Lachmann-10

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Renate Lachmann
Erzählte Phantastik
Zu Phantasiegeschichte und Semantik
phantastischer Texte
Rhetorik und Poetik haben Phantasie und Phantasma seit der Antike bis ins
Ende des 18. Jahrhunderts kontrolliert. Das Phantastische ist immer wieder
ausgcbrochen, um die semantischcn Felder des Exorbitanten, Exzessiven,
Unmöglichen und Unvordenklichen, die den Menschen und seine Kultur
erfassen, zu entwerfen.
Nach der konzeptgeschichtlichen Darstellung rhetorischer Z ügelung des
Phantastischen zeigt die Analyse literarischer Texte von der Vorromantik
bis zur Neophantastik^ wie Geheimwissen (Aichemie, Magnetismus) und
(unheimliches) Wissen (Medizin, Psychologie, Physik) Phancasmen
des Übernatürlichen und Verborgenen stimulieren und Spekulationen mit
(pa-ra-)lögischen Parametern in präzedenzlose, alternative Welten fuhren.
Renate Lachmann ist Professorin für Slavistik und Allgemeine Literaturwis senschaft an der Universität Konstanz. Von ihr ist u.a. im Suhrkamp Vertag
erschienen: Gedächtnis und Literatur, 1990.
Suhrkamp
Inhalt
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suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1578
Erste Auflage 1002
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Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
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Danksagung ..........................................................................
Einleitung ............................................................................
6
7
I. Konzeptgeschichte und Phantasmagenese
.................
Trugbilder und ihre Poetologie .........................................
Rhetorische Bändigung der Phantasie
........................
Rhetorikkrise ................................................................
Nach der Rhetorik ...........................................................
Rhetorik — Gcgenrhetorik ............................................
Die Provokation des Zufalls .........................................
2,7
2.9
45
79
86
99
117
II. Orte des Phantastischen
.............................................
Jenseits: Das Faszinosum des Geheimwissens - Brown,
Hoffmann, Puskin, Odoevskij, Poe, Wilde, Wells,
Bulgakov ......................................................................
Zeichen: Phantasmatik von Schrift und Buchstabe:
- Gogol, Dostoevskij, Hawthorne...............................
Blick: Stadt als Phantasma - Gogols Petersburg- und
Romentwürfe .................................................................
Diskurs: Einbruch des Phantasmas in den realistischen
Text - Goncarovs >Oblomovs Traum« .......................
Medium: Phantasmatisicrung der Photographie Turgenevs Erzählung »Klara Milic«
.......................
151
153
195
2,38
270
295
III. Phantastische Poiesis .....................................................
Metamorphose: Die andere Morphologie — Bruno
Schulz' Prosa .............................................................
Mnemophantastik: Das andere Wissen — Lurijas und
Borges' Gedächtnis texte
.........................................
Mystifikation: Die andere Wirklichkeit - Nabokovs
Roman Verzweiflung ................................................
Literaturverzeichnis
.............................................................
Namenregister
.....................................................................
335
436
45^
481
Sachregister ........................................................................................
Bibliographische Notiz
.............................................................
490
501
337
375
Danksagung
Einleitung
Ein vorlesungsfreies Jahr am Wissenschaftskolleg in Berlin mit seinem hervorragenden Bibliotheksdienst und seinen idealen Arbeitsbedingungen hat die Muße für die Erarbeitung von großen Teilen
des vorliegenden Buches gewährt. Dieser Institution und ihren hilfreichen Mitarbeiterinnen sei an dieser Stelle gedankt. Erzählte
Phan-tastik hat von der Einbindung als Teilprojekt in den
Sonderfor-schungsbereich »Anthropologie und Literatur« der
Universität Konstanz durch fächerübergreifende Diskussionen und
die Bereitstellung von Hilfsmitteln ungemein profitiert. Auch das
literaturwissenschaftliche Kolloquium der Konstanzer Slavistik war
dem Buchprojekt mit den kritischen Beiträgen von Igor Smirnov,
Susi Frank, Schamrna Schahadat, Caroline Schramm, Thomas Grob
und Riccar-do Nicolosi sehr förderlich. Die Produktion der
Druckvorlage ist Heike Schmal zu danken, die auch die Korrekturen
überwacht hat. Literaturverzeichnis und Sachregister wurden von
Natalia Borissova erstellt, die Zitarüberprüfung von Davor
Beganovic durchgeführt. Beiden sei hier gedankt.
Welche Rolle kann die Literatur in einer Kultur übernehmen? Tritt
sie in Kontakt mit ihrer Vergangenheit und dem, was eine gegebene
aktuelle Kultur eliminiert oder vergessen hat? Entwickelt sie Prognosen für deren weiteren Verlauf? Ist sie an der Fabrikation von für
die Kultur relevanten Menschenbildern beteiligt? Auf diese Fragen
antwortet die Literatur des Phantastischen, die kulturologische und
anthropologische Pointe verschärfend) mit Projekten des Unerwarteten und Spekulativen. Ihr anthropologisches Projekt läßt ein Menschenbild der Exzentrik, Anomalie und beunruhigenden Devianz,
hervortreten. Transformier barkeit, Mutabilität, plötzlich eintretende
oder allmählich sich vollziehende Wandlungen lassen auf Instabilität,
Inkonstanz von Körper und Seele schließen und stellen in extremen
Fällen die personale Identität auf den Kopf. Physische und psychische, von außen hervorgerufene oder von innen hervorbrechende
Metamorphosen scheinen von einer paradoxen Konzeption menschlicher Verfaßtheit auszugehen. l Die Wandlungen von lebendig in
tot - und unigekehrt, von menschlich in nicht-menschlich, in Mineral, Pflanze, Tier oder Stern, wie sie entweder von Göttern und
Magiern verursacht werden oder einem inneren Impuls des Menschen folgend sich vollziehen, sind vom phantastischen Text spektakulär in Gang gesetzte Grenzüberschreitungen, die der Text selbst
als Beunruhigung der Ordnung, Inversion geltender Annahmen
über die menschliche Natur vorführt. In die Darstellung
metamor-photischer Votgänge fließen Komponenten
unterschiedlicher Traditionen ein: arkane schöpfungsmythologische
Konzepte, die alchemi-stische Kreationen einerseits und Entwürfe
von Automaten-Menschen gleichermaßen bestimmen, aber auch
jeweils zeitgenössisches halboffizielles Wissen, medizinisches oder
seelenkundliches, spielt eine Rolle, wenn Gerüchte über
physiotechnische und psychotechni-sehe Umwandlungen, über
Experimente an Mensch und Tier, die die Gattungsgrenzen auf
skandalöse Weise verletzen, Unruhe verbreitet haben. Gerade die
Metamorphose-Vorgänge thematisierenden und gestaltenden Texte
der Phantastik arbeiten Menschenbilder heraus,
Zur Myihopoetik der Metamorphose vgl. Harzer, Fnedmarm, Erzählte Verwandlung. Eine Poetik epischer Metamorphosen (Ovid-Kafka-Ransmayr), Tübingen 2000.
Der Titel des vorliegenden Bandes nimmt Harzers »Erzählte« auf.
7
die akzeptierte anthropologische Annahmen in Zweifel ziehen. Der
phantastische Text entblößt in der Metamorphose die Exzentrik, das
Liminale der Protagonisten, zeigt sie als genauer Beschreibung Entzogene.2
Der Nichtbeschreibbarkeit und letztlichen
Nichtmetrifizierbar-kcit des Menschen, wie sie viele Texte der
Phantastik vorstellen, kann die Manipulierbarkeit durch Methoden
der Wissenschaft entgegengehalten werden. Hier erscheint der
Mensch weder entzogen noch verborgen, sondern vielmehr
durchschaubar und offenbar. Es kann in ihn eingegriffen werden,
weil sein Bauplan, seine Grammatik bekannt sind und
umstrukturiert bzw. umgeschrieben werden können. Wer greift
ein, wer kennt den Bauplan? Es ist wiederum der Mensch, der als
Kennet, als Wissenschaftler den anderen Menschen zum Objekt
macht (zum Erkenntnis- und Experimentier ob jekt) und sich damit
zum Zweitschöpfer oder Um-Schöpfer aufwirft. Jedenfalls würde dies
für die physiotechnisch, aber auch psychotechnisch herbeigeführte
Metamorphose gelten. Hier ist der zum Objekt gemachte M.ensch,
der zum Anderen des ihn objektinzierenden Menschen wird, nur
sich >selbst<, nicht dem Eingreifenden entzogen. Die Macht
über ihn hat der >Wissendet an sich genommen, der ihn damit
zum Körper-Analphabeten macht. Die von außen bewirkte
Metamorphose thematisiert der phantastische Text als einen Körper
und Seele betreffenden entsetzlichen Eingriff durch ein bedrohliches
Wesen: den Wissenschaftler, der mit Apparaturen hantiert, schneidet
und Tinkturen verabreicht; er ist ein mit diabolischen Zügen versehener unnahbar Fremder, ein Feind. Das angewandte Wissen um
Bauplan und Grammatik wird als gewaltsames Eindringen in den
unantastbaren Körper- und Seelenraum dargestellt. Der
kognitiv-therapeutische Aspekt des neuen Wissens vom
Menschen, den die Aufklärung vermittelt, wird ins Unheilvolle
gekehrt. Nichtbeschreib-barkeit und Beschreibbarkeit, Entzogenheit
und Manipulierbarkeit der menschlichen Natur werden Themen
unterschiedlicher Texte der Phantastik: in beiden geht es um eine
Aufldärungsinversion. 3 Die Unbeschreibbarkeit des Menschen ist
Folge des Extremen, Exorbitanten, das er in seiner phantastischen
Universalisierung repräsentiert. Exorbitantes kann nicht mit den
Kategorien des Orbitanten erfaßt werden. Seine Beschreibbarkeit
wiederum ist Folge des neuen
2. Vgl. hierzu das Kapitel: Das Faszinosum des Geheim wisse ns. 3
Vgl. hierzu das Kapitel: Das Faszinosum des Geheimwissens.
Wissens, das aber dazu führt, daß er durch Operationen unterschiedlicher Art zu einem Exorbitanten wird. In beiden Fällen operiert
die Phantastik mit dem »Universalisiemngs«-Topos des anomalen
Menschen. Die Phantastik macht anthropologische
>Aussagen<. Doch während die nicht-phantastische Literatur
mit ihren Menschenbildern, in denen die in verschiedenen
Diskursen einer Kultur verstreuten Konzepte (philosophische,
religiöse, pädagogische, medizinische) antizipiert oder pointiert zur
Darstellung gebracht werden, wie eine Proto-Anthropologie
fungiert, erscheint die Phantastik in der Überschreitung akzeptierter
Anthropologien eher als Meta-An-tfiropologie oder
Anti-Anthropologie. Der phantastische Mensch scheint seine
Anthropologie zu durchkreuzen oder gar zu leugnen — er wird
Agent und Patient einer alternativen Anthropologie, in der er als
Träumer, Halluzinierender, Wahnsinniger, Monster auftritt.
Neben dem anthropologischen spielt der kulturologische Entwurf
mit unterschiedlichen Konzepten des Alternativen eine zentrale Rolle. Dazu gehört die Alternative des Ausgegrenzten, Vergessenen ebenso wie die Alternative des Fremden. Zum Fremden wird auch das,
was die Kehrseite einer Kultur, ihr Anderes, Verleugnetes, Verbotenes, Begehrtes ist. Es scheint, als sei es allein die phantastische Literatur, die sich mit dem Anderen in dieser Doppelbedeutung beschäftigt
und etwas in die Kultur zurückholt und manifest macht, was den
Ausgrenzungen zum Opfer gefallen ist. Sie nimmt sich dessen an,
was eine gegebene Kultur von dem abgrenzt, was sie als Gegenkultur
oder Unkultur betrachtet. Ftemd - Eigen ist dabei die Opposition,
die das Verhältnis einer Kultur zu dem, was sie nicht ist und nicht
sein will, bestimmt. Diese Opposition scheint dem Vorgang zugrunde zu liegen, der entscheidet, was einverleibt und ausgestoßen, zugelassen und verdrängt wird. Das Fremde ist Bedrohung des Eigenen,
aber auch Verheißung von Alterität. In der Transformation des Vergessenen oder Verdrängten in das Fremdkulturelle, bzw. im Einsatz
des Fremdkulturellen als Stellvertretung für das Verdrängte und Vergessene der eigenen Kultur wird die phantastische Schreibweise zu
einer konzeptuellen Größe und tritt damit in Konkurrenz zu denjenigen Vorstellungen, die die gegebene Kultur entwickelt, um mit
ihrer Alterität und der Bedrohung durch Alternativen zu begegnen.
Der Kontakt mit dem Fremden als dem Anderen der Kultur
vollzieht sich als Eintritt in einen Bereich der Unordnung oder
Gegenordnung, Ausgangspunkt ist dabei stets der Boden der
geltenden Kultur. Die Phantastik wird geradezu zum Gradmesser
für die in der
gehenden Kultur herrschenden Beschränkungen. Das Irreale, das der
phantastische Text favorisiert, stellt die Kategorie des (vereinbarungsgemäß) Realen auf die Probe. Insofern das Reale als die Präsenz
einer funktionierenden Kultur und als Repräsentation des
axiologi-schen Modells interpretiert werden kann, das deren
Mechanismus kontrolliert, bewirkt die Einführung des Anderen,
Kultur ab gewandten und damit Abwesenden eine Verschiebung der
Kategorien von Präsenz und Repräsentation. Das Phantastische
erscheint nicht nur als eine quasi häretische Version des {oder eines)
Realitätsbegriffs, sondern auch der Fiktion selbst. Es unterwirft
sich nämlich nicht den Regeln, die der fiktionale Diskurs, den
eine Kultur toleriert, zugrunde legt, es überschreiter die
Erfordernisse der mimetischen Grammatik (das Andere, so scheint
es, entzieht sich als Gegenstand mimetischen Bemühungen), es
entstellt die Kategorien von Zeit, Raum (so entsteht der
phantastische Chronotop) und Kausalität. Es verwirft oder
unterläuft die Geltung fundamentaler ästhetischer Kategorien wie
Angemessenheit und Proportion. Die Gegen- oder eher
Kryptogrammatik des Phantastischen erlaubt sich semiotische
Exzesse, Hypertrophien, Extravaganzen und schließt an Traditionen
des Ornamentalen, Arabesken und Grotesken an bzw. entwickelt sie
eigentlich erst. Die Sujetfugung ist von Strukturen der Steigerung,
der Höhepunkte, der Abbruche, exorbitanter Ereignisse und Handlungen bestimmt (wozu das Wunderbare, das Rätsel, das Abenteuer,
Mord, Inzest, Verwandlung und die Wiederkehr der Toten gehören).
