SS 2014 Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung: Zwischen Revolution und deutscher Reichsgründung 1871: Europäische Geschichte 1848-1871. 8. Vorlesung: Neuformierung der deutschen Nationalbewegung und einzelstaatliche Verfassungspolitik I. Bürgertum und nationale Frage A. BIEFANG, Politisches Bürgertum in Deutschland. Nationale Organisation und Eliten 1857-1868, Düsseldorf 1994. H. BIERMANN, Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik vor der Reichsgründung, Düsseldorf 2006. Politische Ansprüche und Ziele des Bürgertums Der wirtschaftliche und soziale Wandel der fünfziger Jahre und der damit verbundene Aufstieg des Bürgertums sorgten ebenso wie die neuen politischen Entwicklungen in Europa dafür, dass sich Ende der fünfziger Jahre die deutsche Nationalbewegung neu zu formieren begann. Sie stützte sich auf die gewachsene gesellschaftliche Macht, die dem Bürgertum in den fünfziger Jahren durch die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfolge zugefallen war. Es entstand ein neuer Fortschrittsoptimismus, die Zukunft schien dem Bürgertum zu gehören. Deshalb wirkte nun das Reaktionssystem zunehmend anachronistisch, es kam zu neuen politischen Forderungen des Bürgertums nach Einheit und Freiheit. Die so genannte Entpolitisierung des Bürgertums nach 1848/49 darf also nicht überschätzt werden. Die neuen Formierungsversuche des Bürgertums wiesen Unterschiede zu 1848/49 auf. Realpolitik wurde zum neuen Schlagwort der Innen- wie der Außenpolitik. Klassisch formuliert wurde dies im 1853 erschienenen Buch des liberalen Publizisten Ludwig August von Rochau "Grundsätze der Realpolitik". Die Argumentation des Buches lief darauf hinaus: Wer künftig Erfolge erringen will, darf sich nicht mehr nur an Programmen und Ideen orientieren, sondern er muss vor allem von den Realitäten ausgehen. Konkret hieß das: - Orientierung an der wachsenden wirtschaftlichen Stärke - Abkehr von Appellen an das "Volk" wegen zweifelhafter politischer Haltung der Massen, Furcht vor der sozialen Revolution, Klasseninteresse des Bürgertums rückt allmählich vor gesamtgesellschaftliche Reformansätze (Ausnahmen: SchulzeDelitzsch) - stärkere Hinwendung zu Preußen, besonders im nord- und mitteldeutschen Bürgertum. DROYSEN u. andere Historiker betonten den deutschen Beruf des protestantisch geführten Hohenzollernstaates. Die kleindeutsch-borussische Geschichtsauffassung wurde zu einem wichtigen Bestandteil bürgerlich-protestantischen Fortschrittsglaubens. Hier verbanden sich Preußentum, Fortschrittsglauben und liberaler Protestantismus. Der Katholizismus wurde in diesem Zusammenhang als Verkörperung des Undeutschen und Unwissenschaftlichen bekämpft (z. B. Kritik am 1854 von Papst Pius IX. verkündeten Dogma von der unbefleckten Empfängnis Marias“) - Das Freiheitspostulat trat innerhalb des Liberalismus hinter die Einheitsforderung zurück. Der preußische Machtstaat schien für die Einheitspolitik notwendig, um den noch starken deutschen „Partikularismus“ zu brechen und die Machtbehauptung des deutschen Nationalstaates in Europa dauerhaft zu gewährleisten. Auch die 1 internationalen Zusammenhänge der deutschen Frage wurden innerhalb der Realpolitik neu bewertet. Neue politische Organisationen des Bürgertums Diese Hinwendung zur Realpolitik und der Aufstieg einer jüngeren Führungsgeneration ließen zugleich die alten Gegensätze zwischen Liberalen und Demokraten zurücktreten und ermöglichten die Bildung neuer nationaler Organisationen. 1858 entstand in Gotha der "Kongress der Volkswirte", der vor allem die Vollendung der Wirtschafteinheit unter liberalen Vorzeichen propagierte, aber auch die politische Einheit anmahnte. Im Mai 1859 erneuerte der Württemberger Liberale Hölder die alte Forderung nach Volksvertretung beim Deutschen Bundestag. Im September 1859 kam es nach mehreren Vorkonferenzen (Eisenacher Erklärung) in Frankfurt am Main zur Gründung des Deutschen Nationalvereins. Er setzte sich aus führenden liberalen und demokratischen Politikern wie Rudolf von Bennigsen, Hermann Schulze-Delitzsch, Feodor Streit, Hugo Fries u. a. zusammen. Seine Schwerpunkte lagen in Nord- und Mitteldeutschland, besonders starken Zulauf erhielt der Nationalverein in Thüringen. Der Nationalverein tendierte von Anfang an stark zugunsten der kleindeutschen Lösung. Gerade angesichts der unsicheren außenpolitischen Verhältnisse in Europa sollte Preußen die Führung der deutschen Geschäfte übernehmen. Der Nationalverein war aber kein Werkzeug Preußens. Richtschnur seiner Politik war vor allem das Bekenntnis zur Reichsverfassung von 1849. Die neue, professionell geführte Organisation hatte ihren Sitz in Coburg und zählte 1862, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, etwa 25 000 Mitglieder. Unter den Mitgliedern dominierte das Besitz- und Bildungsbürgertum. Allerdings suchte der Nationalverein auch die Anbindung an die wieder expandierenden Vereinsbewegung (Schützen, Turner, Sänger), um