Politische Ansprüche und Ziele des Bürgertums

Werbung
SS 2014
Prof. Dr. Hans-Werner Hahn
Vorlesung: Zwischen Revolution und deutscher Reichsgründung 1871: Europäische
Geschichte 1848-1871.
8. Vorlesung: Neuformierung der deutschen Nationalbewegung und einzelstaatliche
Verfassungspolitik
I. Bürgertum und nationale Frage
A. BIEFANG, Politisches Bürgertum in Deutschland. Nationale Organisation und Eliten
1857-1868, Düsseldorf 1994.
H. BIERMANN, Ideologie statt Realpolitik. Kleindeutsche Liberale und auswärtige Politik
vor der Reichsgründung, Düsseldorf 2006.
Politische Ansprüche und Ziele des Bürgertums
Der wirtschaftliche und soziale Wandel der fünfziger Jahre und der damit verbundene
Aufstieg des Bürgertums sorgten ebenso wie die neuen politischen Entwicklungen in Europa
dafür, dass sich Ende der fünfziger Jahre die deutsche Nationalbewegung neu zu formieren
begann. Sie stützte sich auf die gewachsene gesellschaftliche Macht, die dem Bürgertum in
den fünfziger Jahren durch die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfolge
zugefallen war. Es entstand ein neuer Fortschrittsoptimismus, die Zukunft schien dem
Bürgertum zu gehören. Deshalb wirkte nun das Reaktionssystem zunehmend anachronistisch,
es kam zu neuen politischen Forderungen des Bürgertums nach Einheit und Freiheit. Die so
genannte Entpolitisierung des Bürgertums nach 1848/49 darf also nicht überschätzt werden.
Die neuen Formierungsversuche des Bürgertums wiesen Unterschiede zu 1848/49 auf.
Realpolitik wurde zum neuen Schlagwort der Innen- wie der Außenpolitik. Klassisch
formuliert wurde dies im 1853 erschienenen Buch des liberalen Publizisten Ludwig August
von Rochau "Grundsätze der Realpolitik". Die Argumentation des Buches lief darauf hinaus:
Wer künftig Erfolge erringen will, darf sich nicht mehr nur an Programmen und Ideen
orientieren, sondern er muss vor allem von den Realitäten ausgehen. Konkret hieß das:
- Orientierung an der wachsenden wirtschaftlichen Stärke
- Abkehr von Appellen an das "Volk" wegen zweifelhafter politischer Haltung der
Massen, Furcht vor der sozialen Revolution, Klasseninteresse des Bürgertums rückt
allmählich vor gesamtgesellschaftliche Reformansätze (Ausnahmen: SchulzeDelitzsch)
- stärkere Hinwendung zu Preußen, besonders im nord- und mitteldeutschen Bürgertum.
DROYSEN u. andere Historiker betonten den deutschen Beruf des protestantisch
geführten Hohenzollernstaates. Die kleindeutsch-borussische Geschichtsauffassung
wurde
zu
einem
wichtigen
Bestandteil
bürgerlich-protestantischen
Fortschrittsglaubens. Hier verbanden sich Preußentum, Fortschrittsglauben und
liberaler Protestantismus. Der Katholizismus wurde in diesem Zusammenhang als
Verkörperung des Undeutschen und Unwissenschaftlichen bekämpft (z. B. Kritik am
1854 von Papst Pius IX. verkündeten Dogma von der unbefleckten Empfängnis
Marias“)
- Das Freiheitspostulat trat innerhalb des Liberalismus hinter die Einheitsforderung
zurück. Der preußische Machtstaat schien für die Einheitspolitik notwendig, um den
noch starken deutschen „Partikularismus“ zu brechen und die Machtbehauptung des
deutschen Nationalstaates in Europa dauerhaft zu gewährleisten. Auch die
1
internationalen Zusammenhänge der deutschen Frage wurden innerhalb der
Realpolitik neu bewertet.
Neue politische Organisationen des Bürgertums
Diese Hinwendung zur Realpolitik und der Aufstieg einer jüngeren Führungsgeneration
ließen zugleich die alten Gegensätze zwischen Liberalen und Demokraten zurücktreten und
ermöglichten die Bildung neuer nationaler Organisationen. 1858 entstand in Gotha der
"Kongress der Volkswirte", der vor allem die Vollendung der Wirtschafteinheit unter
liberalen Vorzeichen propagierte, aber auch die politische Einheit anmahnte. Im Mai 1859
erneuerte der Württemberger Liberale Hölder die alte Forderung nach Volksvertretung beim
Deutschen Bundestag. Im September 1859 kam es nach mehreren Vorkonferenzen
(Eisenacher Erklärung) in Frankfurt am Main zur Gründung des Deutschen Nationalvereins.
Er setzte sich aus führenden liberalen und demokratischen Politikern wie Rudolf von
Bennigsen, Hermann Schulze-Delitzsch, Feodor Streit, Hugo Fries u. a. zusammen. Seine
Schwerpunkte lagen in Nord- und Mitteldeutschland, besonders starken Zulauf erhielt der
Nationalverein in Thüringen. Der Nationalverein tendierte von Anfang an stark zugunsten der
kleindeutschen Lösung. Gerade angesichts der unsicheren außenpolitischen Verhältnisse in
Europa sollte Preußen die Führung der deutschen Geschäfte übernehmen. Der Nationalverein
war aber kein Werkzeug Preußens. Richtschnur seiner Politik war vor allem das Bekenntnis
zur Reichsverfassung von 1849. Die neue, professionell geführte Organisation hatte ihren Sitz
in Coburg und zählte 1862, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, etwa 25 000 Mitglieder.
