gruppen erleben diese strukturbildende Anstrengung aber als leidiges, im besten Falle notwendiges Übel. Nun müssen die
im Norming gebauten Brücken zwischen den Beteiligten ihre Tragfestigkeit
unter Beweis stellen. Jetzt kommt die „wirkliche" Arbeit - eine Zeit des
Miteinander-tuns, des Einanderunterstützens, des Voneinanderlernens und
des Gemein-sam-etwas-Schaffens. Die Gruppe erlebt Erfolge und
Misserfolge, Engpässe und Durchbrüche, Möglichkeiten und Grenzen der
Kooperation angesichts anstehender Aufgaben. Die Gruppenstruktur wird im
Performing einem Erfolgstest ausgesetzt, der den Beteiligten ein Feedback
hinsichtlich der Effizienz ihres Miteinanders liefert: „Sind wir so, wie wir
uns organisiert haben, in der Lage, unsere Ziele zu erreichen?"
19
Gruppenphasen
IV. Performing
[Stahl, aaO., S.166]
Interventionsansätze im Performing
Die Rolle des Coaches. War der Coach in seiner Funktion als Katalysator des
Gruppenprozesses mal väterlicher Pate (Forming), mal Klärungshelfer und
Sprengmeister (Storming), mal Moderator, Schlichter und Notar (Norming), so ist
er jetzt - arbeitslos. Sobald die Gruppe über eine adäquate Vereinbarungsstruktur
verfugt und solange die sich daraus entwickelnde Kooperationsstruktur hält,
braucht sie den Coach so wenig wie ein Pkw zwischen den Inspektionsterminen den
Mechaniker. Vielleicht bleibt der Coach in einer anderen Rolle (Teilnehmer,
Vorgesetzter) an Bord. Vielleicht wird er gelegentlich als Fachmann oder Referent in
inhaltlichen Fragen gebraucht. Wenn nicht, dann hat er jetzt Urlaub.
Wer als Coach unbedingt eine Rolle braucht, des Urlaubs überdrüssig ist und sich
um seine Existenzberechtigung sorgt, kann sich während des Perfor-mings
bestenfalls noch als zurückhaltendes Frühwarnsystem verdingen und die Gruppe
rechtzeitig auf die nachlassende Tragfähigkeit der Kooperationsstruktur und
aufkeimende Komplikationen hinweisen - das ist aber wirklich das mögliche
Maximum an Coachaktivität. Dementsprechend schlank bleibt der
Interventionskatalog.
Zurückhaltung
Damit die Beteiligten den wechselseitigen Nutzen des Performings wirklich erleben können, muss der Coach klar und deutlich das Feld räumen und sich fortan
zurückhalten. Sonst besteht die Gefahr, dass die Gruppe sich weniger auf das
Gelingen als auf die Vermeidung des Misslingens konzentriert „Hat unser Coach
nicht eben sanft den Kopf geschüttelt? Sind wir etwa im Begriff uns zu
vergaloppieren? Was ist denn jetzt schon wieder schiefgelaufen?". Das Beste, was
der Coach jetzt für die Gruppe tun kann, ist, ihr sein Vertrauen durch Rückzug zu
beweisen. Das ist für viele Coaches keine leichte Übung. Konnten sie während der
vorhergehenden Phasen glänzen und sich profilieren, so sind sie jetzt abgemeldet.
Die Arbeitsphase der Gruppe ist halt nicht die Arbeitsphase des Coaches. Der nutzt
diese Zeit besser, um sich innerlich zu sammeln, damit er als Coach wieder zur
Verfügung steht, wenn sich das Gruppenperfor-ming dem Ende zuneigt. Wer diese
Weisheit nicht besitzt, läuft Gefahr, zum Hemmschuh der Gruppe zu werden.
20
Gruppendynamik
D.
Gruppendynamik
Der Aufsatz von Antons, der sich vor allem auf
Forschungsergebnisse von Bion bezieht, benennt die
Macht als ein wichtiges Steuerungsmoment der Dynamik
im Gruppenprozess.
[Antons, aaO., S.301-307]
ASPEKTE DER DYNAMIK VON GRUPPEN
(BIONS THEORIE DER GRUNDANNAHMEN UND DIE MACHT IN
GRUPPEN)
In Gruppen — und damit auch in Lern- und Arbeitsgruppen — gibt es neben
vielen Unterschiedlichkeiten und Überraschungen auch Regelmäßigkeiten, die mit
einiger Wahrscheinlichkeit im Laufe eines gruppenorientierten Lern- und
Arbeitsprozesses auftreten, diesen beeinflussen oder sogar prägen.
Das einzelne Gruppenmitglied sieht sich insbesondere am Anfang einer Gruppe
oder eines Seminar mit einer neuen Situation konfrontiert. Es ist aus seiner
gewohnten psychischen und sozialen Umwelt heraus in eine ihm fremde
Umgebung versetzt. So ist ihm z. B. das Seminargebäude unbekannt, die anderen
Teilnehmer sind ihm fremd, das Seminar selbst kennt es noch nicht. Diese
Situation erzeugt häufig negative Gefühle wie Unsicherheit, ängstliche
Beklommenheit, Einsamkeit, Fremdheit, Gespanntheit. Diese Gefühle sind sicher
nicht bei allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen gleicher Art und gleich stark, sie
sind aber dennoch in der Gruppe vorhanden und schaffen ein Bedürfnis nach
Strukturierung, die der unklare Situation ein Ende machen und Orientierung
bieten könnte. In dieser Phase stehen für die Teilnehmer folgende Fragen
unterschiedlich stark im Vordergrund.
—Wer bin ich hier, wer soll ich hier sein?
Wie soll ich mich hier verhalten, welche meiner vielen Rollen soll ich spielen?
—Wer sind die anderen?
Was kann ich von ihnen erwarten? Wie werde ich auf sie wirken? Wer hat hier
Einfluss und Anerkennung, bestimmt das Gruppengeschehen? Kann ich mich hier
behaupten und von wem kann und will ich mich beeinflussen lassen?
— Was kommt hier auf mich zu?
Werde ich fähig sein, meine Ziele zu erreichen? Werde ich überfordert sein? Welche
Folgen wird mein Verhalten in der Gruppe haben? Werde ich fähig sein, die
negativen Folgen zu ertragen?
Besonders in dieser Phase meinen viele Teilnehmer, sich in irgendeiner Form
vom Leiter / Trainer / Dozenten / Moderator oder von äußeren, mitgebrachten
Normen abhängig machen zu müssen, statt sich Schritt um Schritt selbst zu
orientieren und die damit verbundene Unsicherheit als natürlich, wenn auch
nicht unbedingt angenehm zu akzeptieren.
B i o n spricht hier von „Abhängigkeit".
21
Gruppendynamik
[Antons, aaO., S.302]
Andere Teilnehmer meinen, sich in Untergruppen oder mit mindestens einem oder einer
anderen enger zusammenschließen zu müssen, um das Gefühl des Alleinseins zu
vermeiden und eine erste emotionale Orientierung zu haben. B i o n nennt dieses
Verhaltensmuster "Pairing" (also etwa: Paar- und Bündnisbildung).
Pairing, die Bildung von Paaren oder Untergruppen, und Abhängigkeit, die Fixierung
auf den/die Leiter oder auf Normen, wirken sich auf die Struktur und den Prozess einer
Gruppe aus. Sie können sich dabei verbinden mit zwei anderen, von B i o n
beschriebenen, typischen emotionalen Mustern: Flucht- und Kampfverhalten
(fight/flight).
— Verbinden sich Abhängigkeit und Flucht, dann bedeutet das,dassß man sich
dem Leiter unterwirft, da man die eigene Entmündigung ohnehin erwartet.
— während die Fluchtreaktion bei Pairing so aussieht, daß man sichin oder mit der
Untergruppe zurückzieht und sich isoliert („wir bilden unsere eigene Gruppe",
„... halten uns raus", „... sind beleidigt").