Die Protagonisten des Phantastischen befinden sich stets in exzentrischen Gemütszuständen (Halluzination, Angst, Fieber, Alptraum
oder fatale Neugier suchen sie heim); sie müssen Gespenster, Monster, Wahnsinnige, die Revenants und die Enthüllung der gräßlichen
Familiengeheimnisse ertragen. Oft geraten sie in Kontakt mit Geheimwissen (Alchemie) oder mit esoterischem Wissen, in dem hermetische, gnostische oder kabbalistische Elemente - vermischt
-enthalten sind, es gibt Begegnungen mit fremden nichtchristlichen
Ritualen, in die sie gelegentlich selbst eingeweiht werden.
Das Phantastische als das Unmögliche, Gegenrationale und Irreale
kann trotz seiner Aufkündigung der fiktionalen Darstellungsregeln
und der versuchten Desintegration des Bestehenden nicht ohne die
Welt des Realen, Möglichen, Rationalen bestehen. Und dennoch
gelingt es ihm, diese parasitäre Abhängigkeit offensiv auszulegen.
Denn in den alternativen Formen, die sie (scheinbar unverbindlich)
erfindet, wird bedrohlich das Unbewußte der Kultur sichtbar ge10
macht. Oder anders: in der Phantastik wird die Begegnung der Kultur mit ihrem Vergessen erzählt.
Aber das Vergessen, das die Phantastik der Kultur vorhält, indem
sie das Entschwundene und Verschobene in ihren neu ge- und erfundenen Bildern wiederauferstehen läßt - Phantastik als mnemotechnische Institution der Kultur -, ist andererseits jener Motor der
Willkürschöpfungen, der das geltende, der Erinnerung erlaubte
Ima-ginarium durch Gegenbilder zu überdecken oder zu löschen
erlaubt - Phantastik als ars oblivionalis. Denn es bedarf eines
durch das Gegengcdächtnis ermöglichten Raums, in dem die
imagines des Ungesehenen, Unvorgedachten niedergelegt werden.
Die Konstruktion komplexer Wissensalternativen, in denen verworfene, nicht zugelassene Gedankenmodelle mit Logophantasmen
sich mischen, die irreale Systeme mit monströser Alogik zu begründen scheinen, gilt besonders für einen der bedeutendsten Repräsentanten der Neophantastik, Jörge Luis Borges. 4 Hier tritt die Phantastik als Gegenprojekt zum kulturellen Gedächtnis und dessen festverankerter Imaginationstradition auf und erscheint somir
als Repräsentationsmodus nicht nur des Noch-Nicht-Gesehenen,
sondern auch des Noch-Nicht-Gedachten.5
Die Aufdeckung des Anderen der Kultur bedeutet sowohl die
Projektion alternativer Welten als auch die Wiedergutmachung von
Mängeln, die aus den Zwängen der faktischen Kultur entstehen. Der
Kompensationsaspekt, der in dieser Funktion des Phantastischen
fortbesteht, ist freilich nicht der einzige die semantischen Möglichkeiten des Phantastischen bestimmende Aspekt. Es geht nicht nur
um eine durch Revokation von Vergessenem und Verbotenem hergestellte Gegen- oder Anderswelrlichkeit, sondern auch um Entwürfe
ohne Präzedenz, um Inversionen des Bestehenden, wie sie in utopischen, idyllischen, komischen und karnevalesken Diskursen und
Diskursen der Paradoxie und des alternativen Wissens zur Geltung
kommen.
Folgt man der von Vladinür Solov'ev vertretenen, weiter unten
4 Der Begriff Neophantasti k geht auf Jaime Alazraki zurück, der lateinamerikanische
Autoren (Julio Cortäzar, Bioy Casares, Jörge Luis Borges) als »neofantasticos« be
zeichnet hatj in: »Introduccion: Hacia la ültima casilla de la rayuela«, in: La Isla
Fina.1. Julio Cortäzar, hg. von Jaime Alazraki, Ivar Ivask, Joaquin Marco, Madrid
1981, S. 20.
5 Vgl. hierzu das Kapitel zu Borges: Mnemophantastiki Das andere Wissen — Lurijas
und Borges' Gedickmistexte.
II
erläuterten Position, so eröffnet sich neben der anthropologischen
und kulturologischen eine ontologische Perspektive, in der das Phantastische stellvertretend für das Übernatürliche erscheint. Zwei Seinsebenen werden angenommen, wobei die höhere, unsichtbare in die
sichtbare allmählich einsickert, das Sichtbare in andere
Deutungsan-sichtcn umbiegt. Auch die Theorien .von
Pierre-Georges Castex, Louis Vax, Roger Caillois u.a.6 gehen von
einer Zwei-Welten-Szenerie aus, die das Spiel zwischen natürlich
und übernatürlich ermöglicht, doch ermuntern sie keineswegs dazu,
das Wunderbare, Unsägliche, Unerklärliche als Wirkliches
anzunehmen, während die ontologische Variante im Phantasma ein
wirkendes Anderes erkennen will.7
Die oben genannten Diskurse, die in Genres verfestigte Formen
hervorgebracht haben, operieren mit dem Phantastischen als dem
Kontrafaktischen und Irrealen. Auch der phantastische Diskurs weist
in Vorromantik, Romantik und Postromantik epochenspezifisch
genremäßige Konsolidierungen auf. Aber nicht die
Problematisie-rung diesbezüglicher Theorien der
Phantastikforschung8 soll hier betrieben werden. Vielmehr geht es
um Fragen der Genese des Phantastischen und dessen semantischer
Leistung in narrativen Texten unterschiedlicher literarhistorischer
Herkunft, um eine Schreibweise, einen >Modus des Schreibens<.
Walter Scott hat in einer Rezension über E.TA. Hoffmanns »Der
Sandmann«, von der noch die Rede sein wird, die Formulierung
»mode of writing« benutzt, vielleicht sogar eingerührt, die Remo
Ceserani in seiner Monographie Ilfanta-sticoals »modo
discritturafantastico« übernimmt.9 Im Vordergrund
6 Vgl. Kapitel: Nach der Rhetorik,
7 Auch Stanislaw Lern räume dem Ontologischen (allerdings ohne religiöse Färbung)
einen zentralen Platz im Phantastischen ein, Phantostik und Futurologie, Bd. i,
übers, von Beate Sorger, Wiktor Szacki, Frankfurt am Main 1977, S. 85-128.
8 Neben gattungstheoretisch und historisch ausgerichteten Arbeiten, wie der von
Thomas "Wortche, Phantastik und Unschlüssigkeit. Zum strukturellen Kriterium eines
Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink,
Meitingen 1987, gibt es Positionen, die das Phantastische rundweg als genreresistent
betrachten, z.B. Jacksort, Rosemary, Fantasy. The Literatur* of Subversion, London
1981, 5.71.
9 Scott, Sir "Walter, »On die Supernatural in Fictitious Composition, and particuiarly
an the Works of Ernest Theodore William Harrmaim« (1827), in: ders., On Novelists
andFiction, hg. von loan Williams, London 1968, S. 325; Ceserant, Remo, IlFantastico, Bologna 1996; Tzvetan Todorov, der seine Monographie fntroehtction ä la
litterature fantastique, Paris 1970, mit einer genretheoretischen Reflexion beginnt,
zieht den Bcgriff»discöurs fantastique« vor.
II
steht die narrative Entfaltung der durch das Phantasma generierten
semantischen Konstellation auch in Texten, die nicht zum
>klassi-schen< Kanon der phantastischen Literatur, wie sie die
Romantik hervorgebracht hat, gezählt werden. Postromantische
Texte, insbesondere solche des Realismus 10, aber auch Texte der
literarischen Moderne und Postmoderne, arbeiten mit Phantasmen
unterschiedlicher Genese, die je andere Funktionen realisieren.
Innerhalb einer weit gefaßten Konzeption hat jede Irrearisierung
von Sprache ein phantastisches Moment, wie es etwa für die »kühne
Metapher«11, generell für die sogenannte dunkle Lyrik und jedes
sprachliche Erzeugnis einer nicht realitätsbezogenen Einbildungskraft gilt. Letzterer wird in der Begrirfsgeschichte von. phantasta. und
imaginatzo nachgegangen
, und zwar mit der Absicht, ein
konzep-tuelles Feld abzustecken, das die realitätsabgewandte oder
realitäts-überhöhende Potenz der Einbildungskraft, wie sie
Rhetorik und Poetik — affirmativ und kritisch - darstellen, zu fassen
erlaubt. Deren Produkten in Texten ausschließlich der Prosa, in
denen das erzählte Phantasma hervortritt, wird das
interpretatorische Interesse gelten. Dabei spielen die formalen
Koalitionen mit Schreibweisen des Idyllischen, Karnevalesken,
Komischen, Utopischen, Paradoxen, die ihrerseits gemeinsame Züge
haben13, ebenso eine Rolle wie die Analogien und Differenzen der
Funktion.
Ein Vergleich des Komischen, speziell was die Funktion des Humors angeht, mit dem Phantastischen mag Affinitäten und Differenzen, wie sie zwischen Schreibweisen dieser Prägung bestehen,
exemplarisch belegen. Es ist der Humor, der — entsprechend geltenden Theorien14 — eine dem Phantasma analoge Funktion übernimmt. Allerdings dürften die Exkursionen ins Horrormäfiige und
10 In einem gemeinsam mit Gerhart von Graevenitz im Wintersemester 1999/2000
durchgeführten Seminar zum Thema iPhantastik und Realismus* ließen sich un
terschiedliche Erscheinungs- und Bedeumngsformen des Phantastischen (im Rea
listischen) in Werken von Gotdielf, Keller, Raabe, Storm und Fontäne im Wech
selspiel zwischen realistischer Motivierung des Phantastischen und dessen sprachli
cher Inszenierung herausarbeiten.
11 Vgl. Weinrich, Harald, »Semantik der kühnen Metapher«, in: Theorie der Meta
pher^ hg. von Anselm Haverkamp, Darmstadt 1983, S. 316-339.
iz Vgl. hierzu das Kapitel: Rhetorische Bändigung der Phantasie.
13 Weitere Differenzierungen werden sich später als notwendig erweisen.
14 Vgl. Preisendanz, Wolfgang, Humor als dichterische Einbildungskraft, München
1976, bes. Kap. »E. T. A. Hoffmann. Die Notwendigkeit der Verbindung von
Phantasie und Humor«, 5.47-117.
13
Häßliche, ins Abgründige und Experimentelle, die dem Phantastischen mit unterschiedlicher Akzentsetzung eignen, im Humor versöhnliche, nicht auf Schock gerichtete Konkurrenten haben. Die
Paradoxien, die für beide Formen der Abweichung vom Vereinbarten, Erwartbaren und gemäßigt Vernünftigen ihre prägnante
Verkeh-rungslogik bereithalten, weisen unterschiedliche Grade des
Spekulativen auf. Während das Gedankenexperiment im Spiel
mit dem Unmöglichen (impossibile, adynaton) die phantastischen
Eskapaden bestimmt, beugt sich der Humor, eher weise als
verspielt, über die Formen des Denkmöglichen. In der Koeiistenz
von Vernunft und Humor (die menschliches Umgehen mit der
Welt bestimmt), verspricht letzterer, die dem Faktischen
verschriebene Vernunft womöglich doch, wenn auch kurzfristig, zu
überlisten. Das Phantasma, das sich mit der Vernunft nicht
arrangieren kann, auch wenn es ihr gelegentlich mit
Rationalisierungen zuarbeitet, läßt die Vernunft nie als koexistent,
sondern immer nur als scheiternden Versuch der Ausgrenzung des
Unerklärlichen erscheinen. Das Phantasma usurpiert den Platz, den
die vernünftige Bewältigung der Wirklichkeit innehat, indem es das
Ungesehene, Ungedachte, Undarstellbare und Unsagbare
diktatorisch vorführt. Mit dem Humor teilt es die Lust an
Gegenwelten, die durch die Plötzlichkeit des Einfails in Erscheinung
treten. In beiden Fällen ist es die Zurichtung der Sprache, die dies
ermöglicht. Die Rhetorik des Humors und die des Phantasmas berühren sich in den Verfahren der Inversion und Trans gresslon. Während Humor die Spannung, die er erzeugt, durch Lachen kompensieren kaiin, ja die Appellfunktion des Lachens zur zentralen Funktion
macht, läßt das Phantasma nur in seltenen Fällen die Verlachung des
Unerklärlichen und Seltsamen zu. Zumeist ist die Wirkungsabsieht
auf Schrecken, Neugier, Verführung zum Geheimnis und Verführung ins Aporetische bestimmt. Die Spannung löst sich selten, es sei
denn, ein aufgeklärter Erzähler vermittelt das Ungeheuerliche. Die
Neophantastik, soweit sie nicht dem Horrorstrang der Gothic-Tradition folgt, läßt Kryptologik und Chronotopie des Anderen zum
Spannungsrentrum werden. Ein Entrinnen in die kühleren Regionen
des Entzifferns und Deutens wird schwierig, weil eine
ästhetisch-zerebrale, aber durchaus erhitzte Faszination nachwirkt.
Zur Phantastik als Ausdruck von Krise, Umbruch im Widerspiel
von Aufklärung und Gegenaufklärung, m dem das Andere, Fremde
und Unerklärliche zum beunruhigenden Gegenstand wird, lassen
sich zwar keine vorromantischen Parallelen herausstellen, für die
typologisch dieselben Parameter gelten würden. Aber es gibt andere
das Phantasma bestimmende Momente, die sich in den Texten; die
weit vor der Romantik liegen, ausmachen lassen. Dazu gehört, daß
das Phantasma auf dem Grundparadox der sprachlichen Repräsentation von Nicht-Faktischem beruht, daß es sich narrative und. mimetische Lizenzen einräume, die die jeweils geltende Standard-Fiktion
nicht zuläßt und die der akzeptierten Logik zuwiderlaufen. Und
dazu gehört, daß das Unmögliche in unterschiedlicher Gestalt Platz
greift und neben dem kompensatorischen einen ludistischen und
spekulativen >Zweck< verfolgt.
Daß es einer vorromantischen Spur nachzugehen lohnen würde,
legen einige Thesen Michail Bachtins nahe, die den Wurzeln des
Phantastischen in der Gattung der Menippeischen Satire gewidmet
sind.15 Zu Bachtins genrespezifischer Bestimmung der Menippea,
in deren Tradition er auch Autoren der romantischen und postromantischen Phantastik sieht, und deren antike Ausprägung er mit
Autoren wie Lukian, Apuleius, Varro, Pecron u.a. verbindet, gehören
thematische und stilistische Charakteristika ebenso wie Besonderheiten der Süjetfügung, der Zeit-Raumbehandlung und des Personeninventars. Verletzungen des allgemein Akzeptierten, des
üblichen Gangs der Ereignisse und der etablierten Normen des
Verhaltens und der verbalen Etiquetre führen wie Skandale,
Abenteuer und exzentrische Ereignisse in der Menippea zur
Störung der in Epos und Tragödie bewahrten Integrität der Welt.