Unter den Mitgliedern dominierte das Besitz- und Bildungsbürgertum. Allerdings suchte der
Nationalverein auch die Anbindung an die wieder expandierenden Vereinsbewegung
(Schützen, Turner, Sänger), um so den eigenen Zielen eine größere Massenbasis zu
verschaffen. Weitere wichtige Organisationen im Umfeld des Nationalvereins waren der 1861
zusammentretende „Deutsche Handelstag“ als Dachorganisation der deutschen
Handelskammern sowie die Abgeordnetentage, zu denen sich Vertreter der deutschen
Landtage seit Beginn der sechziger Jahre regelmäßig trafen.
Die neue Aufbruchstimmung in der deutschen Öffentlichkeit machte sich auch durch große
Feste bemerkbar. Wichtig waren die Schillerfeiern im November 1859 und die nationalen
Treffen der Sänger, Turner und Schützen. Die neuen Entwicklungen fanden zugleich ihren
nachhaltigen Niederschlag in Publizistik und Wissenschaft (1858 Gründung der "Preußischen
Jahrbücher"/ Heinrich von Treitschke; 1859 "Historische Zeitschrift"/Heinrich von Sybel;
Sybel-Ficker Streit um das mittelalterliche Kaisertum und seine Italienpolitik).
In der öffentlichen Meinung dominierten zunächst klar die kleindeutschen Kräfte. 1862 kam
es zur Gründung des "Deutschen Reformvereins". Es war der gesamtdeutsche Verband der
großdeutschen Kräfte. Er hatte seinen Schwerpunkt im Süden und setzte sich aus sehr
heterogenen Gruppen zusammen: großdeutsch-konservativ-partikularistische, großdeutschklerikale, großdeutsch-liberale (Oskar von Wydenbrugk, Heinrich von Gagern) und
großdeutsch-demokratische Richtung (Julius Fröbel). Das Ziel des Reformvereins war eine
Bundesreform unter Führung Österreichs. Außer der klaren Tendenz gegen die preußische
Hegemonie gab es im Verein nur wenige Gemeinsamkeiten. Er hatte auch insgesamt eine
geringere Resonanz als der Nationalverein.
II. Die Innenpolitik Österreichs 1859-1865:
H. RUMPLER, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in
der Habsburger Monarchie, Wien 1997.
2
P. J. KATZENSTEIN, Disjoined Partners. Austria and Germany since 1815, Berkeley 1976.
G. STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung
Österreichs 1848-1918, Wien 1985.
Österreichs Chance, sich als deutsche Führungsmacht zu etablieren, hing davon ab, ob es ihm
noch einmal gelingen würde, sich zu modernisieren und mit den politischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Fortschritten der anderen deutschen Staaten Schritt zu halten. Nach
Jahrzehnten wachsender Entfremdung ergaben sich um 1860 neue Chancen für die
österreichische Deutschlandpolitik. Nach der Niederlage in Italien konzentrierte man sich
mehr auf die deutsche Frage (neuer Außenminister von Rechberg). Zugleich erfolgte
angesichts der Krise der Staatsfinanzen und des wachsenden inneren Drucks auch die Abkehr
vom Neoabsolutismus. Im Laxenburger Manifest vom Juli 1859 versprach Kaiser Franz
Joseph zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung. Am 20. Oktober 1860
wurde mit dem Oktoberdiplom ein ständisch-föderalistisches Reformkonzept vorgelegt. Es
stieß auf die Kritik der in den deutschen Gebieten der Habsburger Monarchie dominierenden
Liberalen. Sie forderten einen modernen, konstitutionell-zentralistischen Staatsaufbau. Diesen
Forderungen kam der zum Staatsminister berufene liberale Reformer Anton von Schmerling
im Februarpatent des Jahres 1861 weit entgegen: stärker zentralistischer Gesamtstaat,
Zugeständnisse in der Verfassungsfrage, Erweiterung des Wahlrechts, stärkere Rolle der
bürgerlichen Mittelschichten, damit aber auch stärkere Rolle der deutschen Bevölkerung.
Im Mai 1861 trat das neue, indirekt gewählte (über die Landtage der einzelnen Kronländer)
gewählte Parlament (Reichsrat) zusammen. Die ungarischen Vertreter waren aber nicht
erschienen, weil die Ungarn an ihren 1849 gescheiterten Forderungen nach mehr Autonomie
festhielten. Im Übrigen standen die liberalen Reformkräfte, die aus den deutschsprachigen
Gebieten kamen, unter starkem Druck der föderalistischen deutschen Rechten und der
slawischen Abgeordneten. Das neue Reformprogramm konnte nur teilweise durchgesetzt
werden. Österreichs Bemühungen um innere Reformen brachten zwar Sympathiegewinne im
übrigen Deutschland. Die inneren Gegensätze im Reformlager, die ungelöste
Nationalitätenproblematik und vor allem auch die Halbherzigkeit des Kaisers bremsten den
Reformelan aber rasch wieder ab. 1865 trat Schmerling zurück. Nachfolger wurde der
konservativ-klerikale Grafen Belcredi, der die Dinge wieder mehr in föderalistische Bahnen
lenkte und dann vor allem das dualistische Konzept eines österreichisch-ungarischen
Ausgleichs betrieb, der aber erst 1867 erreicht wurde.
III. Politischer Aufbruch in den Mittel- und Kleinstaaten:
Überblick bei:
W. SIEMANN, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871. Frankfurt a. M. 1990.
L. GALL, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen
Restauration und Reichsgründung, Wiesbaden 1968.
H. SEIER (Hrsg.), Akten und Dokumente zur kurhessischen Parlaments- und
Verfassungsgeschichte 1848-1866, Marburg 1987.