so den eigenen Zielen eine größere Massenbasis zu verschaffen. Weitere wichtige Organisationen im Umfeld des Nationalvereins waren der 1861 zusammentretende „Deutsche Handelstag“ als Dachorganisation der deutschen Handelskammern sowie die Abgeordnetentage, zu denen sich Vertreter der deutschen Landtage seit Beginn der sechziger Jahre regelmäßig trafen. Die neue Aufbruchstimmung in der deutschen Öffentlichkeit machte sich auch durch große Feste bemerkbar. Wichtig waren die Schillerfeiern im November 1859 und die nationalen Treffen der Sänger, Turner und Schützen. Die neuen Entwicklungen fanden zugleich ihren nachhaltigen Niederschlag in Publizistik und Wissenschaft (1858 Gründung der "Preußischen Jahrbücher"/ Heinrich von Treitschke; 1859 "Historische Zeitschrift"/Heinrich von Sybel; Sybel-Ficker Streit um das mittelalterliche Kaisertum und seine Italienpolitik). In der öffentlichen Meinung dominierten zunächst klar die kleindeutschen Kräfte. 1862 kam es zur Gründung des "Deutschen Reformvereins". Es war der gesamtdeutsche Verband der großdeutschen Kräfte. Er hatte seinen Schwerpunkt im Süden und setzte sich aus sehr heterogenen Gruppen zusammen: großdeutsch-konservativ-partikularistische, großdeutschklerikale, großdeutsch-liberale (Oskar von Wydenbrugk, Heinrich von Gagern) und großdeutsch-demokratische Richtung (Julius Fröbel). Das Ziel des Reformvereins war eine Bundesreform unter Führung Österreichs. Außer der klaren Tendenz gegen die preußische Hegemonie gab es im Verein nur wenige Gemeinsamkeiten. Er hatte auch insgesamt eine geringere Resonanz als der Nationalverein. II. Die Innenpolitik Österreichs 1859-1865: H. RUMPLER, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburger Monarchie, Wien 1997. 2 P. J. KATZENSTEIN, Disjoined Partners. Austria and Germany since 1815, Berkeley 1976. G. STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918, Wien 1985. Österreichs Chance, sich als deutsche Führungsmacht zu etablieren, hing davon ab, ob es ihm noch einmal gelingen würde, sich zu modernisieren und mit den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritten der anderen deutschen Staaten Schritt zu halten. Nach Jahrzehnten wachsender Entfremdung ergaben sich um 1860 neue Chancen für die österreichische Deutschlandpolitik. Nach der Niederlage in Italien konzentrierte man sich mehr auf die deutsche Frage (neuer Außenminister von Rechberg). Zugleich erfolgte angesichts der Krise der Staatsfinanzen und des wachsenden inneren Drucks auch die Abkehr vom Neoabsolutismus. Im Laxenburger Manifest vom Juli 1859 versprach Kaiser Franz Joseph zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung. Am 20. Oktober 1860 wurde mit dem Oktoberdiplom ein ständisch-föderalistisches Reformkonzept vorgelegt. Es stieß auf die Kritik der in den deutschen Gebieten der Habsburger Monarchie dominierenden Liberalen. Sie forderten einen modernen, konstitutionell-zentralistischen Staatsaufbau. Diesen Forderungen kam der zum Staatsminister berufene liberale Reformer Anton von Schmerling im Februarpatent des Jahres 1861 weit entgegen: stärker zentralistischer Gesamtstaat, Zugeständnisse in der Verfassungsfrage, Erweiterung des Wahlrechts, stärkere Rolle der bürgerlichen Mittelschichten, damit aber auch stärkere Rolle der deutschen Bevölkerung. Im Mai 1861 trat das neue, indirekt gewählte (über die Landtage der einzelnen Kronländer) gewählte Parlament (Reichsrat) zusammen. Die ungarischen Vertreter waren aber nicht erschienen, weil die Ungarn an ihren 1849 gescheiterten Forderungen nach mehr Autonomie festhielten. Im Übrigen standen die liberalen Reformkräfte, die aus den deutschsprachigen Gebieten kamen, unter starkem Druck der föderalistischen deutschen Rechten und der slawischen Abgeordneten. Das neue Reformprogramm konnte nur teilweise durchgesetzt werden. Österreichs Bemühungen um innere Reformen brachten zwar Sympathiegewinne im übrigen Deutschland. Die inneren Gegensätze im Reformlager, die ungelöste Nationalitätenproblematik und vor allem auch die Halbherzigkeit des Kaisers bremsten den Reformelan aber rasch wieder ab. 1865 trat Schmerling zurück. Nachfolger wurde der konservativ-klerikale Grafen Belcredi, der die Dinge wieder mehr in föderalistische Bahnen lenkte und dann vor allem das dualistische Konzept eines österreichisch-ungarischen Ausgleichs betrieb, der aber erst 1867 erreicht wurde. III. Politischer Aufbruch in den Mittel- und Kleinstaaten: Überblick bei: W. SIEMANN, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871. Frankfurt a. M. 1990. L. GALL, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968. H. SEIER (Hrsg.), Akten und Dokumente zur kurhessischen Parlaments- und Verfassungsgeschichte 1848-1866, Marburg 1987. Auch in vielen deutschen Mittel- und Kleinstaaten lockerte sich seit Ende der fünfziger Jahre das Reaktionssystem, teils durch Einsicht der Regierenden (König Max II. von Bayern), teils durch Druck neuer politischer Bewegungen. Vielfach kam es zu einer neuen liberalen Reformwelle (Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung, Judenemanzipation, Presse- und Vereinsgesetzgebung). Am weitesten ging das Großherzogtum Baden, wo der reformorientierte Großherzog Friedrich I. (seit 1856) 1860 ein liberales Ministerium berief. 