431897.Magisterarbeit_

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1. Einleitung
Die Idee zu dieser Arbeit kam durch die Lektüre von Jean Pauls „Siebenkäs“, der zu den
Doppelgängerdichtungen gezählt werden kann. Mit Lust auf mehr, stürzte ich mich auf
weitere Beispiele dieser Lektüreart und fand heraus, dass es doch erhebliche Unterschiede
zwischen den Autoren und der Gestaltung (Realisation) und Verwendung des Motivs gibt.
Vor
allem
in
der
Romantik
findet
sich
eine
Fülle
von
Doppelgänger–
und
Automatendichtungen; die Letzteren machen ebenfalls einen Teil der Arbeit aus.
Aus diesem Interesse heraus ergab sich für mich das Thema dieser Magisterarbeit: Das
Phänomen des Doppelgängers und des künstlichen Menschen in der romantischen Literatur.
„Doppeltgänger* *So heißen Leute, die sich selber sehen.“1 Diese Definition Jean Pauls, die
seinen eigens erfundenen Begriff für ein schon lange bekanntes Phänomen beschreibt,
besticht durch ihre Einfachheit. Sich selber sehen, sich in etwas oder jemandem erkennen,
mehr ist nicht nötig, um einen Doppelgänger ins Leben zu rufen. Etliche der Romangeschöpfe
Jean Pauls zeugen davon, dass er einer der führenden Köpfe bezüglich des
Doppelgängermotivs war. An deren Beispiel wird ersichtlich, dass oft nur der Schein
ausreicht, um einen Doppelgänger entstehen zu lassen. Manchmal genügt es, nur ganz
einfache äußerliche Merkmale zu kopieren, um für eine andere Person gehalten zu werden.
Die Grenzen für eine eindeutige Bestimmung – also wann jemand zu einem Doppelgänger
von jemand anderem wird (oder umgekehrt) – bleiben letztlich subjektiv bestimmt und
unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. Das ist wohl auch der Grund, weshalb
komplizierte Definitionen immer unstimmig und ergänzungswürdig erscheinen. Die
einfachere Erklärung bleibt deshalb wohl die bessere.
Die zahlreichen Möglichkeiten, die das Motiv literarisch eröffnet, sind sicherlich ein Grund
für die so vielfältige und heterogene Realisation des Motivs. Das gilt vor allem für die
Schriftsteller der Romantik, aber auch für die anderer Epochen. Dabei ist es egal, ob der
Doppelgänger als reale, lebende Person, als Schatten, als Spiegelbild, als Porträt oder als
Golem realisiert wird. Wichtig ist nur die Tatsache, dass man sich selbst in ihm erkennt bzw.
dass andere den Doppelgänger nicht vom Original unterscheiden können. Aus diesem Grunde
halte ich es für richtig, Spiegelbilder, Schatten oder Wachsbüsten zu den Doppelgängern zu
zählen, da man sich, oder einen Teil des Ichs, in ihnen wiedererkennt.
Wie unterschiedlich die Gestaltung und die Funktion des Doppelgängers in der romantischen
Literatur sein können, soll diese Arbeit anhand weniger ausgewählter Beispiele zeigen. Die
1
Zitat und Definition aus: Jean Paul: Siebenkäs, Reclam, Stuttgart, 1994, S. 67.
1
Arbeit soll nur als begrenzte Forschungsleistung angesehen werden, da sie keinesfalls das
gesamte Arsenal der Doppelgängerdichtungen bearbeiten und abdecken kann. Weil gerade die
literarisch produktive Romantik für ihren häufigen Gebrauch des Motivs bekannt ist, wäre das
auch unmöglich. Vielmehr soll an den Beispieltexten das Motiv in seiner Form und Funktion
näher untersucht werden, um dadurch die Vielfalt, die dem Motiv innewohnt, zu
verdeutlichen. Zu diesem Zweck ist es vorteilhaft, die Texte an den Stellen miteinander zu
vergleichen, an denen es sich als möglich und sinnvoll erweist. Die Beispiele sind breit
gefächert und können als exemplarisch für eine bestimmte Gestaltungsart des Motivs stehen.
Es werden mehrere Arten des Doppelgängers untersucht, die sich von konkreten, lebenden
Menschen, über nicht mehr so lebendige, bis hin zu abstrakteren Formen erstrecken. Leider ist
es nicht zu erwarten, irgendwelche besonderen Neuigkeiten ans Licht zu befördern, doch
manche Texte sind in der Literaturforschung immer noch Neuland, welches es zu entdecken
gilt.
Die ausgewählten Texte stammen von vier verschiedenen Schriftstellern und zeigen
verschiedene Spielarten des Doppelgängermotivs. Ziel soll es sein, mittels der einzelnen
Untersuchungen und Darstellungen zu beweisen, dass es in der Romantik keine stereotype
Verwendung des Motivs gab, sondern dass der Spielraum, den das Motiv innehat, in alle
Richtungen genutzt wurde. Das heißt, es ist keine eindeutige Verwendungsrichtung
vorherrschend. Eine Stereotypie ist eher im Opus einzelner Autoren festzustellen, wobei aber
nur einzelne Aspekte des Phänomens solch stereotype Züge aufweisen.
Die Arten und Funktionen der Doppelgänger sind sehr verschieden. Vom komischen
Verwechslungsmotiv über gemeine Usurpatoren bis hin zum Auslöser psychischer Störungen
und Krankheiten ist so ziemlich alles vertreten. Wie bereits erwähnt, beschränken sich die
Dichter nicht nur auf lebende, fleischliche Doppelgänger; das Motiv kann beliebig mit einem
anderen sehr beliebten Motiv der Romantik kombiniert werden: mit dem des künstlichen
Menschen. Hier geht die Bandbreite vom Golem, über den Alraun, bis zum Automaten. Eine
weitere Ausnahme sind die abstrakteren Doppelgänger, wie der Schatten, den wir uns noch
näher ansehen werden. Überall Doppelgänger, so die Feststellung. Wie sich diese offenbaren
und was für ein Ziel sie verfolgen, zeigt sich am einzelnen Beispiel.
Die Texte werden nur auf das Doppelgängermotiv, und auf das Motiv des künstlichen
Menschen näher und eingehender untersucht. Selbstverständlich wird stellenweise etwas
weiter ausgeholt werden, doch eine vollständige Interpretation der Texte ist nicht vorgesehen.
Zwangsläufig bildet sich dadurch eine einseitige Perspektive, die viele interessante Details der
Werke außer Acht lassen muss. Neben der Funktion sollen auch mögliche Einflüsse und
2
Vorbilder genannt werden. Die Vergleiche unter den Autoren und innerhalb der Romantik
sollen die epochentypische Bearbeitungs- und Verwendungsweise der Motive erhellen.
Die eingesetzten Methoden und Ansätze sind nicht immer gleich und ändern sich z.T. von
Werk zu Werk. Diesen Methodenpuralismus halte ich für vorteilhaft, weil dadurch die
Vorzüge aller Methoden genutzt werden können. Grundsätzlich werden ein funktionaler
sowie ein beschreibender (deskriptiver) Ansatz verwendet, da die Funktion des
Doppelgängers von hoher Wichtigkeit ist.
2. Motivische Vielfalt: Der Doppelgänger als künstlicher Mensch
Der erste Dichter, an dessen Werk wir uns mit dem Doppelgängermotiv eingehender befassen
wollen, ist Achim von Arnim. Die folgenden Beispiele offenbaren einen durchwegs
ernsthaften Gebrauch des Motivs. Der Doppelgänger dient als Ersatz des Originals, ihm wird
aber keine dauerhafte Ersatzrolle zugestanden. Arnim hat sehr weit gedacht und dabei einen
neuen Typ des Doppelgängers geschaffen. Er ist in jedem Falle außergewöhnlich, jedoch
nicht abstrakt, wie Chamissos Schatten-Doppelgänger.
Arnim speist seine Ausführung aus verschiedenen literarischen Quellen, vor allem aus seinem
literarischen Umfeld. Bei ihm wird immer eine übernatürliche bzw. exoterische Macht
benötigt, um den Doppelgänger zu schaffen. Keine geborenen Menschen werden zu
Doppelgängern, es sind stets künstliche Wesen. Hier besteht ein Unterschied zu Hoffmann,
der fast durchgängig lebende, bereits existierende Menschen verwendet, um die
Doppelgängerei zu realisieren. Eigenartig ist, dass der Doppelgänger durch seine
Anwesenheit keine gravierende Ich–Problematik auslöst. Er nimmt keinen psychischen
Einfluss auf das Original. Das deutet auf eine gewisse Erhabenheit der Individuen. Es könnte
aber auch daran liegen, dass seine Heldinnen an eine positive, prophetische Mission gebunden
sind, was ihr Scheitern nicht erlaubt. So z.B. bei Isabella, die ein ganzes Volk retten und
vereinen soll. Sie kann und darf nicht scheitern, denn es wäre nicht in Einklang mit der
Prophezeiung, auf die Arnim sehr viel Wert gelegt hat. Ähnlich verhält es sich auch bei
Hoffmann in diesem Punkte. Bei ihm sind die Helden, die an eine Mission gebunden sind,
ebenfalls erfolgreich, doch ihr Leben bleibt trotzdem nicht dauerhaft verschont. Die Ich–
Problematik hat bei Arnim mehr mit der Liebe zu tun, als mit dem Doppelgänger. Wie sich
das Motiv bei Arnim vorstellt, soll im Folgenden genauer analysiert werden.
3
2.1 Achim von Arnim: „Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften
erste Jugendliebe“2
2.1.1 Allgemeines zu Dichter und Werk
Die Erzählung entstand im Jahre 1811, Arnims Hochzeitsjahr, in dem er Bettine Brentano
heiratete. Die „Isabella“ ist die erste von vier Erzählungen im Erzählband von 1812, der von
einer relativ lockeren Rahmenhandlung3 zusammengehalten wird. Zum Thema der
Doppelgänger und der künstlichen Menschen findet sich hier vielfältiges Material. Arnims
Vorliebe für eine Vermischung aus historischen, realen und phantastischen Stoffen wirkt sich
auch auf das Personal aus. Zusätzlich kommen transzendente, übernatürliche Einflüsse hinzu,
wie beispielsweise die Prophezeiung, die Arnims eigene Erfindung war4. Er versucht in
seinen Novellen, die er selbst nie genauer definiert hat, eine Vermischung von „Welt und
Innenwelt“ zu erreichen5. Dieses Prinzip folgt seiner Ästhetik, die er leider nie als ein
Gesamtwerk produzierte und die „fragmentarisch und aphorismenhaft“6 ist, denn er war nicht
dem Typus der theoretisch orientierten Dichter zugeneigt. In der Tat bildeten Brentano,
Eichendorff und er die praktische Fraktion der jungen Romantiker. Diese Vermischung von
Innen und Außen ist im Sinne der Arnimschen Kunstauffassung durchaus programmatisch zu
verstehen.
In der Kunst sah er eine vermittelnde Instanz, ihre Funktion war die einer Mittlerin zwischen
ihm und dem (Lese-) Publikum. Die Kunst und das Kunstwerk waren also Medium. Beim
Kunstwerk unterschied er zwischen der „äußeren Form“ und dem „inneren Wesen“. Die Form
ist einer zeitlichen Konstante untergeordnet und macht meist den historischen Kontext, also
den Rahmen der Geschichte aus. Das innere Wesen ist daher das Überzeitliche, das
Transzendente, welches nach seiner Auffassung in ausgewogenem Maße vorhanden sein
muss, um der Geschichte „Tiefe“ zu verleihen. Das Transzendente ist deshalb so wichtig, weil
er an die Medialität des Auftrags glaubt. „Arnim denkt das gelungene Kunstwerk – wie wir
2
Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: Achim von Arnim: Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des
Fünften erste Jugendliebe, Reclam, Stuttgart, 2002.
3
Die Rahmenhandlung fehlt bei den Einzelausgaben oftmals, weshalb es sich empfiehlt die Gesamtausgabe zu
lesen.
4
Von Werner Vordtriede: Achim von Arnim, in: (Hrsg.) Benno von Wiese: Deutsche Dichter der Romantik,
Schmidt, Berlin, 1983, S. 327.
5
Aus Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle, Steiner, Wiesbaden, 1960, S. 138.
6
Roswitha Burwick: Achim von Arnims Ästhetik. Die Wechselwirkung von Kunst und Wissenschaft, Poesie
und Leben, Dichtung und Malerei, in: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition, Biographie, Interpretation,
mit unbekannten Dokumenten, hrsg. von Roswitha Burwick und Bernd Fischer, Bern u.a. 1990 (=Germanic
Studies in America No. 60), S.102.
4
sahen – als überzeitlichen »Stoff« in zeitlicher »Form«.“7
Der Gehalt bzw. die Tiefe der Geschichte wird durch die unbewusste Inspiration gewonnen,
während die Form nur das Ergebnis einer bewussten Tätigkeit ist, die jeder Dichter besitzen
muss. „Arnim war der Ansicht, dass er das Leben am besten einfangen könne, wenn er seiner
poetischen Phantasie, die er als Ausdruck einer höheren Inspiration ansah, freien Lauf ließe
und ihren Strom nicht durch rationale Erwägungen und Reflexionen störe.“8 Mit dem Begriff
der Inspiration hatte Arnim auf eine Definition aus der Zeit vor Goethe zurückgegriffen, denn
für ihn war es „göttliche Inspiration“, die den transzendenten Gehalt des Werkes sicherte.
Inspiration war also eine konkrete Erscheinung der Bindung des Dichters an eine
transzendente Quelle der Dichtung und Kunst9.
2.1.2 Einflüsse zur Entstehung der Erzählung
1811, im Jahre des Kometen über Deutschland, erwarteten Achim und seine Frau Bettina ihr
erstes gemeinsames Kind. Dieses Ereignis spiegelt sich in der „Isabella“ wieder, als der
Hofmeister Adrian in den Sternen sieht, „daß diese Nacht den wunderbarsten Sohn der Venus
und des Mars gezeugt habe“ (S. 82). Gemeint ist damit Lrak, der Sohn Karls und Isabellas.
Offensichtlich reale Begebenheiten werden leicht verändert verarbeitet, so wie Arnims
Rheinfahrt, die er mit Brentano machte, und die für die Konstruktion des Rahmens diente.
Arnim nahm sehr viele Einflüsse auf und trachtete danach, sie alle für seine Dichtung
auszunutzen. Dies gilt vor allem für literarische Impulse. Die Heterogenität des Stoffs ist in
der „Isabella“ deutlich zu erkennen. Einen wichtigen Teil macht der jüdische Kulturkreis aus,
der, wie sich noch zeigen wird, eher negativ behandelt wird10. Vor allem die Kabbala und ihre
mystisch–magischen Inhalte, die zur Schaffung des Golems beitragen, wurden benutzt. Die
materielle Besessenheit und ihre natürliche Prädisposition zum Geld wurden ebenso von
Arnim thematisiert. Den Gegenpol zur jüdischen Seite bilden die Zigeuner. Dass Arnim sie
mochte, ist aus seinen Angaben anzunehmen:
„Warum zieht es uns in Büchern an, was wir von den ersten Entdekkungsreisen, von den Weltfahrten, von
ziehenden Schauspielern, insonderheit was wir von dem wunderbaren Wandel des Zigeunerreichs lesen, im
Kriege echte Soldaten, im Frieden zutrauliche Ärzte (dessen die gelernten sich jetzt fast alle entwöhnt); ich
erinnere mich noch ihrer nächtlichen Feuer im Walde, wie sie mir aus der Hand wahrsagten: Und sagten sie
mir etwas Gutes, so sage ich wieder Gutes von ihnen.“11
Martin Neuhold: Achim von Arnims Kunsttheorie und sein Roman „Die Kronenwächter“ im Kontext ihrer
Epoche. Niemeyer, Tübingen, 1994, S. 43.
8
Ernst Schürer: Quellen und Fluß der Geschichte: Zur Interpretation von Arnims „Isabella von Ägypten“, in:
Lebendige Form, Festschrift für Heinrich E. K. Henel, Fink, München, 1970, S. 190.
9
M. Neuhold, S. 29.
10
Siehe bei Gonthier-Louis Fink: Pygmalion und das belebte Marmorbild. Wandlungen eines Märchenmotivs
von der Frühaufklärung bis zur Spätromantik, in: Aurora 43, 1983, S. 105.
11
Zitat aus: Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Band 1, hrsg. von Heinz
Rölleke, Reclam, Stuttgart, 1987, S. 393f.
7
5
Aus dem Aberglauben, aus Sagen und Märchen, wurde ebenfalls geschöpft, genauso wie aus
dem christlichen Kulturkreis. Als Quellen für die Zigeunerthematik (so genannte
„Zigeunerromantik“) diente wohl u.a. Heinrich Moritz Gottlieb Grellmanns „Die Zigeuner.
Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses
Volks in Europa, nebst ihrem Ursprunge“12 (1787), denn es finden sich etliche
Übereinstimmungen zur „Isabella“, die Arnim freilich stark abgewandelt hat. Doch auch von
Miguel de Cervantes und aus Martin Crusius „Schwäbischer Chronik“ (1733) gab es
Einflüsse.
Viel Material schöpfte er aus der „Zeitung für Einsiedler“, in der seine Freunde
veröffentlichten. So verwendete er Jacob Grimms Golemsage13, die er noch leicht
modifizierte, um seine Doppelgängerin zu kreieren.
Grimmelshausens „Der erste Bärnhäuter“ (1670) und Brentanos „Geschichte und Ursprung
des ersten Bärnhäuters“ standen für seine Version Patenschaft. Ebenso Grimmelshausens
„Simplicissimi Galgen – Mannlin oder Ausführlicher Bericht, woher man die genannten
Alräungen oder Geld Männlein bekommt“ (1673).
Informationen zum historischen Karl V. hat er wohl aus den Werken Antoine Varillas und
William Robertsons „History of the Reign of the Emperor Charles V.“ (1769), dessen
Ausgabe er tatsächlich besaß14.
Wichtig für das Doppelgängermotiv scheint Brentanos „Frontalbo und die beiden Orbellen“15
zu sein. Auf Jacob Grimms Anreiz hin schrieb Brentano das Stück und ließ es im 11. Heft der
„Zeitung für Einsiedler“ drucken. Schon die Namen klingen ähnlich, vor allem die häufiger
verwendete Kurzform Bella.
Der Text bietet also historische Elemente, die aber mit sehr stark phantastischen Motiven und
Zügen durchflochten sind. Dass die Phantastik einen großen und wesentlichen Teil von
Arnims Texten ausmacht, betont nicht nur Neuhold. In der „Isabella“ vermischen und
durchdringen sich kabbalistische Mystik, Zigeunerromantik, altdeutscher Aberglaube,
Prophezeiungen, Träume und noch viele verschiedene Motive und Ideen zu einem sehr
heterogen Konglomerat.
2.1.3 Das Doppelgängermotiv und seine Realisation
Das Doppelgängermotiv wird bei Arnim ganz frei behandelt und mit einigen anderen Motiven
12
Vgl. Renate Moering: Achim von Arnim, Werke, Band 3, DTV Werkausgabe, im Nachwort S. 1254 und E.
Schürer, S. 193f.
13
Gedruckt im 7. Heft, am 23. April 1808 in der „Zeitung für Einsiedler“, vgl. dazu Neumann, S. 304.
14
Siehe bei R. Moering, S. 1255.
6
kombiniert. In unserem Falle wird der Doppelgänger mit einem künstlichen Geschöpf
verbunden. Damit verknüpft er das Motiv des künstlichen Menschen mit dem
Doppelgängermotiv; beide waren äußerst beliebte Motive der Romantik. Dabei bleibt es aber
nicht, denn Arnim lässt noch das Venusmotiv16 in die Gestalt mit einfließen. Durch ihre Rolle
als Verführerin kann die Golem-Bella in diese Kategorie gezählt werden. Daraus ergibt sich
eine Parallele zu E.T.A. Hoffmanns Olimpia („Sandmann“). Mit dem Doppelgängermotiv
will Arnim aber keine Ich–Problematik im Stile Hoffmanns darstellen, sondern es dient dazu,
die Liebe zwischen Bella und Karl zu ermöglichen, oder sie später zu stören. Obwohl die
Doppelgängerin zunächst nützlich ist, wird sie später zum Störfaktor der Liebe. Von der
Verwechslungsfunktion wechselt sie zu einer zerstörerischen Funktion, bis sie vernichtet
wird. So haben wir drei an sich verschiedene Motive, die auf eine Person projiziert sind.
Künstliche Menschen und künstliche Zeugungen gibt es mehrere in der Erzählung. „In
»Isabella von Ägypten« ist in der Tat eine ganze Reihe von solitären Zeugungen belegt, deren
künstliche menschenähnliche Produkte dazu dienen, eine wunderbare einmalige Zeugung
zwischen zwei Mesalliancepartnern und damit die Weiterexistenz des Zigeuner –
Künstlervolks zu ermöglichen.“17 Der Golem, der Alraun und der Bärenhäuter werden durch
Sprachschöpfung erschaffen.
Wichtig erscheint auch das Liebeskonzept, weil es für die Handlung und ihren Ablauf
verantwortlich ist. Selbstverständlich spielt die Prophezeiung auch noch eine bedeutende
Rolle. Moralische Punkte werden ebenso angesprochen, vor allem das Thema Geld und
Umgang mit selbigem wird angerissen. Parallelen zu Chamissos „Schlemihl“ und zu
Brentanos
„Wehmüllern“
werden
dadurch
sichtbar,
die
auch
eine
sozial-
und
gesellschaftskritische Note aufweisen und vom Umgang mit Geld handeln.
Ein ganz deutlicher Unterschied zwischen Arnim und Hoffmann besteht in ihrer
unterschiedlichen Erzählweise, sowie in ihren Quellen und Einflüssen. Bei Arnim werden die
Personen wenig oder gar nicht psychologisch profiliert. Ganz anders dagegen Hoffmann. In
der „Isabella“ kommt es so gut wie nie zu einer ernsthaften Ich–Problematik, zumindest nicht
für Bella18. Sie durchlebt zwar Probleme, zeigt aber keine psychische Störung, wie das bei
Vgl. bei Peter Horst Neumann: Legende, Sage und Geschichte in Achim von Arnims „Isabella von Ägypten“,
in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 1968, S. 304.
16
Vgl. G.L. Fink, S. 103.
17
Volker Hoffmann: Künstliche Zeugung und Zeugung von Kunst im Erzählwerk Achim von Arnims, in:
Aurora 46, 1986, S. 161.
18
Die einzige Stelle, bei der sie wirklich richtig erschüttert gewesen zu sein scheint, ist nach der Liebesnacht, als
sie von Karl verstoßen wurde und alleine durch die Gegend zieht. Die Verhältnisse werden aber relativ zügig
geklärt und es gibt kein tragisches Ende, was auch direkt gegen die Prophezeiung sprechen würde. Es ist
anzumerken, dass der Doppelgänger bei ihr keine Identitätskrise auslöst. Hier ist die Liebe ein
schwerwiegenderer Faktor.
15
7
Hoffmanns Doppelgängern sehr oft der Fall ist. Man erfährt reichlich wenig vom Innenleben,
was zum Teil an der auktorialen Erzählform liegt. Deshalb wird die Untersuchung auf die
Doppelgänger und den Aalraun beschränkt. Die persönliche Entwicklung Bellas, muss außer
Acht gelassen werden, weil sie in unserem Rahmen nichts wirklich Wichtiges zur Ich–
Problematik beiträgt. Daran erkennt man die grudsätzlichen Unterschiede zwischen Arnim,
Hoffmann und Chamisso. Obwohl Isabella wie Medardus letztlich die Prophezeiung, die über
ihnen liegt, erfüllen, sind ihre psychischen Gemütszustände völlig verschieden. Isabellas
Doppelgängerin wirkt nur auf ihre Liebesbeziehung negativ. Ihre Psyche bleibt unberührt und
unbeschrieben.
2.1.4 Künstliche Zeugungen
Einen großen Stellenwert für die Romantik hatten Wort, Schrift und Sprache. Arnim bildet
hierin keine Ausnahme. Die geläufige Vorstellung von Weltschöpfung als Sprachschöpfung19
wird auch in dieser Erzählung durchgesetzt. Die auffälligste unter diesen Schöpfungen ist der
Golem. Er wird mittels kabbalistischer Mystik durch das Wort, nämlich das „Aemeth“, auf
seiner Stirn, und durch die Belebungsformel, das „Schemhamphoras“ (S. 73), zum Leben
erweckt. Also durch Schrift und Sprache. Dabei vermischen sich Oralität und Literarität.
Diese Zeugungen sind „außergenital“20 und erfolgen in dem Falle des Golems auch noch
zusätzlich durch einen Blick, den die echte Bella in den Spiegel wirft, um aus einem Golem
ihren Doppelgänger zu machen.
Das zweite Geschöpf in dieser Reihe ist der Alraun. Der Alraun, der aus dem
althochdeutschen „rune“21 hervorgeht, was gleichzeitig „alte Schrift“ bedeutet, wird
tatsächlich aus den alten Schriften von Isabellas Vater entnommen. Erst als Isabella die
„Zauberbücher“ (S. 21, 43) und Schriften ihres Vaters liest, stößt sie auf den Alraun und das
Geheimnis seiner Gewinnung. Damit ist das Buch, und dessen Inhalt, die Schrift, als Initiator
der Schaffung zu sehen. Ohne das Buch kein Alraun. Doch kommen wir nun erst einmal zum
inhaltlich wichtigeren Doppelgängermotiv, welches im Zentrum dieser Arbeit steht.
2.1.5 Bella und Golem-Bella: Das Doppelgängermotiv kombiniert mit anderen
Motiven
Was uns bei diesem Doppelgängerpaar auffällt, ist die Tatsache, dass ein künstlich
geschaffener Mensch zum Doppelgänger eines echten Menschen wird. Außer bei Arnim, der
19
Von Detlef Kremer: Romantik, J.B. Metzler, Stuttgart, 2001, S. 170.
V. Hoffmann, S. 162.
21
Vgl. D. Kremer, S. 170.