Auch in vielen deutschen Mittel- und Kleinstaaten lockerte sich seit Ende der fünfziger
Jahre das Reaktionssystem, teils durch Einsicht der Regierenden (König Max II. von Bayern),
teils durch Druck neuer politischer Bewegungen. Vielfach kam es zu einer neuen liberalen
Reformwelle (Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung, Judenemanzipation, Presse- und
Vereinsgesetzgebung). Am weitesten ging das Großherzogtum Baden, wo der
reformorientierte Großherzog Friedrich I. (seit 1856) 1860 ein liberales Ministerium berief.
3
Die neue Regierung (Lamey, Roggenbach) wurde von der liberalen Kammermehrheit
getragen, die bislang gegen die konservative Regierung opponiert hatte. Der Liberalismus
wurde zur "regierenden Partei", das Großherzogtum Baden zum Experimentierfeld für die
Regierungsfähigkeit des deutschen Liberalismus. Baden machte durch deutschlandpolitische
Initiativen und eine zügige Reformpolitik auf sich aufmerksam. Mit der dezidiert antiultramontanen Schul- und Kirchenpolitik setzten die Liberalen einen "Kulturkampf" in Gang,
der bald immer größere Opposition in der katholischen Bevölkerung hervorrief.
Ganz anders als in Baden entwickelten sich die Verhältnisse in Kurhessen, wo der Monarch
einen Kampfkurs gegen die liberale Opposition einschlug. Die Liberalen verlangten die
Rückkehr zur Verfassung von 1831, die der Kurfürst – unterstützt vom Deutschen Bund nach 1849 einseitig aufgekündigt hatte. Die preußische Regierung der "Neuen Ära"
unterstützte seit 1859 den Kampf der kurhessischen Liberalen. Österreich stand erst auf der
Seite des autokratischen Kurfürsten. 1862 schwenkte allerdings auch Österreich in der
kurhessischen Verfassungsfrage um. Durch die Haltung des Deutschen Bundes wurde der
Kurfürst gezwungen, zu den alten verfassungspolitischen Grundsätzen zurückzukehren.
Verfassungskämpfe wie in Kurhessen verstärkten im Bürgertum die Forderung, schneller zu
Fortschritten in der deutschen Einigungspolitik zu kommen und damit den
Handlungsspielraum autokratischer klein- und mittelstaatlicher Monarchen zu vermindern. In
Kurhessen, Nassau und Hannover setzte im Bürgertum bereits eine Abwendung vom eigenen
Staat ein.
In Kurhessen verteidigte Preußen aus machtpolitischen Gründen das Anliegen der
Liberalen. Im eigenen Land prallten zur selben Zeit Liberale und der Regierung aber immer
heftiger aufeinander. Der Konsens der "Neuen Ära" zerbrach.
IV. Preußischer Verfassungskonflikt und die Politik der Liberalen
1. Die Ursachen des preußische Verfassungskonflikts
Literatur zum Verfassungskonflikt und wichtige Bismarck-Biographien:
Ernst ENGELBERG, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1985.
Lothar GALL, Bismarck. der weiße Revolutionär, Berlin 1980.
Michael GEYER, Deutsche Rüstungspolitik 1860-1980, Frankfurt a. M. 1984.
Ernst Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das
Reich, 3. Aufl., Stuttgart 1988.
In Preußen wurde seit längerem über die Notwendigkeit einer Heeresreform diskutiert. Es gab
Kritik an der zu geringen Friedenspräsenzstärke. Auch wurden angesichts der stark
gestiegenen Bevölkerungszahlen längst nicht mehr alle dienstfähigen Rekruten einberufen.
Die Mängel in der Heeresverfassung traten besonders im Krisenjahr 1859 deutlich hervor und
verstärkten beim Prinzregenten den Wunsch nach grundlegenden Veränderungen. Ende 1859
berief Wilhelm den konservativen General Albrecht von Roon zum neuen Kriegsminister.
Roon schlug im Februar 1860 dem Parlament einen Reformplan vor. Die drei wichtigsten
Forderungen waren:
1. Erhöhung der Friedenspräsenzstärke.
2. Festschreibung einer dreijährigen Dienstzeit.
3. Neue Linienregimenter und veränderte Stellung der Landwehr.
Die Reform im Sinne Roons und des Regenten sollte nicht nur die preußische Armee für den
äußeren Kriegsfall stärken. Es ging auch darum, ein königtreues Heer zu schaffen, das vom
König notfalls auch im Inneren eingesetzt werden konnte, und die Entwicklung zu einem
4
unter dem Einfluss des Parlaments stehenden, bürgerlich geprägten Heer auf Dauer zu
blockieren.
2. Die Haltung der Liberalen:
Das liberale Bürgertum war in Preußen grundsätzlich für eine Heeresreform und eine
Stärkung der militärischen Macht, um die Einigungspolitik notfalls auch in einem Krieg mit
Frankreich oder Österreich abschließen zu können. Die Steigerung der "nationalen Wehrkraft"
war um 1860 ein wichtiges Anliegen des Bürgertums. Man forderte aber neben der
prinzipiellen Respektierung der Parlamentsrechte zum einen eine Beibehaltung der
zweijährigen Dienstzeit und zum anderen den Erhalt der Landwehr in ihrer bisherigen Form,
weil sie als große bürgerliche Errungenschaft der preußischen Reformzeit galt. Prinz Wilhelm
misstraute jedoch der Landwehr, vor allem auch aufgrund der Landwehrmeutereien von
1848/49 und wegen des liberalen Leitbildes vom freien und politisch mündigen Bürger in
Waffen. Darüber hinaus beharrte er darauf, dass erst die dreijährige Dienstzeit aus
preußischen Rekruten "richtige Soldaten" machen könne.