3 Die neue Regierung (Lamey, Roggenbach) wurde von der liberalen Kammermehrheit getragen, die bislang gegen die konservative Regierung opponiert hatte. Der Liberalismus wurde zur "regierenden Partei", das Großherzogtum Baden zum Experimentierfeld für die Regierungsfähigkeit des deutschen Liberalismus. Baden machte durch deutschlandpolitische Initiativen und eine zügige Reformpolitik auf sich aufmerksam. Mit der dezidiert antiultramontanen Schul- und Kirchenpolitik setzten die Liberalen einen "Kulturkampf" in Gang, der bald immer größere Opposition in der katholischen Bevölkerung hervorrief. Ganz anders als in Baden entwickelten sich die Verhältnisse in Kurhessen, wo der Monarch einen Kampfkurs gegen die liberale Opposition einschlug. Die Liberalen verlangten die Rückkehr zur Verfassung von 1831, die der Kurfürst – unterstützt vom Deutschen Bund nach 1849 einseitig aufgekündigt hatte. Die preußische Regierung der "Neuen Ära" unterstützte seit 1859 den Kampf der kurhessischen Liberalen. Österreich stand erst auf der Seite des autokratischen Kurfürsten. 1862 schwenkte allerdings auch Österreich in der kurhessischen Verfassungsfrage um. Durch die Haltung des Deutschen Bundes wurde der Kurfürst gezwungen, zu den alten verfassungspolitischen Grundsätzen zurückzukehren. Verfassungskämpfe wie in Kurhessen verstärkten im Bürgertum die Forderung, schneller zu Fortschritten in der deutschen Einigungspolitik zu kommen und damit den Handlungsspielraum autokratischer klein- und mittelstaatlicher Monarchen zu vermindern. In Kurhessen, Nassau und Hannover setzte im Bürgertum bereits eine Abwendung vom eigenen Staat ein. In Kurhessen verteidigte Preußen aus machtpolitischen Gründen das Anliegen der Liberalen. Im eigenen Land prallten zur selben Zeit Liberale und der Regierung aber immer heftiger aufeinander. Der Konsens der "Neuen Ära" zerbrach. IV. Preußischer Verfassungskonflikt und die Politik der Liberalen 1. Die Ursachen des preußische Verfassungskonflikts Literatur zum Verfassungskonflikt und wichtige Bismarck-Biographien: Ernst ENGELBERG, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985. Lothar GALL, Bismarck. der weiße Revolutionär, Berlin 1980. Michael GEYER, Deutsche Rüstungspolitik 1860-1980, Frankfurt a. M. 1984. Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, 3. Aufl., Stuttgart 1988. In Preußen wurde seit längerem über die Notwendigkeit einer Heeresreform diskutiert. Es gab Kritik an der zu geringen Friedenspräsenzstärke. Auch wurden angesichts der stark gestiegenen Bevölkerungszahlen längst nicht mehr alle dienstfähigen Rekruten einberufen. Die Mängel in der Heeresverfassung traten besonders im Krisenjahr 1859 deutlich hervor und verstärkten beim Prinzregenten den Wunsch nach grundlegenden Veränderungen. Ende 1859 berief Wilhelm den konservativen General Albrecht von Roon zum neuen Kriegsminister. Roon schlug im Februar 1860 dem Parlament einen Reformplan vor. Die drei wichtigsten Forderungen waren: 1. Erhöhung der Friedenspräsenzstärke. 2. Festschreibung einer dreijährigen Dienstzeit. 3. Neue Linienregimenter und veränderte Stellung der Landwehr. Die Reform im Sinne Roons und des Regenten sollte nicht nur die preußische Armee für den äußeren Kriegsfall stärken. Es ging auch darum, ein königtreues Heer zu schaffen, das vom König notfalls auch im Inneren eingesetzt werden konnte, und die Entwicklung zu einem 4 unter dem Einfluss des Parlaments stehenden, bürgerlich geprägten Heer auf Dauer zu blockieren. 2. Die Haltung der Liberalen: Das liberale Bürgertum war in Preußen grundsätzlich für eine Heeresreform und eine Stärkung der militärischen Macht, um die Einigungspolitik notfalls auch in einem Krieg mit Frankreich oder Österreich abschließen zu können. Die Steigerung der "nationalen Wehrkraft" war um 1860 ein wichtiges Anliegen des Bürgertums. Man forderte aber neben der prinzipiellen Respektierung der Parlamentsrechte zum einen eine Beibehaltung der zweijährigen Dienstzeit und zum anderen den Erhalt der Landwehr in ihrer bisherigen Form, weil sie als große bürgerliche Errungenschaft der preußischen Reformzeit galt. Prinz Wilhelm misstraute jedoch der Landwehr, vor allem auch aufgrund der Landwehrmeutereien von 1848/49 und wegen des liberalen Leitbildes vom freien und politisch mündigen Bürger in Waffen. Darüber hinaus beharrte er darauf, dass erst die dreijährige Dienstzeit aus preußischen Rekruten "richtige Soldaten" machen könne. 