20
8
ähnliches auch in der „Melück“ macht, kommt das bei keinem anderen Autor in dieser
Untersuchung vor. Künstliche Menschen bleiben in der Regel individualisiert, sie können
zwar, wie im „Sandmann“, den Menschen täuschen und sich als Menschen ausgeben, doch sie
versuchen niemals, eine konkrete, lebende Person zu ersetzen, sprich zu jemandes
Doppelgänger zu werden. Diese Schwierigkeit liegt in der Realisation der Sprachgabe und
Gedanken, was Arnim erkannte und durch phantastische Utensilien zu überbrücken suchte.
Wenn man so will, ging Arnim, dessen Erzählungen die ältesten innerhalb der Untersuchung
sind, am weitesten, denn dem künstlichen Menschen werden die Macht der Täuschung und
die Ersatzfähigkeit zugesprochen. Ja, sogar der vollständige Ersatz einer lebenden Person ist
möglich und denkbar. Aber trotz allem will sich bei Arnim nie ein rechter Schrecken
einstellen. In dieser Hinsicht ist Hoffmann ihm überlegen, allerdings glaube ich nicht, dass es
Arnims Anliegen war, das Motiv in der Art einzusetzen, wie Hoffmann es später tat. Dafür
sind ihre dichterischen Ziele und Praktiken zu verschieden.
Ein wichtiger Unterschied zu Hoffmann ist der psychologische Gehalt der Erzählung, der bei
Arnim sehr gering ist. Der Doppelgänger, der eigentlich nur als Ablenkung gedacht war,
stiftet Verwirrung, mehr aber auch nicht. Selbst als Bella ihrer Doppelgängerin
gegenübersteht, kommt es zu keinerlei bedeutendem psychischen Kollaps. Der Golem wird
mit negativen Attributen behaftet, was ganz klar an der antisemitischen Tendenz Arnims lag.
Er wird zur bösen Schwester Bellas, die nur „Hochmut, Wollust und Geiz“ (S. 75) kennt.
Damit werden diese schlechten Eigenschaften direkt mit den Juden verknüpft. Diese
Thematik hat einen großen Raum im Werk bekommen, und die Entscheidung für das Geld
oder für die Liebe ist ein zentraler Punkt.
In der vorliegenden Erzählung finden wir durch eine geschickte und durchdachte Weise die
Golemsage, die mit dem Doppelgängermotiv kombiniert wurde, in einem weiterentwickelten
Zustand. Um diese Kreuzung der Motive im textinternen Kontext aufrechterhalten zu können,
bedarf es eines bestimmten Wissens, welches die Golem-Bella von der echten Bella mittels
eines „Zauberspiegels“22 erhält. Dieses Wissen ist notwendig, weil sie als Ersatz der echten
Bella zwangsläufig in die Situation kommt, in der sie sprechen und ein vorausgesetztes
Wissen zeigen muss. Sie soll schließlich den Alraun täuschen und beschäftigen. Dieses
Wissen, oder eine einfache Art des Bewusstseins, wird ihr mit Hilfe des Rabbis von der
echten Bella transferiert. Sie entsteht durch Magie und „Blickzeugung“23.
„Als er das gesprochen, hatte der alte Jude sein Werk beendigt, er hauchte die Bildsäule an, schrieb das
Wort auf ihre Stirn, das sich unter Haarlocken versteckte, und eine zweite Bella stand vor beiden, die alles
22
Hier wird die Vorliebe der Romantiker für optische Hilfsmittel deutlich. Bei Hoffmann und Chamisso sind es
Fernrohre oder ebenfalls Spiegel, die eine magische Wirkung haben können.
23
V. Hoffmann, S. 162.
9
durch jenen Spiegel wußte, was Bella bis dahin erfahren, die aber nichts Eignes wollte, als was in des
jüdischen Schöpfers Gedanken gelegen, nämlich Hochmut, Wollust und Geiz, drei plumpe Verkörperungen
geistiger, herrlicher Richtungen, wie alle Laster; daß diese hier ohne die geistige Richtung in ihr sich
zeigten, das unterschied sie selbst vom Juden, überhaupt aber von allen Menschen, die sie übrigens so
wunderbar täuschen konnte, wie jenes alte Bild von Früchten alle Vögel, daß sie an die Leinwand flogen und
davon zu naschen suchten.“ (S. 75/76)
Die Konsequenz ist schließlich eine Verknüpfung dreier Motive, die unter dem Aspekt der
Verdopplung alle in einer Reihe stehen. Der Doppelgänger, der Spiegel und der Golem stehen
für eine Verdopplung, bzw. Potenzierung einer ursprünglichen Person. Dadurch ist eine
Konzentrierung dieser Motivik im Text spürbar. Doch Arnim begnügt sich nicht damit,
sondern er geht noch weiter mit seinen Spiegelungen und Multiplikationen. Dabei zeigt der
Text wahrlich Interessantes.
Der Golem und die Golemgeschichte, waren Arnim bestens vertraut. Nicht nur, dass die
Grimms es literarisch verwerteten, sondern auch sein „Herzbruder“ Brentano, mit dem er
zuvor schon an „Des Knaben Wunderhorn“ arbeitete, hat die Golemgeschichte gekannt und in
kurzer Form unter dem Titel „Erklärung der sogenannten Golem in der Rabbinischen
Kabbala“24 herausgegeben. Eines ist deshalb ganz besonders auffällig, nämlich die Tatsache,
dass der Golem in allen literarischen Vorlagen zusehends wächst. Selbst Arnim bringt diese
Warnung in der Erzählung, doch bei der Golem-Bella fehlt diese Eigenschaft. Es wird nicht
einmal erwähnt, dass sie wachsen würde. Damit blendet Arnim diese Eigenschaft funktional
aus, denn eine wachsende Golem-Bella wäre schnell enttarnt und könnte ihre
Verwechslungsfunktion nicht erfüllen25. Es ist kaum vorstellbar das Arnim dieses Attribut aus
Unachtsamkeit oder Zufall weggelassen hat. Wenn H.M. Kastinger Riley von einem
„Kontaminationsstil“ bei Brentano spricht, können wir das in diesem Falle auch Arnim
zusprechen, wenn es heißt: „die Kontamination ist daher die romantische Umwandlung einer
fremden Idee und deren Ausweitung durch eine neue Perspektive und neue Facette“26.
Dass Arnim ein wirklich guter Erzähler und geschickter Dichter war, ist bekannt. So ist auch
in seinen Texten eine gewisse Zeichenhaftigkeit vorhanden. Bei der Spiegelung als Motiv hat
Arnim ganze Arbeit geleistet. Die erste Spiegelung (also Verdopplung) kommt ganz am
Anfang, als die beiden verfolgten Völker dieser Welt angesprochen werden, nämlich die
Juden und die Zigeuner. Zwei Völker, ein Dualismus, der sich in einigen Spiegelungen zeigen
wird. Schauen wir auf die wichtigste Spiegelung der Erzählung, die Doppelgängerin GolemBella. Sie wird von einem Rabbi geschaffen, der als Jude schon zu einen der beiden
24
Nachzulesen in: Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und
liebende Statuen, hrsg. von Klaus Völker, Hanser, München, 1971, S. 8f.
25
Im Sinne einer logischen Motivierung, hatte Arnim besonders auf eine streng kausale Folgerung Wert gelegt.
Deshalb ist es nachvollziehbar, weshalb er einige unpassende Eigenschaften weglässt und andere wie die
Sprachgabe hinzufügt.
10
genannten Völker zählt. Die Golem-Bella entsteht aus der Intention heraus, eine Täuschung
des Alrauns zu bewirken. Somit ist ihre Aufgabe von vornherein geklärt. Wie sich später
herausstellt, verhält es sich nicht ganz so einfach, und ihre Rolle wird eine ambivalente, da sie
auch Karl verführt. Ihre ursprüngliche Aufgabe erfüllt sie zwar und tut damit anfangs Gutes,
doch später verkehrt sich ihre Rolle; und anstatt des Alrauns verführt sie den Prinzen. Diese
Umkehrung ihrer Wirkung zeigt die Unkontrollierbarkeit eines künstlichen Geschöpfs, vor
allem eines Golems27. Diese Eigenschaft ist in Arnims Erzählung auch anderen Geschöpfen
eigen, so auch dem Alraun.
Ihre Ersatzrolle spielt die Golem-Bella ganz gut, niemandem – außer dem Bärenhäuter28 –
fällt die Usurpation auf. Die restlichen Golemeigenschaften weist sie nur z.T. auf. Interessant
erscheint ihre Abscheu gegen ihr Original (Bella). Bei der ersten Begegnung kann sie das
Original schon nicht leiden und ist dafür verantwortlich, dass Bella verjagt wird. Als sie sich
zum zweiten Mal begegnen, versucht Golem-Bella sogar, die echte Bella zu verletzen. Sie
reagiert ausgesprochen schlecht, feindselig und aggressiv auf ihre Gegenwart.
„Muß ich dich wiedersehen, du Vorgeschaffene Gottes, muß ich an dir schaudern, daß ich nicht lebe?“
schrie Golem und stach mit einer pfeilförmigen, goldnen Haarnadel nach ihr. Der Erzherzog aber, dem alles
im Augenblicke schrecklich klar wurde, was er sich bisher abgestritten hatte, hielt Golem Bella bei den
Haaren zurück, deren Flechten niederfielen; er sah die Schrift auf der Höhe der Stirn, das Aemeth, löschte
die erste Silbe rasch aus, und im Augenblicke stürzte sie in Erde zusammen.“ (S. 108/109)
Dieses Verhalten könnte man als eine Form der Gewalt gegen den Konkurrenten sehen. In
diesem Falle gegen die Konkurrentin. Identisch mit den Vorlagen bleibt ihre unvermeidbare
Vernichtung, wie bei allen Golemsagen. Die Vernichtung erweist sich als relativ
unproblematisch, was durch den ausbleibenden Wuchs unterstützt wird.
Neben den aussparenden Veränderungen erweisen sich die Erweiterungen als sehr interessant.
Der Golem, der üblicherweise nicht viel spricht und der eher Satzfragmente als richtige Sätze
formulieren kann, erhält bei Arnim eine voll ausgebildete Sprachgabe. Sie spricht ganz
normal und hat auch ein eingeschränkt funktionierendes Gedächtnis. Dieses hat sie aber nur,
weil es ihr mittels eines „Kunstspiegels“ verliehen wurde: „Der Jude verlangte, sie [Bella,
Z.M.] nur einmal in seinen Kunstspiegel einsehen zu lassen, so bleibe ihr Bild darin
festgemalt.“ (S. 74) Dieses wird dann dem Golem eingepflanzt, wodurch er, in diesem Falle
sie, eine Identität bekommt und zum Doppelgänger eines lebenden Menschen avanciert. Der
Spiegel kann hier als romantisches Spezial gelten, der innerste Gedanken registrieren und
26
Von Helene M. Kastinger Riley: Clemens Brentano, Metzler, Stuttgart, 1985, S. 21.
Es bestehen wesentliche Unterschiede zwischen künstlichen Geschöpfen. So gilt der Golem als äußerst
gefährlich, was öfters erwähnt wird, da er im Unterschied zu einem Automaten z.B. nicht so leicht kontrollierbar
ist. Er besitzt in der Tat ein Eigenleben, was auch sein Wuchs (im Normalfall) beweist.
27
11
festzuhalten vermag29. Das ist wichtig, weil es wohl das erste Mal ist, dass ein Golem
gleichzeitig zu einem realen Doppelgänger wird. Ansonsten hat er zwar die Qualität eines
Ersatzes als Diener oder Ähnliches, doch eine konkrete, lebende Person hatte er erst hier zu
ersetzen.
Es gibt verschiedene Doppelgängerarten; eine davon ist der lebende, reale Doppelgänger, der
uns in Form eines Körpers vorkommt. Der reale, der also im Normalfall aus Fleisch und Blut
besteht, ist in diesem Falle gar nicht so lebendig beschaffen, sondern er besteht aus Lehm.
Gerade in dieser eigenwilligen, bunten und prächtigen Mischung aus allem liegt die Schönheit
und Phantasiekraft von Arnims Werken.
Zurück zur Bella, die Zigeunerin hoher Abstammung ist, und deren Schicksal es laut einem
Gelübde ist, die zerstreuten und vertriebenen Zigeuner als freies Volk nach Ägypten
zurückzuführen. Gleich zu Beginn wird dies erwähnt, da es eine große Rolle spielt: „Halt´
doch fest, daß du die Unsern, wenn unser Gelübde vollbracht, zurückführen sollst; [...]“ (S.
4). Ein weiterer Bestandteil der Prophezeiung ist die Geburt eines gemeinsamen Kindes von
Bella und Karl. Das Kind wird später die Aufgabe Bellas übernehmen und das Zigeunervolk
führen:
„Du sollst ihn haben, du mußt ihn haben, denn sieh, liebes Kind, das ist schon lange mein versteckter Plan
mit dir, den auch die Oberhäupter unsres Volkes billigen. Du mußt von diesem künftigen Erben der halben
Welt ein Kind bekommen, das durch die Liebe seines mächtigen Vaters den zerstreuten Überbleib deines
Volkes in Europa sammelt und in die heiligen Wohnplätze unseres Ägypterlandes zurückführt.“ (S. 55)
2.1.6 Spiegelungen / Verdopplungen
Über mehrere Umwege erfüllt sie schließlich ihr Gelübde und tut damit sehr viel Gutes für ihr
Volk. Deshalb kann sie am Ende der Erzählung auch einen versöhnlichen Tod sterben, indem
sie zu einer Art Apotheose gelangt. Sie stirbt übrigens am selben Tage (dem 20. August 1558)
wie Karl. Karl legt sich lebendig in den Sarg, und Isabella lässt noch während sie lebt ein
Totengericht über sich halten. So findet eine indirekte Zusammenführung im Tode statt. Auf
diese Weise erreicht Arnim wieder eine Spiegelung, denn beide sterben gleichzeitig.
Eine noch eindeutigere Konstellation von Spiegelungen hat Arnim durch die beiden Völker
erreicht. Wie schon angedeutet, stehen die Juden und die Zigeuner von Beginn der Erzählung
an in einer Art Spiegelung. Diese wird konsequent durchgesetzt und manifestiert sich auch
wieder im Doppelgängerpaar. Bella, eine Zigeunerin, die für ihr Volk steht, wird eine jüdische
Doppelgängerin gegenübergestellt, weil die falsche Bella eigentlich ein Golem ist, der von
einem polnischen Rabbi geschaffen wurde. Diese Erschaffung gründete sich auf
„Es begegnete ihr aber in der Nähe des Kirchhofes der arme Bärnhäuter, [...] er habe es gleich bemerkt, daß sie
von einer falschen, nachgebildeten Figur verdrängt sei, aber aus Furcht, seinen Dienst zu verlieren, habe er
nichts zu sagen gewagt.“ (S. 100)
28
12
kabbalistischer Kunst. Dies kann keinesfalls Zufall sein. Arnim spielt bewusst die beiden
Völker gegeneinander aus. Dadurch erreicht er eine doppelte Spiegelung: die erste ist
allgemein gehalten, wird am Anfang geschildert und betrifft generell die beiden Völker. Die
zweite ist konkreter und besteht im Einzelfall, hier zwischen Isabella und dem Golem, die
beide jeweils als Stellvertreter für ihre Völker stehen.
Solche Zeichen der Verdopplung gibt es noch mehr. Eine ganz auffallende und wohl auch
wichtige ist der Name des gemeinsamen Sohnes von Isabella und Karl. Sein Name ist Lrak
und ist somit eine Art Anagramm von Karl, hier sogar eine direkte Spiegelung. Diese
Tatsache trägt auch zeichenhafte Züge und steht für die Verbindung des Vaters zum Sohn.
Der Sohn ist etwas ganz besonderes, denn wie Adrian prophezeit, wird Bella ihn in einer
Nacht empfangen, die Positives verheißt: „[...] diese Nacht den wunderbarsten Sohn der
Venus und des Mars gezeugt habe.“ (S. 82) Die Frucht dieser Nacht ist Lrak und er soll die
befreiten Zigeuner als ihr Anführer durch ihre zukünftige Freiheit in Ägypten führen.
Demnach ist er auch ein Anführer. So wie Karl der Anführer von seinem Volke ist, so soll
auch sein Sohn einmal ein Volk regieren.
Weitere Verdopplungen hat Arnim beim Personal vorgenommen. Hier ist ebenso eine
Potenzierung zu beobachten. Angefangen bei den zwei Helferfiguren, Braka und Cenrio, die
als Berater und Ideengeber tätig sind und jeweils auf der ihrigen Seite tätig sind.
Auch Karl wurde mehrfach potenziert; nicht nur in Form des Sohnes, sondern im Text ist
auch die Rede von einer Puppe Bellas30, in der sie ihren Geliebten erkannte. Daneben wird er
nochmal durch eine ausgestopfte Puppe ersetzt, um sich vor Adrian zu schützen, und in
diesem Augenblick mit der falschen Bella sein vergnügen zu haben. Ganz am Ende der
Erzählung ist es der fahrende Schüler, der in Konkurrenz zu Karl tritt. Selbst die Verführer in
Frau Nietkens Haus sind zu zweit, denn „Alles Doppelte entzückt Arnim“31.
2.1.7 Künstliche Menschen als Sprachschöpfungen
Ein ganz wichtiger Teil der Erzählung ist der Alraun. Er entsteht aus dem Medium der Schrift
bzw. der Sprache. Schon im Mittelalter war der Alraun bekannt32. Arnim sah in Herzog
Ferdinands Wunderkammer 1802 einen Alraun. An Einflüssen fehlt es also nicht unbedingt.
Auch bei dieser Figur hat er einige Änderungen eingeführt, die ihm unerläßlich schienen. Er
29
D. Kremer, S. 170.
„Bella durchlief noch einmal das Zauberbuch, ihr Herz schlug heftig, als es langsam eilf schlug, der schwarze
Hund schleppte ihre Puppe, in der sie ihren Prinzen sah und verehrte, herbei, zerrte und biß darin: das brachte sie
zum Entschluß; diesen Schimpf, den er ihrem Liebling angetan, mußte er büßen;...“ (S. 21)
31
Werner Vordtriede: Nachwort zur „Isabella von Ägypten“, Reclam, Stuttgart, 2002, S. 139.
32
Hanns Bächtold – Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, de Gruyter, Berlin, 1987, Bd.1, unter
dem Stichwort „Alraun“, S. 312f.
30
13
schwächt die Herkunft des Alrauns ab, indem er ihn nicht aus dem männlichen Samen eines
Gehängten entstehen lässt, sondern aus deren Tränen. „[...] und trotz allem Geschrei dieser
Wurzel, die keineswegs natürlicher Art, sondern ein Kind der unschuldigen Tränen des
Erhenkten ist [...]“ (S. 18) Die Transformation hat eine Verharmlosung zur Folge und
dadurch vermeidet er von vornherein jede Art einer sexuellen Konnotation mit Bella.
Am Alraun bestehen auch, wie im gesamten Text, Verdopplungen. Bei ihm sind es die
Augen, denn anstatt eines Augenpaares besitzt der Alraun dank Isabellas Übereifer jetzt zwei
Augenpaare. Das zweite Augenpaar sitzt im Nacken und mit ihnen hat es etwas ganz eigenes
auf sich. Nicht nur die Augen im Nacken, welche eine unheimliche, durchdringende Fähigkeit
besitzen, sind besonders, nein, auch der Tag an dem er aus der Erde gezogen wurde, ist
besonders, denn es ist Karls Geburtstag33. Das dies zeichenhaften Charakter besitzt ist
anzunehmen, genau wie der gemeinsame Todestag. Zu den Augen heißt es: „Bella erschrak
wie eine überwiesene Sünderin, diese Allwissenheit oder vielmehr dieses ahnende Augenpaar
in dem Kleinen setzte sie tief in Verzweiflung [...]“(S. 30). Woher diese Fähigkeit seiner
Augen herkommt wird im Text selbst nicht ausdrücklich geklärt. Dieses Augenpaar wird ihm
später durch die Golem Bella eingedrückt, was ihm natürlich die Möglichkeit raubt einen
tieferen „Einblick“ ins Innere der Menschen, oder in diesem Falle des Golems zu erlangen
und den Betrug zu durchschauen.
Eine Funktion, die der Alraun übernimmt, ist der Ersatz des Menschen, denn als solcher gibt
er sich ja durch die gesamte Erzählung hindurch aus. Diese wird ihm aber nicht ohne weiteres
abgekauft, und so muss er verschiedene Aussagen zu seiner Menschlichkeit sammeln, um am
Hofe eine Stellung zu bekommen, was außerordentlich lustig geraten ist34. Eine witzige
Antwort im Text erhält man auch, als der Alraun nach seinem Wesen gefragt wird. »Bist du
denn ein Geist oder ein Mensch lieber Cornelius? Fragte Bella.- „Ich“, stammelte der
Alraun, „das ist eine dumme Frage, ich bin ich und ihr seid nicht ich, und ich werde
Feldmarshall und ihr bleibt was ihr waret [...]« (S. 42) Diese Antwort könnte durchaus in
Absprache mit Fichte entstanden sein, was sicherlich auch kein Zufall ist, sondern ein privater
Spaß auf Fichtes Kosten35. In gleicher Weise steht der Alraun auch für eine Kritik der
damaligen Zeit und ihrer Vorgänge, spezieller: er könnte eine Gestalt sein, auf der sich eine
„Jetzt war sie oben, und sie sah über die reiche Stadt hin, wo noch manches Licht brannte, ein Haus war aber
hell erleuchtet, und da, meinte sie, müsse der Prinz wohnen: so hatte ihr die Alte sein Haus beschrieben, und sie
wußte, daß sein Geburtstag gefeiert wurde. Sie hätte alles bei dem Anblicke vergessen, selbst die trocknen
Gehenkten über sich, die einander fragend anzustoßen schienen, hätte nicht der schwarze Hund aus eigener Lust
unter dem Dreifuße gegraben.“ (S. 22)
34
Zu dieser Szene lässt sich aus Arnims Leben eine Parallele finden, die ihn womöglich zu diesem Einfall
gebracht hat. Mehr dazu bei Neumann, S. 301f.
35
Vgl. (Hrsg.) F. Schulz: Geschichte der deutschen Literatur, VII/2, C.H. Beck, München, 1989, S. 407.
33
14
kapitalismuskritische Sichtweise manifestiert. Arnim hat auch dem Alraun jüdische
Tendenzen zugewiesen, die in der damaligen Zeit gängige Stereotype dem jüdischen Volk
gegenüber darstellten. Er hat einen besonderen Bezug zum Geld, denkt nur an Ansehen und
Erfolg und ist Egoist. Dabei ist er ebenso ambivalent wie der Golem. Zunächst wird er
geschaffen, um an Geld und damit an den Prinzen heran zu kommen; doch vom
ursprünglichen Mittel zum Zweck gerät er zusehends zum Störfaktor.
Seine Einmischung, seine Eifersucht und sein zu weit entwickeltes Eigenleben führen
schließlich zum Bruch der Liebe zwischen Bella und Karl. Dieser „domestizierte Dämon“36,
der so gut wie alle negativen Seiten eines Juden aufweist, wird sogar mir einer Jüdin
verheiratet. Im Glauben, Bella zu heiraten, nimmt er irrtümlich die Golem-Bella zur Frau.
Damit sind die zwei Geldgierigen vereint und Braka, die ihnen in dieser Hinsicht in nichts
nachsteht, begleitet sie zusammen mit dem Bärenhäuter, der zuletzt als Ahasver, der ewige
Jude, entlarvt wird. Soviel Antisemitismus ist kein Zufall. Schließlich wird oder soll der
Alraun Finanzminister werden, als seine Fähigkeiten ans Licht treten. Alle sehen in ihm nur
eine Möglichkeit, an Geld zu kommen. An dieser Stelle äußert sich auch Karls moralische
Schwäche, weil er mehr an den Alraun und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten denkt als
an Bella, also an die Liebe und sein Herz.
Mit einer abschließenden Bemerkung zum engeren Doppelgängerthema möchte ich diese
Erzählung ruhen lassen. Wir sahen, dass Arnim nicht auf konventionelle Doppelgängerarten
zurückgreift, sondern durch neue Motivzusammenführungen einen neuen Typ des
Doppelgängers entwirft. Im funktionalen Zusammenhang ist der Doppelgänger hier als reine
Verwechslungs- bzw. Täuschungsfigur zu sehen. Durch seine Einführung erfolgen einige
Verwechslungen, vor denen fast keine Person verschont bleibt. Nicht einmal der Auftraggeber
(Karl). Jeder fällt auf sie herein (außer dem Bärnhäuter, der als halbtotes Wesen gleich
durchschaut was los ist). Das Anliegen des Doppelgängers ist es nicht, die echte Bella
vollständig zu ersetzen, auch wenn es solche Anzeichen gibt, die sich in Aggression
gegenüber Bella manifestieren. Sie besitzt bei Arnim, im Unterschied zu Hoffmann, keine
psychologische Funktion. Durch ihre Einführung kompliziert sich das Verhältnis zwischen
Bella und Karl erheblich. Schließlich schaffen sie es nicht, zusammen zu bleiben. Sie trägt zu
einer Entzweiung bei, genau wie der Alraun, der auch negativ auf ihre Beziehung wirkt.
Dadurch erscheinen die künstlichen Menschen durchwegs als negativ handelnde Charaktere.
Golem-Bella ist als ein realer Doppelgänger unterwegs, ist sichtbar und fühlbar für jeden und
verbreitet trotzdem keinen Schrecken und keine existentiellen Ängste. Das mutet doch etwas
15
merkwürdig an, ist aber im Vergleich mit Chamissos „Schlemihl“ noch eher harmlos.
Charakteristisch bleibt ihr notwendiges Ableben, dass aus zwei Ursachen notwendig wird. Als
Golem muss sie ohnehin irgendwann vernichtet werden, und als Doppelgänger auch, denn in
den meisten Fällen verschwindet oder stirbt einer der Doppelgänger (meistens die Kopie),
oder sogar beide. Das gehört zu diesem Motiv fast immer dazu. Ausnahmen gibt es sicherlich
einige, z.B. Hoffmanns Erzählung „Die Doppeltgänger“, welche im Rahmen dieser Arbeit
noch genauer analysiert wird.