3. Die Zuspitzung der Auseinandersetzungen:
Die liberale Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus wollte 1860 der Reform des Heeres
nur zustimmen, wenn die Regierung entgegenkam und respektierte, dass das Parlament auch
in Fragen der Wehrpolitik seine Mitspracherechte ausschöpfen konnte. Deshalb bewilligte
man die für den Beginn der Heeresreform notwendigen Gelder zunächst nur provisorisch.
Nachdem es während der Feierlichkeiten zur Thronbesteigung König Wilhelms I. 1861 in
Berlin und Königsberg zur Brüskierung der Abgeordneten gekommen war und der König
keine Kompromissbereitschaft erkennen ließ, verhärtete sich auch die Position der Liberalen.
Die Mehrheit des Abgeordnetenhauses entschied im Frühjahr 1861 erneut, die benötigten
Gelder nur provisorisch zu bewilligen.
Im Juni 1861 wurde in Berlin die Deutsche Fortschrittspartei gegründet, die einen modernen
preußischen Staat anstrebte, der durch seine Modernität – das heißt eine stärkere Orientierung
an liberalen Prinzipien – zugleich die Führung in den deutschen Angelegenheiten übernehmen
sollte. Die hier vereinten Liberalen (Virchow, Mommsen, von Unruh, Schulze-Delitzsch)
unterstützten also eine aktivere preußische Außen- und Deutschlandpolitik und auch die
Verstärkung der Rüstungsanstrengungen, vertraten aber in der Innenpolitik einen im
Vergleich zu den bisher im Abgeordnetenhaus wirkenden Liberalen (den Altliberalen) einen
noch kompromissloseren Kurs gegen die neoabsolutistische Heerespolitik und die Versuche
Roons, das parlamentarische Budgetrecht in Militärfragen auszuhöhlen. Bei den Wahlen zum
preußischen Abgeordnetenhaus erzielte die Fortschrittspartei im Dezember 1861 einen klaren
Sieg. Sie gewann über 100 der 352 Sitze und hatte gemeinsam mit anderen liberalen
Gruppierungen im Parlament eine sichere Mehrheit. Die Konservativen hatten nur 14
Mandate gewonnen.
Mit dem "Antrag HAGEN" wollte das Abgeordnetenhaus im Frühjahr 1862 die Regierung
zwingen, eine genaue Spezifizierung aller Regierungsausgaben vorzulegen. Der finanzielle
Handlungsspielraum der Exekutive sollte auf diese Weise deutlich eingeengt werden.
Wilhelm I. reagierte mit einer Kabinettsumbildung, die nun einen noch konservativeren
Regierungskurs signalisierte, und löste das Abgeordnetenhaus erneut auf. Die Neuwahlen
vom Mai 1862 brachten den Kräften der liberalen Opposition einen noch klareren Sieg. Die
entschiedenen Gegner der Roonschen Reformansätze vereinigten nun 230 der 352 Sitze auf
sich. In den am 11. September 1862 beginnenden Haushaltsberatungen legten die Liberalen
5
der Regierung einen Kompromissvorschlag vor. Sie wollten der Heeresreform zustimmen,
falls es bei der zweijährigen Dienstzeit bleiben würde. Während Roon und die anderen
Minister hierzu bereit waren, lehnte der König weiterhin ab. Wilhelm I. trug sich nun sogar
mit Rücktrittsgedanken, weil er einerseits die Macht der Krone nicht schmälern wollte,
andererseits aber selbst in der konservativen Ministerriege nicht mehr genügenden Rückhalt
besaß (Notwendigkeit der Gegenzeichnung von Ministern bei königlichen Verordnungen).
Am Ende entschied er sich - auch aus Misstrauen gegen den eigenen Sohn und Thronfolger für die Fortsetzung des Kampfkurses. Er gewann mit Otto von Bismarck Ende September
einen Ministerpräsidenten, der sich rückhaltlos hinter den König stellte und durch die engere
Verknüpfung von Außen- und Innenpolitik einen neuen Ausweg aus der inneren Krise
ansteuerte.
4. Bismarcks Krisenstrategie:
Der am 24. September 1862 berufene neue preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck
war ein typischer Vertreter des alten Preußen (Urpreuße). Zweifellos war es sein Ziel, dass
dieses Preußen als monarchischer Machtstaat auf bürokratischer und militärischer Grundlage
erhalten blieb. Auf der anderen Seite aber war Bismarck ein Konservativer, der erkannt hatte,
dass man auf Dauer nicht an neuen gesellschaftlichen und politischen Realitäten
vorbeiregieren konnte, dass die eigenen Handlungsspielräume begrenzt waren und man an
Kompromissen mit neuen gesellschaftlichen Kräften (Bürgertum) nicht vorbeikam. Er
versuchte daher, den Verfassungskonflikt durch eine enge Verknüpfung außen- und
innenpolitischer Fragen und durch Kompromisse gegenüber der liberalen und nationalen
Bewegung zu lösen. Die Machtstellung Preußens sollte unter Ausnutzung der nationalen
Bedürfnisse und Interessen und durch die Kooperation mit den bürgerlichen Kräften
ausgeweitet werden. Dabei sollten die Liberalen gegen begrenzte Konzessionen als eine Art
Juniorpartner in den Dienst des preußischen Staatsinteresses gestellt werden. Für den Erfolg
dieses Konzepts sprachen aus Bismarcks Sicht drei Dinge:
1. der große Wunsch der liberal-bürgerlichen Bewegung nach der politischen Einheit.