Die Menippea macht Halluzinationen, Träume, Wahnsinn und
Metamorphosen zum Thema, bezieht außerirdische Bereiche
(Unterwelt und >Ober<-welt) mit ein und entwirft Figuren mit
instabiler Identität (Doppelgänger, Verwandelbare). Als proteisches
Genre mißachter sie die kanonisierten Gattungen bezüglich ihrer
Geschlossenheit und strukturellen Reinheit durch
Grenzüberschreitung und Hybridisierung. Die Regeln, die die
aristotelischen Techniken der Rhetorik und Poetik vorschreiben,
sind, außer Kraft gesetzt, ebenso wie die vernünftigen, an den
Kenntnissen der Natur und ihrer Gesetze orientierten Annahmen
durch die Setzung des Unmöglichen brüskiert werden.
Durch Bachtins epochemachende Neuschreib ung der Literaturge15 Bachtin, Michail, Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971, übers, von
Adelheid Schramm. Bachtin liefert eine.knappe Geschichte des Genres und seiner
Amalgame mit anderen Formen, schreibt seine Geschichte mit Nennung einer
Vielzahl von Autoren und arbeitet einen vierzehn Punkte umfassenden Merkmalskatalog heraus, 5.115-136.
15
schichte erhält die Mcnippea, der Hessischen Philologie seit langem
bekannt, eine neue Dimension als eine zur kanonisierten Literaturgeschichte parallel verlaufende Gegentradition. Aus dieser destilliert
Bachtin eine Schreibweise, die er als karnevaleske bezeichnet. Deren
Charakteristika umfassen dem Phantastischen verwandte Elemente:
formale und semantische Grenzverschiebungen, exquisite
Gedan-kcnkonstrukte, skandalöse Spekulationen und kognitive sowie
ästhetische Sensa±ionsefrekte.
Der "Weg der karnevalesken Schreibweise, den Bachtin von der.
Antike über die Renaissance - dessen prominentestem Beispiel, Rabelais' Gargantua et Pantagruel, er seine berühmt gewordene Monographie gewidmet hat16 - in den Realismus hinein aufzeichnet, läßt
sich bis ül die Neophantastik weiter verfolgen. Besonders die Momente des Paradoxonsen und des Experimentellen, die Bachtin in
der menippeischen Phantastik hervorhebt, lassen die Annahme einer
solchen Tradition plausibel erscheinen.
Trotz der skizzierten Verwandtschaft gilt es auch hier, eine
Kontu-rierung des Phantastischen in Abgrenzung vom
Karnevalesken vorzunehmen. Während die Formen des
Hypertrophen, Grotesken, der Übertreibung und Überschreitung,
der unkontroilierbaren semanti-schen Verschiebungen, der
Inversion der Wertehierarchie u.a., die das Karnevaleske in einer
Interaktion mit der bestehenden Kultur (die die offizielle ist)
aufbietet, um diese temporär außer Kraft zu setzen, wird das
Fremde, Andere weniger als geheimnisvoll und bedrohlich denn als
etwas eingesetzt, das als Maske spielerisch einverleibt wird.
Anstelle des Übernatürlichen, Wunderbaren und Unerklärlichen
privilegiert das Karnevaleske die Phantasmen der verkehrten Welt,
der Verkehrung und des Unmöglichen. 17
Im einzelnen kann man, die von Bachtin suggerierte Vorgeschichte einbeziehend, folgende semantische Verhältnisse für die Hervorbringung des Phantasmas geltend machen;
Die Menippea läßt sich bestimmen durch den Verstoß gegen die
geltende rhetorische Konvention, die Grenzüberschreitung zwischen
Wahrscheinlich und Unwahrscheinlich, das Unmögliche, das Gedankenexperiment, den Synkretismus, die Parodie der etablierten
literarischen und philosophischen Diskurse. Es gibt keinen Legiti-
16 Rabelais und seine Weit. Volkskultur als Gegenkultur, hg. von Renate Lachmann,
übers, von Gabriele Leupold, Frankfurt am Main 1987.
17 Vg!. hierzu das Kapitel: Rhetorik - Gegenrhetorik.
mations- und Motivierungszwang: ein permissives, transgressives
Phantasma tritt hervor.
Im Verlauf des -18. Jahrhunderts kommt es zur Lockerung der
rhetorischen Disziplin, die sich das Romangenre in seiner
Abenteuer-und seiner Schauer-Ausprägung erlaubt. Abenteuer
und/oder Phantasma funktionieren als Einbruch in das narrative
Kontinuum: Gespenster, Wiederkehr der Toten, das Wunderbare und
Fremde haben Konjunktur. Jedoch kommt es nicht zur
Entwicklung eines differenzierten Räsonnements bezüglich dieses
Einbruchs des Unerklärlichen, vielmehr bildet sich eine Art
Schock-Phantasma heraus.
Die Intensivierung des phantastischen Moments in der Romantik
bedeutet die Aufladung des literarischen Diskurses, der zum Ort
philosophischer (Aufklärung/Gegenaufklärung) und
ästhetischer (Maß/Unmaß,
Wahrscheinlichkeit/Unwahrscheinlichkeit) Kontroversen wird. Die
Kollision zwischen offiziellen und inoffiziellen, d.h. arkanen
Diskursen wird im Text selbst ausgetragen. Die romantischen
Texte knüpfen an die Phantasma-Tradition an, lassen ein stark
selbstreflexives Potential hervortreten, das das Phantasma immer
auch der Kritik zu unterwerfen scheint. Komplizierte Motivierungsund Legitimierungsstrategien werden aufgeboten, die das Phantasma
am bivalent machen und Argumentationen zur Rolle des Zufalls und
des Kontingenten begünstigen.18
Das (unerwartbare) Auftreten des phantastischen Moments in der
Posrromantik, das den realistischen Text unterwandert, bezeugt die
Unausgeschöpftheit des romantischen >Erbes<. Das spekulative Potential, das sich an exklusiven und weniger exklusiven wissenschaftlichen Diskursen entzündet, transportiert zugleich (nicht überwundene) Elemente der Gegenaufklärung. Neoromanrik und Symbolismus
schließen an diesen Aspekt wiedererstarkter Gegenaufklärung an,
wobei sowohl die mehr oder weniger popularisierten Erkenntnisse
und Annahmen neuer Wissensdisziplinen als auch die neu eingeführten Medien gegenaufklärcrisch interpretiert werden. Das Phantasma
funktioniert subversiv - vor allem in bezug auf die realistische Programmatik. 19
Bestimmte Traditionsstränge lassen sich verfolgen: die Menippea
hat die karnevaleske Schreibweise im Sinne Bachtins initiiert. Das
16
18 Vg!. hiemi das Kapitel: Die Provokation des Zufalls.
19 Vgl. hierzu das Kapitel zu Turgenev: Medium: Phantasmatisierung der Photographie - Turgenevs Erzählung »Klara Milic«.
17
avcnturistische Moment einerseits, das rein gotische Moment mit
Geheimnis, Verbrechen, Wiederkehr der Toten, HorrorefFekt und
Angstaffekt in romaneskem Ambiente (mittelalterliches Schloß) andererseits erlauben, Jan Potocki, William Beckford, Ann RadclirTe
und Charles Brockden Brown in einen Zusammenhang zu stellen.
Die Godsmen zeichnen nicht nur die Gothic Novel des 18. Jahrhunderts aus, sondern tauchen, ungemein verzweigt, in Testen des 19.
und in der Neo-Gothic des 2,0. Jahrhunderts auf.
Mit der Gothic Novel sind zum einen romantische und
postro-mantische, besser spätromantische Nachfolgephänomene zu
verbinden, wobei das Arkanwissen eine zentrale Stellung behaupten
kann. Zum ändern hat der Schauerroman eine Tendenz inspirieren
können, die weniger arkanem Wissen als dem Horror zugetan ist,
und eine das Phantastische tangierende Tradition des Perversen und
Ab-jekten entwickelt, die das 19. Jahrhundert hindurch eine Poetik
des Verbrechens und sexueller Obsession aufrechter halten hat. 20
Die von Mario Praz behandelten Werke in der schauer romantischen
Tradition mit besonderer Betonung der sadistischen Variante
gehören in den Kontext der Phantastik, die Praz jedoch nicht zum
Thema macht.
Die Perversionsphantastik hat eine stabile Tradition herausgebildet, die die in der Gothic Novel entwickelte Form — ihrerseits gerade
bezüglich des Auftritts des Teufels auf ältere Traditionen, etwa auf
Miltons Paradise Lost, ebenso wie auf Schreckens- und
Greuelphan-tasmen des Barock zurückgehend - aufnimmt. Sie läßt
sich an der Weiterentwicklung des romantischen Schauerromans
gotischer Prägung bei Maturin, Lewis, Mary Shelley, bei Ludwig
Tieck, E. T. A. Hoffmann und Vladimir Odoevskij, hernach in
den Werken der französischen ecole frenetique verfolgen.21 Beide,
die gotische und die frenetische Schule, prägen Autoren des 19.
Jahrhunderts, die literarhistorisch der Romantik oder Postromantik
bzw. dem Realismus
20 Praz, Mario, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1988, italie
nische Originalausgabe La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica,
Firenze 1930.
21 In Praz' Darstellung figurieren Francois Soulie, Jules Janin, Victor Hugo. Die
Schauerphantasmen werden zwar durch Schauernaturalismeii (die Sozialkritik
einschließen) abgelöst, aber die Momente des Geheimnisses, des Exzessiven blei
ben ebenso erhalten wie der stilistische Duktus des Extremen. Die 'Naturalisie
rung* des Schaurigen ist einer der Schritte, die in der russischen Literatur, in der
sog. >Nanirlichen Sehule<, für die einige Werke der genannten Auroren als Prätexte
fungieren, zum Realismus führen.
18
zugerechnet werden: Theophile Gautier, Prosper Merimee, Charles
Kodier, Edgar Allan Poe, Gustave Flaubert22, Guy de Maupassant,
Fedor Dostoevskij.23
Zu den stilistischen Bearbeitungen von horror und terror, die Ann
Radcliffe als die Motoren der Gothic Novel reklamiert hat24, gehören
seit der Romantik Arabeskisicrung und Grateskisierung. Das Arabeske
ist die semantische Lineatur des Phantasmas in vielen Erzählungen
Hoffmanns.25 Ein früher Band Nikolai Gogols trägt den Titel
Am-beski, seine Petersburger Erzählungen gelten als Grotesken, die
eine spezifische Tradition der Phantastikgrotesfce begründet
haben.2 Poe, zweiter Höhepunkt in der gotischen Tradition, nennt
einige seiner Phantastica, in denen er die Ornamentalisierung des
Schaurigen auf die Spitze treibt (Ligeia, Morella) Tales ofthe
Grotesque and the Arabesque. Das mit einer langen Vorgeschichte
versehene Thema der Revenants, das zu einem der Leitthemen der
Schauerromantik wird, taucht nicht nur bei Poe wieder auf, sondern
verbindet Alexander Puskin mit Henry James und diesen mit
Antonio Tabucchi. 27 Die Decadence-Literatur ist nachhaltig von der
Horror- und Perversionstradition bestimmt. 28 Neben der
Erzählung von Vorstellungen — Phantasmen von Lust-Pein,
Liebesmord, Sadismen — gibt es
11 Dostoevskij gehört in Praz' Darstellung aufgrund der erorischen Obsessionen in
diese Tradition. 2j Praz sieht das Fortwirken dieser Tradition in den
Perversions-Phantasmen und
erotischen Halluzinationen von Flauberts Tentation de Samt Antoine. VgL Praz,
Mario, Liebe, Todund Teufel, a.a.O., S.i^ff. 24 Zum Weiterwirken des
Schreckens in der Literatur des 20. Jahrhunderts vgl.
Brittnacher, Hans Richard, »Vom Zauber des Schreckens. Phantastik und Fantasy
in den /oer und 8oer Jahren«, in: Deutschsprachige Literatur der joer und8oerJahre.
Autoren — Tendenzen - Gattung, hg. von Walter Delabar, Darmstad: 1997, S. 13-37.
Zum Konzept des Arabesken vgl. Graevenitz, Gerhart von, Das Ornament des
Blicks* Stuttgart 1994, bes. Kap. I, 4, »Verdoppelte Lesbarkeit: Die Arabeske«, S.iS1426 Vgl. Mann, Jurij, O groteske v literature, Moskau 1966. — Das groteske Moment
bei Gogol wird in neueren Darstellungen im Kontext des barock -mystischen Erbes
des Autors gesehen. - Zur Unterscheidung von Groreskc und Arabeske und ihrer
Geschichte vgl. Kotzinger, Susi, »Arabeske — Groteske: Versuch einer Differenzie
rung«, in: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, hg. von Susi Kotzinger und
Gabriele Rippl, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 219-228.
27 Vgl. seine Erzählung »I pomeriggi del sabato«, in: // Gioco del Rovescio, Mailand
1981, 5. 55-77, deutsche Übersetzung »Samstagnadirnittage«, in: Der kleine Gatsby t
übers, von Dagmar Türck-Wagner, Stuttgart 1986, S. 87-115.
28 Neben Werken von Barbey d'Aurevilly, Villiers de I'Iie -Adam, Joris Huysmans,
Oscar Wilde, die Praz nennt, geh ören einige Werke von Fedor Sologub und
15
19
die Erzählung von Handlungen, deren Authentifikation mit Verweis
auf Skandalberichte über aktuelle Geschehnisse 29 den Bereich des
rein Phantastischen zu verlassen scheinen. 30 Die Decadence inspiriert die Surrealisten, die auch Poes Werke als Prätexte benutzen. Die
Schauer- und Schreckensliteratur des zo. Jahrhunderts verstärkt die
expressiven Momente des Horrors. Das Exorbitante, Degutante, Ab- •
jekte und Exotische gilt mit unterschiedlicher Akzentsetzung für
Alfred Kubin31 und Howard Phillips Lovecraft,.
Das phantasmatische Moment der Greuel- und Ekelliteiatur entfaltet sich in der Schilderung der Exorbitanz und des das Unmögliche
tj
O
einschließenden Exzesses, denn die Hyperbolik fuhrt über das Unwahrscheinliche hinaus zum adynaton. Jens Malte Fischer bezeichnet
die Verwesungs-Fäulnis-Ekel-Phantasmen Lovecrafts als »Steigerung
ins Überdimensionale«.32 Lovecraft selbst spricht in seiner Geschichte
der Horrorliteratur, die den gotischen Strang über Poe bis ins 20.
Jahrhundert verfolgt, von »Supernatural Horror in Literature«.33
Andrej Bclyj in diesen Kontext. Jens Malte Fischer hat die aus der Decadence sich
speisende deutsche Tradition dargestellt. »Deutschsprachige Phantasük zwischen
Decadence und Faschismus«, in: ders., Literatur zwischen Traum und Wirklichkeit,
WetzJar 1998, 5.97-131.
19 Praz verweist auf Nachrichten über den .englischen Sadismus* in der Presse, in
Rußland wurden entsprechende Vorfälle aus dem Sektenwesen bekannt.