— Im Falle der Abhängigkeit bedeutet Kampf, daß man sich gegen den Leiter oder
gegen die Normen zur Wehr setzt, mit ihnen kämpft, Opposition betreibt
(Gegen-Abhängigkeit, Protest gegen die Autorität).
— während Kampf sich im Falle des Pairing dadurch zeigt, daß man sich mit und
im Schütze der Untergruppe durchsetzen will, ohne Rücksicht auf die übrigen
Teilmehmer zu nehmen.
Bevor solche Gruppenphänomene nicht geklärt, bearbeitet bzw. durchbrochen sind,
absorbieren sie Energie. Sie nehmen den einzelnen Teilnehmer gefühlsmäßig mehr oder
minder in Beschlag. Dies hindert daran, die Aufmerksamkeit auf die Bearbeitung des
anstehenden Stoffes zu richten und sich auf die Ziele hin zu orientieren, an denen die
einzelnen Teilnehmer der Lern- oder Arbeitsgruppe wirklich interessiert sind und womit
sie sich wirklich beschäftigen möchten.
Andererseits hemmen diese Phänomene auch den Prozess der Gesamtgruppe, d. h. es
kommt nicht oder nur sehr mühsam zu einer Zusammenarbeit, die sachlich und
atmosphärisch das trifft, worum es den einzelnen Teilnehmern eigentlich geht (Workculture).
Die beschriebenen Phänomene sind in gruppenarbeitsorientierten Lernveranstaltungen
kaum zu vermeiden. Aber sie sind zu bearbeiten, wenn sie den Lernprozeß behindern.
Der Trainer, der solche Muster selbst wahrnehmen und beschreiben kann, hat dazu
mehrere Möglichkeiten:
— er kann die negativen Spannungen benennen, die Gründe ihres Zustandekommens sichtbar und damit auch ansprechbar machen
— er kann die eigenen Gefühle aussprechen und den Teilnehmern helfen, die ihren
klar zu machen und zu ändern ;
;
— er kann für sich selbst voraussetzen und akzeptieren, daß in den Frühstadien
eines gruppenorientierten Seminars viel Energie darauf verwendet werden muß,
die beschriebenen emotionalen Muster zu durchbrechen, um wirklich
produktive Arbeitsarrangements treffen zu können.
22
Gruppendynamik
[Antons, aaO., S.303]
Die Grundmuster des Verhaltens, die B i o n für die Frühstadien von Gruppen
beschreiben hat, können — wenn sie sich nicht auflösen — den Entwicklungsprozeß
einer Gruppe stark beeinflussen, ja sogar regelrecht zur typischen
Konfliktbewältigungstechnik der Gruppen werden.
Um dies genauer darzustellen, benötigen wir einen weiteren Begriff, den der Macht.
Um sie dreht sich in Gruppen vieles, sie gibt manchen auf den ersten Blick
übertriebenen und sinnlosen Verhaltensweisen letztlich Sinn und vermag bisweilen
zweckvolle Unklarheit in der Gruppenstruktur zu erklären.
,
Was bedeutet nun Macht in einem Seminar und wie wirkt sie sich aus?
Offiziell und für alle sichtbar hat in einem Seminar der Trainer Macht. Das Seminar ist
vorerst sein „Reich", sein „Gelände". Er genießt Vorschuß-Autorität, häufig gestützt
durch eine unausgesprochene Erwartung, die letztlich heißt „der Trainer weiß alles und
kann alles", zumindest im Hinblick auf den Stoff und auf die konkreten Probleme, die
der einzelne Teilnehmer lösen bzw. gelöst haben möchte.
Dagegen sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer offiziell alle gleich. Tendenziell
möchte aber fast jeder Teilnehmer besondere Aufmerksamkeit durch den Trainer
erfahren und auf diese Weise aus der Gruppe herausgehoben werden. Die
entsprechenden Verhaltensmuster wurden bereits anhand der Begriffe Abhängigkeit
und Gegenabhängigkeit dargestellt: Sie reichen von schutzsuchender Unterwerfung
und Musterschüler-Habitus über demonstrativ zur Schau getragenem Desinteresse bis
zur ständigen Rangelei und Opposition.
Die Aufmerksamkeit und das Verhalten der Teilnehmer sind jedenfalls — wie in einer
Hierarchis — verstärkt „nach oben", auf den Trainer gerichtet. Die anderen Teilnehmer
werden dagegen eher als Rivalen um die Gunst und Aufmerksamkeit des Trainers
wahrgenommen. Inoffiziell, d.h. „unter der Decke" wird dadurch viel Dynamik
ausgelöst, deren unterschwelliges Ziel die Herstellung einer Rangordnung unter den
Teilnehmern ist.
Das entscheidende Kriterium dieser Rangordnung kann man „Einfluss" oder „Macht"
nennen. Sie bildet sich in einem Machtkampf heraus, der mit sehr unterschiedlichen
Mitteln geführt wird. Erst in einem späteren Stadium kommt „Vertrauen" hinzu oder
anders formuliert: Vor der Ver- trauensfrage beschäftigt Gruppen unterschwellig die
Machtfrage.
Macht und Einfluss erlangt:
—
—
—
—
—
wer Orientierung und Stärke glaubwürdig darstellt
wer die Bedürfnisse relativ vieler Teilnehmer trifft und ausdrückt
wer häufiger vom Trainer bestätigt wird
wer Normen setzt oder sich über Normen hinwegsetzt
wer distanziert beobachtet, gelegentlich treffende Aussagen macht und dadurch
signalisiert, daß er „treffen" kann, wenn er will, ohne selbst „getroffen" zu
werden
— wer die anderen Teilnehmer oder den Trainer emotional auf sich auf- merksam
macht
— wer seine Schwäche glaubwürdig darstellt und damit Auseinander- setzung mit
sich blockiert
— oder aber, wer infolge eines Pairings mit Helfern, Beschützern oder Hilfstruppen
auftritt und damit ebenfalls Auseinandersetzung unter- bindet.
23
Gruppendynamik
Macht und Einfluss hat der Teilnehmer, auf den viele Interaktionen bezogen sind; ob diese
nun direkt oder indirekt, mit Worten, Blicken oder Gesten durchgeführt, von Ängsten
oder Aggressionen, Anerkennung oder Mitleid, Sympathie oder Abneigung motiviert
sind.
Macht wird erlebt als Ausgeliefertsein (das Gefühl ist dann Ohnmacht), als
Konkurrenz oder als Schutz, Sicherheit und Orientierung schaffend.
Macht und Einfluss können — und werden in der Regel — im Verlauf des
Gruppenprozesses wechseln. Wesentlich ist dabei, daß Macht- und Einflußfaktoren nicht
nur mit Stärke, sondern auch mit Schwäche verbunden sind. Macht und Einfluss zeigen
sich deshalb auch nicht nur im Durch- setzen, sondern auch im Verhindern (Veto- oder
Blockademacht), ihr Er- scheinungsbild ist nicht nur offen, sondern auch verdeckt und
manipulativ.
Die Ausübung von wie auch die Reaktion auf Macht kann sowohl aggres- sive als auch
depressive Gefühlsstörungen auslösen. Solch aggressiven oder depressiven Gefühle
können sich — auch bei einer Person — abwech- seln. Der aggressive Impuls richtet sich
dann z. B. gegen die Macht des Schwachen, dessen Schwäche als manipulierend erlebt
wird (das mindert depressiv getönte Schuldgefühle und Handlungsängste) oder gegen
die Schwäche des Mächtigen (das mindert Angst und Ohnmachtsgefühle).
[Antons, aaO., S.305]
Wesentlich dabei ist, daß latente, unausgesprochene Aggression Ver unsicherung
schafft und die Entwicklung der Gruppe hin zur koopera tiven Arbeitsfähigkeit
lahmt, während manifeste, klar geäußerte und klar bezogene Aggression bisher
Unterschwelliges deutlich macht, da durch Handlungsfähigkeit schafft und den
Gruppenprozeß eher befördert. Eine wichtige Funktion des Trainers ist deshalb,
unterschwellige Aggres sionen aufzugreifen, anzusprechen und sie sichtbar zu machen.