2. die von den Liberalen aus außen-, innen- und wirtschaftspolitischen Gründen akzeptierte
Notwendigkeit einer Kooperation mit dem preußischen Staat. Hier würde nach Bismarcks
Ansicht auch der allmählich zunehmende Druck parteipolitischer Konkurrenten des
Liberalismus bald eine wichtige Rolle spielen.
3. die neue preußische Handelspolitik, die mit einer weiteren Öffnung zum Freihandel den
deutschen Wirtschaftsinteressen sehr entgegenkam, vom Bürgertum gewünscht wurde und
zugleich zu neuen deutschlandpolitischen Offensiven Preußens genutzt werden sollte.
Bismarcks erste Schritte zu einem Ausgleich mit den Liberalen scheiterten. Sein Hinweis,
dass die deutsche Frage nicht durch Majoritätsbeschlüsse, sondern durch „Blut und Eisen“
entschieden werde, verstärkte die Opposition vieler Liberaler, die Bismarck Verfassungsbruch
vorwarfen. Bismarck verschärfte daraufhin die Gangart im Verfassungskonflikt. Er berief sich
auf eine "Lückentheorie". Die fehlenden genauen Verfassungsbestimmungen zum konkreten
Streitpunkt erlaubten es seiner Ansicht nach der Regierung, bei ausbleibender Einigung mit
dem Parlament auch ohne bewilligtes Budget zu regieren (Staatsnotstand). Bismarck setzte
die Liberalen weiter unter Druck. Im Sommer 1863 wurden die Presseordonanzen erlassen,
mit der die liberale Presse geknebelt werden sollte. Das oppositionelle Abgeordnetenhaus
wurde 1863 erneut aufgelöst, doch die Wahlen vom Oktober brachten einen weiteren
Wahlsieg der Fortschrittspartei. Die entschiedene Opposition verfügte nun über 247 der 352
Sitze. Der Konflikt war in einen Stellungskrieg eingemündet, bei dem die Regierung aber
langfristig am längeren Hebel saß.
6
5. Der überforderte Liberalismus: Zwischen alten monarchischen Gewalten und
neuer parteipolitischer Konkurrenz.
Die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses stand Bismarcks Politik seit Herbst 1862
schroff ablehnend gegenüber. In der Literatur wird häufig gefragt: Warum weiteten die
Liberalen den parlamentarischen Widerstand nicht zu einem außerparlamentarischen Kampf
aus? Warum blieb trotz der harten Opposition der Appell an die "Massen" aus oder warum beschränkte sich dieser auf wenige Außenseiter (Baumgarten)? Michael GUGEL (Industrieller
Aufstieg und bürgerliche Herrschaft. Sozioökonomische Interessen und politische Ziele des
liberalen Bürgertums zur Zeit des Verfassungskonfliktes 1857-1867, Köln 1975) hat die
These vertreten, im Grunde sei es dem preußischen Liberalismus während des Verfassungskonfliktes gar nicht mehr um die Durchsetzung bürgerlicher Herrschaftsformen
gegangen. Zumindest das Wirtschaftsbürgertum sei als Kern des aufstrebenden Bürgertums
mit dem preußischen Staat weitgehend zufrieden gewesen und habe den eigenen
Machtanspruch schon um 1863 zurückgestellt. Diese These ist selbst für das in der Tat
"zahmere" Wirtschaftsbürgertum nicht zu halten. Die auf einen Kompromiss mit dem
preußischen Machtstaat zielenden Liberalen haben ihre verfassungspolitischen Ideale keineswegs schon vor 1866 kampflos preisgegeben. Ihr "passiver Widerstand" war nicht
gleichbedeutend mit Defensive. Dies zeigten die Aktivitäten in den Wahlkämpfen, der Presse,
den Volksversammlungen, den Vereinen oder in den nun stark als liberales Forum in
Erscheinung tretenden Stadtverordnetenversammlungen. Gerade dem kommunalen
Herrschaftsanspruch kam um 1860 wachsende Bedeutung zu. Die in den Städten vom
Bürgertum eigenverantwortlich durchgesetzte Modernisierungspolitik, die jetzt das staatliche
Reformtempo in vielen Bereichen überholte (öffentliche Daseinsvorsorge), stützte die
Machtansprüche des Bürgertums auf der staatlichen Ebene.
Zum Liberalismus der Reichsgründungszeit: Dieter LANGEWIESCHE, Liberalismus in
Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; zur Kommunalpolitik: Lothar GALL (Hrsg.), Stadt und
Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990.
Die bürgerliche Politik war überwiegend noch vom Vertrauen in die eigene Kraft und vom
Zukunftsoptimismus bestimmt. Man glaubte, auch ohne "Revolution" zu den eigenen Zielen
vorstoßen zu können, und wollte das schon Erreichte nicht durch "blinde Hast" und
unüberlegtes Losschlagen wieder gefährden. Die Liberalen verfügten in der Gesellschaft noch
über einen beachtlichen Rückhalt. Ihre Integrationskraft reichte noch über das Besitz- und
Bildungsbürgertum hinaus. Dies zeigte auch die beachtliche Resonanz, die Hermann SchulzeDelitzsch mit seinem Genossenschaftskonzept fand. (R. ALDENHOFF, Schulze-Delitzsch.
Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus zwischen Revolution und Reichsgründung,
Baden-Baden 1984). Dennoch kamen aber zu Beginn der sechziger Jahre auch erste Zweifel
auf, ob der gesamtgesellschaftliche Anspruch des Liberalismus und das gerade von SchulzeDelitzsch weiter vertretene mittelständisches Gesellschaftsideal noch der sozialen Realität der
heraufziehenden industriellen Klassengesellschaft entsprachen.