3. Die Zuspitzung der Auseinandersetzungen: Die liberale Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus wollte 1860 der Reform des Heeres nur zustimmen, wenn die Regierung entgegenkam und respektierte, dass das Parlament auch in Fragen der Wehrpolitik seine Mitspracherechte ausschöpfen konnte. Deshalb bewilligte man die für den Beginn der Heeresreform notwendigen Gelder zunächst nur provisorisch. Nachdem es während der Feierlichkeiten zur Thronbesteigung König Wilhelms I. 1861 in Berlin und Königsberg zur Brüskierung der Abgeordneten gekommen war und der König keine Kompromissbereitschaft erkennen ließ, verhärtete sich auch die Position der Liberalen. Die Mehrheit des Abgeordnetenhauses entschied im Frühjahr 1861 erneut, die benötigten Gelder nur provisorisch zu bewilligen. Im Juni 1861 wurde in Berlin die Deutsche Fortschrittspartei gegründet, die einen modernen preußischen Staat anstrebte, der durch seine Modernität – das heißt eine stärkere Orientierung an liberalen Prinzipien – zugleich die Führung in den deutschen Angelegenheiten übernehmen sollte. Die hier vereinten Liberalen (Virchow, Mommsen, von Unruh, Schulze-Delitzsch) unterstützten also eine aktivere preußische Außen- und Deutschlandpolitik und auch die Verstärkung der Rüstungsanstrengungen, vertraten aber in der Innenpolitik einen im Vergleich zu den bisher im Abgeordnetenhaus wirkenden Liberalen (den Altliberalen) einen noch kompromissloseren Kurs gegen die neoabsolutistische Heerespolitik und die Versuche Roons, das parlamentarische Budgetrecht in Militärfragen auszuhöhlen. Bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus erzielte die Fortschrittspartei im Dezember 1861 einen klaren Sieg. Sie gewann über 100 der 352 Sitze und hatte gemeinsam mit anderen liberalen Gruppierungen im Parlament eine sichere Mehrheit. Die Konservativen hatten nur 14 Mandate gewonnen. Mit dem "Antrag HAGEN" wollte das Abgeordnetenhaus im Frühjahr 1862 die Regierung zwingen, eine genaue Spezifizierung aller Regierungsausgaben vorzulegen. Der finanzielle Handlungsspielraum der Exekutive sollte auf diese Weise deutlich eingeengt werden. Wilhelm I. reagierte mit einer Kabinettsumbildung, die nun einen noch konservativeren Regierungskurs signalisierte, und löste das Abgeordnetenhaus erneut auf. Die Neuwahlen vom Mai 1862 brachten den Kräften der liberalen Opposition einen noch klareren Sieg. Die entschiedenen Gegner der Roonschen Reformansätze vereinigten nun 230 der 352 Sitze auf sich. In den am 11. September 1862 beginnenden Haushaltsberatungen legten die Liberalen 5 der Regierung einen Kompromissvorschlag vor. Sie wollten der Heeresreform zustimmen, falls es bei der zweijährigen Dienstzeit bleiben würde. Während Roon und die anderen Minister hierzu bereit waren, lehnte der König weiterhin ab. Wilhelm I. trug sich nun sogar mit Rücktrittsgedanken, weil er einerseits die Macht der Krone nicht schmälern wollte, andererseits aber selbst in der konservativen Ministerriege nicht mehr genügenden Rückhalt besaß (Notwendigkeit der Gegenzeichnung von Ministern bei königlichen Verordnungen). Am Ende entschied er sich - auch aus Misstrauen gegen den eigenen Sohn und Thronfolger für die Fortsetzung des Kampfkurses. Er gewann mit Otto von Bismarck Ende September einen Ministerpräsidenten, der sich rückhaltlos hinter den König stellte und durch die engere Verknüpfung von Außen- und Innenpolitik einen neuen Ausweg aus der inneren Krise ansteuerte. 4. Bismarcks Krisenstrategie: Der am 24. September 1862 berufene neue preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck war ein typischer Vertreter des alten Preußen (Urpreuße). Zweifellos war es sein Ziel, dass dieses Preußen als monarchischer Machtstaat auf bürokratischer und militärischer Grundlage erhalten blieb. Auf der anderen Seite aber war Bismarck ein Konservativer, der erkannt hatte, dass man auf Dauer nicht an neuen gesellschaftlichen und politischen Realitäten vorbeiregieren konnte, dass die eigenen Handlungsspielräume begrenzt waren und man an Kompromissen mit neuen gesellschaftlichen Kräften (Bürgertum) nicht vorbeikam. Er versuchte daher, den Verfassungskonflikt durch eine enge Verknüpfung außen- und innenpolitischer Fragen und durch Kompromisse gegenüber der liberalen und nationalen Bewegung zu lösen. Die Machtstellung Preußens sollte unter Ausnutzung der nationalen Bedürfnisse und Interessen und durch die Kooperation mit den bürgerlichen Kräften ausgeweitet werden. Dabei sollten die Liberalen gegen begrenzte Konzessionen als eine Art Juniorpartner in den Dienst des preußischen Staatsinteresses gestellt werden. Für den Erfolg dieses Konzepts sprachen aus Bismarcks Sicht drei Dinge: 1. der große Wunsch der liberal-bürgerlichen Bewegung nach der politischen Einheit. 2. die von den Liberalen aus außen-, innen- und wirtschaftspolitischen Gründen akzeptierte Notwendigkeit einer Kooperation mit dem preußischen Staat. Hier würde nach Bismarcks Ansicht auch der allmählich zunehmende Druck parteipolitischer Konkurrenten des Liberalismus bald eine wichtige Rolle spielen. 