30 Der perverse Wahnsinnige repräsentiert einen neuen Heldentyp, dargestellt als
Dämon oder zumindest vom Dämon Heimgesuchter: Radcliffes
Schedoni,
Browns Wieland, Maturins Melmoth, Gogols Blutiger Bandura-Spieler, Lermontovs Vadim; oder als besessener Wissenschaftler: Mary Shelleys Dr. Frankenstein,
Welis Dr. •Moreau. - Der perverse oder exzentrische Autor (ein neuer Autortyp
entsteht: Sade, Swinburne, Poe, Lautreamont, Baudelaire, Huysmans, Wilde, Belyj) > verkörpert« sich in seinen Helden. Zum Verhältnis von Lebenstext und Kunst
text vgl. Schahadat, Schamma, »Ohrfeigen und andere Normverletzungen. Über
den Skandal in Lebens- und Kunsttexten von Dostoevskij und Belyj«, in: Gedächt
nis und Phantasma, Festschrift für Renate Lachmann, hg. von Erika Greber, Susi
Frank, Schemma Schahadar u. Igor Smirnov, München 1002, S. 48-63.
31 Zu Kubin vgl. Lachinger, Johann, »Trauma und Traumstadt. Überlegungen zu
Kubins biographisch-topographischen Projektionen im Roman Die andere Seite»,
in: Der Demiurg ist ein Zwitter. Alfred Kubin und die deutschsprachige Phantasük,
hg. von Winfried Freund, Johann Lachinger und Clemens Rudiner, München
1999, 5.121-130.
}2 Fischer, Jens Malte, Literatur zwischen Traum und Wirklichkeit, a.a.O., Kapitel
»Produktiver Ekel«, 5.76-96, hier: 5.83.
J3 So der Originaltitei seines 1917 erschienenen Werkes: Lovecraft, Howard Phillips,
Suprniatural Horror in Literature, dt,: Die Literatur der Angst. Zur Geschichte der
Phantasük, übers, von Michael Koseier, Phantastische Bibliothek, Bd. 320, Frankfurt am Main 1995. Lovecrafts mit strengen stilistischen Kriterien arbeitende Lite20
Für Hans Richard Brittnacher34 hingegen steht in der jüngeren Generation der Horrorphantastik der Aufwand beglaubigender Realismen an zentraler Stelle - der natürliche Horror verdrängt den übernatürlichen.35
Experiment, Prognose und eine eher manifestierende als
verge-heimnissende oder Horroreffekte provozierende Richtung,
die me-nippeische Spuren trägt36, entwickelt die wissenschafdiche
Phantasük mit ihrer unterschiedlichen Akzentuierung des
Wahrscheinlich-keitsanspruches, die eine jeweils anders dosierte
Aufnahme rezenter Erkenntnisse der Naturwissenschaften
manifestiert. D. h., sie operiert, zumindest in der von Stanislaw
Lern geforderten Form, nicht mit dem Unmöglichen, sondern mit
dem noch nicht Möglichen, das sich als Denkmögliches aus der
Radikalisierung von naturwissen-schafdichen und technischen
Vorgaben herleiten läßt.37
Hingegen spielt das pure Unmögliche seine Rolle in der
Neophan-tastik. Hier verbindet sich das Phantasma
nachdrücklich und demonstrativ mit dem Paradox, das in seiner
literarischen Karriere bereits Kleingattungen wie Gnome, Sentenz,
sententia, Aphorismus,
raturgeschicfue des Horrors dokumentiert durch die Aufnahme au ch nicht prominent gewordener Autoren eine nicht kanonisierte Tradition, Praz hingegen deckt
das schauerromantische Substrat in den kanonisierten Werken auf.
34 Brittnacher, Hans Richard, »Vom Risiko der Phantasie. Über ästhetische Konven
tionen und moralische Ressentiments der phantastischen Literatur am Beispiel
Stephen King«, in: Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzähllitera
tur des 20. Jahrhunderts, hg. von Gerhard Bauer und Robert Stockhammer, Wies
baden 2000, 5.36-60.
35 Brittnachers Gegenüberstellung europäischer und amerikanischer gotischer Hor
rortradition hat eine k ulrur analytische Ausrichtung, die den Unterschied zwischen
den erlösungsanfälligcn Monstern der Alten Welt und den der Vernichtung über
antworteten Finsterlingen der geschichtslosen Neuen Welt plausibel
macht.
(S. 54 ff.) Vgl. auch Brittnachers Beitrag »Paranoia als ästhetisches Gesell. Das
literarische Universum des How ard Philipps Lovecraft«, in; Co mpar(a)üon II
(1996), 8.51-72.
36 Das in der Menippea vorgepr ägte Science-fiction-Moment rekurriert allerdings
auf keinerlei epochenspezifische naturwissenschaftlich-technische Möglichkeiten.
Lulaans Ikaromentppos oder die Luftrehe, die einen Mondbesuch einschließt, hat
zwar kein Wunderbares, aber auch keinerlei »natürliche« Grundlage. Auch Francis
Godwins The Man in the moon: a discourse of ehe uoyage thither von 1688, das
ebenfalls ohne die Einmischung höherer Mächte auskommt, entbehrt dieser
Grundlage.
37 Stanistaw Lern ist nicht nur der wichügste Vertreter einer »aufgeklärten! Sciencefiction, sondern mit den beiden Bänden seiner Phantasük und Futurologie auch
einer ihrer bedeutendsten Theoretiker.
Maxime und Concetto hervorgebracht hat. Die Paradoxa der Eleaten ;
und Stoiker und deren Derivate stellen gedankliche Sensationen für
die Literaten der Neophantastik dar, die zu Spielen mit den bekannten, von der neuzeitlichen Logik vorgeschlagenen Lösungen dieser
Paradoxa motivieren.39 Das Phantasma, das auf diese Weise hervorgebracht wird, funktioniert logisch-paralogisch. Die - den
szientisti-schen Phantasmen nicht unverwandten Logophantasmen 39, wie sie Borges in »Tlön, Uqbar, Orbis
Tertius«, Plann O'Bnen in Der Dritte Polizist (The Third Policeman)
und Sigismund Krzyzanowski in Lebenslauf eines Gedankens*'0
entwickeln, sind Experimente der Kalkulation, die dem Aufbau
unmöglicher Welten und dem Ausklügeln von Parametern eigener
Art dienen.
Es gibt zumindest zwei im phantastischen Text zur Vorführung
des Irrealen eingesetzte Modi,, die erlauben, das subjektive Phantastische und das objektive Phantastische einander gegenüberzustellen.
Die nicht >eingebildeten<, sondern >realen< Phantasmen sind diejenigen, die, nachdem Sinnestäuschungen mit Hilfe umwegiger Argumente ausgeschlossen sind, sich als Erscheinungen des Wunderbaren, Übernatürlichen erweisen, von denen sich mehr als eine Person
überzeugen kann - mithin das nicht von Menschensinn -und Menschengedanken gemachte Wunderbare -, >objektive< Phantasmen
also. Dagegen stehen die Phantasmen, die man (willkürlich-unwillkürlich) produziert, die >subjektiven< Phantasmen, die aus (echten)
Sinnestäuschungen, Träumen, Halluzinationen, Angstobscssionen,
Fieberwahn41, Vorstellungen.von Perversionen, mnmöglichen<, hy-v
perbolischen Greueln und unvordenklichen Schreckenssensationen,
Heimsuchungen durch Visionen 42, dem Unmöglichen geltenden
Experiment-Gedanken erzeugt werden.43
38 Vgl. hierzu das Kapitel: Rhetorik - Gegen rhetorik.
39 Fischer, Jens Malte, Literatur zwischen Traum und Wirklichkeit, a. a. O., S. 17,
schlägt den Begriff »zerebrale PhanLasmen« vor,
40 Borges, Jörge Luis, Werke in 20 Bänden, Bd. 5, Frankfurt am Main 1991, 8.15-34;
O'Brien, Plann, The Third policeman, London 1992; Krzyzanowski, Sigismund,
Lebenslauf eines Gedankens, übers, von Hannelore Umbreit, Leipzig/Weimar 1991.
41 Die Träumer, Halluzinierer, Fiebernden, unschuldige Opfer ihrer psychischen
oder physischen Disposition, werden in manchen Texten von den psychopathi
schen Verbrechern abgelöst, die als Schuldige erscheinen.
41 In mystischen Texten hat die Vision als Offenbar u ngsvision und übersinnliche
Erfahrung einen anderen Stellenwert. Auch in phantastischen Texten wird die
Vision zuweilen als subjektiv-objektiv indiziert.
43 Nicht nur die Perversionsphantasmen, auch die rein zerebralen Phantasmen sind
produzierte Pharuasmen: Verkehrung der moralischen Ordnung Im Falle der
Ohne gattungs relevante Aspekte in den Vordergrund zu rücken,
ließen sich semantische Dominanten betreffende Unterscheidungen
in aventuristische, gotisch-sch.auerromanti.sche,
menippeisch-karne-valeske,
szientis tische und
(neophantastisch-) zerebrale vornehmen.44 Die Liste ist offen:
Andere Dominanten ließen sich nennen. Etwa die allegorische und
die absurde Dominante, die vornehmlich die nicht-klassischen
Varianten bestimmen. In Thomas Morus' Uto-pia oder Comenius'
Labyrinth der Weit und Paradies des Herzens (Ldhyrint sveta a räj
srdce] wird das Phantasma der anderen, utopischen Welt oder der
anderen, utopischen Sicht auf die bestehende Welt allegorisch
ausgerichtet. Das Absurde wiederum bestimmt die Literatur jenes
Teils der Avantgarde, für den die >Semantik< des Grotesken in der
Tradition Gogols, bzw. des Nonsenses in Verlängerung von Lewis
Carrolls (präzedenzlosen) Entwürfen zum zentralen Moment wird;
die sogenannte zweite Petersburger Avantgarde mit Da-niil Charms,
Aleksandr Vvedenskij u.a. und die Literatur des Absurden stehen für
diese >Tradition<.
Eine rein genrebezogcnc Bestimmung läßt außer acht, daß Science-fiction-Momente in utopischen Texten oder solchen, die mit Geheimwissen operieren, auftauchen — etwa bei Vladimir Odoevskij
oder Herbert G. Wells, daß Koalitionen zwischen szientistischen
und zerebralen, zwischen schauerromantischen und szientistischen
stattfinden, daß utopische Tendenzen unterschiedliches Gewicht erhalten, daß das Horrormoment mit einem idylÜsierenden in ein und
demselben Text in Gegensatz und Nähe gerät, daß
karnevalesk-me-nippeische Momente die klassische romantische
Phantastik einfärben und so fort.
Intertextuelle Beziehungen bestehen nicht nur innerhalb genremäßig verfestigter Traditionen45, sondern auch genreübergreifend
Perversionsphantasmen, Verkehrung der logischen Ordnung im Falle der Logophantasmen. An die Stelle des Übernatürlichen treten das Widernatürliche, das
Unbewußte bzw. das Unmögliche.
44 Es gibt eine Reihe überzeugender Abgrenzurrgsversuche, z. B. Jehmlich, Reiner,
»Phantastik - Science-fiction — Utopie. Begriffsgeschichte und Begriffsabgren
zung«, in: Phantastik in Literatur und Kunst, hg. von Christian Thomseo und Jens
Malte Fischer, Darmstadt 1985, 5.11-33; Fischer, Jens Malte, »Science-fiction Phancastik — Fantasy. Ein Vorschlag zu ihrer Abgrenzung«, in: Literatur zwischen
Traum und Wirklichkeit, a.a.O., 5.9-2.5.
45 Vgl. die Untersuchungen znr Utopie, Idylle, Scienc e-fiction, Horrorerzählung,
Gespenstergeschichte. (Vosskamp, "Wilhelm, Utopieforschung.
Interdisziplinäre
Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.. 1-3, Stuttgart 1982; Heller, Leonid, Niqueux,
zwischen Texten unterschiedlicher Phantasmaorientierung. Partizipation an einem Verfahrensbestand, Transformation der Schemata
sowie ihre Auflösung und Verkehrung bestimmen diese Beziehungen. Zitat, Allusion und Parodie, die Übernahme oder Bearbeitung
semantischer Konstellationen, des phantastischen Chronotops und
des Figurenensembles oder einzelner Figuren aus den Prätexten las sen im jeweils nachfolgenden Text komplexe Verweisungszusammenhänge entstehen, 40 Die Späteren zehren nicht nur vom Textfleisch der Früheren, sondern >begegnen< ihnen in einem Raum zwischen den Texten, den Michel Foucault als »Un >fantastique< de
bibliotheque« bezeichner hat. 47
In den verschiedenen Varianten des Phantastischen, von denen
die Rede war, wird das Phantasma entweder argumentativ vermittelt,
oder es schottet sich gegen Vermittlungen ab. Mit der Opposirion
>nicht-hermerisch< vs. >hermetisch< ließe sich dies als Überwiegen
von Kriterien der Standard-Fiktion einerseits oder der (entbundenen) PKantastik andererseits fassen. Es geht bei den komplexen Verfahren der im lext selbst angestellten Sinnzuweisung zum einen und
den Gesten der Abschottung zum ändern um die Thematisierung
bzw. Nicht-Thematisierung von Erstaunen, Schrecken oder Zweifel
in bezug auf die Tatsächlichkeit des Phantasmas. Wird letzteres Gegenstand innertextlicher Reflexion, dann werden die jeweils gültigen
Vernunftkriterien herangezogen, als deren Verfechter Held oder Erzähler fungieren. Da diesen personalisierten Kontrollinstanzen die
Verwunderung oder die Skepsis bezüglich des Unerklärlichen ob liegt — was das Phantasma als Geheimnis oder Täuschung auszulegen
erlaubt —, wird die innertexrliche Perspektive mit einer außertextlichen, die an denselben Kriterien partizipiert, vermittelbar. Dabei
werden in einigen Texten Motivierungen konstruiert, die vorwie gend auf die subjektiven Phantasmen von Traum, Wahnsinn., HalluMichel, Hisfoire de l'utopie en Rusiie, Paris 1995; Böschenstein-Schäfer, Renate,
Idylle, Stuttgart 19(17; Penzoldt, Peter, »Die Struktur der Gespenstergeschichte«,
in: Phaicon i, 1975, 5.11-32; Suerbaum, Ulrich, Broich, Ulrich, Bergmaier, Raimund, Science-fiction. Theorie und Geschichte, Themen und Typen, Form und Weltbild, Stuttgart 1981.)
46 Vorschläge zu einer Intertextualitätstypologie in; Lachmann, Renate, Gedächtnis
und Literatur, Frankfurt am Main 1990, S. 13-50.
47 Foucault, Michel, »Nachwort zu Gustave Flauberts >Die Versuchung des Heiligen
Antoniust«>in:ders.,Schrißen in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1,1954-1969, übers,
von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba, Frankfurt am
Main 2001, 5.397-435.
24
zination und Sinnestäuschung rekurrieren - so »Der Sandmann«
aus Hoffmanns Fantasiestücke in Callvts Manier, Maupassants »Le
Horla« -, wahrend in anderen Texten auch Wundersuggestionen
zugelassen sind und damit eine Unbestimmtheit bezüglich des Status
des Phantasmas zwischen > natürlich* und > über natürlich* aufrechterhalten wird, deren innertexrlich scheiternde Klärung die Deutungsarbeit der Textinterpreten sdmuliert; das gilt für Jacques Cazottes Le
Diable amourettx, Jan Potockis Die Handschrift von Saragossa (Le
vnanuscrit trouve ä Saragosse), Alexander Puskins »Pique Dame«,
Fe-dor Dostoevskijs Der Doppelgänger (Dvojnik), Gerard de
Nervals Aurelia , Henry James' The Turn ofthe Screw u.a.