6. Parteipolitische Konkurrenz des Liberalismus:
Noch dominierte der Liberalismus, aber zugleich formierten sich zu Beginn der sechziger
Jahre auch die konkurrierenden politischen Lager. In Deutschland war schließlich schon im
Vormärz ein fünfgliedriges Parteiensystem entstanden, zunächst noch in Form von
Parteirichtungen, das im Laufe der 48er Revolution auch mit organisatorischen Ansätzen
hervorgetreten war. Die Reaktionszeit hatte diese Ansätze zwar wieder zerschlagen, Ende der
fünfziger Jahre traten aber nicht nur alle Grundrichtungen wieder hervor, jetzt machten diese
Richtungen auch in organisatorischer Hinsicht weitere, ja eigentlich die entscheidenden
7
Fortschritte. Spaltungen im liberal-demokratischen Bürgertum: In Preußen wurden
rechtes und linkes Lager des Liberalismus noch durch den Verfassungskonflikt zusammengehalten. In anderen Teilen Deutschlands, vor allem in Süddeutschland, machte sich wegen
unterschiedlicher Einstellungen zur deutschen Frage dagegen schon vor 1866 die alte
Spaltung zwischen Liberalen und Demokraten wieder stärker bemerkbar. Auf der einen Seite
standen die gemäßigten Liberalen, die zugleich eher kleindeutsch orientiert waren. Auf der
anderen Seite die Demokraten, die stärker in der Tradition von 1848 standen, meist
großdeutsch orientiert waren und gerade in Württemberg scharf antipreußisch eingestellt waren. Die Zuspitzung in der deutschen Frage hat vielfach die alten Spaltungstendenzen rasch
wieder hervorkehren lassen. Hinzu kam, dass es zwischen Liberalen und Demokraten auch in
Fragen der Wirtschaftspolitik Differenzen gab, weil die süddeutschen Demokraten in vieler
Hinsicht den wirtschaftsliberalen Kurs bekämpften und eher einen staatsinterventionistischen
Mittelstandsschutz befürworteten.
Konservatismus (A. Schildt, Konservatismus in Deutschland, München 1996).
Trotz der schlechten Wahlergebnisse, welche die Konservativen in den preußischen
Abgeordnetenhauswahlen erzielten, darf das Potential des Konservatismus nicht unterschätzt
werden. In Preußen gab es viele, die einem liberalen Kurs skeptisch gegenüberstanden. Zu
ihnen gehörten nicht nur der Junkeradel, das Militär und die protestantische Kirche, sondern
auch große Teile der Bauern und Handwerker. Seit 1861 gab es neue
Formierungsbestrebungen des preußischen Konservatismus durch den Preußischen
Volksverein (Hermann Wagener, Redakteur der Kreuzzeitung), der eine sozial schon recht
breite Sammlungsbewegung (Adel, Handwerk, Bauern) war. Der Volksverein stellte sich
hinter die Militärpolitik der Regierung, wollte die innenpolitische Stellung des Königs
bewahren und überhaupt alles vermeintlich Gute am Preußischen gegen die neuen
Strömungen verteidigen. Dieser populare Konservativismus blieb zwar zunächst in seiner
Wirkung noch begrenzt, zumal er sich neuen Erfordernissen nicht so öffnete, wie Bismarck es
gerne gesehen hätte. Der neue Konservativismus musste aber von den Liberalen stärker
beachtet werden. Dies zeigte spätestens der beachtliche Wahlerfolg der Konservativen bei den
Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus vom 3. Juli 1866, als man gegenüber den
jahrelang dominierenden Liberalen mächtig aufholte. Bismarck sah daher die Möglichkeit,
durch eine geschickte Politik die Massen der ländlichen Bevölkerung und Teile des
Handwerks durch Ausnutzung antibürgerlicher und antikapitalistischer Ressentiments gegen
die Liberalen zu mobilisieren und als Stütze konservativ-monarchistischer Gesinnung zu
nutzen. Notwendig hierzu war freilich, dass auch der Konservativismus sich der nationalen
Frage annahm. Hier gab es aber noch Gegensätze zwischen den Führern des Volksvereins und
dem viel pragmatischeren Bismarck, der Preußens Stellung durch das Aufgreifen der
nationalen Ziele stärken wollte und einem neuen gesamtdeutschen Parlament große
Bedeutung einräumte, während die preußischen Konservativem von diesem Kurs noch das
Ende ihres alten Preußen befürchteten. Bismarck sah bereits, dass ein richtig betriebener
Konservativismus durchaus den in der Meinungsgunst noch führenden Liberalen
entgegentreten konnte. Man hat Bismarck oft unterstellt, hierbei Anleihen beim plebiszitärpopularen Kurs Napoleons III. gemacht zu haben. Es ist aber in diesem Zusammenhang zu
Recht darauf verwiesen worden, dass die Übernahme bestimmter Herrschaftstechniken, die
sich Bismarck durchaus am französischen Beispiel abschaute, nicht gleichbedeutend war mit
der Übernahme eines ganzen Herrschaftssystems. Das bonapartistische System war nicht auf
Deutschland zu übertragen, weil es aus den Entwicklungen einer nachrevolutionären
Gesellschaft entstanden war.
8
Der politische Katholizismus (Karl-Egon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20.
Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986):
Auch der politische Katholizismus war ein wichtiger Faktor der preußischen wie der
deutschen Innenpolitik. Durch die schon jetzt an Schärfe zunehmenden Auseinandersetzungen
zwischen Liberalen und katholischer Kirche (z. B. in Baden) gewann der politische
Katholizismus ebenso an Zulauf wie durch das sozialpolitische Engagement führender
deutscher Katholiken (Bischof Ketteler). Das antiliberale Potential des Katholizismus, das
gegen die liberale Wirtschaftspolitik, die liberale Kulturpolitik und die kleindeutsche
Einigungspolitik mobilisiert werden konnte, war nicht zu unterschätzen. Obwohl die
katholische Kirche durch die Säkularisation zu Beginn des Jahrhunderts viele Rückschläge
hatte einstecken müssen, gelang ihr im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur eine geistige
Erneuerung. Der nun streng ultramontane, also romtreue deutsche Katholizismus baute auch
seine gesellschaftlichen und politischen Positionen aus. Grundlage dieser Prozesse war das
Vereinswesen, wobei neben den religiösen Zwecken dienenden Vereinen auch die
sozialpolitisch tätigen Vereine eine wichtige Rolle spielten. Indem die katholischen Kreise
begannen, sich für diejenigen Schichten einzusetzen, die im Modernisierungsprozess unter die
Räder zu kommen drohten - katholische Handwerker, Kleinbauern, Gesellen und Arbeiter stärkten sie ihre Basis auf Kosten der Liberalen. Umgekehrt trugen die Liberalen durch ihren
gerade in dieser Zeit besonders akzentuierten Antikatholizismus, der sich gegen den Kurs von
Papst Pius IX. richtete, erheblich dazu bei, dass große Teile des Katholizismus den
Liberalismus ablehnten. Viele preußische Katholiken sahen ihre Interessen bei der
bestehenden preußischen Staatsmacht noch immer besser aufgehoben als bei einer von den
Liberalen getragenen Regierung. Ein Teil der katholischen Fraktion des preußischen
Abgeordnetenhauses stand im Verfassungskonflikt auf der Seite der Regierung, der größere
Teil plädierte wie die Liberalen aber für die Verteidigung der Parlamentsrechte. Im Verlaufe
des Verfassungskonflikts ging zwar der Anteil der katholischen Fraktion im preußischen
Abgeordnetenhaus zurück. Langfristig sollte sich der politische Katholizismus aber auch in
Preußen als wichtiger Konkurrent des Liberalismus erweisen.
Arbeiterbewegung ( Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive
Interessenvertretung bis 1914, München 1985; Thomas Welskopp, "Das rote Banner der
Brüderlichkeit". Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz.
Bonn 2000).
Die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung lagen im Vormärz. In der Revolution von
1848/49 hat dann die Arbeiterverbrüderung von Stephan Born mit 15 000 Mitgliedern eine
beachtliche Resonanz erreicht, weit größer jedenfalls als der von Marx und Engels geführte
Bund der Kommunisten. Anschließend machte der Reaktionskurs der deutschen Regierungen
all diesen politischen und gewerkschaftlichen Ansätzen wieder ein Ende. Gerade gegenüber
den Arbeiterorganisationen fuhren die Regierungen aus Furcht vor der sozialen Revolution
einen besonders scharfen Kurs. Dennoch gab es organisatorische, personelle und auch
programmatische Kontinuitäten zwischen 1848 und dem Neuanfang der sechziger Jahre. Mit
der Neuen Ära entstand auch für die Arbeiterbewegung wieder ein neuer Freiraum. In
Preußen kam es um 1860 verstärkt zur Gründung von Arbeiterbildungsvereinen, die zunächst
noch von Bürgerlichen initiiert und gefördert wurden, um die Arbeiter in der gemeinsamen
Opposition gegen das obrigkeitsstaatliche System zu halten. Die Angebote der Liberalen
waren für viele Arbeiter zu diesem Zeitpunkt durchaus noch attraktiv. Das Genossenschaftskonzept Schulze-Delitzschs fand auch bei vielen Arbeitern Anklang. Die Liberalen
schlugen den Arbeitern vor, sich durch Fleiß, Sparsamkeit, Bildung und gemeinsame
Anstrengungen aus der unbefriedigenden sozialen Situation herauszuarbeiten und auf diese
Weise allmählich zum Bürgertum aufzuschließen. Nach Ansicht der Liberalen war es auch für
9
die Arbeiter am besten, wenn sie mit dem Bürgertum für eine freie Wirtschaft, für Freizügigkeit, Gewerbefreiheit und Freihandel eintraten und sich für die freie Selbstorganisation der
Arbeitsbeziehungen einsetzten. Dafür wollten die Liberalen dafür eintreten, dass der Staat alle
Verbotsmaßnahmen gegen eine Selbstorganisation der Arbeiterschaft aufhob. Der
freiheitliche Nationalstaat, so suggerierten die Liberalen, sei auch für die Arbeiter der
Lösungsweg all ihrer Probleme, deshalb sollten sie nicht als Sonderorganisation, sondern
gemeinsam mit dem Bürgertum für diesen freiheitlichen Nationalstaat streiten. Das liberale
Konzept war von Anfang an mit drei schweren Problemen belastet. Zum einen war ein
ökonomischer Strukturwandel im Gange, der auf immer mehr Großbetriebe hinauslief und
dem Genossenschaftsmodell entgegenlief. Zum zweiten wuchs bei vielen Arbeitern der
Eindruck, dass ihre liberalen Mentoren für viele Fragen der Arbeiterexistenz doch nicht das
richtige Gespür besaßen - vor allem bei den Löhnen. Drittens hatten immer mehr Arbeiter das
Gefühl, dass die Liberalen die Arbeiter auf Dauer in einer Art Juniorpartnerschaft halten
wollten.