2.2 „Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien“37
2.2.1 Allgemein
Das zweite Beispiel, an dem Arnims Gestaltung des Doppelgängermotivs betrachten werden
kann, ist die zweite Erzählung des Erzählbandes von 1812, die gleich auf die „Isabella“
folgende „Melück“. Die relativ kurze ‚Anekdote’ gilt als „Zwillingsschwester“(S. 744) der
Isabella. Hoermann weist darauf hin, dass beide „heimatlose Außenseiterin[nen] aus dem
»Orient«“38 sind und das „Beide Heldinnen sind [die, Z. M.] an eine prophetische Mission“
gebunden sind. Das Prinzip der Vermischung von historischen und phantastischen Elementen
wird beibehalten, wobei die Handlung zur Zeit der französischen Revolution stattfindet. Eine
zweifellos wichtige Zeit, vor allem auch für die Generation der jungen Romantiker. Das
Phantastische wird diesmal mittels morgenländischer Zauberei bewerkstelligt. Der jüdische
Hintergrund der „Isabella“ wird hier ersetzt. Erneut speist Arnim seine phantastischen
Elemente aus dem mystischen Bereich. Hinzu kommt noch das Puppenmotiv bzw. das Motiv
des künstlichen Menschen, das zur Gestaltung des Doppelgängers beiträgt. Eigentlich ist es
wieder eine Vermischung von beiden Motiven. Aufgrund der Kürze sind die Motive allesamt
nicht tiefgehend durchgeführt worden. Mehr als zu Andeutungen dessen, was möglich wäre,
reicht es nicht.
Zu den Einflüssen lässt sich nur wenig sagen. Arnim hat die ‚Anekdote‘ zu Ehren Caroline
von Günderodes geschrieben, die sich 1806 selbst das Leben nahm. Soviel lässt sich aus der
Rahmenhandlung erkennen. Im Folgenden soll nur das Doppelgängermotiv und das
Puppenmotiv näher untersucht werden. Die Revolutionsthematik und alle Details der
Liebeskonzeption werden nicht mit einbezogen.
36
Neumann, S. 301f.
Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: Achim von Arnim: Sämtliche Werke, Band 3, Hrsg. von
Renate Moering, DTV, Frankfurt, 1990, S. 744.
38
Roland Hoermann: Achim von Arnims Erzählung „Melück Maria Blainville; die Hausprophetin aus Arabien“,
in: Aurora 44, 1984, S. 178.
37
16
2.2.2 Die Zueignung – der Weg zur Entstehung des Doppelgängers
Das Doppelgängermotiv wird diesmal in einer anderen Konstellation eingesetzt, als es bei der
„Isabella“ der Fall war, denn es wird nicht die Titelheldin verdoppelt. Nein, diese selbst,
Melück, erschafft mittels ihrer besonderen Fähigkeiten einen Doppelgänger ihres Geliebten.
Seine Rolle wird, ebenso wie bei den anderen untersuchten künstlichen Geschöpfen Arnims,
eine ambivalente. Doch zunächst einmal dazu, wie sich die ganze Geschichte ereignete.
Melück, die Emirstochter, kommt auf einem Schiff aus dem Orient nach Frankreich. Dabei
spielt der Wind eine große Rolle, denn er rettet ihr Schiff vor den Feinden, die sie ausrauben
wollen. Der Erzähler spielt früh auf übernatürliche Ereignisse an, als er eine „türkische
Windbeschwörerin“ (S. 745) für dieses Glück verantwortlich macht. Was wäre passender, als
diese Anspielung später auf Melück zu beziehen? Sie rückt dadurch in die Nähe des
magischen, phantastischen Bereichs, und der Verdacht wird sich bestätigen. In nächster Zeit
bleibt sie unnahbar für alle männlichen Verehrer, die heißblütig auf sie warten. Niemand
schafft es, sich ihr zu nähern, bis der Graf Saintree sie plötzlich erobert. Der bereits verlobte
Graf gelangt durch seine künstlerische Ader zu ihrem Herzen und versäumt es nicht, ihre
erwachte Liebe auszukosten. Dabei ist er von Anfang an unehrlich zu ihr, denn er stellt
Melück innerlich unter seine Verlobte Mathilda: „Er behauptete, die ganze Welt sei von
zweierlei Liebe besessen; unbeschadet der höheren, glaubte er sich der Araberin in dem
niederen Sinne ergeben zu können, wenn es Mathilden nur verschwiegen bliebe, und dies
wurde seine einzige Sorge.“ (S. 755)
Doch wie kommt es zur ersten Liebesnacht? Graf Saintree findet sich in Melücks Haus ein,
unterrichtet sie in der Schauspielerei und demonstriert dabei den modischen Faltenwurf von
Mänteln, wobei ihm recht heiß wird; er entschließt sich, seinen blauen seidenen Rock
auszuziehen, um sich besser bewegen zu können. Mit diesem Rock hat es etwas Besonderes
auf sich. Er ist ein Andenken an seine Verlobte Mathilda, die bei ihrer unfreiwilligen
Trennung Tränen darauf vergoß. Für Saintree hat er schon Fetisch-Charakter, denn er trennt
sich niemals von ihm und trägt ihn ständig. Für Melück und Saintree wird er noch äußerst
bedeutend. Melück weiß um die Geschichte des Rocks, zudem verbirgt Saintree die Tatsache
auch nicht, dass der Rock eine große Bedeutung für ihn hat.
Als Saintree den Rock auszieht, will er ihn einer Gliederpuppe in Isabellas Zimmer anziehen.
Die Gliederpuppe wird später zu seinem Doppelgänger und wird noch gute und schlechte
Seiten offenbaren. Melück warnt Saintree davor, die Puppe mit seinem Rock zu bekleiden und
sich darin zu bespiegeln. Doch er schlägt die scherzhafte Warnung aus und zieht der Puppe
seinen Rock und Hut an und legt ihr zuletzt noch einen Granatkranz auf den Kopf. Auffällig
17
ist, dass Arnim die Herkunft der Puppe nicht klärt und auch mit keinem Wort erwähnt. Sie
wird einfach vorausgesetzt und erfüllt ihre zugewiesene Funktion. Es bleibt unklar ob Melück
sie machte, kaufte oder verzauberte, was sich aus der folgenden Handlung vermuten ließe.
Das bleibt völlig im Dunkeln. Das einzige, was sicher ist, ist Melücks Wissen um die
Fähigkeiten der Puppe, die sie später und am Schluss beweist, als sie Mathilda in die Arme
der Puppe einschließt.
Saintree bekleidet jedenfalls die Puppe, die nach seinem energischen Auftritt plötzlich
kurzzeitig zum Leben erwacht, dreimal klatscht, den Granatkranz auf seinen Kopf wirft, die
Arme verschränkt und danach wieder leblos erstarrt. Beide scheinen zunächst erschrocken
und überrascht über das eben Erlebte. Saintree glaubt Melück dafür verantwortlich, die durch
eine „künstliche Einrichtung“ (S. 753) die Bewegung hervorgebracht haben soll. Für Saintree
entsteht dadurch ein großes Problem, weil er seinen Rock jetzt nicht mehr von der Puppe
bekommt. Da er es vorzieht den Rock nicht auseinanderschneiden zu lassen, bleiben sowohl
er als auch auch sein Rock erst einmal bei Melück im Haus. Alle Versuche, die Arme der
Puppe zu öffnen, scheitern. Aus Angst, sich so, unbekleidet‘ in der Öffentlichkeit zu zeigen,
bleibt er bis zum Abend. Letztlich kommt es zur Liebesnacht.
Nochmal zurück zum Rock, denn er hat eine besondere Funktion. Aufgrund des weiteren
Verlaufs der Handlung scheint es so, als ob Melück die Puppe dazu veranlasst hat, den Rock
nicht wieder frei zu geben, denn er wird später dazu benötigt und benutzt, um Saintrees Herz
zu verzaubern. Nach Frenels Angabe wird dafür „ein Liebeszeichen von jener Glücklichern“
(S. 761) benötigt, um den Zauber auszuführen. Weil der Rock mit Mathildas Tränen benetzt
wurde, ist er ein solches Objekt bzw. „Liebeszeichen“. Zunächst bleibt er noch uneingesetzt,
doch als Saintree mit Melück bricht und sich noch öffentlich gegen sie stellt, zögert sie keinen
Augenblick und beschließt, ihn zu strafen und zu zerstören. Sie verzaubert aus Liebeskummer
sein Herz. „Melück nahm es im Augenblicke wahr, und blickte auf ihn, daß er für einige
Augenblicke erblindete und in seinem Krampfe niederstürzte.“ (S. 760) Dieses
Zusammenbrechen erinnert an eine Art magnetischer Praktik, die uns später bei Hoffmann
sehr oft begegnet.
Daran wird deutlich wie Saintree unter Melücks Einfluss gerät. Sie wirkt auf eine wunderbare,
unerklärliche Weise (Zauberei) auf ihn ein. Er wird von Tag zu Tag schwächer und droht zu
sterben, als sein alter Freund Frenel plötzlich von einer Orientreise zurückkehrt und erkennt,
womit Saintrees Krankheit zu tun hat. Kurzerhand entschließt er sich, zu Melück zu gehen
und den von ihr hervorgerufenen Zauber zu beenden. Mittels einer List schafft er es, sie als
die Übeltäterin zu identifizieren und bringt sie dazu, dem Grafen zu helfen.
18
„Bei diesen Worten schlug sie den Vorhang zurück und Frenel sah mit Staunen, die Gliederpuppe, die im
Gesichte durch das Bildnertalent der Melück ein getreues Abbild des Grafen, sowohl in Form, wie in Farbe
geworden war, ganz wie er in blühendster Zeit ihr erschienen. Dies Bild trug den mit Tränen bezeichneten
Rock des Grafen noch mit festverschlungenen Armen. Ein leiser Druck der Melück, löste die
übereinandergeschlagenen Arme der Statue. Sie zog den Rock schnell herunter, sah in eine dunkle Höhlung
in der Gegend des Herzens, sah bedenklich aus und sprach: Geht schnell Frenel, denn in einer Stunde ist es
zu spät, er lebt von der letzten Faser seines Herzens. Zieht schnell eurem Freunde diesen tränengeweihten
Rock an, nicht Nachts, nicht Tags soll er ihn verlassen, bis er äußerlich ganz genesen; sein Herz erhält er
aber nicht wieder, als wenn ich bei ihm bin, denn es ist in mir. Sagts ihm, daß er mich unglücklich gemacht:
ich wolle nichts weiter von ihm, als seine stete Nähe. Seine Frau möge sich seines kosmischen Daseins
freuen; in mir sei sein Herz, ohne mich könne er nicht leben, und nur so lange wie ich, würde er leben!-„ (S.
763f.)
Diese Passage ist in vielerlei Hinsicht informativ. Zunächst einmal tritt hier das
Doppelgängermotiv am stärksten und deutlichsten hervor. Die vorher gesichtslose Puppe
bekommt durch Melücks Hilfe Saintrees Gesichtszüge verpasst. Sie erschafft sein Bildnis, so
ähnlich wie Pygmalion ein Bildnis schuf, welches zum Leben erweckt wurde39. Zusätzlich
trägt die Puppe auch noch seinen Rock, also seine Kleidung. In einer „dunklen Höhlung“ (S.
763) der Puppe sieht Melück, wie es um sein Herz bzw. sein Leben bestellt ist. Die
doppelgängerische Puppe hat die Funktion einer Art Lebensanzeige. Durch die zumindest
Teilweise äußerliche Übereinstimmung und die innerliche Verbundenheit (sein Herz ist in der
Puppe zu erkennen), die irgendwie bestehen muss, wird die Puppe zu seinem Doppelgänger.
Die ganze Konstellation erinnert an einen Teil des Voodoo-Kults, in welchem mittels einer
Voodoo-Puppe und anderer Fetische40 Menschen verzaubert werden können. Dieser Kult
stammt allerdings nicht aus dem Orient, wo Melück ja her kommt, sondern aus dem
karibischen Raum (Haiti), allerdings basiert ein Großteil des Voodoo auf Glaubensrichtungen
aus Zentral- und Westafrika41, damit dem morgenländischen näher. In Wirklichkeit gibt und
gab es nie solche Praktiken im Voodoo. Vorstellbar ist allerdings eine willkürliche Erfindung
Arnims, der bekanntlich vieles aufgreift und umformt42 - wieso also nicht auch hier.
Arnim verwendet wieder einen künstlichen Menschen – eine Puppe – um das
Doppelgängermotiv, hier leider nur ansatzweise, zu realisieren. Es fällt auch auf, dass Melück
der Puppe die Arme ohne Gewalt öffnet, nämlich durch genaues Wissen, wie man sie öffnet.
39
Die Behauptung stellt R. Hoermann auf, S. 190. Der Unterschied ist allerdings deutlich, da die Puppe hier
jeweils nur kurzzeitig zu leben scheint. Eigentlich wird sie aber gesteuert, so dass sie eher in die Reihe der
Automaten zu klassifizieren ist.
40
In diesem Falle Saintrees blauer Rock, der als Fetisch gilt. Allerdings ist es ganz und gar nicht so, dass es im
Voodoo Rituale gibt, die so etwas wie hier vollbringen könnten. Die Variante dort ist eine harmlosere. Die
Puppen können nur als Überbringer von Nachrichten an die Toten fungieren. Die Vorstellung von der
durchstochenen Voodoo-Puppe, ist ein Aberglaube und entspricht nicht der Realität. Siehe bei Leah Gordon:
Voodoo. Magie und Rituale, Bassermann, 2000, S. 34/35.
41
Nachzulesen bei L. Gordon, S. 10f. Das heutige Voodoo ist eine Mischung aus verschiedenen Gebräuchen und
Praktiken, die von den Sklaven, die aus verschiedenen Völkern Afrikas stammen, auf der Insel Haiti entwickelt
und geglaubt wurde und noch bis heute praktiziert wird.
42
Vgl. mit der Golemsage in der Isabella, die ebenfalls verändert wird und nicht mehr mit ihrem Vorbild
vollkommen übereinstimmt.
19
Bei der ersten Puppenszene mit Saintree tat sie das nicht. Sie beteuerte sogar Unwissenheit.
Diesmal sieht sie sich gezwungen, ihr geheimes Wissen einzusetzen und dadurch den Rock
wieder frei zu geben, wodurch sie Saintrees Leben vorerst rettet. Bis hierher hat die
doppelgängerische Puppe eigentlich nur negative Sachen bewirkt, doch ihre Rolle ändert sich
bald. Ähnliches kennen wir schon aus der „Isabella“. Das liegt vor allem daran, dass Melück
ihr Verhalten gegenüber Saintree ändert. Sie steuert die Puppe, kennt ihre Eigenschaften und
setzt sie, wie sich noch zeigen wird, bewusst ein. Nachdem Saintree körperlich gesundet,
offenbart Frenel ihm und Mathilda jetzt die ganze Wahrheit um den Zauber Melücks und
seine weitreichenden Folgen für ihr Leben. So kam es denn letztendlich dazu, dass Melück in
das Haus der beiden Eheleute aufgenommen wurde, um die „Lücke“ (S. 764) in seinem
Herzen zu füllen. Wie verbunden ihre Herzen sind, beweisen die Kinder Saintrees und
Mathildas, die gewisse Ähnlichkeiten mit Melück aufweisen43:
„Zu gleicher Zeit wartete sie den Kindern der Mathilde auf, die nicht bloß eine besondre Ähnlichkeit mit ihr,
sondern auch eine auffallende Vorliebe zu ihr, mit auf die Welt brachten. Oft rühmte Melück scherzend ihr
Glück, ohne den Schmerz, der seit dem Sündenfalle mit den Mutterfreuden verbunden, Mutter geworden zu
sein, und Mathilde fand diese morgenländischen Augen und langen Augenwimpern ihrer Kinder so reizend,
daß sie das Rätselhafte darin vergaß und dagegen ihre Freundin in ihren Kindern zärtlicher lieben lernte.“
(S. 766)
V. Hoffmann bezeichnet dies eine visuelle (Mit-)Zeugung der Kinder44. Die Kinder haben
Melücks Augen. Das ist ungewöhnlich und weist ganz klar auf eine übernatürliche,
übersinnliche Verbindung hin. Eine Erklärung wäre die Verbundenheit von Melücks und
Saintrees Herzen, so dass ein Teil von ihr, durch ihn hindurch, in die Kinder übergegangen ist.
Magnetismus bzw. in diesem Falle Zauberei, wäre auch eine Erklärung. Eine leichte
Ähnlichkeit zeigt sich auch in den „Doppeltgängern“ E.T.A. Hoffmanns, bei denen nur der
Gedanke an einen Ehebruch ausreicht, um ein Kind dem andern völlig gleich werden zu
lassen.
Auf Melücks „durchdringenden beweglichen Blick, der viele Verhältnisse zugleich
aufzufassen und zusammenzustellen vermochte“ (S. 766), wurde bereits hingewiesen. Die
Augen und der Blick haben bei Arnim, ebenso wie bei Hoffmann, eine besondere
Bedeutung45. Melück bezeichnet sich selbst als glücklich, so schmerzfrei Mutter geworden zu
sein. Wie dieser Einfluss auf die Kinder zustande kam, lässt Arnim leider auch offen, wie so
Dieses Motiv begegnet uns in ähnlicher Art in Goethes „Wahlverwandschaften“. Auch Hoffmann hat es in
seinen „Doppeltgängern“ aufgegriffen, aber auch etwas modifiziert. Bei jedem Autor scheint es zumindest
geringfügig anders gestaltet zu sein. Es scheint aber beliebt gewesen zu sein.
44
Volker Hoffmann: Künstliche Zeugung und Zeugung von Kunst im Erzählwerk Achim von Arnims, in:
Aurora 46, 1986, S. 161.
45
Bei der späteren Befreiung Mathildas aus den Armen des Doppelgängers merkt Frenel erst anhand der Augen
mit Gewissheit, dass es sich um keinen lebendigen Mensch handelt. „Aber bald erkannte er die starren Augen
des Bildes, jene zauberische Gestalt, die schon einmal das Schicksal des Hauses getragen hatte; [...]“ (S. 774)
43
20
einige Details der Anekdote. Das Melück zwar „scherzhaft“ (S. 766) ihre Mutterschaft
andeutet, muss nichts heißen, da sie auch scherzhaft Saintree bat, die Puppe nicht zu
bekleiden.
Auf nur fünf Seiten spielt sich der Großteil der in unserer Hinsicht relevanten Handlung ab.
Die vorher negativ handelnde Doppelgängerpuppe ändert jetzt ihre Wirkung und Funktion.
Sie wird zum gelegentlichen Spielzeug für die Kinder. Diese Änderung entschärft die
bisherige Rolle der Puppe, denn diese beginnt jetzt für die Familie, vor allem aber für die
Kinder, nützlich zu werden. Der Grund ist Melücks erneute positive Einstellung der Familie
gegenüber. Die Reichweite dieser Liebe wird noch Leben retten. „Jene furchtbare
Kleiderpuppe, die einst so entscheidend auf das Schicksal des Hauses eingewirkt hatte, stand
jetzt mit andern Erinnerungen der Art, auf einer versteckten Bodenkammer des Schlosses, wo
sie von der Melück zuweilen an Sonntagen den Kindern zum Spiel und zur Belohnung guter
Aufführung gezeigt wurde.“ (S. 766)
Die nächste wichtige Stelle ist Melücks Prophezeiung, deren Inhalt letztlich erfüllt wird46.
Das beweist eigentlich ihre Fähigkeiten aufs Neue. Diese Prophezeiung rückt sie wieder ein
Stück weiter ins Übernatürliche, Wunderbare. Dabei fällt besonders die Tatsache auf, dass sie
sich kurze Zeit später an ihre Worte nicht mehr erinnern kann47. „Dem Grafen verging die
Geduld; er nahm gewaltsam die Hand der Melück und führte sie rasch nach Hause, wo sie
nach einer Stunde beinahe das ganze Gespräch ableugnete, und nichts davon wissen wollte.“
(S. 769) Das zeigt eine Parallele zum somnambulen Traum oder zum Magnetismus. Auf jeden
Fall zeigt es uns einen Zustand äußerster psychischer Erregung an. Auch wenn Arnim hier
diese Verbindung durchaus herstellen könnte, lässt er es doch sein. Ganz im Gegensatz zu
Hoffmann. Arnims direktes Interesse für diese Phänomene ist anscheinend gering. Dafür wird
Hoffmann diese Seite ansprechen und ausführen.
Als letzter zu besprechender Punkt bleibt der Tod Melücks und Saintrees. Bevor die
aufgebrachten Revolutionäre mit ihrem Anführer Saint Lük und Frenel die beiden töten,
schafft es Melück, Mathilde in die Arme des Doppelgängers einzuschließen und sie so außer
unmittelbarer Gefahr zu bringen. Damit wird der Doppelgänger ihres Mannes zu ihrem
Beschützer und erfüllt so eine positive Funktion, die der echte Ehemann nicht mehr ausüben
kann. Melück macht etwas Vergleichbares und verkleidet sich als Mathilde, um die Leute zu
täuschen und Mathildas Leben zu verschonen. Sie stirbt an ihrer Stelle und ermöglicht so
durch zwei großherzige Taten das Überleben der Kinder und Mathildas. Mit Hilfe von
46
Melück und Isabella erfüllen damit beide das ihnen vorausgesagte Schicksal. Der Unterschied ist jedoch der,
dass Melück eher eine tragische Heldin ist, da sie einen frühen Tod erleiden muss.
47
Vgl. Hoermann, S. 183.
21
Melücks verstecktem Hinweis gelingt es Frenel, Mathilda zu befreien, wobei der
Doppelgänger zerstört wird. Ein klassisches Ende eines künstlichen Menschen 48 also, denn
Frenel muss die Puppe zerschlagen, um Mathilde aus ihrer Umarmung zu befreien.
Was bleibt schließlich noch zum Doppelgängermotiv bei Arnim zu sagen? Zunächst einmal
ist es in dieser Erzählung sehr sparsam eingesetzt worden. Der Doppelgänger ist hier am
allerwenigsten mit einem lebenden Doppelgänger vergleichbar, was natürlich an seiner
Beschaffenheit liegt. Seine Entstehung ist wieder einmal dem mystischen Bereich zuweisbar,
wie schon in der „Isabella“, doch diesmal ist es nicht die kabbalistische Mystik, sondern die
orientalische Zauberei. Beide Male ist es aber das Motiv des künstlichen Menschen, das mit
dem Doppelgängermotiv verbunden wird49. Arnim hat wohl nicht an eine natürliche
Möglichkeit eines doppelgängerischen Verhältnisses geglaubt. Ganz anders dagegen
Hoffmann, dessen Doppelgänger fast durchwegs richtige Menschen sind.
Eine bekannte Eigenschaft des Motivs behält Arnim aber bei, denn die Puppe wird am Ende
zerstört. Bis auf wenige spätere Ausnahmen sterben die Doppelgänger stets in der
romantischen Literatur. De facto stirbt hier auch das Urbild, also werden beide ausgelöscht.
Etwas radikaler als bei der „Isabella“, wo nur die Doppelgängerin (Golem) vernichtet wird.
Wie wenig profiliert der Doppelgänger ist, wird aus seinen Fähigkeiten deutlich. Zweifellos
ist das Doppelgängermotiv nicht das zentrale Motiv des Textes. Der Doppelgänger kann nicht
sprechen, sich nur schwerlich bewegen und außer einem Klatschen und dem steten Verharren
in ein und derselben Position, leistet er nicht viel. Er dient nur zu bestimmten Zwecken und ist
wohl eher als ein Götzenbild anzusehen, als ein Versuch einer Ersetzung des Urbilds. Seine
Ambivalenz der Taten wird letztlich durch Melücks Steuerung erklärbar, da die sonstigen
künstlichen Menschen Arnims durchwegs negative Charaktere sind. Seine Kontrollierbarkeit
zerstört seine mögliche Individualität und stempelt ihn zum Werkzeug ab, so wie das die
Automaten in Hoffmanns Werk sind. Diese haben auch immer einen geheimen Lenker.
Soviel zu Arnim und seinen zwei Varianten des Doppelgängermotivs.
3. E.T.A. Hoffmann: Die Abgründe des Doppelgängermotivs –
menschliche Doppelgänger und unheimliche Automaten
Bei E.T.A. Hoffmann stoßen wir auf eine wahre Fundgrube der Doppelgänger und
Automaten. Mit Sicherheit hat Hoffmann, neben Jean Paul, am häufigsten diese Motive
48
Zumindest für Arnims untersuchte Erzählungen gilt das.
Vielleicht liegt das an Arnims Vorliebe für das Tote. Schon Heine stellte dies so fest: „Etwas fehlte diesem
Dichter, und dieses Etwas ist es eben, was das Volk in den Büchern sucht: das Leben. [...] Er war kein Dichter
des Lebens, sondern des Todes.“ Aus Heinrich Heine: Die romantische Schule, Könemann, Köln, 1995, S. 117.
49
22
verwandt. Dabei greift er auf viele, ja fast alle bekannten Formen und Variationen zurück.
Das Motiv bei ihm wird aber sehr ernst und zum Teil auch erschreckend und unheimlich
gestaltet, und zwar auf eine wirklich spürbare Art und Weise. Die Doppelgänger wie auch die
Automaten üben einen psychischen Einfluss auf den Menschen aus. Die Ich-Problematik tritt
bei Hoffmann am deutlichsten und am häufigsten auf. Das liegt auch an seinen Kenntnissen
und persönlichem Interesse an der menschlichen Psyche und den Methoden, die auf jene
Einfluss nehmen können. Doppelgänger bedrohen die Existenz des Menschen, sind zumeist
Feinde oder Konkurrenten. Vor allem in der Liebe. Die Individualität wird in Frage gestellt,
sie erscheint nicht als selbstverständlich.
Das Motiv wird genutzt um psychologische Prozesse in Gang zu setzten. Das Ich wird zur
Reflexion gedrängt. Bei Hoffmann ist alles möglich, so entlockt er dem Motiv seine
abgründige, schauerliche Seite. Er gestaltet seine realen Doppelgänger aber niemals mittels
künstlicher Menschen, so wie das bei Arnim der Fall war. Seine Doppelgänger sind Menschen
wie Du und ich. Hinter ihnen stecken immer bestimmte, besondere Geschichten oder
Geheimnisse, welche es zu erfahren gilt.