Etliche der genannten nicht-hermetischen Texte entwickeln spezielle Strategien, der Situierung des Phantasmas und dessen Befragung
im Gefüge der Doppeldeutigkeit. Mit der Konstruktion von Zufäl^
ien, die eine Art >lebensweltiicher< Einkleidung erhalten, wird das
Phantasma - als Erscheinung oder Ereignis - auf einer Grenze zwischen Unerklärbarkeir und Erklärbarkeit in dieser Doppeldeurigkeir
belassen, obgleich der innertextliche Deutungsaufwand der Über fuhrung des Zufalls aus dem Unbekannten und Obskuren in die
Bekanntheit des klaren Alltags gilt. 50
Von diesem Typ phantastischer Texte, der dem Phantasma innerhalb eines Referenzrahmens einen, wenn auch prekären, Ort zubilligt, ist jener zu unterscheiden, der das Phantasma ortlos läßt, indem
er ihm alle Koordinaten entzieht, damir auf sich selbst zurückver weist und hermedsiert. Die im Akt des Lesens produziert en
Deu-tungsmodeUe, die das hermetische Phanrasma nachgerade
herausfordert, können sich auf keine innertextlichen Vorgaben
berufen, z.B. in Texren von Franz Kafka, Bruno Schulz, Vladimir
Nabokov, Bioy Casares, Jörge Euis Borges, Plann O'Brien.
In neueren Untersuchungen wird die Phanrastik als eine Literatur
der Kompensation gelesen, die den Zwängen der Aufklärung und
48 Vgl. Oster-Stierle, Patricia, »Der Schleier zwischen religiöser und ästhetischer
Erfahrung. Vier Beispiele aus Frankreich«, in: Schleier und Schwelle. Archäologie
der literarischen Kommunikation V, hg. von Aleida und Jan Assmann, München
1999, 5.133-252, hier S. 240 f. zu den synkretistischen Visionen in Gerard de
Nervals Aurelia, wo dieser Doppelstatus zwischen »illusionärer Selbscbefangenheit
und übersinnlicher Erfahrung« als »Aporie« zum »Gegenstand der literarischen
Darstellung« wird.
49 Zu Tzvetan Todorovs Begriff der »hesitation«, der für diesen Typ zutrifft, vgl.
Kapitel: Nach der Rhetorik.
50 Vgl. hierzu das Kapitel: Die Provokation des Zufalls.
der Unterdrückung des aufklärerisch nicht Zulässigen
entgegen-wirkt, die Beschränkungen aufhebt und das Begehren
nach dem Anderen zu artikulieren wagt.3! Doch greift die Reduktion
der Phan-tastik auf pure Defizitbilanzierung, wie sie für etliche
Phantastik-theorien gilt, zu kurz. Denn sie läßt die Ambivalenzen
ebenso außer acht wie die ludistischc Dimension phantastischer
Texte und ihre Tendenz zu semäntischer Verschwendung, zu
Sinnüberschuß.
Das Phantasma als Produzent und Verbündeter von Trug und
'-l'äuschung ist allerdings seit je Thema ethopoletischer Reflexion.
51
26
Jackson, Rosemary, Fantasy: The Literatur? of Subversion, a.a.O.
I. Konzeptgeschichte und
Phantasmagenese
In der Entstellung der Kategorien von Zeit, Raum und Kausalität
überschreitet die Phantastik die Normen der mimetischen Konvention
ebenso, wie sie es in der Verletzung der ästhetischen Prinzipien der
Angern essenheit und Ähnlichkeit tut.
Gemäß den Modi ihrer Auseinandersetzung mit der Fiktion präsentiert sich Phantastik in drei Formen: als Usurpation der Fiktion,
als deren Überschreitung und als Gegenfiktion. Die Usurpation der
Fiktionsmorpbologie und -topik erlaubt, das Phantasma mit Hilfe
fiktionaler Parameter zu motivieren. In der Überschreitung wird die ...
Geltung dieser Parameter zwar noch aufrechterhalten, aber über dehnt. Die Phantastik als Gegenaktion streicht die fiktionalen Parameter. Neben das legitimierte Phantasma im ersten Fall tritt die
fiktionale Hyperbel im zweiten und das absolute Phantasma im dritten Fall, das als ungerahmtes von den beiden anderen unterschieden
ist. Die Unterscheidung ist auf Differenzen in der Sinnkonstitution
zurückzuführen, wie sie die genannten Traditionen des Phantastischen manifestieren.
Das Verhältnis Rhetorik-Phantastik ist jedoch keineswegs durch
Ablösung allein bestimmt. Einerseits gibt es die Emanzipation aus
rhetorischer Zähmung (wie sie die skizzierte Konzeptgeschichte zeigen konnte), die die Phantastik als Gegenenrwurf zur Rhetorik im
Sinne einer Regel-Institution erscheinen läßt, andererseits bildet die
Phantastik eine eigene Verfahrensrhetorik heraus, die sich ausgewählter, von der antiken Rhetorik bereits benannter Verfahren bedient. Die rhetorische Zügelung von Phantasma und Phantasia und.,
gleichzeitig die Profilierung von Formen wie Paradox, Lüge, Oxymoron u.a., die aus der Rhetorik in eine Antirhetorik der Phantastik
ausbrechen, machen deutlich, daß die Phantastik aus einer rhetorischen Tradition erwachsen ist, daß sie, selbst in ihrer Gegen- und
Querstellung, rhetorisch funktioniert. Die Rhetorik als kultureller
Metatext allerdings, als normative, deskriptive Instanz ist
nicht mehr aktiv.
Welt, wenn er sagt: »Phantascik erscheint, wenn die inneren Gesetz der fiktiven
Welt zerbrochen sind«, in: »Understanding Fantasy«, in: Zagadnienia Rodzajow
Literackich 14, x (1967); dt. »Zum Verständnis phantastischer Literatur«, in:
Pbaicon 2, 1975, S. 54-63. Lugnani geht bei der Bestimmung der Abweichungen
vom Paradigma der Realität aus, s, o.
98
Rhetorik - Gegenrhetorik
»Teruiliian's De Carne Christi, in which
the paradoxical sentence, .Mortuus est
Der filius; creclibile esc quia ineptum est;
et sepultus resurrexit; certum est quia
im-possibüe
est<
occupicd
my
undivided time, for many weeks of
laborious and fruitless investigation«.
(E. A. Poe) 183
Daß aus der Rhetorik stammende Begriffe wie pamdoxon,
mendari-um, oxymoron, adynaton und transmutatio (Metamorphose)
eine zunehmende Relevanz für die Phantastik gewinnen, bestätigt
die der Rhetorik inhärente Eigensubversion. Zugleich aber werden
solche zur Devianz neigenden Figuren bzw. Schemata nicht zur
Gänze aus der rhetorischen Systematik entlassen, sie können ihre
rhetorischen Spuren nicht löschen. Am Beispiel des Paradoxonsons
läßt sich diese Ambivalenz demonstrieren. Im BegrirTsfeld der
poetischen und rhetorischen Tradition erscheint das Paradoxon als
eine Gedankenfigur, die die Rhetorik/Poetik von innen angreift und
in eine Gegenrhetorik des Phantastischen überführt. Auch hier
verhilft die Skizzierung einer Konzeptgeschichte, diesen Vorgang Zu
beleuchten.18
183 Poe, Edgar Allan, »Berenice«, in: The Comptete tales and poems of Edgar Aüan
Poe, Harmondsworth 1981, 5.645.
184 Die Paradoxie-Forschung der letzten Jahre ist in Sammclbänden repräsentiert,
die dem in Frage stehenden Begriff in seiner logischen und rhetorischen, aber
auch genrespczifischen Dimension nachgehen. Im Anschluß an ältere >klassische<
Arbeiten zum Paradox, z. B. Rosalie L, Colie, Paradoxia Epidemien, The Renais
sance Tradition of Paradox, Princeton 1966, werden in: Das Paradox. Eine Heraus
forderung des abendländischen Denkens, hg. von Paul Geyer und Roland Hagenbüchle, Tübingen 1992. und in: Pamdoxien, Dissonanzen. Zusammenbrüche, hg.
von Hans Ulrich Gumbrecht und Kar! Ludwig Pfeiffer, Frankfurt am Main 1991,
in einer Vielzahl von Beiträgen die philosophischen und rhetorischen Implikatio
nen entwickelt, Ansätze der Gegenwartslogik zur Beleuchtung eines antiken
Problems herangezogen und Versuche von selten der modernen Rhetorikforschung unternommen, die Figuralität des Paradoxonsons zu bestimmen. Wichtig
für den hier interessierenden Zusammenhang sind zudem Arbeiten, die der Kon
zeptgeschichte gehen und Beziehungen zwischen Paradox, dem Topos mundus
invenus und dem Mikrogenre des concetto zu sehen erlauben, da letztere in den
semantischen Bereich des Phantasmas gehören (z.B. Giulio Preti, 1968; Giulio
Moretti, 1995; Antonio Manzo, rgSS; Francme Daenens, 1989.;
Fernando
Romo, 1995).
99
1.
Das Paradox als Redefigur, als Gedankenfigur, als Untergattung der
Gerichtsrede oder als Argumentationsschema, als Mikrogenre und
irreguläres logisches Verfahren verbindet sich auf unterschiedliche
Weise mit anderen Begriffen eines Feldes, das in der rhetorischen
und poetischen Tradition entstanden ist und eine Vielzahl von verwandten, angrenzenden und analogen Begriffen versammelt, die das
Wunderbare, Unerwartete, Verblüffende, Täuschende, Unmögliche,
Widersprüchliche bezeichnen. Die griechischen und lateinischen Bezeichnungen lassen semantische Nähe und Differenz hervortreten:
Paradox (inofinatum, mirabile}, Phantasma (simulacrum,
imago), psendos (mendacium, fictio], (impossihile), Apate (simulatio),
Oxymoron, Verkehrte Welt (mundus tnversus], Metapher u.a.
In Genres verfestigte Paradoxformen spielen in der Literaturgeschichte unterschiedliche Rollen. Die Verkehrung der Wertehierarchie ist ein rhetorisches Verfahren, aus dem ein elaboriertes Genre
entstanden ist, das als radikale Strategie der Unterhöhlung geltender
Werte funktioniert, das enkomion paradoxon.ls5 Das Lob des
Nicht-lobwürdigen gilt in der Konzeptgeschichte von Paradox als
eine der ursprünglichen rhetorischen Absichten dieser Figur. Das
Enkomion des Nichtigen umfaßt — die semantische Verschiebung
eingeschlossen — das Paradox der Darstellung des
Undarsteilbaren bzw. des Ausdrucks des Unausdrückbaren, des
ineffabite.1^ Neben dem enkomion paradoxon hat das Paradoxale auch
in Genres und Mikrogenres wie Gnome, Sentenz, Maxime und
Concetto seinen semantischen Ort. Die Wechselbeziehung
zwischen den einzelnen Begriffen ist nicht systematisierbar, da es
keine stabilen Kriterien für ihre Ordnung in Ober- und
Unterbegriffe gibt. Im folgenden wird die das Phantasma-Moment
betonende Aufmerksamkeit verschiedenen Aspekten des
Paradoxonsons gelten, sei es der Wortfigur, dem Argu-mentationstyp
oder dem Topos. Aus derselben Perspektive werden das Adynaton
(impossibile), die Lüge (fseudos, mendacium} und die in einem
Topos verfestigte Vorstellung der verkehrten Welt (mundus tnversus)
betrachtet.
185 Colie, Rosalie, Paraäoxia Epidemien, a. a. O., S. 3-20.
186 Bei der Beschreibung des Ungeheuerlichen, des entsetzlichen Anblicks, der
Scheußlichkeit, des Monströsen, die zunächst mit der Figur der kyperoche als
unmöglich behaupten wird, dann aber doch erfolgt - so etwa bei Poe —, spielt die
Paradoxie der Darstellung des Undarstellbaren und Unsagbaren ihre Rolle.
IOO
Die römische Rezeption der griechischen konzeptuellen Tradition
des Paradoxons, der Lüge, des adynaton im Bereich der Rhetorik,
Poetik und Dialektik ebenso wie die Rezeption der griechischen und
lateinischen Tradition durch die europäische Renaissance und den
Manierismus, die auf einer Neulektüre der antiken Texte berühr,
bewahren die anfänglichen begrifflichen Bestimmungen. In der europäischen Tradition — trotz zahlreicher Umwertungen verschiedener
Theorie-Elemente - läßt sich eine bemerkenswerte Beharrlichkeit
ihrer textuellen und kommunikativen Funktionen beobachten. Die
historischen Schichten bleiben nicht nur in den Theorien der Renaissance und des Manierismus sichtbar, sondern auch in der Ästhetik
und Poetologie der Romantik und des Modernismus.
In den Traktaten des Manierismus erhalten die erwähnten Begriffe - mit Blick auf ihre formale und semantische Struktur - neue
verschärfte oder radikalisierte Bestimmungen und tragen in ihrer
Komplexität zur Formulierung einer in sich geschlossenen ästhetischen Theorie bei.
Der Topos mundus inversus stellt das Paradox als Verkehrung der
Antipoden dar, wobei der Wechsel, der Austausch als solcher als
paradoxal wahrgenommern wird; das adynaton seinerseits, ein wesentliches Element des mundus inversus, begleitet das Paradox in
seiner Widersprüchlichkeit und im Entwurf des Undenkbaren. Das
auf dem adynaton aufbauende oxymoron, eines der Hauptverfahren
des mundus inversus, stelle die kürzeste Form der paradoxalen Äußerung dar. Eine enge konzeptuellc Verbindung besteht zwischen dem
acutum dicendi genus und dem Paradox, inbesondere in der
entwik-kelten Theorie der acutezza und des concetto, der Theorie der
kühnen Metapher, Die concettistischen Traktate weisen auf den
engen Zusammenhang von Phantasma und Paradox hin und
arbeiten die strukturellen und semantischen Komponenten beider
aus, sie koinzi-dieren im Effekt der Verwunderung und
Verfremdung, in l äu-schung, Fiktionalität, Einfall, Experiment.18
Uneineindeutigkeit, Findigkeit, Spekulationen mit dein Unwahrscheinlichen, Unerwarteten, Erstaunlichen und Bestürzendcn verlangen nach Strategien der Überbietung. Das Phantasma schöpft
Vgl. hierzu das Kapitel zu Nabokov; Mystifikation: Die andere -Wirklichkeit.
Habokovs Roman Verzweiflung.