3. die neue preußische Handelspolitik, die mit einer weiteren Öffnung zum Freihandel den deutschen Wirtschaftsinteressen sehr entgegenkam, vom Bürgertum gewünscht wurde und zugleich zu neuen deutschlandpolitischen Offensiven Preußens genutzt werden sollte. Bismarcks erste Schritte zu einem Ausgleich mit den Liberalen scheiterten. Sein Hinweis, dass die deutsche Frage nicht durch Majoritätsbeschlüsse, sondern durch „Blut und Eisen“ entschieden werde, verstärkte die Opposition vieler Liberaler, die Bismarck Verfassungsbruch vorwarfen. Bismarck verschärfte daraufhin die Gangart im Verfassungskonflikt. Er berief sich auf eine "Lückentheorie". Die fehlenden genauen Verfassungsbestimmungen zum konkreten Streitpunkt erlaubten es seiner Ansicht nach der Regierung, bei ausbleibender Einigung mit dem Parlament auch ohne bewilligtes Budget zu regieren (Staatsnotstand). Bismarck setzte die Liberalen weiter unter Druck. Im Sommer 1863 wurden die Presseordonanzen erlassen, mit der die liberale Presse geknebelt werden sollte. Das oppositionelle Abgeordnetenhaus wurde 1863 erneut aufgelöst, doch die Wahlen vom Oktober brachten einen weiteren Wahlsieg der Fortschrittspartei. Die entschiedene Opposition verfügte nun über 247 der 352 Sitze. Der Konflikt war in einen Stellungskrieg eingemündet, bei dem die Regierung aber langfristig am längeren Hebel saß. 6 5. Der überforderte Liberalismus: Zwischen alten monarchischen Gewalten und neuer parteipolitischer Konkurrenz. Die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses stand Bismarcks Politik seit Herbst 1862 schroff ablehnend gegenüber. In der Literatur wird häufig gefragt: Warum weiteten die Liberalen den parlamentarischen Widerstand nicht zu einem außerparlamentarischen Kampf aus? Warum blieb trotz der harten Opposition der Appell an die "Massen" aus oder warum beschränkte sich dieser auf wenige Außenseiter (Baumgarten)? Michael GUGEL (Industrieller Aufstieg und bürgerliche Herrschaft. Sozioökonomische Interessen und politische Ziele des liberalen Bürgertums zur Zeit des Verfassungskonfliktes 1857-1867, Köln 1975) hat die These vertreten, im Grunde sei es dem preußischen Liberalismus während des Verfassungskonfliktes gar nicht mehr um die Durchsetzung bürgerlicher Herrschaftsformen gegangen. Zumindest das Wirtschaftsbürgertum sei als Kern des aufstrebenden Bürgertums mit dem preußischen Staat weitgehend zufrieden gewesen und habe den eigenen Machtanspruch schon um 1863 zurückgestellt. Diese These ist selbst für das in der Tat "zahmere" Wirtschaftsbürgertum nicht zu halten. Die auf einen Kompromiss mit dem preußischen Machtstaat zielenden Liberalen haben ihre verfassungspolitischen Ideale keineswegs schon vor 1866 kampflos preisgegeben. Ihr "passiver Widerstand" war nicht gleichbedeutend mit Defensive. Dies zeigten die Aktivitäten in den Wahlkämpfen, der Presse, den Volksversammlungen, den Vereinen oder in den nun stark als liberales Forum in Erscheinung tretenden Stadtverordnetenversammlungen. Gerade dem kommunalen Herrschaftsanspruch kam um 1860 wachsende Bedeutung zu. Die in den Städten vom Bürgertum eigenverantwortlich durchgesetzte Modernisierungspolitik, die jetzt das staatliche Reformtempo in vielen Bereichen überholte (öffentliche Daseinsvorsorge), stützte die Machtansprüche des Bürgertums auf der staatlichen Ebene. Zum Liberalismus der Reichsgründungszeit: Dieter LANGEWIESCHE, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; zur Kommunalpolitik: Lothar GALL (Hrsg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990. Die bürgerliche Politik war überwiegend noch vom Vertrauen in die eigene Kraft und vom Zukunftsoptimismus bestimmt. Man glaubte, auch ohne "Revolution" zu den eigenen Zielen vorstoßen zu können, und wollte das schon Erreichte nicht durch "blinde Hast" und unüberlegtes Losschlagen wieder gefährden. Die Liberalen verfügten in der Gesellschaft noch über einen beachtlichen Rückhalt. Ihre Integrationskraft reichte noch über das Besitz- und Bildungsbürgertum hinaus. Dies zeigte auch die beachtliche Resonanz, die Hermann SchulzeDelitzsch mit seinem Genossenschaftskonzept fand. (R. ALDENHOFF, Schulze-Delitzsch. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung, Baden-Baden 1984). Dennoch kamen aber zu Beginn der sechziger Jahre auch erste Zweifel auf, ob der gesamtgesellschaftliche Anspruch des Liberalismus und das gerade von SchulzeDelitzsch weiter vertretene mittelständisches Gesellschaftsideal noch der sozialen Realität der heraufziehenden industriellen Klassengesellschaft entsprachen. 