Die Automaten haben ebenso immer etwas Unheimliches an sich. Sie können auf den
Menschen und seinen Verstand wirken, doch sie sind keine selbständig handelnden
Geschöpfe. Sie werden gelenkt, sind also nur Werkzeug einer sich dahinter versteckenden
Macht. Auch hier beweist Hoffmann ein enormes Wissen und Interesse, welches sich in der
Anzahl und Art der Automaten in seiner Dichtung auswirkt. Sehen wir uns zunächst das
Doppelgängermotiv
und
seine
Gestaltung
an
einem
der
bekanntesten
Beispiele
Hoffmannscher Dichtung an.
3.1. „DIE ELIXIERE DES TEUFELS“50
3.1.1 Allgemein
Zum Doppelgängermotiv und zugleich zur Ich-Problematik findet sich in E.T.A. Hoffmanns
Roman „Die Elixiere des Teufels“ so viel, wie selten an anderer Stelle. Der Held und
Mittelpunkt der Autobiographie ist der Kapuzinermönch Medardus. Im Verlaufe der
Handlung, und dadurch auch seines Lebens, wird er zum Objekt von zahlreichen
Verstrickungen, Spiegelungen, Verdopplungen und zum Bezugspunkt einer versteckten aber
durchgängigen Zeichenhaftigkeit, die den Roman durchzieht und ihm seinen besonderen Reiz
verleiht. Nicht umsonst ist es laut Detlef Kremer „der einzige Schauerroman der deutschen
50
Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels, hrsg. von
Wolfgang Nehring, Reclam, Stuttgart, 2002.
23
Romantik mit weltliterarischer Wirkung.“51
Das Doppelgängermotiv ist ein sehr wichtiges und weit ausgearbeitetes Motiv des Romans.
Es bestimmt z.T. den Aufbau und die Handlung. Neben den äußerlichen Verwechslungen löst
der Doppelgänger hier auch innere, psychische Prozesse aus, die den Helden ständig plagen.
Natürlich trägt er nur dazu bei, die bei Medardus ohnehin schon vorhandene psychische
Störung zu verschlimmern. Für die Ich-Spaltung ist das Motiv aber bestimmend. Der Vorteil
liegt auf der Hand und besteht aus der großen Funktionalität und Kompatibilität des
Doppelgängermotivs, was auch der Grund ist, weshalb dieses Motiv in der Romantik so oft
verwendet worden ist. Das Motiv kann also nicht nur zu bloßen Verwechslungszwecken
benutzt werden, um z.B. einen kurzzeitigen Schrecken auszulösen, sondern auch dazu, um
richtige Bewusstseinsstörungen hervorzurufen. Ob scherzhaft oder ernst, das Motiv verträgt
sich – nicht nur wegen seiner antiken Vorläufer – mit beidem.
Dies soll kein Versuch einer Gesamtinterpretation dieses Werkes werden, dazu ist der
Umfang der Arbeit viel zu klein. Doch an manchen Stellen muss verständnishalber etwas
weiter ausgeholt werden. Dabei können wir uns auch etwas außerhalb der Ich-Problematik
und des Doppelgängermotivs bewegen.
3.1.2 Einflüsse
Der erste Teil des Romans entsteht in nur vier Wochen. Vom 4. März bis zum 30. April 1814
ist er schon druckfertig52. Wichtig für den Roman scheint das Hintergrundwissen Hoffmanns
zu sein, das ihm die nötigen Kenntnisse, Impulse und Anreize gab, die in dieses Werk mit
eingeflossen sind. Eine ganz wichtige Lektüre war wohl Matthew Gregory Lewis´ „The
Monk“ (1796) gewesen zu sein53. Aus ihm stammt die Sexualitäts-Thematik, und die
fatalistische Familiengeschichte scheint auch aus ihm entlehnt. Zusätzlich spielt Hoffmann
ganz eindeutig im Werk darauf an, als er Aurelie aus der deutschen Übersetzung lesen lässt
und dadurch ihre Phantasie angeregt wird. „In meines Bruders Zimmer sah ich ein fremdes
Buch auf dem Tische liegen; ich schlug es auf, es war ein aus dem Englischen übersetzter
Roman: „Der Mönch!“ – [...]“ (S. 220)
Auch Karl Grosses „Genius. Aus den Papieren des Marquis C* von G*.“ (1791-95) hat auf
51
Detlef Kremer: Romantik, Metzler, Stuttgart, 2001, S. 143.
Siehe im Nachwort H.J. Kruses, in: E.T.A. Hoffmann: „Die Elixiere des Teufels“, hrsg. von Hans-Joachim
Kruse, Aufbau, Leipzig, 1982.
53
Siehe bei R. Heinritz/S. Mergentheim: Abgründe des Schauerromans: Hoffmann, Hogg und Lewis, in: E.T.A.
Hoffmann-Jahrbuch 4, 1996, S. 33f. und Wolfgang Nehring: Gothic Novel und Schauerroman, Tradition und
Innovation in Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1, 1992–1993, Schmidt, S.
36f.
52
24
Hoffmann gewirkt54. Allein schon der Titel weist eine große Ähnlichkeit auf.
Den Kern für seine psychologische Seite des Romans hat er durch die Schriften G. H.
Schuberts, wie den „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften“ (1808) und der
„Symbolik des Traums“ (1814)55, aber auch durch persönliche Gespräche und Beobachtungen
von psychisch gestörten Patienten. In seiner Bamberger Zeit, hatte er Umgang mit Dr.
Marcus; er war einer seiner engeren Freunde. Marcus war Leiter der Anstalt „St. Getreu“, wo
Hoffmann die persönlichen Einblicke gewinnen konnte, die mit den Phänomenen des
Wahnsinns zu tun hatten56. Er las auch Carl August Ferdinand Kluges „Versuch einer
Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmethode“ (1811) und Johann Christian
Reils
„Rhapsodien
über
die
Anwendung
der
psychischen
Curmethode
auf
Geisteszerrüttungen“ (1803), in denen er viel über Psychiatrie, Magnetismus und
Somnambulismus erfahren hat57. Vor allem der tierische Magnetismus und der
Somnambulismus hatten seine Phantasie stark beansprucht. Die Lehren, die auf Franz Anton
Mesmer und seine Fluidenlehre zurückgehen, übten, nicht nur auf ihn, sehr starken Einfluss in
der damaligen Zeit aus. Der Niederschlag davon ist in vielen seiner Erzählungen nachzulesen.
Mit diesen Phänomenen hat er sich privat auseinandergesetzt, genau wie mit dem
Automatenmotiv, welches er etwa zur selben Zeit in Angriff nahm.
3.1.3 Die Liebeskonzeption
Die Liebeskonzeption des Romans ist ein ganz wichtiger Faktor, weil sie im gesamten
Erzählwerk Hoffmanns ähnlich aufgebaut ist. Sie ist insofern für den Roman wichtig, weil sie,
bzw. die Sexualität insgemein, die Triebfeder der Handlung ist. Daneben trägt sie zu einer
psychologischen Lesart der Ereignisse bei. Das Ideal der Liebe (für Hoffmann) ist als eine
„geistig – seelische Liebe“58 zu verstehen. Diese Liebe ist an ein Ideal geknüpft und zunächst
nicht an eine reale Person gebunden. Sobald sie es aber wird, entsteht eine Diskrepanz, die
schließlich Medardus’ Inneres zerreißt. Zunächst ist es ein „Bild“ das geschaut werden muss,
Siehe bei Klaus Kanzog: E.T.A. Hoffmann und Karl Grosses „Genius“, in: Mitteilungen der E.T.A: Hoffmann
- Gesellschaft 7, 1960, S. 16f.
55
Vgl. Altrud Dumont: Die Einflüsse von Identitätsphilosophie und Erfahrungsselenkunde auf E.T.A.
Hoffmanns „Elixiere des Teufels“, in: Zeitschrift für Germanistik I – 1/1991. Hoffmann hat wohl schon im März
1814 das Werk gelesen, indem er es sich vom Verleger Kunz hat schicken lassen, so dass es für die „Elixiere“
auf jeden Fall Wert hat. Das bestätigt auch H.J. Kruse, S. 364f.
56
Vgl. Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, Hanser, München, 1984,
S. 220 und Franz Loquai: Kampf gegen das Böse. Zur Bedeutung literarischer Exorzismen bei E.T.A.
Hoffmann, in: Aurora 57, 1997, S. 57.
57
Vgl. A. Dumont, S. 37.
58
Aus Cornelia Steinwachs: Die Liebeskonzeption in E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“, in: E.T.A.
Hoffmann-Jahrbuch 8, 2000, S. 38.
54
25
das eine innere Kraft auslöst59. In unserem Falle ist es das Altarbild der heiligen Rosalie. Die
Imagination wird geweckt, es entsteht die „Künstlerliebe“, die noch ohne Sexualität
auskommt, da sie keine konkrete Materialisation (Verkörperung in der Realität) besitzt.
Sobald diese aber zustande kommt, treten Probleme auf. Eine unüberbrückbare Kluft
zwischen innerem und äußerem „Bild“ entsteht.
Bei Hoffmann bekommt die Sexualität eine starke Macht, die es schafft, den Mönch zum
Mörder zu machen. Der Trieb ist so stark und gewaltig, dass er seine Persönlichkeit spaltet,
bis zu dem Moment, an dem die Versuchung in Form des fleischgewordenen Ideals stirbt. Mit
ihr stirbt die Versuchung und die Sexualität besänftigt sich, das „wahre Ich“ kann wieder an
seine Stelle treten.
Die Tragik dieses Prozesses wurzelt in seiner Jugend. Medardus’ Eintritt in den Orden erfolgt
nach seinem ersten erotischen Erlebnis, quasi als Abwehr- oder Schutzreaktion. Durch die
Erregung seines Körpers gerät er in einen bisher nicht gekannten Zustand. Als ihn die Frau
dann zurückstößt, überträgt er seinen Zorn, seine Unsicherheit, auf sie, das Bild der Frau.
Schließlich verdrängt er die hässliche Erfahrung, doch das macht sie nicht ungeschehen.
Eingesperrt in die Klostermauern vergeht einige Zeit, bis die Sexualität wieder hervortritt. Um
es erneut zu diesem Durchbruch kommen zu lassen, bedarf es zweier Dinge: eines „Bildes“,
also der Motivation, und zweitens der willentlichen Hingabe, die Medardus durch den
Konsum des Elixiers bestätigt.
Medardus führt auch schon vorher Ersatzhandlungen aus, wie das Predigen, das ihm sehr viel bedeutet. Dadurch
wirkt er insbesondere auf die Frauen; zwar nicht körperlich, aber durch sein Wort nimmt er Einfluss auf sie.
„Medardus kompensiert mit seinen rauschhaften Predigten die Verdrängung seiner sinnlichen Begierden […]“ 60.
Als seine Liebe zu Aurelie entflammt, ist es aus mit dem Verstecken. Sie ist für ihn eine Heilige, wie mehrmals
betont wird. Die Diskrepanz zwischen der körperlichen Begierde und der höheren Liebe bricht aus. Dass er
diesen Zustand überwinden muss, wird ihm ziemlich schnell klar. Öfters betont er seine Absicht, sie umbringen
zu müssen. „Aurelie muß getötet werden, damit Medardus sein sexuelles Verlangen zur religiösen Verehrung
läutern kann. Die Sublimierung gelingt nur auf dem Hintergrund eines Mordes.“ 61
3.1.4 Zum Aufbau und wichtigen Elementen des Romans
Mittels der Variante der „Motivschichtung“62 vermischt Hoffmann das (für uns wichtige)
Doppelgängermotiv mit verschiedenen anderen Motiven. So belegt er die gesamte Familie mit
einem jahrhundertealten Fluch, zu dessen Beendung schließlich Medardus „berufen“ wird.
59
These nach R. Safranski, S. 408f.
Vgl. A. Dumont, S. 39.
61
Vgl. R. Safranski, S. 346.
62
Silvio Vietta: Das Automatenmotiv und die Technik der Motivschichtung im Erzählwerk E.T.A. Hoffmanns,
in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 26, 1980, S. 25.
60
26
Als weiteres wichtiges Funktionsmotiv kommt das Teufelselixier dazu, welches als
äußerlicher Anstoß für seine Identitätskrise dient.
Die beiden gegensätzlichen Seiten Medardus’, die im Roman zum Vorschein kommen,
könnten durch Vererbung zustande gekommen sein63. So wie der Fluch sich von Generation
zu Generation vererbt, so hat Medardus einerseits das temperamentvolle Wesen seines Vaters
geerbt, andererseits das stille, fromme Wesen seiner Mutter. Für das Verständnis seiner
Handlungen, kann das ein durchaus wichtiger Gedanke sein. Leidenschaft und Frömmigkeit
sind seine Erbteile, die so abwechselnd in seinem Leben zum Vorschein kommen.
Wichtig für das Verständnis des Romans scheint auch der Einfluss einer „höheren, dunklen
Macht“, oder eines „geistigen Prinzips“ (z.B. S. 204, 208, 222, 224, 225, 226) zu sein, dem
Medardus willenlos zu folgen scheint. Dieses Prinzip oder diese Macht findet sich in fast allen
Hoffmannschen Werken, insbesondere in den hier untersuchten. Die dualistische
Weltauffassung hat im Werk durch viele Gegenüberstellungen ihren Ausdruck gefunden. „[...]
der Doppelgänger ist die Personifikation seines denkerischen Dualismus [...]“, dies behauptet
Paul Heinemann über Jean Paul, könnte hier aber auch durchaus für Hoffmann gesagt
werden64. Es steht sich das Gute/christliche Prinzip, dem Bösen/teuflischen Prinzip
gegenüber, welches unter anderem durch das Elixier repräsentiert wird. Ähnlich verhält es
sich mit den Orten. Das Kloster steht für das Christliche, das Gute, während die Großstadt als
ihr Gegenpart die negative Seite repräsentiert. Dabei spielt Hoffmann bewusst auf die
veränderten Verhältnisse und die aufkommende Anonymität des großstädtischen und
bürgerlichen Raums an. Die „Duplizität“65, die Hoffmann in allem sah, wurde hier nebenbei
in Gestalt eines Doppelgängerpaares dargestellt. Wie es im Vorwort heißt, geht es dem
Herausgeber wie dem Helden um „Erkenntnis“ (S. 6), die aber unter keinen Umständen dazu
benutzt werden kann, etwas am Schicksal zu ändern:
„[...] war es mir auch als könne das, was wir insgemein Traum und Einbildung nennen, wohl die
symbolische Erkenntnis des geheimen Fadens sein, der sich durch unser Leben zieht, es festknüpfend in allen
seinen Bedingungen, als sei der aber für verloren zu achten der mit jener Erkenntnis die Kraft gewonnen
Vgl. Susanne Olson: Das Wunderbare und seine psychologische Funktion in E.T.A. Hoffmanns “Die Elixiere
des Teufels”, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 24, 1978, S. 26f. Auch Magdolna Orosz weist
auf die “genetisch” begründete Doppelgängererei hin. Magdolna Orosz: Identität, Differenz, Ambivalenz:
Erzählstrukturen und Erzählstrategien bei E.T.A. Hoffmann, Frankfurt am Main, Lang, 2001, S. 62.
64
Paul Heinemann: Potenzierte Subjekte – Potenzierte Fiktionen. Ich–Figurationen und ästhetische Konstruktion
bei Jean Paul und Samuel Beckett. Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft,
Band 16, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2001, S. 194.
65
Aus: E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 4, Die Serapions-Brüder, hrsg. von Wulf Segebrecht, DTV,
Frankfurt am Main, 2001, S. 68. Die „Duplizität“, die Hoffmann als Maxime seines „serapiontischen Prinzips“
sah, hat sich H. Pfotenhauer genauer angesehen und dabei entdeckt das: „Hoffmanns exoterische Poetik, die er
das serapiontische Prinzip nennt, mit einer esoterischen übereblendet werden [kann]; [...]“ Aus: Helmut
Pfotenhauer: Exoterische und Esoterische Poetik in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen, in: Jahrbuch der Jean PaulGesellschaft 17, 1982, S. 135. Damit differenziert Pfotenhauer das Prinzip und die ‚Duplizität‘, und teilt sie in
das genannte Begriffspaar.
63
27
glaubt, jenen Faden gewaltsam zu zerreißen und es aufzunehmen mit der dunklen Macht die über uns
gebietet.“ (S. 6)
Dieser Erkenntnis entzieht sich Medardus ständig, so dass ihm in Form Viktorins eine Art
Spiegel vorgesetzt wird.
Der Roman enthält ein System von Spiegelungen und symbolischen Überkreuzungen,
welches so dicht gestrickt ist, dass man sich leicht darin verfängt und verlorengeht. Durch die
Anwesenheit von Figuren aus verschiedenen Fiktionsebenen, die sich in Form von realen
Erscheinungen, Visionen und Träumen offenbaren und in der Erzählgegenwart treffen, wird
ein Durchbruch der verschiedenen Ebenen erreicht. Der Text wird heterogener und öffnet sich
dadurch, was eine gewisse Diffusion zur Folge hat. Auch seine Deutung wird dadurch offener
und vielfältiger, da nicht nur weltliche Mächte am Werk sind, sondern auch „höhere Mächte“;
das Transzendente selbst sich anscheinend einmischt: „Die Ambivalenz erscheint bei E.T.A.
Hoffmann als dominierendes textstrukturierendes Verfahren: seine Texte sind eigenartig
»gespalten« und dadurch mehrdeutig, wie es auch viele Analytiker der verschiedenen Aspekte
seines Erzählens festgestellt haben.“66 Das Doppelgängermotiv kann beide Teile integrieren,
einerseits durch die Familienanamnese (was die Ähnlichkeit zwischen Medardus und Viktorin
erklärt),
andererseits
durch
die
Vorbestimmtheit
(das
Schicksal,
welches
ihnen
gewissermaßen auferlegt wird). Hoffmann steigert die Doppelgängererlebnisse dadurch, dass
er den Traum und die Vision als zusätzliches Mittel der Zusammentreffen von Medardus und
Viktorin (aber auch anderen Personen, wie dem alten Maler) ausnutzt. Auf diese Weise kann
er psychologisch wichtige Elemente von Medardus’ Motivierung in sein Werk aufnehmen.
3.1.5 Die verbrüderten Doppelgänger
Das Doppelgängermotiv wird unter anderem verwendet, um eine Ich-Problematik auszulösen,
die Medardus’ Interesse nach innen zieht, ihn also zur Auseinandersetzung mit sich selbst
zwingen soll. Zugleich erscheint Medardus aufgrund äußerer Umstände, bzw. durch „höhere“,
„unbekannte“, „dunkle“, „böse“, „feindliche“ Mächte (z.B. S. 204, 208, 222, 224, 225, 226)
beeinflusst. Man könnte das Geschehen deshalb auf zwei Ebenen unterscheiden 67. Auf der
einen geht Medardus seinen eigenen Weg, wie er anfangs noch denkt, auf der anderen Seite
führt er aber alles irgendwie nach einem geheimen Plan aus. Dieser Dualismus durchzieht den
gesamten Roman. Die Auflösung geschieht aber erst am Ende, als klar wird, dass all seine
Opfer aus seinem eigenen Geschlecht stammen. Hier liegt uns also eine verschärfte Version
des Doppelgängermotivs vor, bei der übernatürliche Kräfte mit dem bekannten
66
M. Orosz, S. 55. Das gilt vor allem auch für seinen „Sandmann“, der auf einer Ambivalenz aufgebaut ist.
28
Verwechslungsmotiv verbunden werden.
Die Doppelgängerkonstellation von den verbrüderten Doppelgängern hat Hoffmann wohl aus
Plautus’ „Menaechmi“ entlehnt, der als Urvater des Doppelgänger- und Verwechslungsmotivs
gilt. Zusätzlich wird ihnen aber noch ein dritter „Bruder“ an die Seite gestellt, nämlich
Hermogen, der an mehreren Stellen im Roman auf seine Zugehörigkeit anspielt. Hier
erweitert Hoffmann also den Rahmen der doppelgängerischen Gestalten.
Aufgrund der augenscheinlichen Komplexität des Romanaufbaus und seiner motivischen
Vielfalt und Verworrenheit stellt sich in der Forschung, wie auch innerhalb der Parameter
dieser Arbeit, die Frage: Wie verwendet Hoffmann das Doppelgängermotiv und welche
Funktion hat es?
Um endlich das Doppelgängermotiv näher auszuleuchten, ist es Zeit, sich mit dem Text und
seinen Eigenheiten zu befassen. Im Text kommt ein zentrales Doppelgängerpaar vor. Das
Paar setzt sich aus Medardus und seinem Halbbruder Viktorin zusammen. Zu ihnen können
wir aber unter Umständen auch Hermogen zählen, der wie die beiden, ein Teil der sündigen
Familie ist. Damit wird das Verhältnis zu einer Dreierkonstellation erweitert. Das lässt sich
auch zumindest ansatzweise zeigen. Zunächst ist es auffällig, dass Hermogen eine
gegensätzliche Tendenz zu Medardus aufweist. Als Medardus nach seinem ersten ViktorinErlebnis auf das Schloss kommt, wird er Zeuge einer Unterhaltung, die andeutet, dass
Hermogen ins Kloster gehen will. Das genaue Gegenteil ist mit Medardus der Fall, der froh
ist, aus dem Kloster herausgekommen zu sein. Damit sind sie in ihrer Entwicklung
gegenläufig. Der eine will der Fleischeslust entsagen, während der andere sie erst jetzt richtig
ausleben will.
„Dieses in der Romantik und auch bei Hoffmann beliebte Motiv kann als Thematisierung von
Identitätsspaltung angesehen werden, es akzentuiert nämlich eine Abspaltung verschiedener und einander
entgegengesetzter Wahrnehmungs- bzw. Interpretationsmöglichkeiten des eigenen Ich und der Welt in zwei
(in einigen Fällen sogar drei oder mehr) verschiedene Figuren, die einander entgegengesetzt sind, indem sie
oppositionelle Lebensmodelle (Weltmodelle) vertreten.“68
Hermogen ist eine Art reziproker Doppelgänger, der die Entwicklung Medardus in
umgekehrter Richtung zu durchlaufen scheint. Eine weitere Verbindung besteht auf einer
anderen, höheren, psychischen Ebene, womit wir beim psychologischen Teil des Motivs
wären. Hermogen scheint Medardus zu durchschauen, denn Medardus selbst äußert sich
folgendermaßen: „Er schien tief in meine Seele zu dringen und meine geheimsten Gedanken
zu erspähen.“ (S. 68) Ähnlich, wie es später mit Viktorin der Fall ist.
Nach Johannes Harnischfeger: Das Geheimnis der Identität. Zu E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“,
in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 36, 1990, S. 5.
68
M. Orosz, S. 61.
67
29
Im Roman wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Wahnsinnigen anscheinend über
die Gabe oder Möglichkeit verfügen, dem Menschen in sein Inneres zu schauen und seine
geheimsten Gedanken zu erspähen. In den „Serapions-Brüdern“ lässt Hoffmann seinen
Theodor einmal sagen, dass der Wahnsinn „Blicke“ in die „schauerlichste Tiefe“ der
menschlichen „Natur“ gewähre69. Später spricht Hermogen eine Warnung aus, die Medardus
verängstigt: „[...] der du selbst vergeblich ringen wirst nach der Entsündigung, nach der
Seligkeit des Himmels, die sich dir auf ewig verschloß? [...]“ (S. 69) Bevor Medardus ihn
dann ermordet, bezeichnet Hermogen ihn als „verruchten Mordbruder“ (S. 83). Noch ein
deutliches Anzeichen für ihre Verwandtschaft. Als Medardus seine zweite Begegnung mit
Viktorin hat, scheint es ihm, als würde er in diesem Hermogen erkennen, „[...] gewisse Züge
erinnerten entfernt an Hermogen.“ (S. 115).
An späterer Stelle weist Medardus auf eine wichtige Verbindung und Ähnlichkeit zwischen
den Dreien hin: „Den Hermogen habe ich nur nicht gut getroffen, er hat solch ein
verdammtes Kreuz am Halse, wie wir beide, aber mein flinkes Messerchen ist noch scharf und
spitzig.“ (S. 207). Durch einen äußeren Makel sind sie gekennzeichnet. Eine Korrespondenz
zwischen den Dreien lässt sich zweifellos erkennen.
Die Tatsache, dass sich die unglücklichen Ereignisse innerhalb eines Geschlechts abspielen,
verweist auf die Schicksalhaftigkeit des Lebens. Im Vorwort werden wir schon darauf
hingewiesen. Medardus muss erkennen, dass sein Treiben doch nicht so willkürlich war, wie
er es annahm. Er bleibt geknüpft an den unsichtbaren Faden, den er nicht zerreißen kann.
Lediglich fehlt ihm der Wille zur Einsicht in die Erkenntnis, um sich damit abzufinden.
Doch nicht nur die Drei stehen in einem doppelgängerischen Verhältnis, sondern auch der
Revenant und Urvater Francesko, aber auch andere Personen, haben gewisse Ähnlichkeiten
untereinander70. So sieht Aurelie aus wie die heilige Rosalie, mit der sie im Roman ständig
verglichen wird. „Ja nicht Aurelie, die heilige Rosalia selbst war es, und ich stürzte zu ihren
Füßen und rief laut [...].“ (S. 205, 307, 320...). Bei ihrem Ordenseintritt bekommt sie den
Namen Rosalia. Damit werden Aurelie und Medardus zur Verdopplung des Urpaares, von
welchem der Fluch ausging. Aurelie als Doppelgängerin der Frau Venus und Medardus als
Doppelgänger und Nachfahre des Malers. Tatsächlich schaffen es erst die beiden, den
jahrhundertealten Fluch zu brechen.
69
E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, S. 37.
Aus der Genealogie und einzelnen Aussagen wird klar, dass fast alle männlichen Nachkommen der Familie
sich ähnlich sehen, ja sogar für Doppelgänger gelten können.
70
30
Doch das System von Spiegelungen geht weiter und drückt sich in auffälligen Übertragungen
aus. Eine davon ist z.B. der Name Francesko, dessen Variationen viele der männlichen
Nachfahren der Familie tragen. Es ist der Name des Ahnherrn, der frevelhaft gesündigt und so
den Fluch auf die gesamte Familie gelegt hat. Sein Name ist auch schließlich Medardus’
Geburtsname, der als Franz zur Welt kommt – so wie die Hälfte seiner männlichen Vorfahren.