:
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seine scmantische Energie aus der radikalen Seltsamkeit der alternativen oder fremden Welten, in denen die Ordnung der Dinge, Leben
und Tod; Kausalität der Ereignisse von unbekannten Gesetzen regiert
werden. Daeeeen entfaltet das Paradox seine semantische Energie in
D
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°
der Gene'riemng seltsamer Gedanken, in der Erfindung von Argumenten, die die eigentlichen Verhältnisse der Dinge camouniert und
verdeckt, sowie in der Zerstörung oder Aufstörung der akzeptierten
Vorstellungen über die Denkprozesse als solche.
Indem das Paradox Ähnlichkeiten behauptet, aufdeckt, aber auch
-erfindet, mache es zugleich auf Unterschiede aufmerksam, die so
bislang verdeckt oder unbemerkt waren. Nicht nur das gutgläubige
Publikum wird provoziert, dessen verabredete Ansichten, in Unordnung gebracht werden, sondern auch die Sprache: bis zu welchem
Grad kann sie Widersprüchliches und Riskantes zum Ausdruck bringen? Insbesondere das concettistische Paradox rechnet mit einem
Publikum, das sich längst gewöhnt hat, von der opinio communis
Abstand zu halten, ein erlesenes Publikum, das die paradoxesten aller
Paradoxa verlangt.
Die römischen Stilisten und die Traktatisten des 16.-17. Jahrhunderts belegen, daß das genus paradoxon sowohl dem acutum dicendi
genus wie dem Concettismus zugrunde liegt. Besonders in den
Con-cetti des spanischen, englischen und italienischen Manierismus
gelangt der Paradox-Stil zu erstaunlicher Blute. Jedes perfekte
Concetto ist ein Paradox.188 In Aristoteles' Rhetorik werden
verschiedene das Paradox herstellende Verfahren aufgeführt: die
kühne (d. h. ungewöhnliche) Metapher, Betrug, Rätsel, Wortspiel,
verkürztes Argument, Paronomasie, Allusion, Hyperbel, Homonymie
(Rhet. I4iza-b, I4i3a).18y Das inopinatum, das gegen die konventionelle
Vorstellung, Meinung oder Überzeugung Gerichtete, ist ein zentraler
Aspekt ma-nieristischer Rhetorik/Poetik. In diesem Kontext
bedeutet Concetto einen paradoxalen Gedanken, während acutezza,
arguzia in italienischer Terminologie den Stil der Schärfe meint,
der den Verstand verletzt und den Geschmack brüskiert (allerdings
sind die Begriffe
188 Englisch »concek«, dessen Synonym »pun« vor allem mit Shakespeare verbunden
wird, entspricht Scharfsinn!gkeiL, Scharfsinn (acutum}, "Witz; die russische Ent
sprechung stammt aus der deutschen Tradition: »ostroumie« (Sciiarfsinnigkeit).
189 Fernando Romo beschreibt in Rftörica de lä pftrddoja, Barcelona 1995, S-45ff. die
Struktur des Paradoxensons, indem er sich besonders auf die Argumentations
strategien des Typs ex contrario, ex repugnantibus aus Aristoteles' De sophisticis
elenchis iÖ5bz5-28, i/lb 36-17316 bezieht.
1O2
concetto, acutezza, arguzia letztlich nicht genau abzugrenzen).
Die puristische Stilkritik Ciceros, die in anticoncetdstischer Zeit
ihre Aktualität zurückgewinnt, wendet sich konsequenterweise auch
gegen das Paradoxon: In Brutus und De oratore zählt Cicero Verfahren der das Paradox einsetzenden Stoiker auf (subtilis, ieiuniis, brevis,
obscurus, acutus), deren negative Charakteristik in die Tradition der
Stilkritik eingegangen ist. 19° In De oratore (3,66) läßt Cicero subtilis
und acutus zu, lehnt aber scharf alles ab, was ungewöhnlich, schwer
verständlich, dunkel ist und ihm hohl und geziert erscheint (exile,
inusitatum, abhorrem ab auribus vulgi, obscurum, ieiunum), Cicero
setzt eine Tradition griechischer Verurteilung der Dunkelheiten der
Stoiker fort, die sich besonders auf deren kühne Neologismen bezog.
Neubildungen, zu denen er freilich als Übersetzer griechischer Begriffe selbst gezwungen ist, empfindet er als Provokation. Die Neuheit der paradoxalen Rede besteht in der Erfindung unbekannter
Gedankengängc und neuer Verfahren, die die Verknüpfung von Gedanken in ein völlig unerwartetes Argument bewerkstelligen, das
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C?
vom Publikum wie ein Schlag oder Stich empfunden wird. Ein Argument, das sticht, aber nicht in die Tiefe dringt: »Pungit, non
perfo-rat«, wie Seneca (Sen.ben. 1,4.1) formuliert, wird freilich
geringgeschätzt.191 Die obscuritas wiid als Skandal geahndet, die
brevitasist verpönt, weil sie erwartete Elemente der Argumentation
ausspart. Letztlich soll das Paradox in all seinem intellektuellen und
stilistischen Aufwand als Betrug entlarvt werden.
Entgegen all diesen Attacken haben die Paradoxa der Stoiker eine
Karriere gemacht, die sich gerade aus der in Eormeln verkürzten, auf
eine überraschende Schärfe des Gedankens konzentrierte Ausdrucksweise herleitete. Die Paradoxa der Stoiker verdichteten sich in einem
Spezialgenre, das in Untergattungen wie Gnome, Senrenz, Aphorismus und eben Concetto, Maxime, Weisheit sich aus differenzierte,
In der griechischen Literatur hat sich zudem eine rein narrative Variante des Paradoxonsalen herausgebildet, der sogenannte
>Paradoxo-graphoss der ebenfalls auf dem Unerwarteten, dem
Unwahrscheinlichen und dem Unmöglichen beruht. Diese
Eigenschaften nähern den Paradoxographos dem
>Thaumatographos< an, einem Genre von Wundererzählungen.
190 Giulio Moretti paraphrasiert diese Begriffe in Acutum dicendi genus. Brevita,
oscurita, sottigliezze e pamdossi nelle tradizioni retoriche degli itoici, Bologna S. 109
mit »sottile, sencenzioso, sofistico, paradossalc«.
igt Zitat nach Moretti.
<
Die Stoiker, die sich nicht mit der Verletzung der akzeptierten
Weitsicht zufriedengeben, versuchen ein neues Normensystem zu
etablieren, das quasi durch die Doppeldeutigkeiten der Sprach e
selbst vorgegeben ist. Im Enthymema, dem verkürzten Schluß, legen
sie die sensationelle Fähigkeit der Sprache zu Kürze, Kompaktheit
und Ambivalenz bloß. Der hohe Grad an Künstlichkeit,
Organisiert-hcit, die Monoronie und das Moralische der
Mitteilung machte die Paradoxa der Stoiker zum Gegenstand von
Parodien. Es ist die Menippea, in ihrer Anlage selbst durchwegs
paradox, die sich in der Parodie der Stoischen Paradoxe annimmt,
indem sie die hoch gestimmte Tugendhaftigkeit und
Selbstgenügsamkeit mit Hilfe des aprosdoketon (Absenkung des
hohen Tons) zur Schau stellt (Lukian, Lucilius, Varro). Das Paradoxe
der Paradoxparodie n funktioniert nur so lange, wie die Menippea
nicht in die offizielle Kultur integriert ist. Auch der auf Schärfe,
Witz und Stich basierende Effekt der Aphorismen und Sentenzen
schwindet und letztere werden zu Klischees.192
3Wahrend in Gnome und Sentenz das paradoxale Enthymema auf
Lebensweisheit reduziert ist und seine Verblüfrungsstrategien abgenutzt sind, entwickelt das acutum genus kompakte Formen der Schärfe und der Pointe, zunächst in Epigrammen, dann in den Schluß^
zeilen der Sonette. Mit Schärfe und Pointe verbindet sich die Vorstellung
der
Wunde.
Wunde
wird
die
Metapher
der
193
Paradox-Wir-kung. Mit la meraviglia (maraviglia) und lo stupore
kehrt die manieristische Paradox-Bearbeitung das Moment des
thaumazein hervor. Das die conceui hervorbringende ingegno ist mit
der Fähigkeit zu originellen Sprach- und Gedankenfunden begabt
und vom Geist des Paradoxonsons durchdrungen. In Tesauros
Bestimmung der poetischen Handlung werden paralogizzare
\md.metaforiggiare zu Synonyma. Auch Graciäns Traktat behandelt
das Paradox im Kontext
192 In der deutschen Tradition sind Georg Lichtenbergs Aphorismen, in denen sich
die beschriebenen Effekte in reiner Form erhalten haben, eine frappierende Aus
nahme.
193 Moretti weist auf andere m dasselbe semantische Feld gehörende Metaphern wie
sfina und acuiea. Aus punctum hat sich frz. pointe entwickelt, die Etymologie
von engl./w« ist ungeklärt.
von agudeza und ingenio, und zwar sowohl als eigenes Genre wie
auch als poetisches Verfahren, Die Kapitel XXIII, XIV sind zur Ganze
dem Paradox gewidmet. Gracian findet knappe, elegante Formulie rungen für ihre Bestimmung: »Son las paradojas monstruos de la
verdad, 7 un extraordinario, y mas de ingenio« (Agudeza, 5.224)
(Paradoxa sind Wunderdinge der Wahrheit, je erstaunlicher, desto
geistreicher), sie zeugen von einer raffinierten Poetik der Inversion,
des Oxymorons, adynatons. Daß Gracian die paradoxale Schreibweise
mit Beispielen sowohl aus der spanischen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts als auch aus spanischen Übersetzungen antiker Literatur
belegt, demonstriert die erstaunliche Kontinuität der Tradition. Gracian interessiert die semantische und kognitive Ausrichtung des Paradoxons, das für ihn mit den Begriffen agudeza und sutileza (Schärfe)
zusammengeht: für alle drei Begriffe gilt das Unwahrscheinliche (also
Phantastische), das Extravagante und Unerwartete: »Son espresas del
ingenio y trofeos de la sutileza las asuntas paradojas: consisten en una
propuesta tan ardua cpmo extravagante« (S. zz^ff.). Die Kühnheit des
Satzes schafft einen »extravagante discurso« ($.2,26), außerhalb des
Erwarteten »fuera de lo que se esperaba« (8.227). In immer neuen
Formulierungen werden Paradox, agudeza., ingenio miteinander verflochten: »Tienen por fondamento estas agudezas (gemeint sind die
Paradoxa), el mis'mo que los encaricimientos ingeniöses, porque son
especie de exageraciön, y la mas extravagante y
sobresaliente« (S. 226).
Der Aufwand an Begriffen wie »exageraciön«, »extravagante«, »extravagante del pensar« (8.2,28) oder »sobresaliente«, die in Häufung
auftreten, kehren das Wesen des Paradoxonsons als einer absoluten
Abweichung, als eines Phänomens ohne Fixpunkt oder Abstützung
heraus: »extravagante exageraciön« heißt es später noch einmal
(5.238), eine fast tautologische Hyperbel. Seine Instrumentierung
erfährt das Paradox durch Verfahren, die zwar rhetorisch, im Sinne
der Argumentenlehre, definiert sind, aber dennoch aus dem Regel werk auszubrechen scheinen, »Las agudisimas sofisrnas« entstehen
aus Argumenten der »repugnancia« oder »contrariedad«. Die
»diso-nancia paradoja«, die paradoxe Dissonanz, oder die »hermosa
impro-porcion« (die schöne Disproportion) sind jene
Hervorbringungen des Paradoxonsons, die als Exzesse des Denkens
gefeiert werden, als »uno de los mayores excesos del pensar« (8.241).
Tesauro hebt eine der anderen erwälmten Eigenschaften des Paradoxons hervor: die Kürze. Im acutum dicendi genus wird die höchste
105
104
Stufe der >Schärfe< in einem einzigen Wort erreicht, dieses wird zum
vollendeten Wundertheater: »in un vucabolo (sie!) solo, un pien
teatro di miraviglic« (// Cannocchiale, S. 267). Mit der Autorität von
Aristoteles' Konzept der apate argumentierend rückt Tesauro das
Paradox noch stärker in das semantische (Un-)Feld von Betrug und
Täuschung, »decettione«, »inganno« (8.194); decettione gilt als
»ulü-ma delle Figure Ingegnose«, als höchste Errungenschaft des
erfinderischen Geistes. Das Moment des Unerwarteten, das dabei im
Spiel ist, überrasche mit einer plötzlichen, in einem Wort
kondensierten -Einsicht, »stringere l'inaspettato in una sola parola«
(5.466). Die »arguti paralogismi« bewirken dies, indem sie jede
Behauptung im Nu in ihr Gegenteil verkehren (8.457). Daraus ergibt
sich in der die Tesauro faszinierenden Phänomene umkreisenden und
mit nachgerade synonymen Begriffen bezeichnenden Darstellung, daß
die unerwarteten Sätze unerwartete Argumente erzeugen,
»propositioni ina-spettate«, »argomenti inaspettati«, aus denen
wiederum die »concetti faceti« entstehen, spitzzüngige, unterhaltsame
Paradoxa (8.472). Es sind täuschende Ibpoi, »ropici fallad«, auf
einer geistreichen Fiktion, »nngimento cavilloso« (8.490)
gründend, die den Paralogis-men zum Ausdruck verhelfen. Die
gesamte sich immer wieder auf Aristoteles berufende
Argumentation, in der er die griechische Terminologie mit der
lateinischen und der italienischen verknüpft, gilt der Legitimation
des ausgesuchten, raffinierten zerebralen Betrugs und der eleganten
Lüge und bestätigt zum anderen, wie bereits Gra-cian, die Tradition
des Paradoxons. In den Schlußbemerkungen sö.-ns$ Cannocchiale
Aristotelico heißt es, wieder mit Hinweis auf den Namengeber seiner
Abhandlung, der Homers Lügenpoetik positi-viert,
folgendermaßen: »Talche 10 conchiudo, l'unica loda delle Ar-gutezze
nel saper ben mentire« und »Le Bugie de' Poeti altro non son ehe
Paralogismi« (8.491).
Es verwundert nicht, daß gegen den >Pan-Paradoxalismus< und
>Pan-Acutismus< Tesauros (und ihm verwandter Traktatisten) italienische Kritik artikuliert wird: Sforza Pallavicino polemisiert in
Trat-tato dello Stile e del dialogo (1646)19^ gegen das Concetto, das
aus einem unmäßigen Verwunderungseffekt entsteht, und fordert
entgegen den trügerischen Argumenten die Rückkehr zum
Wahrscheinlichen und zur vernünftigen Argumentation.
194
106
Trattatisti e narraiori äel seicento, hg. von Ezio Raimondi, Milano/Napoli
1960, Cap. XVIII, »De' fondati in csagerazione maravigliosa«, S. 108-112.