Und dies selbst dann, wenn es ihm ebenfalls lieber wäre, einen Konflikt zu ver meiden,
rational wegzudrücken bzw. wieder ins Unterschwellige zu verschieben.
Bei durch Stärke oder Schwäche übermächtigen Mitgliedern der Gruppe — also etwa
dem Trainer selbst, bei stabilen Pairings oder sehr hilflosen Teilnehmern — kann der
Widerstand der Teilnehmer gegen eine offene Konfrontation (und die Angst vor deren
phantasierten Folgen) so stark sein, daß sich der Konflikt nicht aufdecken läßt. Die
Mächtigen halten dann mit Macht den Deckel auf dem Topf, obwohl über dessen
brodelnden Inhalt eigentlich jeder Bescheid weiß. Es gilt dann sich zu überprüfen, auf
weitere Hinweise zu sehen und die Situation neu anzusprechen, wenn die Behinderung
der Gruppe das nächste Mal deutlich und lästig spürbar ist.
Eine Lerngruppe bildet ständig neue Macht- und Einflußstrukturen, aber nur durch eine
offene Klärung lernt sie mit ihren Macht- und Einflußpotentialen konstruktiv, im Sinne
ihrer Aufgabenbewältigung umzugehen und dies in einem Klima, das auch die
emotionalen Bedürfnisse der beteiligten Personen befriedigt.
Eine These dieses Arbeitspapiers war, daß die B i o n'schen Grundmuster des Verhaltens
in Gruppen zur typischen Konfliktbewältigungstechnik einer Gruppe pervertieren können,
wenn es nicht gelingt, sie aufzulösen. Der Lern- und Arbeitsvorteil von Gruppen
(Flexibilität, Kreativität und Selbststeuerung) würde dann verspielt.
Zum Schluß soll deshalb betrachtet werden, wie sich Kampf und Flucht, wie sich
Abhängigkeit und Pairing darstellen, wenn sie den Gruppenprozeß längerfristig prägen
und Teil der „Gruppenkultur" werden.
24
Gruppendynamik
Im Fall von Konflikten ist dann zu beobachten:
— Ein oder mehrere Gruppenmitglieder werden veranlaßt, die Gruppe zu verlassen. Das
kann mit Hilfe verschiedener Mittel geschehen: mit Spott, mit Diffamieren, durch
Kaltstellen und Ignorieren oder durch Schuldzuweisung nach dem
Sündenbockmodell. Die Verfahren reichen dabei vom Hinauswurf bis zum
Hinausekeln oder zum Angebot, „mit Anstand" (oder als „der Klügere")
Konsequenzen zu ziehen.
[Antons, aaO., S.306]
— Diese Art Konfliktlösung kann man auch von der umgekehrten Seite betrachten,
indem man sagt: ein Teil der Gruppe schließt sich aus, gibt auf, springt ab.
— In vielen Fällen reicht bereits eine angedeutete Drohung mit Ausschluß oder die
Drohung, die Gruppe zu verlassen, um einen Konflikt zum eigenen Vorteil und auf
Kosten anderer zu lösen.
— Eine andere, ebenfalls wohlbekannte Form der Konfliktlösung könnte man
Unterdrückung nennen: wer Macht und Einfluss besitzt, zwingt die anderen zum
Nachgeben. Einer oder eine Gruppe beherrscht oder manipuliert andere und
hält sie in (Verlust-)Angst und damit in Abhängigkeit.
— Umgekehrt gesehen, kann man auch sagen: die Seite, die sich schwächer fühlt, sich
unterwirft, dem Druck nachgibt, die Auseinandersetzung scheut, sich fügt, macht
sich abhängig.
— Eine häufige Form von Konfliktbewältigung, die dann bevorzugt wird, wenn es gilt,
Unterschwelliges nicht offenbar werden zu lassen — also z. B. nicht über Ärger,
Gefühle des Mißtrauens und der Rivalität oder über die Angst vor Dominanz zu
sprechen — ist der „faule Kompromiß": Jede Partei macht der anderen soviel
Zugeständnisse, daß zwar die aktuelle Situation überbrückt, aber an dem
eigentlichen Frontverlauf nichts geändert wird. Der alte Konflikt wird absehbar an
einer neuen Stelle wieder auftreten. Da dies alle bereits erahnen, aber nicht aus
sprechen, bleibt ein unbefriedigendes Gefühl.
— Eine letzte Form des Umgangs mit Konflikten, die sich aus den B i o n'- schen
Annahmen ableiten lassen, kennen wir bereits als Pairing oder Allianz, d.h. als
Zweckbündnis, bei dem bewußt Äpfel und Birnen ver tauscht werden und man
gemeinsam vor sich und anderen den Etiket tenschwindel verleugnet. Anders
formuliert: Um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, spricht man nicht über die
Probleme und Konflikte unterein ander und läßt auch niemand anderen darauf zu
sprechen kommen. Man klärt die eigene Beziehung nicht, sondern legt deren
Probleme auf Eis. Unausgesprochen bleibt z. B.: „Ich bin zwar durchaus nicht der
Meinung von X, aber ich unterstütze ihn voll, denn ich brauche ihn, um mich hier
nicht so fremd und allein zu fühlen". Dadurch entsteht ein kurzfristiger Vorteil
gegenüber anderen, die über ihre Differenzen offen sprechen. Und diesen Vorteil
nützt man aus.
Solche Konfliktlösungen sind für die Arbeitsfähigkeit und das Klima einer Gruppe
destruktiv. Sie alle behindern und blockieren einen Prozess, der mit der Zeit zu einer
echten Kooperation mit reifen Entscheidungen führt, zu Lösungen, die von der ganzen
Gruppe erarbeitet sind und alle Mitglieder weitgehend befriedigen.
25
Gruppendynamik
[Antons, aaO., S.306]
Um dies aber leisten zu können, muß die Arbeitskultur der Gruppe es ermöglichen, daß
unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen benannt, differente Meinungen diskutiert,
abweichende Meinungen ernst genommen, gegeneinander abgewogen, kreativ ergänzt,
völlig umgedacht und neu formuliert werden. Nur so hat die Lösung Chancen, inhaltlich
besser und emotional befriedigender und tragfähiger zu sein als alle vorangegangenen
Teilvorschläge. Man könnte dies „Integration" nennen.
Integration in diesem Sinne setzt aber voraus,
— daß sich alte Muster wie Kampf und Flucht, Abhängigkeit und Gegen
abhängigkeit aufgelöst haben oder die Gruppe sie zumindest selbst
aussteuern kann,
— daß die Macht- und Einflußstruktur weitgehend geklärt ist (was bleibt
vom Schwachen, wenn seine Macht — und was vom Starken, wenn
seine Schwäche entdeckt und besprochen wird?) und Kompetenzen
sich entfalten können, ohne sich in Rivalitäten zu verstricken,
— daß ein „Vertrauensklima" den Arbeitsprozeß trägt, so daß die eigenen
Meinungen und Möglichkeiten angstfrei dargestellt und eingebracht werden
können.
26
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
E. Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
Sündenbock, Außenseiter
Rollenverteilung, Rollenübernahme, Rollenverhalten sind
im menschlichen Miteinander notwendige und gute
Regulative. Sie sparen Zeit, Energie, geben Sicherheit
und sind identitätsstiftend. Sie entlasten den Menschen
alles und jenes immer wieder neu entscheiden zu müssen.
Zu Schwierigkeiten kommt es vor allem dann,
 wenn wir in einem Rollenkorsett leben – wenn
wir für wechselnde Aufgaben und Situationen nicht auch wechselnde Rollen einnehmen und
ausfüllen können, oder
 wenn uns andere ein Rollenkorsett anlegen
wollen oder
 wenn wir Rollenversprechen geben und sie nicht
erfüllen können oder wollen.
Mit der folgenden Textauswahl sollen Sie einen Einblick
in die Rollendynamik von Gruppen bekommen. Dadurch
erhalten Sie eine Hilfestellung für Kompetenz in der
Gruppenleitung.