Diese Parallele weist schon auf eine innigere Verbindung zum Ahnherrn hin, dessen ‚Retter’
er letztendlich wird, als er sich selbst „den Geist der Rache“ (S. 81) nennt.
Kommen wir nun zur Analyse des eigentlichen Doppelgängerpaars, zu Medardus und
Viktorin. Als Medardus das Kloster auf Anordnung des Priors verlässt, trifft er zum ersten
Mal seinen Doppelgänger. Kurz vorher nimmt er noch einen kräftigen Schluck aus der
Korbflasche, in der das Elixier ist und unter dessen Einfluss er ohnehin schon steht. Die
Wirkung bekommt ihm gut, er erlangt neue Kräfte, und kurz danach kommt es zum
Schlüsselerlebnis: Als Medardus einen schlafenden Mann in Uniform (Viktorin) wecken will,
stürzt dieser einen Abhang herunter und wird durch den Aufprall – wie sich später herausstellt
– schwer verletzt, aber nicht getötet. Allerdings wird er schwer geschädigt und zum
Wahnsinnigen. Medardus erkennt in dem Antlitz des Fremden seine eigenen Züge, sein
eigenes Gesicht! Medardus, der von Viktorins Diener gleich darauf gefunden wird, reagiert
blitzschnell und lässt es nicht zu, entlarvt zu werden. Im Gegenteil, er nimmt Viktorins Stelle
ein und antwortet zielstrebig auf die Fragen seines Dieners. Danach behauptet er zwar, es sei
nicht er, der diese Worte sprach: „[...] antwortete es aus mir hohl und dumpf, denn ich war es
nicht, der diese Worte sprach, unwillkürlich entflohen sie meinen Lippen.“ (S. 50); er erkennt
aber sofort die Zusammenhänge und erschließt seine Ähnlichkeit zu dem gerade Gestürzten
Grafen und sieht es als „ein wunderbares Verhängnis“ (S. 50) an, welches ihn an die Stelle
des Grafen rückte. Hier fängt die eigentliche Identitätsproblematik an. Medardus wird zu
Viktorins Doppelgänger, gleichzeitig aber auch zu seinem eigenen. Wie kommt es dazu?
Medardus entschließt sich kurzerhand, den Platz Viktorins einzunehmen und auf das Schloss
zu gehen; gleichzeitig hatte sich Viktorin die Identität eines Mönchs ausgesucht, um seine
Tarnung im Schloss aufrecht zu erhalten. Zu Medardus’ Verwunderung wird er dort als er
selbst, nämlich als der berühmte Kanzelredner Medardus erkannt, so dass er äußerlich diese
Rolle weiter spielen muss. Öffentlich ist er also gezwungen, seine eigentliche Identität
weiterhin beizubehalten, während er in Euphemies Gesellschaft die Identität und Rolle
Viktorins übernimmt und erstmals exzessiv auslebt. „Medardus leidet unter der »fixen Idee«,
sein eigener Doppelgänger zu sein (was medizinisch dem sogenannten »partiellen Wahnsinn«
31
entspricht).“71 Dadurch wird er zwiespältig, zerrissen. Dieser Zufall der äußerlichen
Übereinstimmung macht den Rollentausch perfekt, weil sich Viktorin nach seinem Sturz
wirklich für einen Mönch hält und so in der Öffentlichkeit Medardus’ Platz einnimmt – was
noch Folgen für beide haben wird. Medardus ist bei seinem Schlossaufenthalt also
gezwungen, weiterhin sich selbst (einen Mönch) zu ‚spielen’, was ihn zum eigenen
Doppelgänger macht, denn er fühlt sich eigentlich nicht mehr als Mönch, er will keiner mehr
sein.
„Mein eignes Ich, zum grausamen Spiel eines launenhaften Zufalls geworden und in fremdartige Gestalten
zerfließend, schwamm ohne Halt wie in einem Meer all der Ereignisse, die wie tobende Wellen auf mich
hineinbrausten. – Ich konnte mich selbst nicht wiederfinden! – Offenbar wurde Viktorin durch den Zufall, der
meine Hand, nicht meinen Willen leitete, in den Abgrund gestürzt! – Ich trete an seine Stelle, aber Reinhold
kennt den Pater Medardus, den Prediger im Kapuzinerkloster in ..r-, und so bin ich ihm das wirklich, was
ich bin! – Aber das Verhältnis mit der Baronesse, welches Viktorin unterhält, kommt auf mein Haupt, denn
ich bin selbst Viktorin. Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein
unerklärlich Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!“ (S. 63)
Am Rollentausch erkennt man, wie unsicher sich Medardus seiner Identität ist, und es folgen
noch zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie er zwischen mehreren Identitäten hin und her
wechselt, gerade so, wie es ihm passt und nützlich ist. Einerseits wird sein Wahn innerlich
vorangetrieben, vor allem durch seine sexuelle Triebhaftigkeit, andererseits wird der Wahn
durch äußerliche Übereinstimmungen begünstigt. Dem ohnehin mit sich unzufriedenen
Medardus muss das noch zusätzlich belasten. Momentan ist er ohne festen Halt. So verhält es
sich auch, als er nach dem Doppelmord das Schloss verlässt und wieder einen Rollentausch
vornimmt. Er kann die Last des Frevels, der Sünde und der Schuld nicht verkraften und sieht
in einer Vision Viktorin, nicht sich selbst, als den Übeltäter. „Aber – des gräßlichen Anblicks!
– vor mir! – vor mir stand Viktorins blutige Gestalt, nicht ich, er hatte die Worte
gesprochen.“ (S. 84) Damit projiziert er seine Schuld auf eine andere Person, auf sein Alter
Ego Viktorin, der öfters als „Sündenbock“72 herhalten muss.
Es lässt sich sagen, dass, unter psychologischem Aspekt, Viktorin eine Art anderes Ich
Medardus’ ist. Obwohl er als reale Person zweifellos existiert, übernimmt er trotzdem diese
Rolle für ihn. „Victorin, der Halbbruder, ist in der Romanwelt beides: jemand anderes als
Medardus und dessen anderes Selbst.“73 Sein Verschwinden und Auftauchen bei Bedarf
deutet auf so etwas hin. Er erscheint nicht unwillkürlich, sondern dann wenn Medardus im
Begriff ist, sich selbst zu verleugnen, oder wenn Medardus etwas Schlechtes tun will. Die
konkrete Theorie geht von einer Ich-Spaltung Medardus’ aus, die auf die These gestützt wird,
dass Viktorin letztlich verschwindet, als Medardus seine Krise, seine innere Spaltung
71
Vgl. Franz Loquai, S. 57.
Vgl. Karin Cramer: Bewusstseinsspaltung in E.T.A. Hoffmanns Roman „Die Elixiere des Teufels“, in:
Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 16, 1970, S. 9.
72
32
überwunden hat74.
Verstärkend kommt hinzu, dass Viktorin genau das macht, was Medardus wollte und was ihm
gleichzeitig hilft. Der Tod Aurelies bringt Medardus wieder einigermaßen ins psychische
Gleichgewicht. Medardus’ Unterbewusstsein wird in Viktorins Gestalt verwirklicht. Viktorin
übernimmt ab dem Sturz in den Abgrund, der seine eigentliche Einführung in den Roman
bedeutet, die Identität eines wahnsinnigen Mönchs und wird somit Medardus’ Doppelgänger.
Im Verlaufe des Romans, bekennt er sich zu Medardus’ Taten oder vollstreckt sie sogar
selbst. Die Schuld fällt jedesmal ihm zu, womit er zum Sündenbock wird. Damit erfüllt er
auch eine Art Gewissensreinigung Medardus’. Gleichzeitig scheint er für die böse, schlechte
Seite Medardus’ zu stehen. Dessen „Ich erfährt nicht nur eine einfache Auf-Spaltung in zwei
entgegengesetzte Figuren; sondern über bestimmten Abschnitten seines Lebens stehen nicht
zufällig die verschiedenen »Seinsformen« repräsentierenden Namen Franz, Medardus,
Viktorin, Leonard.“75 In Anlehnung an Schubert, können sich dem Menschen und seinem
Gewissen, welches „als geistiges Organ des Menschen“ bezeichnet wird, verschiedene
„Stimmen“, bzw. „besondre, selbständige Wesen“ bemerkbar machen. Laut Schubert wird
diese „Doppelseitigkeit“ in Form von „gutem oder bösem Dämon“ veranschaulicht76.
Unter Verwendung eines solchen Schemas lässt sich der alte Maler als guter Dämon und
positive Kraft einstufen, während Viktorin, aber auch andere Personen, als das Negative
empfunden werden müssen. Viktorin wirkt keinesfalls als einheitliche Person. Er besitzt
irrationale Züge. An seiner keinesfalls eindeutigen Zuordnung sieht man die Komplexität, die
Hoffmann seinen Figuren verleiht. Ganz klar übernimmt Viktorin verschiedene Funktionen.
So verschieden wie die Funktionen, so verschieden sind ihre Zusammentreffen. Neben den
realen Treffen finden auch in Träumen und Visionen Zusammenkünfte statt. Die Realität
derer ist aber nicht minderwertig. Wie sich zeigen wird, können diese ebenso nützlich und
‚real’ sein. Entscheidend ist ihre Verbundenheit, denn es scheint als Fakt zu gelten, dass die
beiden eine ‚übersinnliche’ Verbindung besitzen. Nicht nur, dass beide Charaktere Sachen
wissen, die sie normalerweise nicht wissen könnten, nein, auch ihr Rollentausch und ihre
ständigen Visionen deuten auf eine Art telepathische Beziehung hin. Hoffmanns Vorliebe für
den Magnetismus und Somnambulismus tritt hier klar ans Licht.
Durch die Übernahme einer fremden Rolle gerät Medardus in einen aufgewühlten Zustand,
der oft dem Wahnsinn nahe kommt. Ihn muss er überwinden, um seine inneren Probleme zu
lösen. Die Stelle nach dem Doppelmord an Hermogen und Euphemie wird eine ganz
73
Aus: R. Safranski, S. 343.
Karin Cramer, S. 9f.
75
Vgl. A. Dumont, S. 42.
74
33
schwierige für ihn. Aufgrund der Umstände muss er nun erneut die Identität wechseln und
schiebt somit jemand anderem die Schuld an den Taten zu – dem Sündenbock. Doch damit
arbeitet er nichts von seinen inneren Konflikten und Problemen auf und erzielt somit keinen
Fortschritt in seiner Entwicklung. Die Spaltung und der Doppelgänger bleiben bestehen.
Seine Situation wird treffend im Lied dargestellt, welches sich regelmäßig an Stellen ihrer
Zusammentreffen im Werk wiederholt. Ziel ist es den „Bruder“ zu ermorden, denn nur so
wird man zum Herr im eigenen Haus, und die entstandene Ich-Spaltung kann wieder
überwunden werden.
Das Lied erzählt vom Kampf. Dieser Kampf könnte nach Schubert die schon angesprochene
Metamorphose, in welcher sich Medardus befindet, beschleunigen. Der „Kampf zweyer
Prinzipien, welche ursprünglich einander befreundet, eins das andere voraussetzend, bey
einem gegebenen Punkte sich feindlich gegeneinander entzünden, … bis zuletzt das
zerstörende Princip von dem ihm entgegengesetzten besiegt wird, und wo sich gleichsam
perspectivisch …
eine Periode der Vollendung, frey vom Kampfe, und ein Reich des
Friedens darstellt.“77 Problematisch erscheint dabei nur, dass sich das ganze doch nicht so
eindeutig verhält. Nach dem Kampf ist Medardus keineswegs so in „Frieden“, dazu stört ihn
noch Aurelie.
Zurück zu Viktorin, der nicht nur ein Sündenbock ist, sondern für Medardus gleichzeitig als
ein Spiegel fungiert. „Mir war wohl und leicht, daß der Mönch, dessen Erscheinung mein
eignes Ich in verzerrten, gräßlichen Zügen reflektierte, entfernt worden.“ (S. 129) Das macht
er sowohl mit seinem Aussehen, als auch mit seiner Identität, durch die völlige Identifikation
mit Medardus, in der er alle von Medardus begangenen Verbrechen zugibt. Dadurch nützt es
Medardus gar nichts, alles zu verneinen, denn er wird von der Welt trotzdem als schuldig
erfahren. Er sieht sich aber durch höhere Machte geleitet und verweigert so seine Schuld
hartnäckig durch Berufung auf die Vorbestimmtheit seiner Taten. Damit bremst er zugleich
seine Selbsterkenntnis. Immer wenn Medardus Probleme mit seiner Identität bekommt, taucht
Viktorin auf. So ist es auch im Gefängnis. Dort hat er zwei Visionen von seinem
Doppelgänger. Durch die auftretenden Visionen sieht man genau, was sich in seinem Inneren
abspielt. Sie sind psychologisch wertvoll. Beide Visionen haben mit Medardus’ Wunsch nach
einem baldigen Ende dieser Situation zu tun. Medardus sieht in Viktorin seine leibhaftige
Vergangenheit verkörpert.
76
77
Gotthilf Heinrich Schubert: Symbolik des Traums, Bamberg, 1814, S. 56, 60f.
Ebd. S. 37.
34
Als er schon so weit ist, vor dem Richter alles zuzugeben, rettet ihn wieder das Schicksal,
woraufhin Medardus noch einmal den gleichen Fehler macht und sein egoistisches Spiel
weiter treibt. Das nächste Zusammentreffen der beiden findet in der Residenzstadt statt, wo
Medardus erneut in Form Viktorins ein Spiegel vorgesetzt wird. Viktorin wird als der
wahnsinnige Mönch Medardus den Menschen vorgeführt, was Medardus wahnsinnig werden
lässt. Es folgt der Angriff auf Aurelie und die Befreiung Viktorins.
Später kommt es zum Kampf im Wald, der als Verwirklichung des Liedtextes gelten kann, da
es eine offene physische Auseinandersetzung zwischen ihnen gibt. Nach der offenen
Auseinandersetzung mit seinem zweiten Ich fängt Medardus’ Genesungsprozess an. Seine
Bereitschaft, Schuld zuzugeben, wächst und er findet schließlich noch seine Identität und
Ruhe, aber „Das andere Selbst anzuketten gelang durch härteste Bußübungen und
Todesgefahr nur scheinbar.“78 Eine letzte Hürde bleibt in der Gestalt Aurelies, die ihm doch
noch im Wege steht. Erst als sie tot und somit dem Zugriff Medardus’ entzogen ist, kann er
eins mit sich werden. Schließlich ist sie als Verkörperung seines Liebesideals für den
Ausbruch seines Triebes ausschlaggebend. Solange er der Versuchung ausgesetzt ist, kann er
ihr unterliegen, das hat sich gezeigt. Als Viktorin bei Aureliens Ordenseintritt auftaucht und
sie umbringt, ist Medardus erst wirklich erlöst. Sein Idealbild ist vergeistigt. Gleichzeitig
verschwindet Viktorin für immer. Medardus stirbt ebenfalls, genau ein Jahr später – so ist der
Fluch beendet und das Schicksal erfüllt. Diese Tatsache bekräftigt die Vorbestimmtheit des
Lebens, so wie es im Vorwort steht.
3.1.6 Weitere wichtige Motive
Das Teufelselixier ist das erste Funktionsmotiv, das näher erläutert wird. Im Roman nimmt es
eine wichtige Stellung ein. Mit seiner Einführung in den Roman ist auch ein klärendes
Gespräch verbunden, das zwischen dem jungen Medardus und dem alten Bruder Cyrillus
stattfindet. Dabei geht es um die Klärung der Echtheit der Reliquien und um die Art und
Weise ihrer Wirkung. Medardus bezweifelt zuerst deren Echtheit und schreibt ihnen deshalb
ihre Wirkung nicht zu, doch Cyrillus belehrt ihn eines besseren:
„»Es geziemt uns wohl eigentlich nicht«, erwiderte der Bruder Cyrillus, »diese Dinge einer solchen
Untersuchung zu unterziehen, allein, offenherzig gestanden, bin ich der Meinung, daß, [...] wohl wenige
dieser Dinge das sein dürften, wofür man sie ausgibt. Allein es scheint mir auch gar nicht darauf
anzukommen. [...] aber den Gläubigen, der, ohne zu grübeln, sein ganzes Gemüt darauf richtet, erfüllt bald
jene überirdische Begeisterung, die ihm das Reich der Seligkeit erschließt, das er hienieden nur geahnet; und
so wird der geistige Einfluß der Heiligen, dessen auch nur angebliche Reliquie den Impuls gab, erweckt, und
der Mensch vermag Stärke und Kraft im Glauben von dem höheren Geiste zu empfangen, den er im Innersten
des Gemüts um Trost und Beistand anrief.«“ (S. 26)
78
A. Dumont, S. 41.
35
Medardus ändert daraufhin seine Meinung und „[...] betrachtetet nun die Reliquien, die [ihm,
Z.M.] sonst nur als religiöse Spielerei erschienen, mit wahrer innerer Ehrfurcht und
Andacht.“ (S. 27)
Damit wird er selbst anfällig für die Versuchung, der er später erliegt. Dem Elixier wird im
Werk eine Wirkung zuteil, die sich unter anderem in einer Lockerung der Identität äußert.
Eigentlich ist es aber ein Placebo, denn nur der Glaube an seine Wirkung hat die
entscheidende Macht. Dadurch hat es eine klar psychologische Funktion. Nach dem ersten
Konsum hält sich Medardus schließlich für den heiligen Antonius. Beim zweiten Konsum
stößt er auf Viktorin, den er den Abhang hinab befördert und dessen Platz er einnimmt, ja,
dessen Identität er zeitweise als die seinige glaubt. Diese Seite ist die psychologische, die dem
Motiv innewohnt. Letztendlich geht es nur um die Bewährungsprobe, die Medardus nicht
besteht. Willentlich nimmt er das Elixier zu sich, um sich an seiner kräftigenden Wirkung zu
laben. Damit tritt zwar die erwünschte Stärkung auf, doch auch die mit dem Teufelselixier
verbundenen Nebenwirkungen und Nachteile. Mit dem Konsum des Elixiers überlässt er dem
triebhaften Inneren die Kontrolle über sein Selbst. Das unterdrückte sexuelle Verlangen wird
entfesselt, wodurch die Einheit seiner Person nicht mehr länger zu existieren vermag.
Unterstützt durch die äußeren Umstände und den Doppelgänger geht diese Entwicklung
weiter. Sein Ich verschwimmt immer mehr und wird sich uneinig.
Ein interessantes Phänomen sind die verschiedenen Phantome, die im Roman auftauchen. Als
erstes sei Hermogen zu nennen, der nach seiner Ermordung durch Medardus im Roman
herumgeistert. Ein weiteres ist das Messer, das sich immer zur richtigen Zeit in Medardus’
Besitz findet und nach seinem Gebrauch stets spurlos verschwindet. Mit ihm werden fast alle
Verbrechen begangen. „Ein kleines, spitzes Messer, das ich schon von Jugend auf bei mir
trug [...]“ (S. 82) Mit dem Messer ermordet er Hermogen, doch später findet es sich in
Viktorins Besitz, der Erzählung des Försters zufolge: „[...] aber plötzlich, noch weiß ich nicht
wie das zugegangen, blinkte ein Messer in des Mönchs Faust, [...]“ (S. 121) Schon in der
Vorgeschichte wurde damit gemordet (S. 161). Damit ist es als eines der Familienphantome
überführt. Seine Funktionsweise bleibt gänzlich ungeklärt und ist damit auch in der
mystischen Sphäre anzusiedeln.
Das wichtigste Phantom ist aber mit Sicherheit der Ahnherr und alte Maler Francesko, der als
eine Art Revenant oder als „ewiger Jude“ durch die Handlung geht 79. „Ich habe alles
geschaut, da zogen Sie, von Wut entbrannt, ein Messer, Verehrter, an dem schon diverse
Blutstropfen hingen, aber es war ein eitles Bemühen, dem Orkus den zuzusenden, der dem
79
Ernst von Schenk: „E.T.A. Hoffmann. Ein Kampf um das Bild des Menschen.“, Berlin, 1939, S. 279.
36
Orkus schon gehörte, denn dieser Maler ist Ahasverus, der ewige Jude, oder Bertram de
Bornis [...]“ (S. 106) Seine Zuordnung ist insbesondere schwierig, da er auch als reale Person
aufzutauchen scheint. Die Rolle, die er hat, ist eine warnende und mahnende, wie er später
selbst sagt: „Ich warnte dich, aber hast mich nicht verstanden!“ (S. 194) Darin stimmt er zum
Teil mit Viktorin überein. Medardus sieht bis zu seiner inneren Wandlung trotzdem stets den
Feind in ihm, der ihn ins Verderben stürzen will. Hier wird deutlich sichtbar, wie verzerrt
Medardus’ Wahrnehmung ist (vergleichbar mit Nathanaels Wahrnehmung im „Sandmann“).
Eine außerordentlich wichtige Rolle spielt der Wahnsinn im Roman. Ihm kommen mehrere
Funktionen zu, die von immanenter Wichtigkeit für die Betroffenen sind. Eine Funktion ist
die der erhöhten inneren Kraft, die durch den Wahnsinn hervorgerufen wird. Sie erlaubt es
den ‚Wahnsinnigen‘, einen tiefen Blick ins Innere des Menschen zu werfen und all seine
Geheimnisse ins Freie zu übertragen. Das zeigt sich anhand einiger eindeutiger Textstellen:
„Es ist etwas Eignes, daß Wahnsinnige oft, als ständen sie in näherer Beziehung mit dem Geiste und
gleichsam in ihrem eignen Innern leichter, wiewohl bewußtlos angeregt vom fremden geistigen Prinzip, oft
das in uns Verborgene durchschauen und in seltsamen Anklängen aussprechen, so daß uns oft die
grauenvolle Stimme eines zweiten Ichs mit unheimlichem Schauer befängt.“ (S. 72)
So durchschaut Hermogen, der als wahnsinnig gilt, sofort Medardus’ Absicht und spricht ihm
sogleich Drohungen aus. Schließlich schafft er es auch, Aurelie vor Medardus zu beschützen.
Eine weitere Figur ist das alte Zeterweib, die auch über seherische Fähigkeiten verfügt und als
wahnsinnig gilt: „Der Blutbruder hat mir keinen Groschen gegeben, seht ihr nicht den toten
Menschen vor mir liegen? Über den kann der Blutbruder nicht wegspringen, der tote Mensch
richtet sich auf, aber ich drücke ihn nieder, wenn mir der Blutbruder einen Groschen gibt.“
(S. 89) Das ist eine ganz eindeutige Anspielung auf Hermogen bzw. auf die Ereignisse auf
dem Schloss. Auch das „Blutbruder“ klingt sehr nach dem „Mordbruder“ Hermogens.
Medardus selbst erkennt, dass der Wahnsinn auch gute Seiten hat, so im Text: „Schien nicht
der Wahnsinn, der überall sich mir in den Weg stellte, nur allein vermögend, mein Inneres zu
durchblicken und immer dringender vor dem bösen Geiste zu warnen, der mir, wie ich
glaubte, sichtbarlich in der Gestalt des bedrohlichen, gespenstischen Malers erschienen?“ (S.
128) Erstaunlich ist einerseits, dass Medardus sich ständig äußerlich verstellt, er aber immer
irgendwo ‚entlarvt’ wird. Der Prior durchschaut ihn stets, genau wie andere Personen. Eine
dieser weiteren, wichtigen Personen ist Belcampo/Schönfeld, der Friseur und Helfer
Medardus’ wird, und der diesen gleichfalls durchschaut. Als sich Medardus von ihm
verkleiden lassen will, fordert Belcampo ihn auf, einige Schritte zu machen. Darauf sagt er
ihm: „Es liegt in ihrem Gange etwas, das auf einen Geistlichen hindeutet.“ (S. 93) Belcampo
sagt selbst, er habe einen „Blick, der in die Tiefe schaut“ (S. 93). Er hilft Medardus, sich an
die Gesellschaft so gut wie möglich anzupassen, und darüber hinaus hilft er ihm bei seiner
37
Flucht aus der Gesellschaft, als er zum dritten Mal den alten Maler sieht und dieser ihn
öffentlich bloßstellt. Belcampo eröffnet ihm auch, was es mit dem alten Maler auf sich hat.
Eine Parallele zu Medardus ist seine Zwiespältigkeit, die sich im Führen von zwei Namen
schon ganz offen zeigt:
„Ach, ehrwürdiger Herr, es steckt ein infamer, sündlicher Kerl in meinem Innern und spricht: »Peter
Schönfeld, sei kein Affe und glaube, daß du bist, sondern ich bin eigentlich du, heiße Belcampo und bin eine
geniale Idee, und wenn du das nicht glaubst, so stoße ich dich nieder mir einem spitzigen, haarscharfen
Gedanken.« Dieser feindliche Mensch, Belcampo genannt, Ehrwürdiger! begeht alle mögliche Laster; [...]“
(S. 108)
Eine weitere Funktion ist der Schutz(-mechanismus) der Ohnmacht. An verschiedenen Stellen
verfällt Medardus in einen kurzzeitigen Wahnsinn, der immer in einer Ohnmacht endet und
ihn so vor größeren Problemen bewahrt. Zu Beginn der Handlung, als ihm im Moment der
Überheblichkeit und des Größenwahns der alte Maler erscheint, dringt dieser in Medardus’
Inneres und ihn überkommt ein kurzzeitiger Wahnsinn: „Da schrie ich auf in der Höllenangst
wahnsinniger Verzweiflung: »Ha Verruchter! hebe dich weg! – hebe dich weg – denn ich bin
es selbst! – ich bin der heilige Antonius!« – Als ich aus dem bewußtlosen Zustand, in den ich
mit jenen Worten versunken [...]“ (S. 34)80
3. 2. „Die Doppeltgänger“81
3.2.1 Entstehung
Die 1822 publizierte Erzählung, die vermutlich 1821 fertiggestellt wurde, zieht ihren
Ursprung bis zum Jahre 1815 zurück. Damals lagen Pläne zu einem Gemeinschaftsroman vor,
dessen Verwirklichung durch Hoffmann, Karl Wilhelm Salice Contessa, Adelbert von
Chamisso und Julius Eduard Hitzig bewerkstelligt werden sollte. Der „Roman des Freiherrn
von Vieren“, so sollte der Roman heißen, wurde allerdings nie geschrieben und gedruckt. Es
gab zwar allerlei Pläne, doch Chamissos
Weltreise ab 1815 verhinderte sein
Zustandekommen. Es ist anzunehmen, dass die Pläne für den Hoffmannschen Teil später von
ihm dazu verwendet wurden um „Die Doppeltgänger“ zu schreiben, die eine seiner vielen
Auftragsarbeiten waren. Die Doppelgängerthematik sollte auch im Gemeinschaftsroman eine
wichtige Rolle spielen82. Das muss nicht sehr verwundern, da sowohl Chamisso als auch
Hoffmann schon vorher Doppelgängerdichtungen geschrieben hatten. Chamisso u.a. mit dem
80
Hierbei handelt es sich um einen Laienexorzismus, der in dieser Paraphrase aus der Bibel stammen könnte.