4-
Es gibr andere Szenen, auf denen das Paradoxe in einer unerhörten
Spfacnkunst zelebriert wird, bei Shakespeare, John Donne, Marvell,
Cleveland u.a.195 Auch in England gibt es Maßregelungen, die sich
auf das neuere Konzept des guten Geschmacks beziehen. In Addisons
oben zitierter Abhandlung Fine Taste ofWriting (1712) werden die
»forced conceits« zurückgewiesen. Doch weder verschwindet die
j>un-Kunst aus der englischen Literatur, noch versiegt das Interesse
an deren Poetik. In der halb scherzhaften, halb ernstgemeinten Einführung m die Kunst der Scharfsinnigkeit The Art of Punning, or the
Flower ofLanguages, in Seventy-Nine Rules (1718) von Jonathan Swift
hat der pun seine Energie nicht eingebüßt. Swift unter dem Pseudonym Tom Pun-Sibi erweist sich als Kenner sowohl der
konzeptuel-len als auch der literarischen Geschichte des Concetto,
für dessen Beschreibungen er alle für das Paradoxon
charakteristischen Züge heranzieht.
Pierre Foncanier, ein später Meister der Redefiguren, hat im »Manuel classique pour Fetude des tropes«196 von 1830 das Paradox (in
seiner Terminologie »paradoxisme«) als elementaren Bestandteil seines Handbuchs über Tropen und Figuren geführt, d. h. keine kritische Ab- oder Ausgrenzung vorgenommen. Die Widersprüchlichkeit
der »Ideen«, die in manchen Zusammenhängen den Anschein des
Absurden (also Paradoxen) haben, interpretiert er als verborgene
Übereinstimmung, die auf mitverstandenen Vorstellungen oder Voraussetzungen basiere. Diese Einschätzung läßt den'Aspekt der Verwunderung ebenso außer acht wie den des im Wortspiel versteckten
Gedankenspiels. Das Paradox als Redefigur gehört, ohne
auszubre-chen, zum Lexikon klassischer Stilistik, ganz im
Gegensatz zu den
195 A. E. Malloch, The Techniques und Functions ofthe Renaissance Paradox. Studies
in Philology 1956, vol. 53, S. 191-103, liefert eine Analyse der Paradoxa von John
Donne, wobei er besonders auf die Verfertigung trügerischer Argurnente hin
weist. - Kenneth K. Ruthvens The Conceit, Manchester 1969 ist ein Beitrag zur
Entwicklung des Begriffs im europäischen Kontext und zeigt die enge Verwandt
schaft zwischen spanischer, italienischer und englischer Poetologie. Im Sammel
band On Puw. The Foundation of Leiters, hg. von Jonathan Culler, Oxford 1988,
wird das konzeptuellc Feld des englischen Phänomens dei puns und conceits mit
Verfahren theoretischer Prosa des 2,0. Jahrhunderts (Freud, Lacan und Derrida)
in Zusammenhang gebracht. Für den Stil der Dekonstruktion wird der Neologis
mus puncept vorgeschlagen.
196 In; Fontanier, Pierre, La Figures du Discours, hg. von Gerard Genette. Paris 1977.
J07
Lizenzen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland formuliert werden.
Ein glänzendes Beispiel für die Unausgeschöpftheit des Paradoxons in allen seinen antiklassischen Aspekten ist die von Jean Paul
in der Vorschule der Ästhetik von 1804 angestellte poetologische Reflexion. Obgleich der Terminus nicht auftaucht, behandelt Jean Paul
alle Aspekte des Phänomens, indem er mit seinen spitzfindigen theoretisch-poetischen Definitionen Form und Wirkungen des Scharfsinns, des Betrugs, der Widersprüchlichkeit, der Kürze, des Wort--Spiels zur Sprache bringt.
In der Phantastik des 18. und 19. Jahrhunderts spielt weniger der
experimentell-logische Aspekt des Paradoxonsons als derjenige eine
Rolle, der mit dem Wunderbaren und der Täuschbarkeit der Sinne
zu tun hat. Zunächst gelten die Sinne als zuverlässige Zeugen für das
Wirkliche - eine Vorstellung, die sich aus Empirismus und Sensualismus der Aufklärungsphilosophie herleitet. Die Phanrastik aber befragt die Erkenntnisfähigkeit der Sinne, deren Täuschbarkeit sie einkalkuliert. D. h., sie geht von der Möglichkeit einer irrtümlichen
Interpretation des Wahrgenommenen oder der irrtümlichen Annahme von etwas aus, das, weil es nicht vorhanden ist, nicht wahrgenommen werden kann. Die Sinne geben eine Wahrnehmung vor. So der
erste Teil der vorromantischen, romantischen und auch nachromantischen topisch gewordenen Argumentation. Diese belegt zugleich,
daß es eine Ausgangsbasis gibt, nämlich die Alltagswirklichkeit, von .
deren Boden aus Held oder Erzähler sprechen. Der Zweifel an der
Bürgschaft der Sinne bedeutet allerdings bereits das allmähliche Verlassen dieses Bodens. Dann aber werden die Sinne wieder in ihr
Recht gesetzt, womit sich jedoch - so der zweite Teil der Argumentation — unabweisbar die Einsicht aufdrängt, daß sich die Sinne nicht
getäuscht haben: sie haben, und das ist der Skandal, das 'Wunderbare* (Schreckliche, Übernatürliche) »tatsächlich wahrgenommen. Die
Neophantastik hat diese Argumentationsnote hinter sich gelassen,
sie verzichtet auf jede Art von plausibilisierender Vermittlung.19
Die Literatur, die sich des Paradoxonsons bedient, insbesondere
in Texten mit (gedanken-)experimenteller Ausrichtung, macht sich
nicht nur den Effekt zunutze, der aus den Äußerungen >para ten
doxan< entspringen, sondern rechnet auch mit den Irreführungen,
die die Auroreferentialität und die Unschlüssigkeit solcher Außerun197 Vgl. die Überlegungen in der Einleitung.
108
gen bewirken. Für die Literaten, besonders der Neophantastik, stellen die Paradoxa, gerade als Erzeugnisse der Logik, eine gewaltige
Provokation dar. Auf diese Weise verbinden sich in der Literatur
zwei Traditionen und zwei Diskurse, Rhetorik und Logik, in deren
Rahmen das Paradox seinen Platz einnimmt,19
In einigen neophantastischen Texten erscheint das Paradox entweder als Subtext oder wird als Intertext zitiert und zwar an bedeutsamen Stellen der Narration, oder aber die Erzählung selbst stellt sich
als Narrativisierung bekannter Paradoxa dar, deren Autoren zudem
namhaft gemacht werden. Die paradoxale inventio dieser Texte gewinnt eine erstaunliche poetische Gewalt (Borges, O'Brian,
Krzyiza-nowski). Nicht nur die poetologischen Doxa der
Standard-Fiktion, sondern auch die der Phantastik des 19.
Jahrhunderts werden in Zweifel gezogen. Weder Held noch
Erzähler befragen die Vorgänge und Phänomene des Irrealen. Die
Verkehrung des Wirklichen, die Metamorphose von allem in
alles, werden nicht legitimiert, das Phantasma fungierr
kompromißlos. Allerdings vollzieht sich eine Verschiebung auf
der Inhaltsebene: das Phantasma in Bildern des Gespenstischen,
Wunderbaren und Schrecklichen wird durch die alles ergreifende
Beunruhigung abgelöst, die aus der Fusion der Phanrasmalogik
mit der Paralogik sich ergibt. Die Phantomatis ie-rung des
Gedankens und die Paradoxalis i er ung der Bilder verbinden sich.
(Das betrifft freilich nicht die an die Gothic-Tradition anknüpfende
Horrorliteratur des 2.0. Jahrhunderts).
In der Paradox-Praxis der Phantastik-Autoren, besonders in der
Neophantastik, wird die in der Konzeptgeschichtc etablierte Differenz zwischen logischen, dialektischen und rhetorischen Paradoxa
aufgehoben. So etwa ließe sich das Mengen-Paradox in folgenden
narrativen Verfahren erkennen : Derjenige, der die Geschichte
erzählt, ist in der Geschiehte 200; der Text fuhrt aus, wovon er
schreibt; der Erzähler ist der Held, von dem er erzählt; der erzählte
Raum ist der Raum der Erzählung; die erzählte Zeit ist die Zeit
der Erzählung; die Erzählung in der Erzählung hat unmittelbare
Konsequenzen für die Rahmenerzählung.
In allen diesen Fällen wird der ursprüngliche Status der Erzählung
198 Preti, Giuüo, Retorica. e logica. Le due cuiture, Torino 1968.
:99 Vgl. zur Analyse narrativer Paradoxa Breuer, Rolf, »Paradoxie bei Samuel Bekkett«, in: Das Paradox, a.a.O., S. 551-575. zoo Das ist allerdings ein Verfahren,
das bereits in 2001 Nacht benutzt wird. Borges
wendet es häufig an.
109
suspendiert, die Ordnung der Ebenen aufgegeben, die Staffelung der
Erzählinstanzen enthieraichisrerr.
Plann O'Brien setzt in Der Dritte Polizist das Zenonsche Paradoxon von Achill und Schildkröte bzw. Pfeil und Ziel in dasjenige
einer unendlichen Bewegung der Verkleinerung um (sein Held stellt
Schachteln her, die Schachteln in immer kleiner werdenden Formaten enthalten, bis sich ihre Winzigkeit der Sichtbarkeit entzieht,
ohne aufzuhören, die Verkleinerungsprozedur in der Unsichtbarkeit
fortzusetzen). O'Brien entwickelt das Paradox kasuistisch, gleichzeitig
aber setzt er ein paradoxes Philosophem in eine (erzählte) Handlung
um.
Für Borges, der in zwei Essays das Zenonsche Schildkrötenparadox behandelt (»La perpetua carrera de Aquiles y la tortuga«,
»Avata-res de la tortuga«), bedeutet die »Paradoxie ein grundlegendes
erzählerisches Mittel zur Erzeugung von Phantastik«, er arbeitet
»mit in sich widersprüchlichen Komponenten, die dem
herkömmlichen mimetisch-illusionistischen Textverständnis
des Lesers zuwiderlau.
en«.
In den narrativen Texten des spät wiederentdeckten Sigismund
Krzyzanowski202 wird die aus der Erfahrung erwachsene oder den
Regeln der Logik folgende Ordnung der Dinge annulliert. Aus der
Paradoxalisierung des Akzeptierten und Vereinbarten entwickelt
Krzyzanowski Formen poetischer Metamorphose, Formen des Gedankenspiels, die in Bereiche mit unbekannten semantischen Koordinaten führen.
Das Paradox hat offenbar mit einer spezifischen Verarbeitung und
Hervorbringung von Wissen zu tun. Zum einen geht es darum,
geltendes Wissen in Frage zu stellen, durch Radikalisierungen bestimmte Aporien aufzuzeigen oder die letztliche Unbegründbarkeit
von Annahmen bloßznlegen und damit auch die Unverläßlichkeit
zoi Blüher, Karl Alfred, »Paradoxie und Neophantastik im Werk von Jörge Luis
Borges«, in: Das Paradox, a.a.O., 5.531-549, hier: $.532. Bliihcr, ebd. S. 532. ff.,
verweist auf Borges' Interesse an Zenons Paradoxien und deren Widerlegungen,
auf seine beiden dem Paradox gewidmeten Aufsätze (»La perpetua carrera de
Aquiles y la tortuga« und »Avatares de la tortuga«), seine Übertragung des philosophischen Paradoxons auf die Literatur und interpretiert seine auf dem Paradox
gründenden Erzählungen. Vgl. auch Lern, Stanislaw, »Unhas oppositorum. Das
Prosawerk des Jörge L. Borges«, in: Phaicon 2., a.a.O., $.99-107.
102, Lebcnslduf eines Gedankens, Erzählungen, Nachwort von W! Perelmuter, übers,
von H. Umbreit, Leipzig 1991. (Die Texte stammen aus den ioer und
Jahren). W. Perdmuter stellt Vergleiche zu Kafka und Borges her.
!i
des Wissens, das fraglos zur Verfügung und der ordnenden Interpretation der "Welt zu Gebote steht. Zum ändern geht es durch'die
Zuspitzung, besser die Überspitzung, eines Konzepts um den Aufweis seiner äußersten Konsequenz. Neben die De- und Reorganisation von Wissensdiskursen tritt das Gedankenexperiment, die ingeniöse Fabrikation von durch nichts abgesichertem >Wissen<.203
Die Orientierung des Paradoxonsons in seiner kognitiven Dimension ist insofern zwiefach, als es zum einen darum geht, dem Verstand
seine Unfähigkeit zu demonstrieren, aus einer gedanklichen Einbahnstraße herauszufinden. Der russische Logiker Z. M. Orudzev
bestimmt die Unlösbarkeit im Aufeinanderstoßen widersprüchlicher
Gedanken »als eine Grenze, über die hinauszugehen das Denken
nicht in der Lage ist, was von einer gewissen Kraftlosigkeit des Verstandes zeugt«.20 Andererseits, argumentiert Orudzev weiter, werde
das Paradox als Triumph menschlicher Denkfähigkeit gefeiert, als
Abwerfen der von der zweiwertigen Logik dem Denken angelegten
Fesseln, Die Neophantastik bedient sich gerade dieser doppelten
Orientierung des Paradoxons in den erstaunlichen Konstruktionen
von Aporien und den suggestiven Meditationen über die mit der
Problematik der Unendlichkeit (regressus in inßnitum] zusammenhängenden Rätsel.
Es gibt Paradoxa, die antinomisch sind und aufgelöst (Logik) und
solche, die widerlegt werden müssen, z.B. die des Zenon, die offenbar
eine Denkmöglichkeit so radikal konsequent aus-denken, daß eine
heillose Situation eintritt. Die Widerlegungen gelten der Therapie,
der Wiederherstellung der normalen Denkordnung. Daneben stehen
die Paradoxa, die krass gegen habituelle Annahmen verstoßen, indem
sie die Ambiguität der Sprache nutzen (plötzliche Einsicht, verborgene Wahrheit, Witz).205 Einen anderen Modus stellen Paradoxa dar,
deren anfängliche aäynaton-ftovokAÜon durch Einsicht in ihre
na-turgesetzliche Gültigkeit (die Entdeckungen Galileos und.
Koperni-kus' wurden zunächst als glaubensfeindliche, gegen die
göttliche Ordnung verstoßende Paradoxa verketzert) oder aus
Gründen der technischen Realisierbarkeit abnimmt (die
Science-fiction plausibili-siert ihre paradoxen Erfindungen durch
deren >realistische< Zurichtung). Es gibt allerdings auch
Paradoxien, die als Provokationen
203 Vgl. hierzu das Kapitel: Jenseits: Das Faszinosum des Geheimwisscns.
2,04 Didlelttika kak sistema, Moskau 1973, S. 2.2.8.
205 Vgl. die grundlegenden Reflexionen von Geycr, Paul, »Das Paradox: Historischsystematische Grundlegung«, in: DasParadox, a.a.O., 5.11-24.
i.
persisticren, sie sollen nicht aufgelöst oder widerlegt werden. Das gilt
für die von den Zenonschen unterschiedenen religiösen Paradoxa,
insbesondere die der Mystik.2UG Und das gilt auch für viele Paradoxa
der Neophantastik und der Nonsense-Poetik.