Im folgenden habe ich für Sie zu diesem Thema Texte von
Antons, Stahl und Schmidt-Grunert zusammen gestellt.
[Antons, aaO., S.307-306]
GRUPPENPROJEKTIONEN: AUSSENSEITER UND SÜNDENBÖCKE
In den meisten Gruppenverläufen gibt es Phasen, in denen ein Mitglied nicht dazuzugehören
scheint; was er oder sie tut, ist „daneben", unpassend, falsch. Das kann bis zur Ausstoßung oder
dem Abbruch der Teilnahme dieses Mitglieds gehen.
Nicht jedes Gruppenmitglied eignet sich für diese Rolle; zwei Arten von Menschen bieten
sich dafür an:
—solche, die aufgrund unveränderbarer Eigenschaften anders sind als die '"•" anderen, z. B.
eine andere Hautfarbe, eine andere Sprache, ein Gebrechen ' haben (das schwarze Schaf unter
weißen) und sich von daher zur Ab lehnung anbieten;
solche, die in ihrer Lebensgeschichte, beginnend mit ihrer Rolle in der Familie, bevorzugt
Außenseiterpositionen eingenommen haben und ein Repertoire an Verhaltensweisen
mitbringen, die einen Ausschluß provozieren: Zurückweisen von Kontakt- und Hilfsangeboten,
gezieltes Übertreten von Gruppenregeln, Entwerten der Gruppe etc .Solche Menschen
27
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
(Kombinationen aus beidem sind möglich) sind nicht nur Opfer der Gruppe; meist führt
eine Kette von eskalierenden Interaktionen zum Ausschluß.
Für einen gruppendynamischen Zugang zu dieser Problematik ist es weniger wichtig
nachzuforschen, wer warum zum Außenseiter wird; mehr Aufschluß bringt die
Betrachtung des Prozesses unter der Fragestellung: was geschieht hier in der gesamten
Gruppe? Wozu braucht diese Gruppe in dieser Situation einen Außenseiter, einen
Sündenbock?
Der „Sündenbock" war bei den alten Israeliten ein realer Hammel, der zur Zeit der
frühjährlichen rituellen Reinigung symbolisch mit den Sünden der Gemeinschaft
beladen und in die Wüste gejagt wurde (Der „Prügelknabe" dürfte eine ähnliche rituelle
Herkunft haben). — Wenn damals, in einem religiösen Kontext, eine solche EntSchuld-igung gewirkt haben mag, so haben Gruppen heute doch meist mit massiven
Schuldgefühlen zu kämpfen, wenn sie „erfolgreich" ein Mitglied zum Verlassen
gebracht haben.
Den hier wirksam werdenden Vorgang nennt man Projektion (vgl. 7.93): ein Motiv, ein
Gefühl, ein Verhalten oder eine Haltung, die ich bei mir selbst nicht akzeptiere, sehe ich
beim anderen vergrößert. Bei ihm kann ich das entsprechende dann bekämpfen, ohne
merken zu müssen, daß der Kampf eigentlich einer Regung in mir selbst gilt. — Der
Begriff entspricht dem technischen Vorgang, in dem ein Film- oder Diaprojektor ein
kleines Bild aus seinem „Inneren" heraus vergrößert und auf die Projektionsfläche
wirft.
Menschen haben schon immer versucht, sich auf diese Weise vor der Auseinandersetzung
mit den eigenen ungeliebten Eigenschaften zu schützen: Jesus empfielt in der
Bergpredigt (Mt. 7.3-4, Lk. 6.41-42), nicht den Splitter im Auge des Bruders, sondern
den Balken im eigenen Auge zu betrachten (wie überhaupt die Bergpredigt sich gegen
das Projektive wendet); Goethe läßt Mephisto sagen: „Sprich, wovon Du willst — Du
wirst immer von Dir selbst selber reden!"
Sündenbock-Projektionen spielen in individuellen wie in internationalen Beziehungen
ein Rolle. Sie wirken beim Zustandekommen von Feindbildern, von nationalen,
rassischen und anderen Vorurteilen (vgl. 7.92); sie wirken auch in Gruppen. R.
S c h i n d l e r (z. B. 1968, 1969) hat ein Gruppenmodell vorgelegt, mit dem die Funktion
von Sündenböcken in Gruppen verständlich wird.
Positiv formuliert, bilden sich Gruppen um ein gemeinsames Ziel. S c h i n d - I e r
formuliert es andersherum und sagt, daß sie sich gegen einen gemeinsamen Gegner
bilden. Gruppengegner kann eine reale Person sein, genauso gut aber ein Zustand, ein
Mangel oder Mißstand ; Alkoholikergruppen bilden sich gegen den Feind Alkohol,
Diätgruppen gegen die Freßsucht — Menschen, die in ein gruppendynamisches
Training kommen, wollen vielleicht ihrem Mangel an Sozialkompetenz oder
Sensitivität abhelfen.
Eng verbunden mit Sündenbock- und Außenseiterrolle sind
Vorurteile und Stereotypen. Nicht selten werden mit
deren Hilfe Außenseiter und Sündenböcke produziert.
[Schmidt-Grunert, aaO., S.116-118]
DIE FUNKTION DES SÜNDENBOCKS
Das Phänomen des Sündenbockjagens tritt sowohl zwischen zwei
Individuen auf als auch im vielgestaltigen Beziehungsgeflecht der
Gruppe. Obwohl die Groupworker primär in Gruppensituationen damit zu
tun haben, müssen wir unseren Ausgangspunkt von der intrapsychischen
Ebene aus nehmen und prüfen, wie individuelle Bedürfnisse und Dynamik
den Prozess des Sündenbockjagens hervorrufen und fördern. Dann wird es
eher möglich zu verstehen, wie die unterschiedlichen individuellen
Verhaltensmuster kombiniert werden, um den Interaktionsprozeß und die
28
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
Gruppenstruktur zunächst zu schaffen und sodann von ihnen beeinflußt zu
werden.
DER SÜNDENBOCK



9
9
Das am häufigsten beobachtete Kennzeichen des Sündenbocks ist seine
Unfähigkeit, mit Aggressionen fertigzuwerden. Ein starker passiver und
masochistischer Zug tritt gewöhnlich deutlich hervor. Sei es, daß er sich
unbehaglich oder unfähig oder zu schuldbeladen fühlt, um seinen eigenen
ärgerlichen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, der potentielle Sündenbock
muß den Spott oder die Ablehnung der anderen suchen: Er kann wie ein
Schwamm passiv Bestrafung aufsaugen, um damit sein psychisches
Gleichgewicht durch negative Stützung von außen aufrechtzuerhalten.
Auf der anderen Seite finden wir auch eine bestimmte Art der
Annäherung an andere, durch die der Sündenbock zuerst den Angriff
provozieren muß, um so die Verantwortung für die Aggression nach
außen zu verlagern und sich von der Schuld für seine nachfolgende
Feindseligkeit freizusprechen. Gleichgültig, ob das Bedürfnis des Sündenbocks grundsätzlich mehr auf Buße oder auf die Bestätigung, die Umwelt
sei „böse", abzielt, er benötigt die Zusammenarbeit mit seinen Verfolgern
und gebraucht eine Vielzahl von Techniken, um sie sich zu sichern.
Drei grundlegende Fakten machen es glaubhaft, daß der Verfolgte seine
Rolle häufig absichtlich übernimmt.
Erstens neigt ein solcher Mensch dazu, sich mit Situationen, Personen
und zwischenmenschlichen Arrangements in Kontakt zu bringen, die sich
nach entsprechender Untersuchung oder im Rückblick als ihn verletztend
herausstellen, und zwar so, daß die Verletzung immer wieder erfolgt und
er keine Gelegenheit hat, anpassungsfähiger zu werden. Tatsächlich
verstärkt er seine Provokationen oft oder bleibt immer länger in der
gefährlichen Situation, die zu einem Anwachsen der Beschimpfungen
führt.