6. Parteipolitische Konkurrenz des Liberalismus: Noch dominierte der Liberalismus, aber zugleich formierten sich zu Beginn der sechziger Jahre auch die konkurrierenden politischen Lager. In Deutschland war schließlich schon im Vormärz ein fünfgliedriges Parteiensystem entstanden, zunächst noch in Form von Parteirichtungen, das im Laufe der 48er Revolution auch mit organisatorischen Ansätzen hervorgetreten war. Die Reaktionszeit hatte diese Ansätze zwar wieder zerschlagen, Ende der fünfziger Jahre traten aber nicht nur alle Grundrichtungen wieder hervor, jetzt machten diese Richtungen auch in organisatorischer Hinsicht weitere, ja eigentlich die entscheidenden 7 Fortschritte. Spaltungen im liberal-demokratischen Bürgertum: In Preußen wurden rechtes und linkes Lager des Liberalismus noch durch den Verfassungskonflikt zusammengehalten. In anderen Teilen Deutschlands, vor allem in Süddeutschland, machte sich wegen unterschiedlicher Einstellungen zur deutschen Frage dagegen schon vor 1866 die alte Spaltung zwischen Liberalen und Demokraten wieder stärker bemerkbar. Auf der einen Seite standen die gemäßigten Liberalen, die zugleich eher kleindeutsch orientiert waren. Auf der anderen Seite die Demokraten, die stärker in der Tradition von 1848 standen, meist großdeutsch orientiert waren und gerade in Württemberg scharf antipreußisch eingestellt waren. Die Zuspitzung in der deutschen Frage hat vielfach die alten Spaltungstendenzen rasch wieder hervorkehren lassen. Hinzu kam, dass es zwischen Liberalen und Demokraten auch in Fragen der Wirtschaftspolitik Differenzen gab, weil die süddeutschen Demokraten in vieler Hinsicht den wirtschaftsliberalen Kurs bekämpften und eher einen staatsinterventionistischen Mittelstandsschutz befürworteten. Konservatismus (A. Schildt, Konservatismus in Deutschland, München 1996). Trotz der schlechten Wahlergebnisse, welche die Konservativen in den preußischen Abgeordnetenhauswahlen erzielten, darf das Potential des Konservatismus nicht unterschätzt werden. In Preußen gab es viele, die einem liberalen Kurs skeptisch gegenüberstanden. Zu ihnen gehörten nicht nur der Junkeradel, das Militär und die protestantische Kirche, sondern auch große Teile der Bauern und Handwerker. Seit 1861 gab es neue Formierungsbestrebungen des preußischen Konservatismus durch den Preußischen Volksverein (Hermann Wagener, Redakteur der Kreuzzeitung), der eine sozial schon recht breite Sammlungsbewegung (Adel, Handwerk, Bauern) war. Der Volksverein stellte sich hinter die Militärpolitik der Regierung, wollte die innenpolitische Stellung des Königs bewahren und überhaupt alles vermeintlich Gute am Preußischen gegen die neuen Strömungen verteidigen. Dieser populare Konservativismus blieb zwar zunächst in seiner Wirkung noch begrenzt, zumal er sich neuen Erfordernissen nicht so öffnete, wie Bismarck es gerne gesehen hätte. Der neue Konservativismus musste aber von den Liberalen stärker beachtet werden. Dies zeigte spätestens der beachtliche Wahlerfolg der Konservativen bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus vom 3. Juli 1866, als man gegenüber den jahrelang dominierenden Liberalen mächtig aufholte. Bismarck sah daher die Möglichkeit, durch eine geschickte Politik die Massen der ländlichen Bevölkerung und Teile des Handwerks durch Ausnutzung antibürgerlicher und antikapitalistischer Ressentiments gegen die Liberalen zu mobilisieren und als Stütze konservativ-monarchistischer Gesinnung zu nutzen. Notwendig hierzu war freilich, dass auch der Konservativismus sich der nationalen Frage annahm. Hier gab es aber noch Gegensätze zwischen den Führern des Volksvereins und dem viel pragmatischeren Bismarck, der Preußens Stellung durch das Aufgreifen der nationalen Ziele stärken wollte und einem neuen gesamtdeutschen Parlament große Bedeutung einräumte, während die preußischen Konservativem von diesem Kurs noch das Ende ihres alten Preußen befürchteten. Bismarck sah bereits, dass ein richtig betriebener Konservativismus durchaus den in der Meinungsgunst noch führenden Liberalen entgegentreten konnte. Man hat Bismarck oft unterstellt, hierbei Anleihen beim plebiszitärpopularen Kurs Napoleons III. gemacht zu haben. Es ist aber in diesem Zusammenhang zu Recht darauf verwiesen worden, dass die Übernahme bestimmter Herrschaftstechniken, die sich Bismarck durchaus am französischen Beispiel abschaute, nicht gleichbedeutend war mit der Übernahme eines ganzen Herrschaftssystems. Das bonapartistische System war nicht auf Deutschland zu übertragen, weil es aus den Entwicklungen einer nachrevolutionären Gesellschaft entstanden war. 8 Der politische Katholizismus (Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986): Auch der politische Katholizismus war ein wichtiger Faktor der preußischen wie der deutschen Innenpolitik. Durch die schon jetzt an Schärfe zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und katholischer Kirche (z. B. in Baden) gewann der politische Katholizismus ebenso an Zulauf wie durch das sozialpolitische Engagement führender deutscher Katholiken (Bischof Ketteler). Das antiliberale Potential des Katholizismus, das gegen die liberale Wirtschaftspolitik, die liberale Kulturpolitik und die kleindeutsche Einigungspolitik mobilisiert werden konnte, war nicht zu unterschätzen. Obwohl die katholische Kirche durch die Säkularisation zu Beginn des Jahrhunderts viele Rückschläge