Durch solche Verfahren stärkt Hoffmann die christliche Mystik und auch den Gut – Böse Dualismus innerhalb
des Romans. Näheres zu diesem Thema, bei F. Loquai, S. 45 – 64.
81
Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Späte Werke, Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, Darmstadt, 1965.
82
Chamisso hatte schon 1808 ein Kapitel zum Gemeinschaftsroman „Die Versuche und Hindernisse Karls“
verfasst, doch es kam zu spät und wurde nicht miteinbezogen.
38
„Peter Schlemihl“ und Hoffmann mit den „Elixieren“. Was nun die Doppelgängerthematik
angeht, so rankt sich, wie so oft bei Hoffmann, ein großes Mysterium darum.
Kernpunkt und Titel der Erzählung sind die Doppelgänger. Während es in den „Elixieren“ als
Funktionsmotiv gebraucht wurde, ist es hier strukturbestimmend. Eine Entwicklung ins
Zentrum hat stattgefunden.
Hoffmanns
„Doppeltgänger“
sind
wahrlich
etwas
Besonderes
unter
seinen
Doppelgängergeschichten. Das Motiv war ihm mittlerweile gut vertraut, was ihn aber nicht
daran hinderte, es noch einmal zu bearbeiten. Es hat für ihn nicht an Attraktivität verloren,
ganz im Gegenteil, er macht es zum Hauptthema. Mit fortschreitendem Alter haben sich auch
das Motiv und dessen Handhabung verändert, bzw. weiterentwickelt. Verschiedene Einflüsse
sind darin zu entdecken, vor allem aus Goethes „Wahlverwandschaften“ scheint er geschöpft
zu haben. Wie das Motiv im Einzelnen aussieht, soll anhand des Textes genauer gezeigt
werden.
3.2.2 Die Geschichte der ‚Doppeltgänger‘
Deodatus Schwendy ist ein junger Mann, der von seinem Vater nach Höhenflüh geschickt
wurde, um, nach dessen Worten, dort „ein wunderbares Ereignis“ (S. 444), welches seine
Zukunft verändern soll, zu erleben. Dort hält sich zu jener Zeit eine alte Frau mit einem
weissagenden Raben auf, die alle Menschen in diesem Ort an sich zieht. Im Sinne des
‚serapiontischen Prinzips’ werden die Frau und ihre Orakelsprüche aus mehreren
Perspektiven beleuchtet, und entweder akzeptiert oder abgelehnt83. An dieser Stelle sei
angemerkt, dass wir wieder eine Figur vorfinden, die auf unerklärliche Weise die Zukunft
voraussagt. Ob sie das nun wirklich kann oder nicht, sei dahingestellt. Damit knüpft
Hoffmann an seine früheren Werke wie die „Automate“ an, doch auch an Arnim, der sowohl
in der „Isabella“ als auch in der „Melück“ Prophezeiungen benutzt, um die Handlung
voranzutreiben. Eine gewisse Stereotypie der Motive und ihrer Verknüpfungen lässt sich hier
leider nicht weg reden.
Als Deodatus des Auftritts der Alten und ihrer Orakelsprüche gewahr wird, „[d]a war es
[ihm], als sei hinter jenen Vorhängen, durch die die Menschen hineinschlüpfen, wirklich eine
dunkle, unheimliche Macht verborgen, die dem Fröhlichen die unheilbringende Zukunft
enthülle und so schadenfroh jeden Genuß des Augenblicks töte.-„ (S. 444). Auch hier ist die
stereotype Anwendung der „dunklen, unheimlichen Macht“ (S. 444), die wir aus allen seinen
untersuchten Werken kennen, nicht zu leugnen.
83
Typisch für Hoffmann ist diese Art der Polarisierung, die wir auch im „Sandmann“ festgestellt haben.
39
Unbewusst kehrt er in ein Zimmer ein, wo er als Herr Haberland angeredet wird. Hier kommt
es zur ersten Verwechslung, die den Großteil der Handlung bestimmt, denn die beiden
Doppelgänger werden noch des Öfteren miteinander verwechselt. Die klassische
Verwechslungssituation bleibt uns also natürlich nicht erspart. Insofern verläuft der Gebrauch
erst einmal völlig ‚normal’. Deodatus, der noch unter dem Einfluss der alten Frau steht, merkt
zwar die Verwechslung, die ihm geschieht, doch er klärt die Situation nicht auf. Das ist
ungewöhnlich, da jeder Mensch normalerweise auf seine Individualität besteht. Ausnahmen
bilden Menschen, denen dieser Umstand zu Gute kommt, so wie z.B. Medardus zeitweise.
Es folgt eine ziemlich eindeutige Anspielung auf Brentanos „Wehmüller“: „Wäre doch nur
zum vorigen Jahrmarkt ein Maler und Bilderhändler am Orte gewesen, in dessen Bude ein
jeder sein wohlgetroffenes Porträt habe finden können.“ (S. 445). Aus diesem Zitat lassen
sich einige Parallelen herauslesen. Beide Protagonisten sind Portätmaler und beide haben das
passende Porträt für jedermann vorrätig. Diese Auffälligkeit sei nur am Rande erwähnt.
Deodatus wird erneut als Herr Haberland angesprochen, wobei er noch als Porträtmaler
bezeichnet wird. Wieder eine Künstlerfigur, die uns hier begegnet, denn Deodatus ist ja nicht
der andere Mann, für den er gehalten wird. Er „konnte sich eines innern Schauers nicht
erwehren[...]“ (S. 445). Nun musste ihm spätestens klar sein, dass es jemanden geben muss,
dem er nicht nur ähnelt, sondern der im Aussehen völlig identisch mit ihm ist. Doch damit
nicht genug; plötzlich umarmt ihn ein Mann, der ihn als George Haberland anspricht und sich
als sein langjähriger Freund zu erkennen gibt. Zur Verwunderung des Lesers versucht
Deodatus nicht wirklich, den Irrtum in seiner Person aufzuklären, sondern er spielt in
gewisser Weise mit und lässt alle im Glauben, er sei derjenige, für den man ihn hält84. Seine
Worte beschreiben seine Situation recht passend: „Ei du unbekannter Bruder, wie sollt ich
nicht konfus aussehen, da ich soeben mit meinem Ich in einem andern Menschen gefahren
bin, wie in einen neuen Überrock, der hin und wieder zu eng ist oder zu weit, der noch drückt
und preßt. Ei du mein Junge, bin ich denn nicht wirklich der Maler George Haberland?“ (S.
446). Als der Fremde einen angeblichen Brief Georges herauszieht und ihn Deodatus zeigt,
kommt es zum ersten großen Schock, denn: „[d]ie Handschrift des Briefes war ja ganz genau
seine eigene.“ (S. 446).
Zunächst verweist uns diese Parallele auf eine stärkere Verbindung zwischen den beiden
Doppelgängern, als zunächst angenommen, denn das Aussehen, welches bisher das Merkmal
der Zusammengehörigkeit war, kann man sich nicht selbst aussuchen oder bestimmen, doch
die Schrift ist etwas Persönliches, das von uns selbst bestimmt und entwickelt wird. Eine
84
Eine Parallele zu Medardus’ Verhalten, nachdem er Viktorin den Abhang hinunter beförderte.
40
Übereinstimmung in diesem Punkt deutet stark auf eine ‚geheime’ Verbindung hin.
Desweiteren ist dieses Motiv aus Goethes „Wahlverwandschaften“ entnommen, doch es bleibt
nicht das einzige.
Eines wird ganz schnell klar: zwischen Deodatus und seinem Doppelgänger George besteht
eine Verbindung. Worauf diese Verbindung basiert, worauf sie zurückzuführen ist, bleibt
eigentlich die interessanteste Frage, die sich der Leser wie auch die beiden Doppelgänger
stellen. Wie schon berichtet wurde, ist Deodatus den wunderbaren Dingen gegenüber offen.
Er glaubt an den Einfluss „dunkler Mächte“ (S. 444, 446,450...) die sich mit seinem Leben
beschäftigen.
Eben als sich Deodatus dem Kupferstecher Berthold zu erkennen geben will, wird er durch
eine dritte Person dabei unterbrochen, und so bleibt Berthold der Überzeugung, er habe mit
George gesprochen. Deodatus erfährt von einem abendlichen Auftritt der Alten im Garten,
und auf dem Weg dorthin begegnet ihm ein Fremder, der ihn sonderbar anstarrt, so als ob er
ihn kennen würde. Im Garten geschieht während des Auftritts der Alten etwas höchst
Merkwürdiges:
„»Die Hoffnung ist gestorben! Der Sehnsucht Lust war die Hoffnung, Sehnsucht ohne Hoffnung ist
namenlose Qual!« Tief seufzte die Frau und rief wie in Verzweiflung: »Die Hoffnung ist der Tod! – Das
Leben dunkler Mächte grauses Spiel!« Da schrie Deodatus unwillkürlich aus dem Innersten heraus:
»Natalie!« Rasch wandte sich die Frau um und ein altes fürchterlich verzerrtes Weiberantlitz starrte ihn an
mit glühenden Augen. Grimmig mit ausgespreizten Armen auf ihn losfahrend, kreischte das Weib: »Was
willst du hier? – Fort! Fort! – Der Mord ist hinter dir her! – Rette Natalien!« – Der Rabe rauschte durch die
Bäume herab auf Deodatus und krächzte gräßlich: »Mord - Mord!« Von wildem Entsetzen gepackt, halb
sinnlos, rannte Deodatus fort nach seiner Wohnung.“ (S. 449)
Aus der Passage wird klar das Deodatus anscheinend in einer Art telepathischer oder
somnambuler Beziehung steht, die ihm den Namen Natalie eingibt. Gleichzeitig weiß die Alte
darüber Bescheid und spricht ihm eine Warnung aus. Es muss also eine Verbindung zwischen
beiden existieren.
In der gleichen Nacht trifft er zum ersten Mal Natalie und auch seinen Doppelgänger. Die
Begegnung ist sehr interessant (jedoch nur einseitig, da nur Deodatus seinen Doppelgänger
bemerkt), weil der Leser erfährt, dass der Doppelgänger sogar die gleiche Stimme besitzt wie
er. Diese Tatsache bestärkt zwei mögliche Erklärungen dafür. Entweder sie sind eineiige
Zwillinge, was aber später widerlegt wird, oder ihre Zeugung stand unter höheren, fremden
Einfluss, so dass vielleicht ein ehebrecherischer Gedanke alleine ausreicht, um ein Kind dem
anderen völlig anzugleichen. Auf jeden Fall ist es höchst unheimlich, was Deodatus erlebt.
An dieser Stelle greift der Erzähler ein und erklärt zunächst etwas aus der Vorgeschichte der
Geschehnisse, da ansonsten außer neuen Fragen keine neuen Informationen kommen und die
Vorkommnisse unerklärlich werden. Eine ähnliche Taktik hat Hoffmann schon in den
41
Elixieren praktiziert. Eine weitere Parallele zum Roman ist das brüderliche Verhältnis der
Doppelgänger. Dieses ist hier viel weiter entwickelt und besteht eigentlich in keiner
fleischlichen Verwandtschaft (sie haben verschiedene Väter und Mütter), sondern in einer
psychischen. Die Ähnlichkeit ergibt sich aus der psychischen Verbundenheit der Fürstin (die
Alte mit dem Raben) zum Grafen Törny. Es wird ausdrücklich betont, dass es keinen
körperlichen Kontakt zwischen beiden gab. Vorstellbar ist auch ein Einfluss des Grafen auf
die Fürstin, denn der Graf schickt seinen Sohn nach Höhenflüh mit einer Ankündigung auf
bevorstehende Ereignisse. Woher kann er das wissen? Es könnte also sein, dass der Graf über
magnetische Fähigkeiten verfügt, die es ihm erlauben, einen tieferen Blick in die Welt und die
Ereignisse zu nehmen. Der Graf wird aber nie ausdrücklich mit solchen Attributen behaftet.
Der kurze Bericht verrät die Vertreibung der Fürstin und des Sohnes, sowie das
Verschwinden des Grafen samt seiner Familie. Der Fürst residiert seit dem alleine, und eben,
als er durch den Park spaziert, trifft er auf das streitende Paar vom Anfang (das silberne
Lamm und der goldene Bock). Sie tragen ihm ihre Sache vor und kommen dabei auf die Alte
zu sprechen: „Insonderheit rühmte der Bock die weise Frau, von der die gescheutesten
brillantsten Herren, die größten Genies von Höhenflüh, die er täglich an seiner Tafel
bewirten die Ehre, behaupteten, sie sei ein überirdisches Wesen und höher zu achten, als die
ausgebildetste Somnambüle.“ (S. 454)
Wieder bringt Hoffmann durch seine Figuren den Somnambulismus mit ins Spiel, der in der
Tat für viele Erklärungen gar nicht abwegig ist. Vor allem, weil die Alte ja die Fürstin ist, die
einen der Doppelgänger gebiert. Ein magnetisches oder somnambules Verhältnis könnte also
für die Gleichheit gesorgt haben. Die Verwechslung der Doppelgänger beginnt sich nun
langsam zu lösen. Dabei kommen neue Details über Natalie ans Licht. George malte sie einst
und verliebte sich in sie, doch ihr Vater verhinderte eine Beziehung. Ihr Vater ist der Graf
Hektor von Zelias, der später Deodatus einen Besuch abstattet. Deodatus beteuert, es läge eine
Verwechslung vor, da er nicht der Maler George ist, doch beim Namen Natalies zeigt er
Gefühle. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den Doppelgängern am stärksten, denn
George hat Natalie schon gesehen, sie ist sein künstlerisches Ideal, das er in die Wirklichkeit
holte. Für Deodatus ist sie bloße Vorstellung, er sah sie nur damals kurz in der Kutsche. Als
der Fürst Deodatus holen lässt, gerät er in höchste Erregung und erlangte die Überzeugung, er
sei sein Sohn, als es plötzlich ruft: „»Die Hoffnung ist der Tod, das Leben dunkler Mächte
grauses Spiel!« und krächzend flatterte ein schwarzer Rabe auf und hinein ins Gebüsch.“ (S.
471)
Das Zitat ist schon aus der Gartenszene bekannt. Der Fürst stürzt in Ohnmacht und muss
42
ärztlich versorgt werden, wobei Deodatus ebenfalls auf dem Schloss bleibt. Er entdeckt eine
alte Ruine, in der öfters Licht brennt und vermutet ein Abenteuer dahinter, welches er
unbedingt erforschen will. Er läuft zu den Ruinen als er plötzlich einen Brief zugeworfen
bekommt, in welchem sein Doppelgänger George von Natalie angerufen wird. Deodatus will
seinen Jugendtraum sehen, doch es scheint ihm nicht sicher ob er derjenige ist, den Natalie
meint. „- Aber! – bin ich es denn? – bin ich der George?“ (S. 478) Er geht zu ihr und will ihr
erklären, wer er ist, doch irgendwie klingt es wie bei Arnims Fichte-Parodie („ich bin ich und
du bist nicht ich“ s.o.). „Ich heiße auch nicht George, aber doch bin ich selbst mein Ich und
kein anderer.“ (S. 479) Die Begegnung wird nur kurz, er muss vor ihrem Vater fliehen und
wird dabei von Männern seines Vaters gerettet.
Der Fürst setzt vor seinem Tod ein Testament auf, in welchem er den jungen Deodatus
Schwendy als seinen Sohn erkennt und ihm sein Reich zur Regierung vermacht. Daraus folgt
eine Tatsache, die keiner, außer dem Grafen Törny und dem Fürsten weiß. Deodatus ist sein
Sohn, der Vater erkennt trotz all der Jahre seinen Sohn, obwohl er dem anderen Jungen völlig
gleich ist. Doch wie kann er das? Eine mögliche Begründung ist vielleicht die Melancholie, in
die der Fürst verfallen war. Sie ist, neben der Hysterie und dem Wahnsinn, bei Hoffmann oft
für höhere Bewusstseinszustände verantwortlich.
Nach dem Erbrechen des Testaments folgt das große Finale, die Zusammenführung aller
Akteure. Die beiden Doppelgänger stehen sich zum ersten Mal Angesicht zu Angesicht
gegenüber. Es folgt eine letzte Aufklärung der Verhältnisse und ein Rückbezug auf die
vergangenen Ereignisse. Beide Elternpaare heiraten am selben Tag, beide sind langjährige,
beste Freunde. Um die ungewöhnliche Geburt zu erklären, spielt Hoffmann sein Wissen um
die Möglichkeiten des Psyche aus: „An beiden, an der Fürstin und an der Gräfin, hatte man
schon in ihrer früheren Jugend zuzeiten eine an Hysterismus grenzende Überspannung
bemerkt.“ (S. 484)
Eine weitere Doppelung ist der Zeitpunkt der Entbindung. Dass jedoch die Kinder nur einem
Vater,
nämlich
dem
Grafen,
ähneln,
zeigt
eine
weitere
Parallele
zu
Goethes
„Wahlverwandschaften“. Hoffmanns Motivation ist ganz klar psychischer Natur. Der Fürstin
gedankliche Abhängigkeit zu Törny ist so stark, dass die Frucht ihres Körpers von ihrem
Geist beherrscht und verändert wird. Die psychischen Prädispositionen besitzt sie, wie
Hoffmann selbst erwähnt. Auch die Söhne erbten gewisse Prädispositionen, was sich im Bild
ihrer Geliebten manifestiert: „Wunderbar ist es, daß beide, Haberland und Schwendy, das
geliebte Wesen längst träumten, das ihnen dann in vollem Leben entgegentrat; wunderbar,
daß eben dieses Wesen Natalie, die Tochter des Fürstin Isidors war [...]“ (S. 486) Auch hier
43
ist die Familiengeschichte ein wichtiger Faktor, der durch die psychische Profilierung
Glaubwürdigkeit gewinnen soll.
Die Identität der beiden Doppelgänger wird jetzt endgültig geklärt, doch es steht noch ein
Problem zur Lösung an. Die Doppelgänger müssen sich noch um Natalie bemühen. Sie
wollen sich gegenseitig vernichten, nur um sie zu bekommen. Natalie entsagt jedoch beiden,
und so kann das tragische Ende vermieden werden – niemand muss sterben. Dadurch, dass
keiner von ihnen die idealisierte Geliebte bekommt, gehen sie der Gefahr aus dem Weg und
enden nicht in Wahnsinn und Vernichtung. Im Vergleich hierzu die unterschiedliche
Herangehensweise Hoffmans an die ähnliche Liebeskonzeption in den „Elixieren“. Hier ist
das Ende viel versöhnlicher. Ein lange getrenntes Paar wird zusammengeführt und zwei
Leben werden gerettet und auf die richtige Bahn gebracht.
Das Doppelgängermotiv bzw. die Doppelgängerei zweier sehr ähnlicher, teilweise identischer
Personen und ihre Geschichte steht im Zentrum. Wie es für Hoffmann typisch ist, schwingt in
dem ganzen Verhältnis etwas Unheimliches und Übernatürliches mit. Obwohl das Motiv auch
konventionell zu Verwechslungszwecken genutzt wird, steht es mit der Wahrheit um die
Ereignisse anders. Kein bloßer Zufall steht hinter allem, sondern eine Art Bestimmung. Wie
gesagt, stützt sich Hoffmann auf psychische Phänomene und auf sein Wissen über die
menschliche Psyche, um die Erklärung der Ähnlichkeit der Doppelgänger zu erklären. In der
Tat musste er auf etwas Vorstellbares zurückgreifen, um dem Inhalt Plausibilität zu verleihen.
Auch in den „Elixieren“ muss Hoffmann durch das Verwandtschaftsverhältnis die Grundlage
für diese Möglichkeit schaffen. Da er sich nicht wiederholen wollte, erfand er eine
interessante neue Möglichkeit. Gerade in solchem Vorstellungsvermögen liegt seine Stärke.
Dass er dabei ein fremdes Motiv aufgreift und umformt, spricht, ähnlich wie bei vielen
anderen Romantikern, nicht gerade gegen ihn.
Hoffmanns Interesse und Beschäftigung mit dem Motiv äußert sich auffällig im Ausgang der
Erzählung. Beide Doppelgänger bleiben am Leben und setzen es fort. Die unausweichlich
scheinende Eliminierung mindestens eines Doppelgängers, wie es in den vorigen Beispielen
der Fall war, bleibt aus. Hoffmann kann dem Motiv nun nicht nur Schreckliches und
Zerstörerisches abgewinnen, nein, auch ein versöhnlicher, harmonischer Ausgang ist möglich.
Der Schrecken scheint durch langjährige Beschäftigung verschwunden, das Diabolische fällt
weg. Seine Neigung, Geschehnisse aus der Psyche des Menschen zu erklären, bleibt
allerdings immer noch wichtiger Bestandteil.
44
3.3 „Die Automate“85
3.3.1 Allgemein
Hoffmanns frühe Erzählung, die wohl im Winter 1813/1814 entstanden ist, hat in der
Forschung wenig Resonanz und Anerkennung gefunden. Das mag am deutlich erklärten
Thema liegen, welches der Titel schon verrät, kann aber auch an der fragmentarischen Form
liegen, die uns keine befriedigende Aufklärung der Geschehnisse bringt 86. Im Hinblick auf die
Fragestellung der Arbeit ist das Automatenmotiv hier also von größter Wichtigkeit. Schon in
dieser Erzählung, die erst Jahre später in die „Serapions-Brüder“ aufgenommen wurde, lässt
sich, wie im später geschriebenen „Sandmann“, eine doppelte Perspektivierung feststellen,
auch „Duplizität“ genannt. In unserem Falle wird sie durch die beiden Freunde Ludwig und
Ferdinand hervorgebracht. Die auktoriale Erzählweise wird dadurch gestört, was zu einer
subjektiveren Perspektive führt. Eine Anzahl von Dialogen zwischen den Freunden
unterbricht den Erzählfluss des Erzählers.
Einflüsse, die zur Entstehung dieser Erzählung geführt haben könnten, sind nicht eindeutig zu
nennen. Vielleicht hat Wieglebs „Natürliche Magie“ auf Hoffmann gewirkt, vielleicht hat er
auch Anreize aus Zeitungen und persönlichen Diskussionen zu diesem Thema erhalten.
Hoffmann hat sich schon in jungen Jahren mit Automaten beschäftigt. Er spielte sogar mit
dem Gedanke, selbst einen Automaten zu bauen87. Persönlich hatte er im Jahre 1813 einen
Musikautomaten von Vater und Sohn Kaufmann gesehen88, also kurze Zeit, bevor diese
Erzählung entstand.
Die Erzählung beschränkt sich nicht nur auf einen Automatentyp, sondern bietet uns eine
breitere Palette an, von denen der Orakelautomat mit Sicherheit am interessantesten ist. Zur
Geschichte der Automaten gibt es zahlreiche Vorbilder die bis in die antike Literatur
zurückgehen89.
Im Verlaufe der Jahrhunderte gab es immer wieder neue Zentren der Automaten-Baukunst auf
der Welt. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts ist ein Franzose für die Neubelebung dieser Kunst
verantwortlich, der im Paris der 30er Jahre seinen ersten Automaten baute. Sein Name ist
Jacques Vaucanson, und er ist mit Sicherheit das prominenteste Beispiel eines
85
Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 4, Die SerapionsBrüder, hrsg. von Wulf Segebrecht, DTV, Frankfurt am Main, 2001.
86
Eine ähnliche unaufgeklärte Situation beendet seinen „Sandmann“.
87
Siehe im Nachwort der Sämtlichen Werke von DTV, Band 4, S. 1391.
88
Renate Böschenstein: Doppelgänger, Automat, Serielle Figur, in: Androide. Zur Poetologie der Automaten,
Lang, Frankfurt am Main, 1997, S. 172/173.
45
Automatenbauers. Vaucanson war der mechanistischen Philosophie zugeneigt. Damals gab es
noch keinen Idealismus und die mechanistische Philosophie hatte eine Übermachtstellung.
1738 baut er seinen weltberühmten „mechanischen Flötenspieler“, der in Paris und später in
ganz Europa ausgestellt wird90. Es folgte 1741 seine „mechanische Ente“, die ein anatomischphysiologisches Modell war. Wie sich später herausstellte war die „Ente“ aber eigentlich ein
Trickautomat, weil der Verdauungsprozeß, der als der Höhepunkt des Automaten und der
Wissenschaft galt, fingiert war. Vaucanson baute noch weitere Automaten, doch seine großen
Ziele waren der „mechanische Sprecher“ und die „Menschmaschine“91. Er schaffte es leider
nicht, sie zu verwirklichen, doch Hoffmann tut das und stellt uns in seiner Erzählung einen
sprechenden Türken vor. Ob es auch hier ein Trick ist, bleibt offen. Werfen wir also einen
näheren Blick auf die Beschaffenheit des Automatenmotivs bei Hoffmann.
3.3.2 Das Automatenmotiv
Die Erzählung fängt gleich mit der Beschreibung des Automaten an. Auffallende Merkmale
sind seine Sprachgabe und seine geheimnisvollen Orakelsprüche, die er den Fragenden gibt.