Ein Beispiel dafür ist ein Bub in einer Gruppe von sechs
heranwachsenden Jungen, der Woche um Woche immer wieder mit
schmutzigen Schuhen auf der sauberen Turnmatte der Gruppe scheinbar
achtlos herumlief. Das steigerte die Schmähungen von seilen der anderen
Mitglieder und führte schließlich zum körperlichen Angriff. Die einzige
beobachtbare Veränderung im Verhalten des Jungen war ein noch
störrischerer Gesichtsausdruck, als er sich mit einem gewissen Fatalismus
schwerfällig zum Schauplatz des Kampfes begab.
Zweitens beobachtet man häufig, daß der Sündenbock das
Vorhandensein von Verfolgungsmustern leugnet und nicht zugibt, daß er
sie sucht. Tut er das nicht, dann wird er doch leugnen, daß irgendwelche
negativen Veränderungen, vor allem in ihm selber, vorgehen. „Ich habe
nur Blödsinn gemacht." „Die anderen haben sich nichts dabei
gedacht." - „Es macht mir wirklich nichts aus, wenn sie mich nicht leiden
können."
Den dritten Beweis für die Zweckgerichtetheit seines Verhaltens
bekommen wir dann, wenn der Sündenbock zugibt, daß die Situation
schlimm aussieht: er wird nämlich dann immer hartnäckig dabei bleiben,
daß sie außerhalb seiner Kontrolle und ganz einfach hoffnungslos ist. Er
kann nun projizieren („Die fangen immer an") oder resignieren („Sie
werden nie wie ich sein") oder sich hilflos zeigen („Ich habe versucht,
mich zu verteidigen, aber ich kann einfach nicht zurückschlagen"). All das
kann als Widerstand gegen eine Änderung des Angriffsmusters gewertet
werden, besonders, wenn mit diesen Äußerungen kein Versuch verbunden
ist, die Situation konstruktiv zu meistern, oder wenn sie zwar in solchen
Versuchen münden, diese aber erst dann stereotyp wiederholt werden,
wenn sie offensichtlich schon längst keine Wirkung mehr haben.
[[Textformatierung in der Gliederung von mir; MHR]]
29
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
DER EINZELNE SÜNDENBOCK UND DIE GRUPPE
Wenn man die Vielzahl der Beziehungsmuster, die sich zwischen dem
einzelnen Sündenbock und der Gruppe entwickeln, ihre Auswirkungen
auf alle Beteiligten und ihre Bedeutung für die therapeutische Intervention betrachtet, lassen sich einige typische Konstellationen skizzieren.
1. Verstoßung
Hier treibt man das Symbol für etwas aus, was die Gruppe ablehnt und war
ihr Gleichgewicht und ihr Leitbild bedroht. Dieser Schritt ist
möglicherweise nur vorübergehend wirkungsvoll. Wenn die Erinnerung
an das ausgeschlossene Mitglied nicht ständig wachgehalten und eingesetzt
werden kann, wird man schon bald einen neuen Sündenbock
findenmüssen.
Wir stellen fest, daß es zunehmend schwerer wird, sich die Fehler des
früheren Mitglieds durch ausführliche Schilderung ins Gedächtnis zu
rufen. Ohne ein begleitendes Ritual (z. B. ein humorvolles Lied, in dem
die Fehler besungen werden) oder ein materielles Symbol (z.B. ein Bild
oder ein persönlicher Besitzgegenstand) gelingt das immer weniger und
führt wahrscheinlich zu einem Verlust der Fähigkeit, projektive
Bedürfnisse zu befriedigen oder ihnen Erleichterung zu verschaffen. Es
gibt nur zwei Ausnahmen von diesem Umstand:
(a) die Ungleichheit zwischen Gruppe und Sündenbock kann so groß
sein, daß eine nega tive Assoziation immer wieder möglich wird
(Anmerkung des Übersetzers: wie z.B. im Fall des Gruppenverräters);
(b)die Gruppe kann später ein anderes Ventil für ihre Spannungen finden
oder ein anderes Mittel, um ihre inneren Probleme zu lösen.
2.Institutionalisierung
Der Sündenbock erhält einen festen Platz im dynamischen Gleichgewicht
der Gruppe. Das dem Opfer zugefügte Leid wird sorgfältig aufgewogen
durch soziale, emotionale oder materielle Belohnungen. Leicht
erkennbare Beispiele für dieses Arrangement sind der ewige
Gruppenclown, der übereifrige Botenjunge, das Team-Maskottchen
usw.Tritt noch ein sado-masochistischer Charakter hinzu, so kann das eine
wesentliche Stützung dieses Modells vivendi bedeuten. Es gibt für diese
Situation
wenig
Möglichkeiten
der
Intervention.
Das
Gruppengleichgewicht wird eher statisch sein und geringe
Rollenflexibilität und kaum erkennbare Entwicklung auf individueller
oder Gruppenebene aufweisen.
3.Einkapselung
Durch diesen Prozess ist der Abweichende innerhalb der Gruppe
isoliert. In bezug auf die Gefühlsstruktur der Gruppe ist er ein Satellit,
der durch die Anziehungskraft des Group-workers am Rande des
interaktionellen Netzwerkes gehalten wird. Dieses Arrangement erweist
sich als erträglich und oft stabil, besonders wenn der potentielle
Sündenbock nicht herausfordernd handelt, bzw. wenn er sich
gefühlsmäßig abseits hält. Schuld- und Verantwortungsgefühle der
Gruppe sind befriedigt. Die Bedürfnisse des Abweichenden sind gerade
noch erfüllt. Die Interaktionen und wechselseitigen Drohungen bleiben
sehr gering, solange die soziale Distanz aufrechterhalten wird und keine
neuen Belastungen in das System hineinkommen.
4. Introspektive Einbeziehung
Hier ist der Angriff mit einer gründlichen Untersuchung der Hintergründe
für das Verhalten des Devianten verbunden und gewöhnlich von einer
Selbstprüfung begleitet. Dies bedeutet eine Abkehr von den drei oben
genannten statischen Positionen. Man stellt fest, daß der Sündenbockjäger
sich um Reaktionen des Sündenbocks bemüht. Der Wunsch, das Verhalten
des Opfers zu verstehen, zeigt gewöhnlich die Bereitschaft, sich mit ihm zu
identifizieren und die eigenen Probleme zu untersuchen.
30
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
(Quelle: Bernstein/Lowy 1978, S. 117-12710)
[Antons, aaO., S.195]
Zwei Fragen sind im Zusammenhang mit den Vorurteilen zu stellen:
• Woher kommen Sie?
Menschen, die bestimmten Gruppierungen angehören wollen (Familie, Berufsstand,
Schulklasse, Konfession), müssen in einem hohen Ausmaß die Wertsysteme und
Glaubensvorstellungen dieser Gruppe teilen. Um Gruppenzugehörigkeit zu erlangen, ist
es notwendig, mit den affektiv verwurzelten Überzeugungen dieser Gruppe
übereinzustimmen. Diese Übereinstimmung macht einen wesentlichen Teil des
sogenannten Wir-Gefühls einer Gruppe aus, sie ist Erkennungszeichen und Bedingung
für die Zugehörigkeit. — Wer also „dabeisein will", muß auch die Stereotype einer
Gruppe oder Gesellschaft übernehmen: ,Ein Junge weint nicht', ,die Schotten sind
geizig', .Kapitalisten beuten aus'. Man kann also sagen, daß Stereotype und Vorurteile,
genetisch gesehen, bedingt sind durch soziales Lernen im Streben nach
Gruppenzugehörigkeit.
• Wozu dienen Sie?