5Ein Thema der Phantastik sind die von Vernunft und Erfahrung
verbürgten Naturgesetze, die angesichts des Einbruchs des Übernatürlichen Geltung und Wirksamkeit verlieren. 207 Das in der Geschichte der Begriffe von Phantasma und Phantasie als
Gedankenfi-gur vorgestellte adynaton, das in seiner gemilderten
Form als das Unwahrscheinliche, aber Glaubhafte erscheint,
entwickelte sich in der Folge (legitimiert durch seinen stark
persuasiven Effekt) zu einem mächtigen Werkzeug der
Einbildungskraft, dessen Kühnheit das Gefährliche streift. In den
gemäßigt gestimmten, decorum- und iudici-wm-orientierten
Rhetorik- und Poetiktraktaten wird das Unmögliche als
Radikalisierung von Phantasma und Zuspitzung von Paradox mit
Vorsicht behandelt.208 In den Medita.ti.ones von Alexander G.
Baumgarten, in denen die Idee alternativer Welten, figmenta
hetero-cosmica, zugelassen wird, gehört der Begriff des impossibile,
terminologisch -As figmenta utopica gefaßt, nicht zum Inventar der
gutgeheißenen Verfahren.
Die Emanzipation des adynato «-Begriffs vollzieht sich in der
Phantastik.der Romantik, die sich der Kontrolle der Rhetorik entzieht. Das neophantastische Unmögliche erscheint als Gedankenexperiment, das die Potentiale der Physik und der Logik ausbeutet,
aber auch der Psychologie und der Anthropologie. Es rezipiert ein
verdecktes Utopisches oder noch Unausgesprochenes, hyperbolisiert
ungenutztes (oder nicht wcitergedachtcs) wissenschaftliches Potential und nähert sich mit seinen Spekulationen, zweideutig, den Naturgesetzen an.
Das Unmögliche ist ein Paradox, insofern es in der geltenden
Ordnung die Wirksamkeit der Doxa zugleich in zwei Hinsichten
206 Haas, Alois Maria, »Das mystische Paradox«, in: Das Paradox, a.a.O., S. 2.73-2.94.
2.07 Voltaire hat unter dem Stichwort »miracle« in Dictinnnaire philasophique, a.a.O.,
S. 77-93, das Wunderbare grundsätzlich mit der Verletzung der Naturgesetze und
damit implizit mit dem adynaton in Verbindung gesetzt. 208
Vgl. hierzu das Kapitel: Rhetorische Bändigung der Phantasie.
n:
stört, es widerspricht der öffentlichen Meinung, es widerspricht dem
akzeptierten und bekannten Stand der Wissenschaft. 207 Obgleich
das adynaton immer paradoxal wirkt und das Paradox sich der
adyna-to«-Semantik bedient, sind die Begriffe nicht synonym.
Gleichwohl rufen die ihnen beiden eignende Qualität der
Normabweichung bzw. -Icugnung dieselben Effekte des Staunens und
der Verfremdung hervor. Das Paradox operiert häufig mit anderen
semantischen Kombinationen, z.B, mit der Semantik der Umstellung
von Elementen des Möglichen und Realen. Durch Entähnlichung
in der Umstellung oder vercjueren Kombination entsteht etwas
Fremdartiges. So etwa werden in der phantastischen Literatur als
bekannte Realien beschriebene Gegenstände in einen
uneigentlichen, nicht entsprechenden Kontext gestellt oder in
ungewöhnliche Verknüpfungen miteinander gerückt.
Das adynaton ist eher als eine Gedankenfigur zu bezeichnen, die
es erlaubt, die bestehende Ordnung nicht nur als ihr absolutes Gegenteil zu imaginieren, sondern auch als etwas ganz anderes, das nach
unbekannten Gesetzen funktioniert. Während die >Verkehrung< mit
dem Ahnlichkeitsparameter operiert und das adynaton lediglich als
Inversionsfigur benutzt, führt die Unähnlichkeitsoperation zu einer
Konstrukrion, deren Parameter nicht mehr der herrschenden Ordnung entsprechen (nicht einmal in deren Verneinung). Eine solche
Konstruktion etabliert eine Ordnung eigener Art. Dieser lyp von
adynaton bestimmt den phantastischen Text.
6.
Das adynaton als eine Form des Paradoxonsons liegt einem zentralen
Ibpos zugrunde, dem des mundus inversus, der »verkehrten Welt<.
Die Umschöpfung der Welt, wie sie manche Texte der Phantastik
vornehmen, bedeutet immer auch deren Verkehrung. Die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Bildender Kunst, zwischen
Kunst- und Volksliteratur, zwischen gelehrtem und volksliterarischem Imaginarium spielen dabei ebenso eine Rolle wie diejenigen
zwischen der Tradierung konkreter Inversions-Motive und der
Tra-dierung des formalen Prinzips der Verkehrung, In der
Interpretation
109 Vgl. auch Manzo, Antonio, L'Adynatan poetlco-retorico e ie sue implieazioni
dottri-nali, Genovai98S, 5.12.0-170.
113
von Ernst Robert Curtms ist der Topos des mundus inversus eng
mit einer Reihe von adynata verbunden, die die Verkehrung der
existierenden Ding- und Naturordnung bezeugen wollen. Curtius
zitiert Archilochos' Fragment 74, das die Sonnenfinsternis von 648
als Zeichen der Zerstörung aller Naturgesetze interpretiert, in deren
Folge alles möglich geworden sei.210 Auch die adynata- virgiliana
des Mittelalters funktionieren als Instrumentierung des Topos der
verkehrten Welt. Das adynaton als ein Verfahren, das wie kein anderes
die Meisterschaft des Dichters dokumentiert, wird von Arnaut Daniel in einem metapoetischen Gedicht kommentiert: der Dichter sei
allein mit Hilfe des Wortes in der Lage, die Erscheinungen dieser Welt
in ihr Gegenteil zu verkehren und das Unmögliche auszudenken.
Die Verkehrung bedient sich vertikaler und horizontaler räumlicher Figuren: auf dem Kopfstehen, rückwärts gehen oder das Gesicht nach hinten verdreht tragen (wie in einigen Masken); ebenfalls
räumlich ist das Innere-nach-außen-Stülpen (z. B. die Kleidung).
Diese mit dem Körper (durch die Maske verstärkt) bzw. der Kleidung
durchgeführten Verkehrungen (die auf oben-unten, hinten-vorn,
in-nen-attßen reduziert werden können) illustrieren
gestisch-allegorisch verschiedene Ordnungsinversionen, kulturelle
und natürliche. Sie repräsentieren kein adynaton (mit Ausnahme
der Verdrehung des Gesichts nach hinten, was jedoch durch die am
Hinterkopf getragene Maske zu einem Virtuell-Realen wird), sondern
ein Paradoxon. Die zeitlichen Inversionen dagegen stellen adynata
dar: die Zeitreise in die Vergangenheit ebenso wie die Vorwegnahme
der Zukunft.
Die Phantastik begnügt sich nicht mit der einfachen (einsinnigen)
Verkehrung, sondern bedarf extremer Inkongruenz. In der Lügenmärchen-Fabeltradition, in Darstellungen von Narrentum
und besonders in der Nonsense-Dichtung (Lewis Carroll 211,
Damit
210 Curtius, Ernst Robert, »Verkehrte Weit« in: dcrs., Europäische Literatur und
lateinisches Mittelalter, Bern/München 1948, 5.104-108; Kenner, Hedwig, Das
Phänomen der verkehrten Welt in der griechisch-römischen Antike, Klagenfurt 1970;
Babcock, Barbara A., The Reversible World: Symbolic Inversion* in Art and Society,
Ithaca/London 1978; Weiß, Walfgang, »Verkehrte Welt, Schlaraffenland und
Tausendjähriges Reich« in: Alternative Welten^ hg. von Manfred Pfister, München
1982, S. 81-95.
211 Vgl. Reichert, Klaus, Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn, München
1974; Stündel, Dieter, »Phantastik bei Lewis Carroll. Realirät und Mechanis
mus«, in: Phantastik in Literatur und Kumt, a.a.O., S. 237-254; Schwab, Gabriele,
Kap. »Nonsense and mctacommunicadon. Alice in Wonderland«, in: TheMirror
andthe Killer-Queen. Othernessin Litemry Language, Bloomiiigton 1996, S. 49-70.
Charms212) sind die Vorkehrungen häufig sprunghafte Verknüpfungen
von scmantisch weit entlegenen Elementen, die in das
Verkeh-rungsspiel einbezogen werden, das als Verdrehung logischer
Prinzipien auftritt. Bipolare Verkehrungen sind von >wilden<
Verkehrun-gen, die Verschiebung, Vermischung und Verstellung
hervorrufen, abzutrennen. D.h., es gilt, die reine Inversion
äquivalenter Elemente, solcher also, die einem Hypersemem
angehören, von der absurden Inversion zu unterscheiden, die nicht
auf die Störung von Hierarchien durch die bloße Vertauschung ihrer
Pole angelegt ist. (Als Terminus dient absurdw der Qualifizierung
bestimmter Inversionsfiguren und ist zugleich eine der lateinischen
Versionen des paradoxongenos.)
In Bachtins Rabelais und seine Welt wird der Topos der verkehrten
Welt aus einer Weltanschauung und Ontologie verknüpfenden Perspektive gesehen. Zu Rabelais' Werk, das er irn historischen Prozeß
der Ablösung vom Mittelaiter sieht, kommentiert er: »Im. Zuge des
Kampfes für ein neues Weltbild und der Demontage der mittelalterlichen Hierarchie bediente sich Rabelais fortwährend des traditionellen Verfahrens der > auf den Kopf gestellten Hierarchie^ der 'verkehrten Welt<, der >positiven Verneiriung<«.213 Die Umstellung von oben
und unten, die absichtsvolle Vermischung hierarchischer Ebenen
gehen der Freilegung der konkreten Realität des Gegenstandes, um
dessen wirkliche, materiell-körperliche Gestalt zu zeigen, seine »echte
reale Seinsweise außerhalb aller hierarchischen Normen und Werte«.
Das von Bachtin mit seinem Entblößungskonzept erfaßte Moment
hat sein Pendant im vollestümliehen Imaginarium. Durch das Hin/uoder Hervortreten der gesellschaftskritischcn und moralkritischen
Funktion in der mit der verkehrten Welt verbundenen Symbolpraxis werden einige Bildfelder bevorzugt (allerdings nicht mehr
die virgilschen bukolischen Inversionen, wenn auch das Prinzip, vor
allem das am adynaton orientierte, erhalten bleibt).
Ständewelt, Herrschaftsverhältnisse, politische Verhältnisse werden
anders bebildert, bzw. tradierte Bildbestände werden uminterpretiert.
Zum Ensemble der Inversionsverfahren und Verfahren, die das
Unmögliche bannen, laßt sich die Antithese rechnen, die die Gegensätzlichkeit einer bestehenden Ordnung pointiert hervorbringt, Die
Antithese ist eine Struktur gebende Figur, eine Ordnung schaffende,
212 Vgl. Hansen-Löv,e, Aage, »Konzepte des Nichts im Kunstdenken der russischen
Dichter des Absurden (Obcriu)«, in: Poetica. 26, H. 1-2 (1994), S. 308-373.
213 Bachtin, Michail, Rabelais und seine Weit, a.a.O., S.44|?f.
indem sie die bestehende Ordnung polarisiert, durch eine sekundäre
bipolar angelegte organisiert. Der Verkehrte-Welt-Topos nutzt diese
Vorstrukturierung. Das adynaton als Formel der Verkchrung bestimmt auch das Oxymoron, in dem die Berührung zweier einander
ausschließender Begriffe das Unmögliche in Abbreviatur zeigt. Das
Oxymoron bewegt sich jeweils in einem Phänomenbereich, indem
es dessen Extrempunkte miteinander verkettet.214 Das Oxymoron
gehört zweifellos zur Kategorie der Paralogismen, d.h., es enthält
oder verbirgt in sich die Struktur eines Arguments, eine Struktur,
die dem Logogriph, dem Sophismus, dem Pseudoargument gleicht,
logisch gesehen ist es ein Paradoxon.
Die genannten Figuren fuhren aus dem Regelwerk der Rhetorik
gerade dann heraus, wenn sie zur Instrumentierung von Phantasmen
herangezogen werden oder ihr phantasmatisches Potential
seman-tisch entfaltet werden kann. In cdichen Fällen lassen sie sich
als figurale Verursachung von Phantasmen bestimmen, d.h., sie
tragen wesentlich zur Phantasmagenese bei.
Die Provokation des Zufalls
Neben dem figuralen Moment, das verbale und argumentative Mittel
für die Verfertigung von Phantasmen zur Verfugung stellt, sind für
die narrative und semantische Dimension phantastischer Texte und
solcher, die mit Phanrasmen arbeiten, auch andere, quasi lebensweltliche Faktoren von Bedeutung. Als ein lebensweltlicher Faktor erscheint der Zufall. Und zwar in doppelter Funktion: Zum einen
markiert er den fragwürdigen Augenblick, in dem das Andere, Unerwartete und Unerklärliche in ein bestehendes normales Gefuge einbricht und dessen Koordinaten irritiert, zum ändern ist er ein
Erklä-rungstopos, den die Argumentation des phantastischen
Textes hin und her wendet. Die Opposition Zufall/Nicht-Zufall
spielt dabei eine konstitutive Rolle. Der phantastische Text reagiert
gerade auf diese Opposivität und stellt den Punkt, an dem es sie zu
entscheiden oder hinzunehmen gilt, in den Vordergrund. Im Zufall
entsteht finden phantastischen Text ein das Tatsächliche
einbeziehendes Deutungsmuster, das dem plötzlichen,
unerklärlichen Ereignis und dessen Wirkung gilt. Wie die
anderen für den phantastischen Text benannten Faktoren hat
auch der Zufall seine konzeptuelle Geschichte, zu der Rhetorik,
Philosophie, Poetoiogie, Literatur- und Kunsttheorie beigetragen
haben.215
:
In Välerys pointiertem Diktum: »Hart est non-hasard - par
definiti-on«
wird der Nicht-Zufall als Wesen der Kunst
bestimmt. Die Kunst reagiert auf die Provokation des Zufalls,
indem sie ihre Zeichenpraxis offensiv einsetzt und mit der Syntax
der geplanten Form antwortet. Es geht um Kampf, Überwindung
und Eliminierung des Zufalls trotz der Einsicht in seine
Notwendigkeit als unendliches Potential der Alternativen, als
Verheißung von Andersheit. Jede arti-fizielle Form ist dem Zufall
abgetrotzt, ein besiegter Zufall — »le
214 Zum Oxymoron vgl. Lachmann, Renate, Die Zerstörung der schönen
Rede, a.a.O., 5.135-147.
116
215
Vgl- Kontingenz. Poetik und Hermeneutik^ Bd, XVII, Hg, von Gerhart von Graevenitz und Odo Marquardt, München 1998. ziö Valery, Paul, Cahiers (1894-1945),
in 2.9 Bänden, Paris 1957-1961, Bd. 2.6, Paris
1969, S. 17.
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