Sein Äußeres wird beschrieben, wobei eine frappierende Ähnlichkeit zum Kempelenschen
„Schachspieler“ (Schachtürken) besteht. Geschickt räumt Hoffmann die bekannte Vermutung
aus, es könne sich eine kleine Person im Inneren des Automaten aufhalten, die ihn eigentlich
steuert. Eine vorbeugende Maßnahme Hoffmanns, die dem Automaten Eigendynamik bzw.
Eigenleben verleihen soll. Seine Bewegungen und Reaktionen werden genau beschrieben, und
der Erzähler kommt zum Schluss dass: „[...] die Rückwirkung eines denkenden Wesens
unerläßlich schien.“ (S. 397). Trotz aller Bemühungen, die Täuschung aufzudecken, schafft
es niemand, das Geheimnis des redenden Türken zu lüften.
An dieser Stelle werden die beiden Protagonisten eingeführt: Ferdinand und Ludwig. Ludwig,
der musikalisch Begabte, nimmt eine negative Perspektive ein. Durch seine Person werden
uns die Kritik und die Furcht vor dem Phänomen der Automaten näher gebracht: „»Mir sind«,
sagte Ludwig, »alle solche Figuren, die dem Menschen nicht so wohl nachgebildet sind, als
das Menschliche nachäffen, diese wahren Standbilder eines lebendigen Todes oder eines
toten Lebens, im höchsten grade zuwieder.«“ (S. 399)
Sein Freund Ferdinand nimmt eine etwas andere Stellung ein. Er hat nicht so sehr Angst vor
89
So z.B. Hephaistos, der als Erbauer der ersten Automate gilt. Seine Pandora und die goldenen Jungfrauen sind
bekannt. Vgl. im Nachwort von (Hrsg.) Klaus Völker: Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über
Golems, Homunculi, Androiden und liebende Statuen, Hanser, München, 1971, S. 467.
90
Alex Sutter: Vom spektakulären Objekt zum Produktionsmittel – Der Automat im 18. Jahrhundert am Beispiel
des Werks von Jacques Vaucanson, in: Androide. Zur Poetologie der Automaten, Lang, Frankfurt am Main,
1994, S. 134.
46
dem Lebendigtoten, vielmehr möchte er gerne herausfinden was es mit dem redenden Türken,
und vor allem mit seinen Orakelsprüchen, auf sich hat: „Was mir aber viel wunderbarer
scheint und mich in der Tat recht anzieht, das ist die geistige Macht des unbekannten
menschlichen Wesens, vermöge dessen es in die Tiefe des Gemüts des Fragenden zu dringen
scheint –„ (S. 401)
Aus seiner Aussage wird ganz klar, dass er ein Enthusiast ist, der übernatürlichen
Phänomenen gegenüber offen und zugänglich ist. Dadurch könnte man ihn von seiner Anlage
her mit Nathanael (aus dem „Sandmann“) vergleichen. Die Freunde entschließen sich zum
Türken zu gehen, um sich den Orakelautomaten anzusehen. Nach einer Reihe Fragen und
Antworten, die niemanden wirklich befriedigen konnten, versucht es Ferdinand noch einmal,
und er bekommt diesmal eine für ihn erschütternde Antwort, die ihn von der seherischen
Fähigkeit des Automaten (oder dessen, was dahintersteckt) überzeugt. Ludwig versucht, den
aufgebrachten Freund zu beruhigen und ihm die Situation als eingebildet darzustellen, doch
Ferdinand bleibt überzeugt von der „magischen Gewalt“ (S. 403) des Automaten.
Um es Ludwig zu beweisen, verrät er ihm seine Frage und die darauf folgende Antwort des
Automaten. Dafür muss er etwas weiter zurückgehen und sein Erlebnis mit der herrlichen
Sängerin erzählen. Aus der Vorgeschichte und der Antwort des Orakels ersieht Ferdinand,
wie eine „fremde Macht feindselig in [s]ein Inneres gedrungen“ (S. 408) ist. Die
Prophezeiung hinsichtlich seiner geliebten Sängerin lautet: „Unglücklicher! In dem
Augenblick, wenn du sie siehst, hast du sie verloren!“ (S. 408). Ob sich die Prophezeiung
erfüllt, wird sich noch zeigen92.
Durch Zufall erfahren die beiden von einem Professor X, der angeblich für den Automaten
und seine jetzige Fähigkeit verantwortlich sein soll. Sie beschließen, ihn zu besuchen, um
dadurch einige Antworten zu erhalten und Licht ins Dunkel dieser Sache zu bringen. Immer
wieder wird über das Wesen des Automaten diskutiert und er wird immer genauer analysiert.
Alle Möglichkeiten der Täuschung werden durchgespielt, woraus der vorhandene
Skeptizismus solchen Phänomenen gegenüber offensichtlich wird. Mit Hilfe von Schellings
Naturphilosophie versuchen beide nun, die Vorgänge zu erklären. Sie gehen von einem
„psychischen Einfluss“ (S. 414) aus und erwähnen den „geistigen Rapport“ (S. 414), mit
Hilfe dessen sich eine „psychische Macht“ (S. 414) ihrer innersten Gedanken und Gefühle
91
Ein gleichnamiges Buch, hat der zu Vaucansons Zeiten lebende Julien Offray de La Mettrie geschrieben.
Damals war die mechanistische Philospohie für den Trend der Mechanisierung verantwortlich.
92
Genau wie in den „Elixieren“ wird hier aufgrund einer Prophezeiung etwas Zukünftiges vorausgenommen.
Die Voraussagbarkeit der Zukunft ist oft vorhanden. Diese Technik erinnert auch an Arnim und seine
Vorbestimmtheit, die wir in den beiden Erzählungen betrachten konnten. Die Prophezeiung oder das Orakel war
also äußerst beliebt bei den Romantikern.
47
bemächtige. Das klingt sehr nach Schellings Naturphilosphie und dem Prinzip des
Magnetismus, der uns immer wieder bei Hoffmann begegnet. Damit wird der Magnetismus
als mögliche Ursache für die seherische Fähigkeit des Automaten impliziert.
Es ist aber nicht der Automat selbst, sondern eine hinter ihm steckende Macht bzw. Person,
die sich das Wissen um die Fragen verschafft. Das degradiert den Automaten zur Marionette
(Puppe), denn er ist durch seinen Erbauer oder Meister (möglicherweise Prof. X)
manipulierbar. Ferdinand und Ludwig gehen nun zu Prof. X und werden Zeugen einer
enormen Anzahl von Spielautomaten, worunter sich ausdrücklich der Vaucansonsche
„Flötenspieler“ (S. 418) befindet93. Nach einer Vorführung der Musikautomaten müssen die
beiden aber ohne eine befriedigende Antwort wieder gehen. Der Besuch hat ihnen nichts
gebracht, sie haben keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Ludwig redet davon, wie
schrecklich es wäre, wenn ein lebendes Wesen, ein Mensch, mit einem Automaten tanzen
würde:
„Schon die Verbindung des Menschen mit tote,n das Menschliche in Bildung und Bewegung nachäffenden
Figuren zu gleichem Tun und Treiben hat für mich etwas drückendes, unheimliches, ja entsetzliches. Ich kann
mir es denken, daß es möglich sein müßte, Figuren vermöge eines im Innern verborgenen Getriebes gar
künstlich und behende tanzen zu lassen, auch müßten diese mit Menschen gemeinschaftlich einen Tanz
aufführen und sich in allerlei Touren wenden und drehen, so daß der lebendige Tänzer die tote hölzerne faßte
und sich mit ihr schwenkte, würdest du den Anblick ohne inneres Grauen eine Minute lang ertragen?“ (S.
418).
Hoffmann war sehr konsequent und hat diese Szene später im „Sandmann“ verwirklicht,
indem er den Automaten Olimpia den ganzen Abend mit dem Studenten und Enthusiasten
Nathanel tanzen lässt. Zweifelsfrei eine Weiterentwicklung in dieser Hinsicht.
Als die Freunde schließlich ihre musikalische Diskussion beenden, die einen großen Teil der
Erzählung ausmacht, hören sie die Stimme der mysteriösen Sängerin, die das im Text
mehrfach vorkommende Liebeslied singt. Ferdinand ist erschüttert, er glaubt sich wieder als
Spielball äußerer Mächte.
Ferdinand bekommt anschließend einen Brief seines Vaters und muss daraufhin verreisen.
Ludwig hingegen findet noch etwas über Prof. X heraus, der ein „geheimnisvolles
Laboratorium“ (S. 426) am Stadtrand hat, an welchem die beiden vorbeigingen, als sie die
Stimme der Sängerin wahrnahmen. In einem späteren Brief berichtet Ferdinand, dass er die
Sängerin zufällig bei ihrer Hochzeit sah und Prof. X dort ebenfalls anwesend war. Somit hat
sich die Prophezeiung des Automaten erfüllt, denn als er sie sah, war sie für ihn schon nicht
mehr erreichbar. Sie heiratet und wird zur Frau eines anderen. Er hat jede Chance auf eine
Liebesbeziehung mit ihr verloren. Nicht, dass er bis jetzt überhaupt eine Chance hatte, doch
48
nun ist sie für immer für ihn Tabu. Allerdings stirbt Ferdinand nicht, so wie man es vermuten
könnte, so dass es noch einmal ‚gut’ ausgeht:
„Jetzt ist eine nie gefühlte Ruhe und Heiterkeit in meine Seele gekommen. Der verhängnisvolle Spruch des
Türken war eine verdammte Lüge erzeugt vom blinden Hintappen mit ungeschickten Fühlhörnern. Habe ich
sie denn verloren? ist sie nicht im innern glühenden Leben ewig mein? Du wirst lange nicht von mir hören,
denn ich gehe nach K., vielleicht auch in den tiefen Norden nach P.“ (S. 427)
Ludwigs Antithese zum Schluss soll nochmals die zweifache Perspektive betonen, die den
Ereignissen innewohnt. Es kommt auf die Anfälligkeit für übernatürliche Phänomene an,
inwiefern man daran glaubt oder nicht. Das zeigt sich auch beim „Sandmann“, dessen Schluss
ebenso offen bleibt und nicht ausdrücklich das Geschehene erläutert oder gar eindeutig
festlegt.
Kommen wir zurück zum Wesentlichen, zum Automatenmotiv. Es werden ziemlich viele
verschiedene Automatenarten erwähnt. Uns interessiert nur der Türke näher, der eine
menschliche Nachahmung ist und der direkt auf den Menschen zu wirken scheint. Ihm
werden übernatürliche Kräfte zugeschrieben, wobei nicht klar ist ob sich etwas hinter dem
Automaten verbirgt. Durch seine Fähigkeiten scheint er dem Menschen in gewisser Hinsicht
überlegen.
Gleich zu Beginn stellt uns der Erzähler den Automaten vor. Es geht sozusagen in medias res,
genau wie beim „Sandmann“. Beschaffenheit und Eigenschaften werden beschrieben, dabei
fällt uns das ziemlich umfangreiche Wissen Hoffmanns auf dem technischen Gebiete der
Automaten auf. Er wusste ganz genau, wovon er da schrieb. Vor allem die Musikautomaten
hatten seine Aufmerksamkeit erregt94.
Die Erscheinung des Türken ist aber nicht das, was seine Faszination ausmacht. Vielmehr
sind es seine Orakelsprüche, die eine unheimliche Wirkung auf die Menschen haben und eine
geheime Verbindung zu einem höheren Wesen ahnen lassen. Die Kräfte, die dahinter stecken,
werden nicht genannt. In seinen späteren Werken ändert sich das. Vor allem der Magnetismus
bekommt in seinen Geschichten eine große Macht zugesprochen. Der Ursprung der Kraft in
diesem Falle ist und bleibt ungeklärt, was wohl auch an der fragmentarischen Form liegt, aber
auch wirkungstechnisch so geplant sein konnte. Dem bloßen mechanischen Konstrukt traut
niemand diese Kraft zu. Deshalb wird ein außerhalb des Automaten liegendes Medium
gesucht. Der mechanische Part wird von Hoffmann ziemlich genau beschrieben, er verursacht
keine Angst oder Grauen. Der Automat wird also eigentlich als Werkzeug benutzt, hinter
93
Ein Indiz für den Bekanntheitsgrad des Flötenspielers. Im Text werden sehr viele verschiedene Automaten
beschrieben oder angesprochen, doch von Belang ist nur der Türke, da sich nur in Bezug auf ihn die unheimliche
Stimmung und höhere Mächte verbinden.
49
welchem sich der wahre Geist und Kopf verbirgt. Trotz seiner Fähigkeiten wird ihm kein
richtiges Eigenleben zugetraut95. Hier scheint also ein Betrug vorzuliegen.
Hoffmann lässt die Erscheinung nun von einem Freundespaar diskutieren. Auf die
„Duplizität“ wurde schon hingewiesen. Ludwig ist eher skeptisch, er mag Automaten nicht
sonderlich, das Nachäffen des Menschlichen ist ihm nicht bekömmlich. Seine Abscheu
offenbart ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal, welches in Hoffmanns nächster
Automatenerzählung (dem „Sandmann“) vollends zum Ausdruck kommt.
„Was starrst du mich an mit Augen ohne Sehkraft?“ (S. 399) Die Augen sind der
verräterische Schlüssel, mittels derer der Tod, der die Automaten durchzieht, ganz deutlich zu
identifizieren ist. Sie sind nicht beseelt und nicht lebendig, das sagen ihre Augen ganz klar
aus.
Eine andere Einstellung zu Automaten hat Ferdinand, der eher der mystischen Seite des
Lebens zugetan ist. Bei ihm kommt es auf die Art und Absicht der Automaten an. Für ihn
scheint ganz eindeutig eine geistige Macht die Antworten zu geben. Hier kommt der
Magnetismus ins Spiel, der einem Experten auf diesem Gebiet durchaus Möglichkeiten bieten
könnte, ins Innere eines Menschen zu blicken und ihm entsprechend eine individuell
zutreffende Prophezeiung zu geben, die zumindest für den Betroffenen glaubwürdig
erscheinen mag. Die beinahe schon typische Erklärung wird also wieder dem Magnetismus
oder Somnambulismus zugeschrieben und bleibt damit der zeitgenössischen Wissenschaft
verpflichtet. Sie bleibt dadurch aber trotzdem unbegreiflich für all diejenigen, die sich damit
nicht auskennen oder daran glauben, also so gut wie für jedermann. Wegen der
fragmentarischen Form wird uns leider auch keine endgültige Auflösung zuteil. Damit weicht
Hoffmann dem Problem einer Konkretisierung des Geschehenen aus. Ähnlich wie in seinen
restlichen Werken, hängt die Deutung sehr stark vom Interesse und der Einstellung des Lesers
ab.
3.4 Im Zwiespalt der „Duplizität“: „Der Sandmann“96
3.4.1 Allgemeines
E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“, die in seinen Erzählband der „Nachtstücke“
gleichsam in den ersten Band einführt, ist in ihrer Anlage genau so, wie es der Name des
94
Was an seiner musikalischen Leidenschaft lag. Die Musik hatte unter den Künsten für ihn immer Priorität.
Daneben interessierte er sich brennend für neue Instrumente, was in der Erzählung ebenfalls sehr deutlich zu
sehen ist.
95
Allerdings kann man das nur von den beiden Freunden behaupten. Möglich, dass andere Menschen nicht so
denken. Wir bekommen hier nur ihre Sicht und Meinung wiedergegeben.
50
Bandes andeutet: dunkel, undeutlich - eben nächtlich. Noch bis in die heutige Zeit liegt in ihr
noch viel Verborgenes und Unentdecktes. Obwohl sie in der Forschung stark rezipiert wurde,
hat es bislang niemand geschafft, die Erzählung vollständig und für jedermann
zufriedenstellend zu deuten. Viele der Interpreten beschränken sich darauf, dem Text eine
ganz bestimmte Bedeutung zu geben. Haben sie diese nach ihren Postulaten gefunden, bleiben
sie stehen in ihrer (Er-)Forschung. Die Erzählung bietet aber, wie sich zeigt, weitaus mehr.
Von vornherein entwickeln der Text und sein Inhalt starken Widerstand gegen zu eindeutige
Sinngebungen. Einen wichtigen Faktor spielt hier die Form der Erzählung.
Die erste Fassung der Erzählung wurde, laut Hoffmann, „d. 16. Novbr. 1815 Nachts 1 Uhr“
fertig97. Die Zeit der Entstehung ist für unsere Arbeit insofern wichtig, weil sie zeigt, dass der
„Sandmann“ in unmittelbarer Nähe zum Roman „Die Elixiere des Teufels“ und der Erzählung
„Die Automate“ steht. Alle Werke entstanden in den Jahren 1814 und 1815. Eine
Verwandtschaft untereinander besteht in der Motivlandschaft, in unserem Falle den drei
zentralen Motiven dieser Arbeit, dem Doppelgängermotiv, dem Automatenmotiv und der IchProblematik. Im „Sandmann“ sind alle drei Motive gleichzeitig vorhanden, deshalb ist der
Text zu Vergleichszwecken gut geeignet. Vor allem für die Hoffmannschen, aber auch für die
fremden Texte.
Das Ziel ist es, die Ich-Problematik an der Person Nathanaels zu untersuchen, sowie das
Doppelgängermotiv am Beispiel Coppelius/Coppolas, und das Automatenmotiv anhand der
Androide Olimpia. Obwohl wir uns damit ebenfalls auf nur einen Teil der Erzählung
beschränken, wird aufgrund der Vertracktheit und Kürze der Handlung trotzdem fast der
gesamte Inhalt berührt werden. Einige wichtige Motive, wie das Augenmotiv, welches schon
Leitmotivcharakter98 besitzt, werden nur gestreift. Für tiefergehende Analysen bleibt kein
Platz. Es werden ausdrücklich keine psychoanalytischen Ergebnisse mit einbezogen. Dafür
fehlt zum einen der Platz, zum anderen erscheint diese Methode in Hinblick auf unsere
Fragestellung relativ unergiebig zu sein. Der Kernpunkt vieler Interpretationen, die
Liebeskonzeption, muss ebenfalls weitgehend außer Acht gelassen werden.
3.4.2 Wissenschaftliche und kulturelle Prozesse der Zeit
Um zu verdeutlichen, dass die zu untersuchenden Motive nicht willkürlich in Hoffmanns und
auch anderer Künstler Erzählwerk vorkamen, sollen nun kurz einige Informationen zum
96
Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, Reclam, Stuttgart, 2000.
Zu sehen im Faksimile der Handschrift des Sandmanns in E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke in 6 Bänden,
Band 3, hrsg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt am Main, 1985, S. 920.
98
Siehe bei Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner
Erzählkunst, Niemeyer, Tübingen, 1971, S. 79.
97
51
besseren Verständnis vorausgeschickt werden.
Ein wichtiger Punkt ist die Philosophie jener Zeit, die vom 18. zum 19. Jahrhundert einen
Wandel durchgemacht hatte, und vom Cartesianischen Materialismus, über Kant allmählich
dem Subjektivismus zusteuerte. Schließlich kam Fichte mit seinem „subjektiven Idealismus“
und mit ihm die Fragen und Probleme um den Solipsismus, den viele aus seinen Lehren
zogen. Der Solipsismus als Resultat einer grenzenlosen Ich-Bezogenheit, also eine Krankheit
des reflektierenden Ichs – diese Vorstellung erschreckte viele Menschen. Einer der
wichtigsten und witzigsten Widersacher Fichtes damals war Jean Paul. Er hatte sich generell
viel mit Philosophie und vor allem mit Fichte befasst. Er thematisierte und gestaltete den
Solipsismus an der Figur Schoppes, bekannt aus dem „Titan“99. Auch Nathanael zeigt
Symptome des Solipsismus. Diese sind bei Hoffmann zudem noch ‚psychologisch’ profiliert.
Es ist also kein Zufall, dass Hoffmann den Solipsismus literarisch verwertet. Das Thema war
schon lange nicht mehr exklusiv oder ausgefallen.
Der zweite Punkt ist die aufkommende Disziplin der Psychiatrie bzw. Psychologie. In der Zeit
um 1800 fingen die größeren Entwicklungen in dieser Disziplin an. Vor allem Dichter waren
an diesen Entdeckungen interessiert und beteiligt. So auch Karl Philipp Moritz, der die
Zeitschrift „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783-1793) herausgab und darin das
Thema des Wahnsinns regelmäßig aufs Papier brachte. Berichte und Fallstudien waren höchst
beliebt damals. Hoffmanns Interesse an den ‚Irren’ und ihren Krankheiten, an deren
Heilungsmethoden wie dem tierischen Magnetismus, Somnambulismus und anderen
Phänomenen ist bekannt. Nicht zuletzt die Freundschaft mit Dr. Marcus100 hat ihm viel in
dieser Hinsicht gebracht, doch am wichtigsten für den „Sandmann“ scheint der Aufsatz des
französischen Arztes Philippe Pinel, „Traité médico – philosophique sur l´aliénation mentale
ou la manie“ 1801, zu sein101.
Der dritte Punkt, mit dem sich nicht nur die Gebildeten, sondern generell alle Menschen jener
Zeit befassen mussten, waren die aufkommende Mechanisierung, Technologisierung und
Industrialisierung mit all ihren Folgeerscheinungen. Ein untrügerisches Zeichen für diese
Entwicklung ist die Maschine bzw. der Automat. In unserem Falle ist es die Androide
Olimpia, die uns die fortgeschrittene Form des Automaten vor Augen führen soll. Hier schon
99
Jean Paul: Titan, Hanser, München, 1963. Siehe darin vor allem auch den komischen Anhang zum Titan, den
„Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana“, der in witziger und ironischer Weise die Wirren und den Wahn der
Fichteschen Philosophie darstellt.
100
Siehe bei Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, Hanser, Frankfurt
am Main, 1984, S. 219f.
101
Vgl. Günter Hartung: Anatomie des „Sandmanns“, in: Weimarer Beiträge 9, 1977, S. 56 und Ingrid
Aichinger: E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“ und ihre Interpretation Sigmund Freuds, in: Zeitschrift
52
so weit entwickelt, dass er (sie) gesellschaftlich bestehen kann. Hoffmanns Interesse an
Automaten ist bekundet, sogar Pläne zum Bau eines eigenen sind erwähnt. Durch die
Verbindung der Automaten mit Musik wurden sie für ihn noch attraktiver, er war zugleich
fasziniert und erschrocken. Johann Christian Wieglebs „Natürliche Magie“ bot Hoffmann viel
Inspiration und Wissen um die Automate102.
Ein Charakteristikum der meisten Automaten damals war ihre Darstellung bei kulturell
hochwertigen Arbeiten, so wie z.B. beim Musizieren (Vaucansons „Flötenspieler“) oder beim
Schreiben oder beim Schachspielen (Baron von Kempelens „Schachspielender Türke“).
Dieser beinahe erreichte Gleichstand mit dem Menschen – seine Nachahmung (Mimikri) – hat
viele Personen damals erschrocken, was sich auf die Zahl der Maschinenfeinde auswirkte.
Selbst der berühmteste Automatenbauer Jacques Vaucanson musste den Hass und die Gewalt
der Menschen erfahren, als er im Amte des königlichen Aufsehers der frz. Seidenindustrie die
Fertigung durch Modernisierungspläne in Form eines automatischen Webstuhls verbessern
wollte. Die Reaktion der Arbeiter war ein Generalstreik und ein Angriff auf seine Person. Er
musste sogar fliehen, und der von ihm erfundene Webstuhl kam nicht zum Einsatz103.
Das Ausmaß der Bedrohung des Menschen und seiner Existenz ist an diesem Beispiel sehr
gut ersichtlich. Die Reaktion ist ebenso heftig wie die aufkommende, jetzt erst bewusst
gewordene Bedrohung durch die Technik und ihre Geschöpfe, die Automaten. Dabei ist das
Automatenmotiv sehr viel älter. Es lässt sich, wie das Doppelgängermotiv, bis in die Anfänge
der Literatur verfolgen. Damit sind die beiden Kernpunkte der Arbeit schon von Beginn an
Bestandteil des literarischen Kanons, zugleich also schon längst bekannte und vertraute
Phänomene.
3.4.3 Struktur und Motive des „Sandmanns“
Motivisch arbeitet Hoffmann im „Sandmann“ wie in seinen anderen Werken. Er gebraucht
mehrere verschiedene Motive, die relativ oft und eindeutig vorkommen und auch verknüpft
bzw. zu einer Motivlandschaft „geschichtet“ werden. Einige dieser Motive werden potenziert.
Im „Sandmann“ wird auch die Sichtweise der Geschehnisse gedoppelt, indem Hoffmann zwei
für deutsche Philologie 95, 1976, Sonderheft E.T.A. Hoffmann, S. 116 und Marion Bönnighausen: „Der
Sandmann“, Oldenbourg, München, S. 13.
102
Vgl. Renate Böschenstein: Doppelgänger, Automate, serielle Figur, in: Androiden, Lang, Frankfurt am Main,
1997, S. 172. Originaltext: Johann Christian Wiegleb: Natürliche Magie, aus allerhand belustigenden und
nützlichen Kunststücken bestehend. Berlin/Stettin, 1782ff. Über die aus diesem Buch angeregten Kinderspiele
Hoffmanns berichtet sein Freund Hippel, zitiert in: E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und
Bekannten. Hrsg. von F. Schnapp, München, 1974, S. 21.
103
Mehr dazu bei: Alex Sutter: Vom spektakulären Objekt zum Produktionsmittel – Der Automat im 18.
Jahrhundert am Beispiel des Werks von Jacques Vaucanson, in: Androiden, zur Poetologie der Automaten,
Lang, Frankfurt am Main, 1997, S. 140f.