Stereotype, ähnlich wie auch Gewohnheiten, sparen Zeit und Mühe, sich in jeder
Situation jeweils neu entscheiden zu müssen — was sowieso nicht leistbar wäre
und nur eine geringe Handlungsfähigkeit des Menschen ermög-, liehen würde, da es
enorm viel Zeit und psychischer Energie brauchen wü dauernd solche Entscheidungen
zu treffen. Insofern sind Stereotype sinnvoll! und werden beibehalten, solange sie das
Individuum schützen und befriedi-\ gen. Sie wirken also entlastend, auch dadurch, daß
sie eine Gruppenzuge-j hörigkeit und damit Sicherheit vermitteln. Man kann sagen,
daß mit Hilfe j von Stereotypen Verhaltensweisen innerhalb von sozialen Gruppen
bestimmt und reguliert werden. Eine Abwehr gegen die Infragestellung und Änderung
von Stereotypen ist in diesem Sinne als Schutzfunktion für die entsprechen de
Sozietät zu verstehen.
. . . . . .
Von diesen sozialen Funktionen her ist es verständlich, daß Stereotype meist
•
einfacher strukturiert sind als die Wirklichkeit 0 die Erfahrung grob vereinfachen
•
ein vorschnelles, nicht der Realität angepaßtes Urteilen implizieren
•
eine hohe Konstanz und Rigidität besitzen.
Daraus wird vielleicht deutlich, daß es nicht darum gehen kann, bestehende Stereotype
gewaltsam zu zerbrechen in der Illusion, man käme ohne sie aus. Es kommt vielmehr
darauf an, sich seiner Stereotype, die man aufgrund diverser Gruppenzugehörigkeiten
erworben hat, bewußt zu werden und sie in den Situationen, in denen eine
Konfrontation mit dem stereotypisierten Objekt (z. B. mit den Schotten) ansteht, auf
ihren Gehalt hin zu prüfen.
Ergänzungen:
Meine Erfahrung ist, dass diese Rollen nicht
automatisch in allen Gruppen auftreten. Wenn es dazu
kommt, brauchen die GM die Hilfe der GL.
Jeder Außenseiter ist Täter und Opfer. Seine Rolle hat
eine belastende und eine entlastende Seite für ihn.
Entlastend:
10
Bernstein, S./Lowy, L. :Neue Untersuchungen zur Sozialen Gruppenarbeit. 2.Auflage Freiburg i. Br. 1978
[zitiert bei Schmidt-Grunert aaO. S.118]
31
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
-
an ihn werden keine großen
Anforderungen gestellt,
er kann sich Wünschen, Aufgaben,
Kontakten entziehen,
die Anderen wenden sich an ihn, er kann
passiv bleiben,
die anderen sind die „Bösen”, weil sie
immer etwas von ihm wollen,
er muss nicht aktiv werden.
Belastend
-
er ist einsam,
er gehört nicht dazu,
er hat kein Netzwerk, bekommt wenig
Unterstützung, (z.B. Infodefizit),
er muss sich immer abgrenzen,
muss aufpassen, dass er nicht
vereinnahmt wird.
32
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
Herausforderungen und Aufgaben der GL im Umgang mit
Außenseiter und Sündenbock
Merke:
Analysieren Sie in der konkreten Situation
genau, ob es sich bei der Ausgrenzung vor
allem um eine Gruppenprojektion handelt,
oder vor allem (in „reiner Form” kommt es
äußerst selten vor) ein intrapsychisches
Problem des Ausgegrenzten ist.
Bei der Gruppenprojektion gibt die Analyse der
Gruppendynamik (eventuell über ein
Gruppensoziogramm)ersten Zugang und Erkenntnisse für
die GM. In diesem Fall geht es darum, den Lernprozess
für das einzelne GM in seinem Gruppenverhalten
anzustoßen.
Ist das Sündenbockphänomen vor allem durch ein
manifestes, neurotisches Verhalten des Betroffenen
hervorgerufen, sprengt es die Möglichkeiten einer
Arbeitsgruppe. Es gehört in einer therapeutischen
Gruppe bearbeitet mit dem Ziel einer
Verhaltensänderung des Individuums.
In Arbeitsgruppen, Semestergruppen, Teams usw. geht es
meines Erachtens primär darum, die Arbeitsfähigkeit
aller GM zu gewährleisten und zu erhalten. Hier kann
es z.B. eine große Hilfe und Erleichterung für alle
sein, wenn Sie gemeinsam klären, wer, wann, wodurch,
den „Sündenbockmechanismus” auslöst. Dadurch können
alle etwas lockerer damit umgehen und sind nicht immer
wieder aufs Neue irritiert. Als GL sollten sie auf
keinen Fall das Problem übergehen oder ignorieren.
33
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
Merke:
Als GL sind Sie nicht für den Sündenbock in
Ihrer Gruppe verantwortlich.
Nicht jeder Außenseiter muss integriert werden,
kann aber trotzdem in der Gruppe bleiben.
Es kann sein, dass alle Versuche scheitern, ihn
zu integrieren.
Es kann sein, dass es für den Sündenbock besser
ist, sich von der Gruppe zu trennen.
Der Sündenbock leidet mehr unter den hinter der Rolle
verborgenen Konflikten als unter seiner Rolle. Seine
Position hat auch eine notwendige Schutzfunktion für
ihn. Einen Schutz sollte man dem anderen nicht
entreißen. Der einzige erfolgreiche Weg ist, wenn der
Sündenbock es wagen kann, auf seinen Schutz langsam zu
verzichten.
Als GL müssen Sie u.U. den Sündenbock vor den GM, aber
auch die GM vor dem Sündenbock schützen. Achten Sie
darauf, dass sich die Gruppe nicht zu lange mit der
Person des Rollenträgers beschäftigt, damit würde
nochmals eine Verstärkung der Positionen erfolgen.
Achten Sie auf Ihre Allparteilichkeit und schützen Sie
nicht einseitig, die Versuchung ist hier groß.
Es ist ganz besonders schwierig für die GL, wenn ein
GM die Gruppe stark behindert und die Gruppe dies
zulässt und eine Trennung aus moralischen und
Normgründen als Lösung nicht akzeptieren kann. Als GL
müssen Sie immer genau prüfen, welches Handeln
angebracht ist. Zwei Beispiele hierzu:
1. Haben Sie per Arbeitsauftrag die
Arbeitsfähigkeit der Gruppe zu garantieren,
dann müssen Sie handeln.
34
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
2. Geht es um eine Gruppe, die lernen muss,
Konflikte zu lösen, dann würden Sie, wenn Sie
die Konfliktklärung stellvertretend übernehmen,
Lernen verhindern.
Aufgabe 4:
Nennen Sie Beispiele (aus eigener Erfahrung) in denen
aus Ihrer Sicht die Gruppenleitung stellvertretend für
die Gruppe handeln muss und solche, in denen es
Gruppenthema werden muss.
Rollenverteilung
Im folgenden Abschnitt von Stahl, ist noch einmal
anschaulich dargestellt, wie dem Individuum mit starken
neurotischen Anteilen, die Wahrnehmung der konkreten
Situation verstellt ist. Wie es scheinbar unausweichlich
„seine Realität” immer wieder herstellt, herstellen muss.
[Stahl, aaO., S.315]
Neurotische Besetzung von psychologischen Rollen. Mitunter ist das Verhaltensrepertoire eines Menschen in Gruppen so eingeschränkt, dass er sich
- im Extremfall - nur in einer einzigen Beziehungskonstellation (z.B. „Versager unter Könnern") sicher fühlt. So, als müsse ein vorgegebenes Drehbuch immer wieder neu inszeniert werden, schafft der Einzelne dann beinahe
zwanghaft immer wieder die gleichen Beziehungsmuster. Dazu besetzt er
selbst die entsprechende Rolle und drängt seine Mitspieler einseitig in die
komplementären (ergänzenden) Rollen: Wenn ich den Versager spielen will,
muss jemand anderes den „Könner", den „Einpeitscher" oder den „Fordernden" übernehmen, sonst macht mein Verhalten keinen Sinn. Wie Wiederholungstäter suchen Menschen mit einem sehr eingeengten Rollenrepertoire
immer wieder das gleiche Beziehungsklima, den gleichen Beziehungsvertrag, die gleichen zwischenmenschlichen Konstellationen auf: „Schon komisch, ich bin immer das „Opfer" (der „Böse Bube", die „Stimmungskanone",
etc.), egal, an wen ich gerate", wäre vielleicht der innere Begleittext zu diesem
Geschehen.