Hier lag der Grund dafür, dass sich im Mai 1863 ein Teil der deutschen Arbeiterbewegung
unter Führung Lassalles mit dem "Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" (ADAV) in
Leipzig selbständig machte. Lassalle vertrat die Auffassung, dass das Bürgertum in
Deutschland keine revolutionäre Kraft mehr darstelle und die Emanzipation der Menschheit
nun von der Arbeiterklasse vorangetrieben werden müsse. Wie Marx, von dem er sich sowohl
in der Theorie als vor allem auch in der politischen Praxis unterschied, ging Lassalle davon
aus, dass die Arbeiter nur durch grundlegende Veränderungen des Wirtschaftssystems ihre
Lage verbessern konnten. Lassalle befürwortete wie der Liberale Schulze-Delitzsch
Produktionsgenossenschaften der Arbeiter, die aber – anders als die auf Selbsthilfe setzenden
Liberalen es vorhatten - direkte Hilfe des Staates erhalten sollten. Durch das allgemeine
Wahlrecht und eine eigene politische Organisation sollten die Arbeiter auf die Politik des
Staats Einfluss nehmen. Deshalb musste eine konsequente Trennung von der Partnerschaft
mit den Liberalen erfolgen, auch wenn man in bezug auf den Nationalstaat noch ein großes
gemeinsames Ziel hatte.
Der ADAV blieb zunächst nur eine kleine radikale Abspaltung von der
Arbeitervereinsbewegung, war auf bestimmte Regionen (Leipzig, Teile Sachsens, Frankfurt,
Hamburg, preußische Rheinprovinz) begrenzt und hatte bei Lassalles Tod am 31. August
1864 gerade einmal 4 600 Mitglieder. Der Großteil der Arbeiterbildungsvereine blieb noch
auf der Seite der Liberalen. Die meisten Arbeiter hielten wie im Übrigen auch Marx und
Engels die Trennung von Arbeiter- und bürgerlicher Bewegung zu diesem Zeitpunkt für
falsch. Sie meinten, das Bürgertum müsse solange gegen die Reaktion unterstützt werden, bis
es seine eigenen Ziele - den Verfassungs- und Nationalstaat - durchgesetzt und die Macht erobert habe. Deshalb wurde auch Lassalles Kokettieren mit Bismarck attackiert. Als Reaktion
auf den ADAV bildete sich im Juni 1863 in Frankfurt der "Vereinstag Deutscher
Arbeitervereine" der VDAV, der zunächst noch im Fahrwasser liberal-demokratischer Politik
segelte und bei dem Bebel und Wilhelm Liebknecht bald die wichtigsten Persönlichkeiten
waren. Bald traten aber auch hier erste Spannungen mit den bürgerlichen Mentoren auf. Eine
wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang gewerkschaftlich organisierte Streiks, die in
den sechziger Jahren zunahmen und die Arbeiterschaft zunehmend in Frontstellungen zum
bürgerlichen Lager brachten. 1868 stimmte die Mehrheit des VDAV dem Programm der 1864
gegründeten 1. Internationale zu, das die Handschrift von Karl Marx trug. 1869 kam es in
Eisenach zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Lassalleaner und
VDAV unterschieden sich nicht nur durch die Art der Abgrenzung gegenüber dem
Bürgertum, sondern vor allem auch durch die Haltung zur nationalen Frage. Den
Nationalstaat wollten beide. Aber Lassalle verfolgte einen strikt antiösterreichischen,
propreußischen Kurs. Im VDAV lebte dagegen die großdeutsche Tradition der 48er
10
Demokraten weiter, die sich scharf gegen den preußischen Führungsanspruch richtete. Das
wurde vor allem nach 1866 deutlich.
Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie
In Deutschland gab es im Unterschied zu England somit eine vergleichsweise frühe
Trennung von "bürgerlicher und proletarischer Demokratie" (Gustav MAYER). Beide Kräfte
traten schon zu einem Zeitpunkt auseinander, als weder die nationale Einheit noch der mit ihr
angestrebte verfassungspolitische Fortschritt erreicht waren. Diese folgenreiche Trennung
schwächte das Gewicht der emanzipatorischen Kräfte und stärkte die Position Bismarcks. Die
sich in den sechziger Jahren vollziehende Trennung von proletarischer und bürgerlicher
Demokratie wird von der marxistisch geprägten Geschichtsschreibung als gleichsam
naturnotwendige Folge der kapitalistischen Industrialisierung interpretiert. Nichtmarxistische
Historiker betonen zwar auch die mit der Industrialisierung wachsenden Konflikte zwischen
Bürgertum und Arbeitern, sehen aber hier nicht den alleinigen Grund für die Spaltung. Sie
verweisen vor allem auch auf das zeitliche Zusammenfallen der Auseinandersetzungen um
Einheit und Freiheit mit einer sich rapide beschleunigenden Industrialisierung und der damit
verbundenen neuen sozialen Frage. Diese Fülle von Aufgaben überforderte das politische
Bürgertum und schwächte seine Integrationskraft gegenüber dem unteren Rand der
Gesellschaft. Zudem förderten die repressiven Bedingungen, die das politische System in
Deutschland im Unterschied zu England kennzeichneten, und die damit einhergehende
Ausgrenzung der unteren Schichten die Isolation dieses Sozialmilieus und damit unter den
Arbeitern die Bestrebungen parteipolitischer Verselbständigung. Noch ausschlaggebender für
die Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie dürften jedoch die
organisatorischen Strukturen der bürgerlichen Einheits- und Freiheitsbewegung gewesen sein.
Diese nahm sich der Arbeiterinteressen durchaus an. Aber ihr ging es um die Mobilisierung
der öffentlichen Meinung, sie verstand sich nicht als Massenorganisation, blieb letztlich
Honoratiorenpolitik und verlangte die politische Unterordnung der Arbeiterbewegung. Dies
und die Schwäche der radikaldemokratischen Kräfte förderten die politischen
Verselbständigungstendenzen auf der Seite der Arbeiter.
11
Herunterladen