hatte einstecken müssen, gelang ihr im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur eine geistige Erneuerung. Der nun streng ultramontane, also romtreue deutsche Katholizismus baute auch seine gesellschaftlichen und politischen Positionen aus. Grundlage dieser Prozesse war das Vereinswesen, wobei neben den religiösen Zwecken dienenden Vereinen auch die sozialpolitisch tätigen Vereine eine wichtige Rolle spielten. Indem die katholischen Kreise begannen, sich für diejenigen Schichten einzusetzen, die im Modernisierungsprozess unter die Räder zu kommen drohten - katholische Handwerker, Kleinbauern, Gesellen und Arbeiter stärkten sie ihre Basis auf Kosten der Liberalen. Umgekehrt trugen die Liberalen durch ihren gerade in dieser Zeit besonders akzentuierten Antikatholizismus, der sich gegen den Kurs von Papst Pius IX. richtete, erheblich dazu bei, dass große Teile des Katholizismus den Liberalismus ablehnten. Viele preußische Katholiken sahen ihre Interessen bei der bestehenden preußischen Staatsmacht noch immer besser aufgehoben als bei einer von den Liberalen getragenen Regierung. Ein Teil der katholischen Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses stand im Verfassungskonflikt auf der Seite der Regierung, der größere Teil plädierte wie die Liberalen aber für die Verteidigung der Parlamentsrechte. Im Verlaufe des Verfassungskonflikts ging zwar der Anteil der katholischen Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus zurück. Langfristig sollte sich der politische Katholizismus aber auch in Preußen als wichtiger Konkurrent des Liberalismus erweisen. Arbeiterbewegung ( Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, München 1985; Thomas Welskopp, "Das rote Banner der Brüderlichkeit". Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Bonn 2000). Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung lagen im Vormärz. In der Revolution von 1848/49 hat dann die Arbeiterverbrüderung von Stephan Born mit 15 000 Mitgliedern eine beachtliche Resonanz erreicht, weit größer jedenfalls als der von Marx und Engels geführte Bund der Kommunisten. Anschließend machte der Reaktionskurs der deutschen Regierungen all diesen politischen und gewerkschaftlichen Ansätzen wieder ein Ende. Gerade gegenüber den Arbeiterorganisationen fuhren die Regierungen aus Furcht vor der sozialen Revolution einen besonders scharfen Kurs. Dennoch gab es organisatorische, personelle und auch programmatische Kontinuitäten zwischen 1848 und dem Neuanfang der sechziger Jahre. Mit der Neuen Ära entstand auch für die Arbeiterbewegung wieder ein neuer Freiraum. In Preußen kam es um 1860 verstärkt zur Gründung von Arbeiterbildungsvereinen, die zunächst noch von Bürgerlichen initiiert und gefördert wurden, um die Arbeiter in der gemeinsamen Opposition gegen das obrigkeitsstaatliche System zu halten. Die Angebote der Liberalen waren für viele Arbeiter zu diesem Zeitpunkt durchaus noch attraktiv. Das Genossenschaftskonzept Schulze-Delitzschs fand auch bei vielen Arbeitern Anklang. Die Liberalen schlugen den Arbeitern vor, sich durch Fleiß, Sparsamkeit, Bildung und gemeinsame Anstrengungen aus der unbefriedigenden sozialen Situation herauszuarbeiten und auf diese Weise allmählich zum Bürgertum aufzuschließen. Nach Ansicht der Liberalen war es auch für 9 die Arbeiter am besten, wenn sie mit dem Bürgertum für eine freie Wirtschaft, für Freizügigkeit, Gewerbefreiheit und Freihandel eintraten und sich für die freie Selbstorganisation der Arbeitsbeziehungen einsetzten. Dafür wollten die Liberalen dafür eintreten, dass der Staat alle Verbotsmaßnahmen gegen eine Selbstorganisation der Arbeiterschaft aufhob. Der freiheitliche Nationalstaat, so suggerierten die Liberalen, sei auch für die Arbeiter der Lösungsweg all ihrer Probleme, deshalb sollten sie nicht als Sonderorganisation, sondern gemeinsam mit dem Bürgertum für diesen freiheitlichen Nationalstaat streiten. Das liberale Konzept war von Anfang an mit drei schweren Problemen belastet. Zum einen war ein ökonomischer Strukturwandel im Gange, der auf immer mehr Großbetriebe hinauslief und dem Genossenschaftsmodell entgegenlief. Zum zweiten wuchs bei vielen Arbeitern der Eindruck, dass ihre liberalen Mentoren für viele Fragen der Arbeiterexistenz doch nicht das richtige Gespür besaßen - vor allem bei den Löhnen. Drittens hatten immer mehr Arbeiter das Gefühl, dass die Liberalen die Arbeiter auf Dauer in einer Art Juniorpartnerschaft halten wollten. Hier lag der Grund dafür, dass sich im Mai 1863 ein Teil der deutschen Arbeiterbewegung unter Führung Lassalles mit dem "Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" (ADAV) in Leipzig selbständig machte. Lassalle vertrat die Auffassung, dass das Bürgertum in Deutschland keine revolutionäre Kraft mehr darstelle und die Emanzipation der Menschheit nun von der Arbeiterklasse vorangetrieben werden müsse. Wie Marx, von dem er sich sowohl in der Theorie als vor allem auch