Ein solch starres, situationsunangepasstes Verhalten bei der Rollenvergabe
hat in der Regel neurotischen Charakter, d.h. es steht im Dienste der Abwehr
35
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
unbewusster Ängste. Gerade wegen seines unbewussten Hintergrundes ist
es durch Lernerfahrungen nur in begrenztem Umfang beeinflussbar. Die
verborgene seelische Wahrheit hinter neurotischem Rollenverhalten lautet:
„Nur so, in dieser Rollenkonstellation fühle ich mich sicher. Vielleicht ist das,
was ich in dieser Rolle immer wieder erlebe, nicht sehr erfreulich, aber
zumindest weiß ich, was mich erwartet. Jenseits dieses Rollengefängnisses
fühle ich mich haltlos, orientierungslos und unsicher. Insgeheim wünsche
ich mir manchmal etwas anderes - ich weiß aber nicht, wie ich das anstellen
soll."
Menschen mit neurotischem Rollenverhalten behindern die Gruppe gelegentlich in ihrer Entwicklung. Sie zwingen die anderen immer wieder dazu,
sich mit den hinter ihrem Verhalten liegenden Themen zu beschäftigen - egal,
ob das für die Gruppe ansteht oder nicht.
Mit dem folgende Text möchte ich Sie noch mit zwei
weiteren „gruppendynamischen Hauptrollen” bekannt
machen und einer weiteren Ausführung zu „Sündenbock und
Außenseiter”.
[Stahl, aaO., S.318-321]
Vier gruppendynamische Hauptrollen
Hinsichtlich der Frage nach dem thematischen Einfluss eines Mitgliedes auf das
Miteinander unterscheiden wir vier wesentliche Rollen: Führer, Mitläufer,
Außenseiter und Sündenbock.
13 Rollen im Gruppenfeld
Der inoffizielle Führer. Er verdankt seinen Einfluss der Tatsache, dass die von ihm
verkörperten Themen von der Gruppe „gewünscht" werden und hoch im Kurs
stehen. Er drückt aus und lebt vor, was in der Gruppe gerade thematisch favorisiert
wird. Sein seelisches Heimatgebiet befindet sich im Zentrum des vorhandenen
Gruppenfeldes, falls die Gruppe im Feld verharrt. Ist die Gruppe in
Aufbruchstimmung, verschiebt sich die Führerschaft meist auf jene Mitglieder, die
am Rand des Gruppenfeldes in Richtung auf die anvisierten Qualitäten siedeln. Der
inoffizielle Führer ist weniger derjenige, der der Gruppe seinen Willen aufzwingt,
als vielmehr derjenige, der den Willen der Gruppe personifiziert und daher als ihr
Sprecher fungieren kann.
Dieser Zusammenhang ist gerade und immer dann zu beachten, wenn ich es als
hierarchisch legitimierter Vorgesetzter der Gruppe (Chef, Lehrer,...) schwer habe
mit ihrem inoffiziellen Führer: Wenn ich den inoffiziellen Führer attackiere, fühlt
sich die gesamte Gruppe angegriffen. Und wenn ich ihn durch Bestrafung,
Versetzung oder Demontage entmachte, habe ich meistens nichts gewonnen, da der
thematische Strom, der ihn getragen hat, weiterströmt und mit großer
Wahrscheinlichkeit einen neuen Themenführer gebären wird.
Umgekehrt könnte ich als Vorgesetzter natürlich versuchen, ein mir genehmes
Gruppenmitglied zum inoffiziellen Führer aufzubauen. Will ich aber einen Vasallen
installieren, der thematisch gegen den Strom der Gruppe schwimmt, sind meine
Erfolgsaussichten gering, da es ihm an gruppendynamischem Einfluss fehlen wird.
36
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
Er wird vielleicht den Gehorsam, niemals aber die Gefolgschaft der Gruppe
gewinnen. Erfolgversprechender ist es, den inoffiziellen Führer als thematischen
Sprecher der Gruppe zu akzeptieren und mit ihm unter Einbeziehung der anderen
die Auseinandersetzung über strittige Ziele und Themen zu führen. Dann besteht die
Chance für ein konstruktives Storming zwischen Gruppe und Vorgesetztem.
Ist in Gruppen ein siamesischer Themenzwilling (z.B. Leistung vs. Solidarität)
umstritten, kommt es häufig zur Fraktionsbildung mit zwei inoffiziellen Führern, die
den thematischen Konflikt dann in ihrer persönlichen Gegnerschaft verkörpern.
Der Mitläufer. Er lässt sich vom thematischen Strom treiben und tritt hinter den
inoffiziellen Führer zurück. Sein Einfluss manifestiert sich vor allem in seiner
Zurückhaltung. Er verzichtet darauf, der Gruppe eigene Impulse zu geben und
verkörpert seinerseits keine zusätzlichen markanten Themen. Sein Hauptziel in der
Gruppe ist nicht die Schaffung eines von ihm geprägten Klimas, sondern das
Dazugehören. Mitläufer üben das passive Wahlrecht aus, ohne sich selbst zur Wahl
zu stellen und verhalten sich dabei ähnlich wie Wechselwähler: Wenn der
thematische Wind in der Gruppe dreht, schließen sie sich einem neuen Führer an.
Durch ihr Mitlaufen entscheiden sie über die Besetzung der Führungsrolle. Da
Mitläufer das Geschäft der Einflussreichen betreiben, ohne im eigenen Namen zu
sprechen und ihre eigenen Interessen offen zu benennen, ist es schwer, mit ihnen in
einen differenzierten Austausch (Re-Forming) oder eine konstruktive
Auseinandersetzung (Storming) zu geraten: Sie sind wankelmütig, solange die
Machtverhältnisse ungeklärt sind und neigen eher zur unterschwelligen
Stimmungsmache als zur differenzierten Argumentation, wenn sie sich auf eine
Seite schlagen. Dadurch behindern sie ihre Gruppen häufig bei der Entwicklung
eines den äußeren Umständen und den widerstreitenden Interessen gemäßen
Gruppenvertrages. Als Coach muss man Mitläufern in diesem Fall mit
schonungsloser Geduld und konfrontativem Verständnis begegnen: Indem man sie
immer wieder freundlich darauf hinweist, dass ihre persönliche Meinung von
Interesse wäre, aber noch nicht greifbar geworden ist, unterstützt man sie bei der
Formulierung eigener Standpunkte und erschwert ihnen dadurch das Mitlaufen.
Der Außenseiter. Er ist ein Vertreter geduldeter randständiger oder feldferner
Themen. Er hält sich wortwörtlich an der Außenseite des Gruppenfeldes auf.
Wenn ich als Coach weiß, wer diese gruppendynamische Rolle in einer Gruppe inne
hat, kann ich daraus folgern, welche derzeit einflusslosen Themen im Feld
mitschwimmen und dort immerhin toleriert werden. Der Außenseiter stellt ein
thematisches Reservoir für die Gesamtgruppe dar. Auf ihn kann zurückgegriffen
werden, wenn Feldveränderungen Not tun und die durch sie repräsentierten Themen
bearbeitet werden müssen. In manchen Gruppen gibt es auch geliebte Außenseiter,
die solche Themen und Strömungen vertreten, die die Gruppe sich gern an die Brust
heftet, ohne ihnen allzu viel Einfiuss einräumen zu wollen.
Als Coach kann man der Gruppe die randständigen Sichtweisen des Außenseiters
im Sinne einer Horizonterweiterung und eines Perspektivenwechsels zugänglich
machen, indem man diesem Aufmerksamkeit zukommen lässt: „Was vermuten Sie
(als Außenseiter), wie es den anderen in der jetzigen Situation zu Mute ist? Haben
Sie eine Idee, worum es den Streithähnen wirklich geht? Was glauben Sie, müsste
diese Gruppe lernen, um voran zu kommen?" Oder: „Was glauben Sie anderen, wie
der Außenseiter über das aktuelle Geschehen denkt?".
Dabei darf es nicht darum gehen, den Außenseiter zum inoffiziellen Führer
aufzubauen oder als Vorbild darzustellen - auch und gerade dann nicht, wenn man
37
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
als Coach glaubt, dass das Gruppenfeld sich in dessen Richtung entwickeln sollte.
Den inoffiziellen Führer bestimmt die Gruppe selbst, und man tut keinem
Außenseiter einen Gefallen damit, ihn als Verbündeten noch stärker von der
Gruppe zu entfernen, als das ohnehin der Fall ist.
Der Sündenbock. Er ist das Gegenstück zum inoffiziellen Führer. An ihn werden
die Tabuthemen der Gruppe delegiert. Er trägt gewissermaßen jenen thematischen
Sprengstoff mit sich herum, der der Gruppe zu bedrohlich und heikel erscheint, als
dass er öffentlich gezündet werden könnte. Bildlich gesprochen steht der
Sündenbock außerhalb des Feldes, in dessen Schattenbereich. Zu diesem dunklen
Bereich werden die Grenzen des Gruppenfeldes gut bewacht und die
Grenzsicherung fällt dann am leichtesten, wenn es einen Buhmann gibt, einen
identifizierten Un-Thementräger, der sie zu bedrohen scheint. Seine
Ausgrenzung ist eine Methode, die innere Sicherheit zu stabilisieren. In diesem
Sinn ist die Sündenbockrolle durchaus einflussreich und kann aus einem
Gruppenfeld nicht einfach eliminiert werden.
Psychodynamisch ist der Sündenbock vor allem Projektionsleinwand nach dem
Motto: „Das, was er tut, denkt und fühlt, ist uns zwar nicht unbekannt aber so
unangenehm, dass wir es bei uns nicht dulden könnten. Also werden wir ihn mit
genau jener Gnadenlosigkeit verfolgen, mit der wir entsprechende Strebungen in
uns selbst gewöhnlich zur Strecke bringen." Indem die durch den Sündenbock
vertretenen Themen vom Rest der Gruppe an ihn delegiert und somit aus dem
eigenen Selbstbild verdrängt werden können, muss er - anders als der Außenseiter fortlaufend aufgespürt, gestellt, bekämpft und ausgegrenzt werden. Es wäre auch ein
Missverständnis anzunehmen, die Gruppe wolle den Sündenbock loswerden. Das
Gegenteil ist der Fall: Sie braucht ihn so dringend wie kaum ein anderes Mitglied,
um sich ihres Feldes in Abgrenzung zu den von ihm vertretenen tabuisierten
Themen immer wieder versichern zu können.
Als Coach wird man vor allem darauf hinarbeiten, in der Grupe jene tabuisierten Themen bearbeitbar zu machen, die der Sündenbock vertritt. Dabei sollte
der Rollenträger selbst möglichst wenig im Rampenlicht stehen, um ihm die
zusätzliche Belastung der Rolle des „Vom Coach als Opfer Titulierten" zu
ersparen. Will man dennoch eine Personalisierung der Auseinandersetzung
ermöglichen, vertritt man die tabuisierten Themen vorübergehend selbst und
arbeitet mit den Reaktionen der Gruppe darauf weiter.
38
Sündenbock, Außenseiter, Rollenverteilung
39
Literaturverzeichnis
F. Literaturverzeichnis
1) Schmidt-Grunert, Marianne: Soziale Arbeit mit Gruppen - Eine
Einführung. Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau 1997
2) Stahl, Eberhard: Dynamik in Gruppen - Handbuch der
Gruppenleitung. Verlagsgruppe Beltz, Weinheim, Basel, Berlin
2002
3) Antons, Klaus: Praxis der Gruppendynamik – Übungen und
Techniken. 5. überarbeitete und ergänzte Auflage, Verlag für
Psychologie Dr. C.J. Hogrefe, Göttingen, Toronto, Zürich
1992
4) Dießner Helmar: Gruppendynamische Übungen und Spiele.
Junfermann Verlag, Paderborn 1997
40
Anhang
G. Anhang
Im Anhang finden Sie einige Übungen für Vorstellungsrunden11.
Wandzeitung
Vorstellung
Material
2 Blätter DIN A l/D IN A 2, verschiedenfarbige Filzstifte (dick und dünn)
Durchführung
Alle Gruppenmitglieder schreiben ihren Namen auf die Blätter, die an der
Wand hängen.
Dazu soll jeder etwas Spezifisches und Charakteristisches zu seiner Person
ergänzen oder auch malen.
Reflexion
 Wer hatte Schwierigkeiten, etwas Spezifisches oder Charakteristisches zu
seiner Person zu finden?
 Wer hatte Probleme beim Malen?
 Wer ist mit seiner Darstellung zufrieden/unzufrieden?
Modifikation
Jeder Teilnehmer bekommt ein eigenes großes Blatt sowie ein Set Filzstifte
und hat viel Platz für die eigene Darstellung
Notizen
11
Dießner, Helmar; aaO., S. 28-31
41
Anhang
Kennenlernspiel
Vorstellung
Material
Filzstifte, Pappstreifen (ca. 20cm x 16cm)
Durchführung
Die Teilnehmer sitzen an ihren Arbeitstischen und schreiben ihre Namenskärtchen selbst.
Ein Gruppenmitglied beginnt, eine andere Person vorzustellen und versucht,
sie in bezug auf Alter, Familienstand, Kinder, Beruf, soziales Engagement,
Hobbys richtig einzuschätzen.
Im Anschluß daran bestätigt, korrigiert und ergänzt der Vorgestellte die
Einschätzungen. Danach werden die Rollen gewechselt.
Reflexion
Ergibt sich ggf. aus dem Verlauf des Kennenlernspiels.
Modifikation
Die Teilnehmer sitzen ohne Namenskärtchen im Kreis.
Notizen
42
Anhang
Kennenlernspiel
Den anderen Teilnehmer mit seinen Bedürfnissen
besser verstehen und kennenlernen
Material
farbiges Kordelknäuel, Stühle, Decken
Durchführung
Teilnehmer sitzen auf Stühlen oder Decken im Kreis. Der Kursleiter oder ein
Teilnehmer hält den Kordelanfang fest und wirft das Knäuel einem anderen
Teilnehmer zu. Dabei interviewt er sein Gegenüber:
 Welche Erwartungen hast du an dieses Seminar?
 Wo liegen deine kreativen Stärken/Schwächen?
 Was bestimmt deinen täglichen Arbeitsalltag?
Der Befragte wird nun selber zum Interviewer, indem er das Knäuel weiterwirft
und sein neues Gegenüber befragt, usw.
Der Abschluß besteht darin, daß sich die Teilnehmer, die den gleichen
Farbstrang in der Hand halten, zu einer Gruppe zusammenschließen und für den
weiteren Sitzungsverlauf zusammenbleiben. In dieser Subgruppe hat jeder die
Möglichkeit, die Teilnehmer näher kennenzulernen.
Reflexion
Ergibt sich ggf. aus dem Sitzungsverlauf.
Modifikation
Verwendung eines einfachen Kordelknäuels, ohne die Bildung von Subgruppen.
Notizen
43
Anhang
Namenskette
Wahrnehmung • Konzentration • Gedächtnisleistung
Durchführung
Die Gruppenteilnehmer sitzen zum ersten Mal in der Runde zusammen. Nachdem
sich jeder kurz vorgestellt hat, wird eine Namenskette gebildet: Ein Teilnehmer
sagt laut seinen Namen, der Nachbar wiederholt den Namen seines Vorgängers
und fügt seinen hinzu, usw.
Reflexion
Ergibt sich ggf. aus dem Spielverlauf.
Modifikation
Sollte die Gruppe sehr groß sein, kann sie in 2 Kreise, d.h. einen inneren und
einen äußeren Kreis geteilt werden.
Notizen
44
Herunterladen