in der politischen Praxis unterschied, ging Lassalle davon aus, dass die Arbeiter nur durch grundlegende Veränderungen des Wirtschaftssystems ihre Lage verbessern konnten. Lassalle befürwortete wie der Liberale Schulze-Delitzsch Produktionsgenossenschaften der Arbeiter, die aber – anders als die auf Selbsthilfe setzenden Liberalen es vorhatten - direkte Hilfe des Staates erhalten sollten. Durch das allgemeine Wahlrecht und eine eigene politische Organisation sollten die Arbeiter auf die Politik des Staats Einfluss nehmen. Deshalb musste eine konsequente Trennung von der Partnerschaft mit den Liberalen erfolgen, auch wenn man in bezug auf den Nationalstaat noch ein großes gemeinsames Ziel hatte. Der ADAV blieb zunächst nur eine kleine radikale Abspaltung von der Arbeitervereinsbewegung, war auf bestimmte Regionen (Leipzig, Teile Sachsens, Frankfurt, Hamburg, preußische Rheinprovinz) begrenzt und hatte bei Lassalles Tod am 31. August 1864 gerade einmal 4 600 Mitglieder. Der Großteil der Arbeiterbildungsvereine blieb noch auf der Seite der Liberalen. Die meisten Arbeiter hielten wie im Übrigen auch Marx und Engels die Trennung von Arbeiter- und bürgerlicher Bewegung zu diesem Zeitpunkt für falsch. Sie meinten, das Bürgertum müsse solange gegen die Reaktion unterstützt werden, bis es seine eigenen Ziele - den Verfassungs- und Nationalstaat - durchgesetzt und die Macht erobert habe. Deshalb wurde auch Lassalles Kokettieren mit Bismarck attackiert. Als Reaktion auf den ADAV bildete sich im Juni 1863 in Frankfurt der "Vereinstag Deutscher Arbeitervereine" der VDAV, der zunächst noch im Fahrwasser liberal-demokratischer Politik segelte und bei dem Bebel und Wilhelm Liebknecht bald die wichtigsten Persönlichkeiten waren. Bald traten aber auch hier erste Spannungen mit den bürgerlichen Mentoren auf. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang gewerkschaftlich organisierte Streiks, die in den sechziger Jahren zunahmen und die Arbeiterschaft zunehmend in Frontstellungen zum bürgerlichen Lager brachten. 1868 stimmte die Mehrheit des VDAV dem Programm der 1864 gegründeten 1. Internationale zu, das die Handschrift von Karl Marx trug. 1869 kam es in Eisenach zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Lassalleaner und VDAV unterschieden sich nicht nur durch die Art der Abgrenzung gegenüber dem Bürgertum, sondern vor allem auch durch die Haltung zur nationalen Frage. Den Nationalstaat wollten beide. Aber Lassalle verfolgte einen strikt antiösterreichischen, propreußischen Kurs. Im VDAV lebte dagegen die großdeutsche Tradition der 48er 10 Demokraten weiter, die sich scharf gegen den preußischen Führungsanspruch richtete. Das wurde vor allem nach 1866 deutlich. Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie In Deutschland gab es im Unterschied zu England somit eine vergleichsweise frühe Trennung von "bürgerlicher und proletarischer Demokratie" (Gustav MAYER). Beide Kräfte traten schon zu einem Zeitpunkt auseinander, als weder die nationale Einheit noch der mit ihr angestrebte verfassungspolitische Fortschritt erreicht waren. Diese folgenreiche Trennung schwächte das Gewicht der emanzipatorischen Kräfte und stärkte die Position Bismarcks. Die sich in den sechziger Jahren vollziehende Trennung von proletarischer und bürgerlicher Demokratie wird von der marxistisch geprägten Geschichtsschreibung als gleichsam naturnotwendige Folge der kapitalistischen Industrialisierung interpretiert. Nichtmarxistische Historiker betonen zwar auch die mit der Industrialisierung wachsenden Konflikte zwischen Bürgertum und Arbeitern, sehen aber hier nicht den alleinigen Grund für die Spaltung. Sie verweisen vor allem auch auf das zeitliche Zusammenfallen der Auseinandersetzungen um Einheit und Freiheit mit einer sich rapide beschleunigenden Industrialisierung und der damit verbundenen neuen sozialen Frage. Diese Fülle von Aufgaben überforderte das politische Bürgertum und schwächte seine Integrationskraft gegenüber dem unteren Rand der Gesellschaft. Zudem förderten die repressiven Bedingungen, die das politische System in Deutschland im Unterschied zu England kennzeichneten, und die damit einhergehende Ausgrenzung der unteren Schichten die Isolation dieses Sozialmilieus und damit unter den Arbeitern die Bestrebungen parteipolitischer Verselbständigung. Noch ausschlaggebender für die Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie dürften jedoch die organisatorischen Strukturen der bürgerlichen Einheits- und Freiheitsbewegung gewesen sein. Diese nahm sich der Arbeiterinteressen durchaus an. Aber ihr ging es um die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, sie verstand sich nicht als Massenorganisation, blieb letztlich Honoratiorenpolitik und verlangte die politische Unterordnung der Arbeiterbewegung. Dies und die Schwäche der radikaldemokratischen Kräfte förderten die politischen Verselbständigungstendenzen auf der Seite der Arbeiter. 11