53
sich entgegengestellte Perspektiven und Erklärungen der Handlung liefert. Hoffmanns
Weltbild war ohnehin dualistisch konzipiert und drückt sich in einer Teilung in Gut und Böse
aus, also eine Art ‚Schwarz-Weiß-Malerei’. Prägend und sehr bedeutend für diese Erzählung
ist die ‚Duplizität des Seins’. „Die »Duplizität« des menschlichen Daseins hat Hoffmann
später in dem Zyklus »Die Serapions-Brüder« (1819 – 1821) als wechselseitige Bedingtheit
von innerer Schau (Phantasie) und äußeren Gegebenheiten (Realität) zum künstlerischen
Prinzip erhoben.“104 Am Beispiel Nathanaels wird gezeigt, wie es ausgehen kann, wenn man
dem einen zu sehr verfällt. „Unter keinen Umständen durfte die Phantasie durch den Verstand
verdrängt werden, mußte aber von ihm ‚beherrscht‘ sein (III, 127).“105 Das Rationale der
Geschehnisse wird zumeist ‚psychologisch’ untermauert, während das scheinbar Irrationale
mittels Verschleierungstechniken im Unklaren gelassen wird: „Der Autor selbst trägt offenbar
wenig dazu bei, Handlung und Figuren auf Eindeutigkeit festzulegen; ganz im Gegenteil
verstärkt das Verfahren eines multiperspektivischen Erzählens die Unsicherheit über den
wirklichen Stand der Dinge.“106 Auch I. Aichinger stimmt damit überein: „Multiperspektivität
und Ineinander von objektiver Wirklichkeit und subjektiver Innerlichkeit sind so
Strukturelemente einer verrätselten Welt.“107
Die Lösung des Rätsels fällt wohl bei jedem anders aus. Die beiden entgegengesetzten
Haltungen werden durch die beiden Hauptpersonen Nathanael und Clara repräsentiert.
Während er der fühlende Enthusiast und Künstler ist, wird sie als rational denkendes,
nüchternes Wesen beschrieben. Dadurch stehen sie in Opposition zueinander. Solch eine
Kombination bedeutet immer einen unausweichlichen Konflikt, zu dem es in der Erzählung
auch kommt. Hoffmann entscheidet sich für keines der beiden Prinzipe und überlässt es ganz
dem Leser, sich mit einer Entscheidung abzuquälen. Der Leser soll durch eine aus sich heraus
begonnene Reflexion des Gelesenen zu einem Schluss kommen. Einer der ersten war wohl
Wolfgang Preisendanz, der auf die mehrperspektivische Struktur der Erzählung hinwies108.
Die
Gründe
für
einen
solchen
Aufbau
liegen
mit
Sicherheit
im
Effekt
der
„Spannungssteigerung“109. Es gibt durchaus Beweise für eine solche Intention Hoffmanns,
indem man die erste Fassung mit der zweiten vergleicht. Hoffmann musste bewusst geworden
sein, dass der Text nur dann in seiner Wirkung aufgeht, wenn sich die beiden Seiten die
Rudolf Drux: Nachwort des „Sandmanns“ der Reclam Ausgabe, Stuttgart, S. 66.
Vgl. G. Hartung, S. 47.
106
Ebd. S. 64.
107
Von I. Aichinger, S. 117.
108
Wolfgang Preisendanz: „Eines matt geschliffnen Spiegels dunkler Widerschein“. E.T.A. Hoffmanns
Erzählkunst, in: Festschrift für Jost Trier, Köln, 1964, S. 411f.
104
105
54
Waage halten. Jede Eindeutigkeit wäre damit schädlich für die Wirkung der Erzählung
gewesen. „Die Zweideutigkeit der Hoffmannschen Erzählung beruht im wesentlichen auf der
Gleichwertigkeit von Nathanaels und Claras Perspektive, bei denen der Leser zunächst nicht
anders denn willkürlich zwischen Wahrheit und Irrtum entscheiden kann, weil nämlich beide
kohärente und in sich widerspruchsfreie Deutungen des Geschehens anbieten.“110 So lässt sich
auch die Streichung einer kürzeren Passage erklären, deren Inhalt die Blindheit und der
baldige Tod Nathanaels jüngerer Schwester ist. Die Krankheit bricht angeblich durch eine
Berührung Coppelius’ aus. Sie wird kurz darauf blind und stirbt an den Folgen der Berührung.
In diesem Passus wäre mit der Figur Coppelius’ eine zu negative, böse und übernatürliche
Komponente verbunden worden, deshalb lässt Hoffmann sie weg111. Alles, was in der ersten
Fassung zu eindeutig war, wurde geändert. Das beweist, dass sich Hoffmann vor der
Druckgabe damit auseinandersetzte. Wie J. Walter betont, liegt „das Unheimliche nicht im
Erzählten, sondern ist Ergebnis eines spezifischen Erzählens, ist Wirkungsfunktion.“112
In dieser Hinsicht ist auch die Form sehr wichtig, denn der Erzähler fängt nicht selbst an,
sondern er stellt uns drei Briefe an den Anfang, die uns subjektiv in das Geschehene
einführen. Doch auch später, als der Erzähler berichtet, entzieht er sich an wichtigen Stellen
einer Wertung oder eines klärenden Kommentars. Er zieht sich zurück und verschmilzt sogar
teilweise in Passagen mit der Person Nathanaels. Alles ist beabsichtigt und „[d]ie Wirkung
auf den Leser kann nur eine gespannte Ungeduld sein [...]“113.
3.4.4 Die Ich-Problematik am Beispiel Nathanaels
Wie so viele seiner Werke, baute Hoffmann den „Sandmann“ auf einem Erkenntniszwiespalt
zwischen Innen- und Außenwelt auf, den er als ‚Duplizität des Seins’ bezeichnet. Die ganze
Erzählung ist davon geprägt. Im besten Falle sollte der Mensch eine ausgewogene Sicht der
Dinge haben und nicht zu sehr ins Innere (Phantasie, Vorstellung) oder Äußerliche
abrutschen. Dieses Strukturprinzip hat Hoffmann im „Sandmann“ auf zwei Personen verteilt,
die jeweils nur für eine Seite stehen und diese verteidigen. Zunächst zu Nathanaels Sicht der
Dinge.
Aus dem Inhalt geht hervor, dass Nathanael ein Dichter ist und dass er ein empfindsames
„kindisches Gemüt“ (S. 5, 6, 13) besitzt. Das wird an mehreren Stellen erwähnt. Dieser
109
These nach: Jürgen Walter: Das Unheimliche als Wirkungsfunktion. Eine rezeptionsästhetische Analyse von
E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 30, 1984, S.
19.
110
Vgl. Stefan Diebeitz: Fernrohr und Sturz. Zur Wirkungsgeschichte von E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ bei
Doderer und Jünger, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 2, 1994, S. 121.
111
Weitere Beispiele bei G. Hartung, S. 62f.
112
Vgl. J. Walter, S.23
55
Umstand macht ihn der Imagination und dem Phantastischen in der Welt empfänglich. Bei
Daemmrich findet sich eine übereinstimmende Charakterisierung, was die Enthusiasten
angeht: „Im Wesen des Künstlers tief begründet ist ein ‚kindlich, frommes Gemüt‘. […] Die
ursprüngliche Veranlagung des Künstlers schließt somit eine außergewöhnlich starke
Reizbarkeit und Visionsgabe ein, die Hoffmann im Werk symbolisch durch einen ‚Blick nach
innen‘ andeutet.“114 Das heißt er kennt diese Welt schon, sie ist für ihn nichts Neues. Schon in
seiner Kindheit, so wird berichtet, habe er einen Hang zum Phantastischen gehabt. Er neigt
zur geistigen Schwärmerei und befindet sich dann zeitweilig „in einer ganz anderen Welt“
(S.31). Seit dem traumatischen Erlebnis seiner Kindheit hat er ein Wahrnehmungsproblem.
Angeregt durch die Geschichte des Sandmanns, in der Version des Kindermädchens und
durch die Vorkommnisse im Haus, formt er sich selbst ein noch diffuses inneres Bild vom
Sandmann. Irgendwann hält er es dann nicht mehr aus und macht sich auf, das Mysterium zu
lüften, welches ihn so sehr beschäftigt. Dabei ereignet sich das erste große Trauma seiner
Kindheit, nach welchem er ihn Ohnmacht fällt.
Diese Ohnmacht ist uns schon aus den „Elixieren“ bekannt. Sie ist ein Zeichen höchster
psychischer Belastung und agiert als ein Schutzmechanismus vor dem drohenden Wahnsinn.
Eines Abends schleicht sich Nathanael in das Zimmer seines Vaters, um zu sehen, wer der
geheimnisvolle Sandmann ist. Dabei beobachtet er seinen Vater und einen anderen Mann (für
ihn der Sandmann) bei einem alchemistischen Experiment; um es mit Kittler zu sagen, bei
einer „Urszene“115, die als Produkt einen Homunkulus (künstlichen Menschen) hervorbringen
soll. An diesem Abend sollen die Augen gemacht werden und Coppelius ruft dem Vater zu:
„Augen her, Augen her!“ (S. 9), was Nathanael fälschlicherweise auf sich bezieht, dadurch
gewaltig erschrickt und entdeckt wird. Gleichzeitig erkennt er jetzt, wer der rätselhafte
Sandmann ist. Es „ist der alte Advokat Coppelius, der manchmal bei uns zu Mittage ißt!“ (S.
7) Der Schrecken geht noch weiter, denn Coppelius will ihm die Augen nehmen, was der
Vater gerade noch verhindern kann. Allerdings wird Nathanael bestraft und wie eine Puppe
bzw. ein Automat behandelt: „Und damit faßte er [der
Sandmann (Coppelius)] mich
gewaltig, daß die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie
bald hier, bald dort wieder ein.“ (S. 9) Später wacht er in den Armen der Mutter wieder
gesund auf.
113
J. Walter, S. 25.
Aus Horst S. Daemmrich: Zu E.T.A. Hoffmanns Bestimmung ästhetischer Fragen, in: Weimarer Beiträge 2,
1986, S. 641.
115
Aus Friedrich A. Kittler: „Das Phantom unseres Ichs“ und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann –
Freud – Lacan, in: (Hrsg.) Friedrich A. Kittler und Horst Turk: Urszenen. Literaturwissenschaft als
Diskursanalyse und Diskussionskritik, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1977, S. 157.
114
56
Wie soll man diese Szene deuten? Ganz sicher ist eine Deutung dieser Stelle nicht einfach.
Entweder man glaubt an das Geschilderte oder nicht. Gehen wir davon aus, dass es nicht
möglich ist, so stellt sich die Frage, was denn dann geschehen ist. Diese Frage bleibt
unbeantwortet. Gehen wir davon aus, dass es möglich ist, dann sind ‚überirdische
Phänomene’ am Werk, bzw. ‚dunkle, geheimnisvolle Mächte’, die sich mit dem Schicksal
Nathanaels befassen. Nathanael jedenfalls ist sich seiner Erlebnisse sicher. Selbst Jahre
danach, ist ihm das Erlebnis noch gegenwärtig und schafft es, ihn in Aufregung zu versetzen.
Diese Spaltung der Deutungen war eine ganz zentrale Autorintention der Erzählung116. Sie ist
auf die Doppeldeutigkeit seiner Erlebnisse zurückzuführen, die an einigen anderen Stellen
noch sichtbar sind. Reales und Phantastisches im Wechsel. Nathanael wird sein Leben lang
von diesem Trauma gezeichnet bleiben und psychische Schäden davontragen. Die
unerklärlichen Ereignisse seiner Kindheit öffnen ihn den phantastischen Dingen der Welt.
Der harte Schlag kurze Zeit später, der durch den Tod des Vaters ausgelöst wird
verschlimmert die Situation noch. Der Vater stirbt während eines weiteren alchemistischen
Experiments, bei dem wohl auch Coppelius anwesend war. Coppelius verschwindet danach
spurlos. Nathanael bleibt traumatisiert ohne einen Elternteil zurück. Seine Entwicklung führt
vom ausgewogenen Weg ab ins Schwärmerische. Er flüchtet sich in die Welt der Kunst, der
Literatur: „[…] Nathanael, der sich in Wissenschaft und Kunst kräftig und heiter bewegte.“
(S. 20), doch sein schweres Körpertrauma bleibt in seinem Inneren haften. Seine Entwicklung
führt weg von der Realität des Philisters zum phantasievollen Enthusiasten. Dadurch wird das
Gleichgewicht der ‚Duplizität’ empfindlich gestört.
Das Eintreten des Wetterglashändlers Coppola bringt seine Welt wieder aus den Fugen. Er
verliert allmählich den Rest seiner Bindung an die ‚reale Welt’. In der Gestalt Coppolas
glaubt er den Vatermörder Coppelius zu erkennen, der ihm eine „feindliche Erscheinung“ (S.
11) ist. Zunächst ist alles ganz klar: er kommt erneut in sein Leben, es muss zum Kampf
kommen.
Nathanaels Sicht der Dinge gerät aber nach Claras Brief etwas ins Wanken. Sie bietet dem
Leser, wie auch Nathanael, eine logisch einwandfreie, psychologisch-philosophische
Erklärung der Geschehnisse. Zunächst behält Nathanael noch den Kontakt zum ‚Realen’ und
die Einsicht in die ‚Duplizität’, die Hoffmann so wichtig war. Das lässt sich aus dem dritten
Brief erschließen. Dennoch beschäftigt es ihn weiter, er bringt das Thema bei seinem Besuch
bei Clara und Lothar zur Sprache. Eigentlich schwankt er zwischen den beiden
Möglichkeiten. Schließlich kommt es deshalb zum Streit, und Nathanael verliert sich immer
116
Vgl. J. Walter, S. 16f.
57
mehr in ein „außer uns selbst liegendes höheres Prinzip“ (S. 21), wobei er ein Gedicht
verfasst.
Das Gedicht nimmt verschlüsselt etwas der folgenden Ereignisse voraus. Es scheint durch die
Inspiration geschrieben worden zu sein, doch ohne die nötige Distanz, die der Dichter
besitzen muss. Als Nathanael aus diesem höheren Zustand erwacht, weiß er selbst nicht, wie
er das überhaupt dichten konnte. Das erinnert an die Prophezeiung Melücks, die sich später
auch nicht daran erinnern kann. Die Symptome sprechen für einen erregten, vielleicht
somnambulen Zustand. Hier wird sein Zwiespalt zwischen Innen und Außen wieder sichtbar.
Als er das Gedicht endigte, fasste ihn Grausen und wildes Entsetzen und er schrie auf:
„Wessen grauenvolle Stimme ist das?“ (S. 23) Seine Worte lassen darauf schließen, dass er
mit sich nicht im Reinen ist: „Der Held der Erzählung wird ein »im Innern zerrissene[r]«
Mensch genannt (II, 412); ihr Thema ist der Wahnsinn in jener schlimmen Form, wo das
gespaltene Bewußtsein sich gegen das Leben selber kehrt.“117 Um es etwas entschärfter zu
sagen, denn beim Selbstmord sind wir noch nicht: „Nathanael geht zugrunde, weil er die
Augen für die Wirklichkeit verliert.“118 Nachdem er sein Gedicht Clara vorliest, kommt es
zum Eklat. Sie möchte, dass er es wegwirft, worauf er heftig reagiert und sie einen „leblosen
verdammten Automat“ (S. 24) schilt. Es kommt fast zum Duell zwischen Lothar und ihm,
doch Clara kann es noch verhindern. Anhand des Gedichts kann man sehen, wie wichtig
Nathanael seine Sichtweise ist. Er steht hinter seiner Meinung, genau wie Clara hinter ihrer,
weil beide von der Richtigkeit ihrer Seite überzeugt sind.
Der Name Clara ist irgendwie Programm, denn sie sieht ‚klar’119. Sie ist sachlich, registriert
die Sachen auf die äußere Art und Weise, ja, beinahe wie eine Philisterin, welche sie aber
dann doch nicht ist. Der Zwiespalt zwischen ihnen wird immer größer. Nathanael kehrt
zurück in die Stadt und muss nach einem ‚zufälligen’ Brand in seiner Wohnung in eine neue
ziehen, die genau gegenüber der Prof. Spalanzanis liegt. Dort sieht er Olimpia zum ersten Mal
und bemerkt noch ihre Unbewegtheit und Steifheit, doch das ändert sich.
Der unheimliche Coppola taucht erneut bei ihm auf und will ihm zunächst eine Brille
verkaufen. Nathanael lehnt erst ab, kauft ihm aber ein Perspektiv ab, weil er jetzt der Meinung
ist, dass Coppola doch nicht mit Coppelius identisch ist. Aus ‚Schuldgefühl’ oder
Verlegenheit kauft er das Perspektiv. Damit wird er überrumpelt; in einem lichten, rationalen
Moment überlistet ihn Coppola. Mit dem Perspektiv schaut er durchs Fenster und entdeckt
Olimpia.
117
Vgl. G. Hartung, S. 51.
Vgl. Wolfgang Nehring: E.T.A. Hoffmanns Erzählwerk: Ein Modell und seine Variationen, in: Zeitschrift für
deutsche Philologie 95, Sonderheft für E.T.A. Hoffmann, 1976, S. 7.
118
58
„Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar
seltsam und tot. Doch wie er immer schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias
Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer
lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und
fort die himmlisch – schöne Olimpia betrachtend.“ (S. 27)
„So ist im »Sandmann« das Fernrohr ein toter Gegenstand, der einen Automaten – Olimpia –
den Anschein der Lebendigkeit verleiht.“120 Nathanaels Wahrnehmung wurde getrübt bzw.
getäuscht. Von hier an ist es ein relativ schneller Prozess des Realitätsverlustes, der sich bei
ihm abspielt. Er hat sich in Olimpia ‚verguckt’ und möchte sie so schnell wie möglich
wiedersehen. Dazu erhält er kurz darauf Gelegenheit, bei Prof. Spalanzanis Fest zu Ehren
seiner ‚Tochter’.
Diese Zufälle deuten durchaus auf eine gewisse Vorbestimmtheit, die schon in den
„Elixieren“ spürbar war. Während Olimpia ihm erst etwas statisch erscheint, wird sie durch
den erneuten Blick durch das Perspektiv für ihn vollends zum Leben erwachen. Der Blick
durch das Perspektiv belebt sie. Sie wird in dem Moment alles für ihn, nur mit ihr möchte er
sein. Sogar ihre anfangs bemerkte körperliche Kälte überspielt und verdrängt er einfach. Ihre
Kälte spürt er, als er sie bei der Hand fasst und zum Tanzen führen will. Tatsächlich tanzen
die beiden. Diese Szene ist die Realisation eines Gesprächs aus den „Automaten“ (1814!),
damals noch als undenkbar bzw. grauenvoll empfunden und als „Kampf gegen das geistige
Prinzip“ (s.O.) geltend.
Wie Nathanael es selbst sagt, wird Olimpia für ihn zum Spiegel, in dem sich sein „ganzes
Sein spiegelt“ (S. 31). Eine Aussage Lothars aus dem zweiten Brief, scheint das zu belegen:
„Es ist auch gewiß, fügt Lothar hinzu, da die dunkle psychische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr
hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht, so
daß wir selbst nur den Geist entzünden, der, wie wir in wunderlicher Täuschung glauben, aus jener Gestalt
spricht. Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung
auf unser Gemüt uns in die Hölle wirft, oder uns in den Himmel verzückt.“ (S. 14)
Damit „verliert er sich in einer exzentrischen Wahnwelt“121. Er verschreibt sich einer Passion,
die seine Ich-Spaltung und seinen Wahnsinn steigert. Nathanael geht durch seinen
Solipsismus zugrunde. Vertieft in sich selbst durch den Spiegel namens Olimpia. Er
kommuniziert mit seinem Echo. „Er erbebte vor innerem Entzücken, wenn er bedachte, welch
wunderbarer Zusammenklang sich in seinem und Olimpias Gemüt täglich mehr offenbare;
denn es schien ihm, als habe Olimpia recht tief aus seinem Innern gesprochen, ja als habe die
Stimme aus seinem Innern selbst herausgetönt.“ (S. 34)
„Spiegelbild und Echo, in Olimpia durchdringen sich beide und besiegeln den Solipsismus
119
Vgl. Detlef Kremer: Romantik, Metzler, Stuttgart, 2001, S. 177 und J. Walter, S. 16.
Vgl. S. Diebitz, S. 118.
121
D. Kremer: Romantische Metamorphosen. E.T.A. Hoffmanns Erzählungen, Metzler, Stuttgart, 1993, S.143
120
59
des gleichzeitig wahrnehmenden und verkennenden Subjekts.“122 Die ‚Duplizität’ wird völlig
verkannt, das ‚Reale’ ist für ihn als solches nicht mehr erfahrbar. Sogar der gutgemeinte Rat
seines Studienfreundes Siegmund bringt nun nichts mehr. Mehr noch, er beschimpft ihn und
deutet an, er würde sogar mit jedem um Olimpia kämpfen. Gefangen in seinem Wahn denkt er
sogar an eine Heirat, die er mit Olimpia vollziehen will. Als er deshalb zu ihr geht, kommt es
zum nächsten Schock. Er muss mit ansehen wie Coppola und Spalanzani seine Geliebte
zerstören. Ihm wird schlagartig bewusst, dass sie ein künstliches Wesen, ein Automat ist. Das
lässt ihn verzweifeln. Von einem Moment zum anderen wird ihm gewaltsam bewusst
gemacht, dass seine vermeintliche große Liebe nur eine tote Holzpuppe ist.
Die Szene trägt Züge des Gedichts, in dem Claras brennende Augen in Nathanaels Brust
schießen. Dass Olimpia, genau wie Nathanael in der ersten Urszene, wie ein Automat
behandelt wird, ist eine Art variierter Wiederholung. Während Coppola fliehen kann, fällt
Nathanael den Professor an. Schließlich endet er nach seinem Wahnsinnsanfall wieder in
einer Ohnmacht.
Wie unsicher sich Nathanael der Identität Coppolas ist, zeigt sich in dieser Szene sehr
deutlich. Zunächst hört er beim Hereinkommen Coppelius’ Stimme auf der Treppe, doch als
er das Zimmer betritt, erkennt er Coppola, nicht Coppelius. Als Krönung der Konfusion nennt
ihn Spalanzani dann selbst wiederum Coppelius. Die Verwirrung ist komplett, akustisch
vernimmt er eins, während er optisch wieder etwas anderes zu erkennen vermeint. Diese
Symptome sind nach Reil dem partiellen Wahnsinn entsprechend123. Die Szene wirkt wie ein
Déjà-vu der ersten Urszene, und da die Rollenverteilung ähnlich ist, verstärkt sich dieser
Verdacht. Ohnehin könnte es beide Male derselbe Coppelius gewesen sein. Das ist nicht
eindeutig zu klären.
Als Nathanael wieder zu sich kommt, scheint er von seinem Wahnsinn geheilt. Es geht ihm
augenblicklich gut, doch schon kurze Zeit später geschieht das Unausweichliche. Auf dem
Rathausturm zieht Nathanael auf Claras Bemerkung hin - „Sieh dir doch den sonderbaren
kleinen grauen Busch, der ordentlich auf uns los zu schreiten scheint“ (S. 39) - zufällig
wieder Coppolas Perspektiv aus der Rocktasche. Er schaut hindurch und sieht damit Clara an.
Die Reaktion ist wieder ein Wahnsinnsausbruch, denn er erkennt fälschlicherweise eine
Puppe, einen Automat in ihr. Das ist das zweite Mal, dass er sie als Automat bezeichnet. Sein
Realitätssinn wurde wieder durch das Perspektiv verzerrt. In seinem Wahn will er sie töten,
wovon ihn Lothar gerade noch abhalten kann. Er selbst bleibt nicht verschont, denn er stürzt
sich vom Turm und bleibt zerschmettert am Boden liegen. Diesmal rettet ihn keine Ohnmacht.
122
D. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 184.
60
Der Solipsismus, sein innerer Wahn, der auch zum äußerlichen wurde, kostete ihn das Leben.
Durch seine Unfähigkeit das Rationale, das Reale, in den Dingen zu sehen, bleibt ihm kein
anderer Ausweg. Die Unmöglichkeit der Vereinigung der beiden Prinzipien der ‚Duplizität’
ist der wahre Grund seines Untergangs.
Dadurch, dass die Szenen, in denen Nathanael in Wahnsinn gerät, vom Erzähler zunehmend
aus Nathanaels Perspektive geschildert werden, nehmen wir seine subjektive Realität war.
„Die
resultierende
Monoperspektive
ist
alles
durchdringend
und
läßt
in
ihrer
Ausschließlichkeit keine anderen Perspektiven mehr zu, die zu kennzeichnen wären.“124
Deshalb bildet er auch einen Affektwiderstand gegen psychologische Erklärungsversuche.
Eine objektive Realität existiert nicht mehr, nur noch seine Sicht, seine Innenwelt. Für
Nathanael sind diese „wahrgenommenen Ereignisse nicht phantastisch, sondern eben real.“125
Nathanael ist also, wenn wir Safranski folgen wollen, „monomythisch“ gefangen.
„Monomythisch gefangen sind bei Hoffmann die Figuren, die entweder ganz im bürgerlichen Alltag oder
ganz im Jenseits davon untergehen. Monomythisch verstrickt ist also der Registrator Heerbrand, der nur an
der Geschichte seiner Amtskarriere teilnimmt und selbst im Traum nicht aufhört, verlorene Aktenstücke zu
suchen; ist aber auch Anselmus, der von der Atlantis – Welt mit Haut und Haaren verschlungen wird.“126
3.4.5 Das Automatenmotiv
Das Motiv des künstlich geschaffenen Menschen, wird im „Sandmann“ auf eine höchst
eigenwillige Weise verwirklicht. Die Androide Olimpia ist keine gewöhnliche Holzpuppe,
nein, sie führt gesellschaftlich anerkannte Tätigkeiten aus127. Sie singt, spielt den Flügel, tanzt
und besucht mit Erfolg die örtlichen gesellschaftlichen Teezirkel. Allerdings alles, ohne dabei
für einen Automaten gehalten zu werden. Mit dem Automatenmotiv werden noch andere
Motive verknüpft, die dem Automaten zu mehr machen, als er eigentlich sein sollte. Dazu
gehört das Verführungsmotiv, das sie zu einer „romantischen Venus“128 macht. „Hoffmann
folgt, wie gesagt, einem romantischen Motiv, wenn er im Namen »Olimpia« auf das Bild der
heidnischen Liebesgöttin der Antike anspielt: der kalte, aber klassische (d.h. olympische)
Automat als Reduktionsform der in kühlen Marmor gebildeten Venus.“129 Ihre Kühle bleibt,
ihr Material verändert sich.
Fangen wir beim äußeren Erscheinungsbild an. Olimpia wird als ein hübsches Mädchen
bezeichnet, ihr „wunderschön geformtes Gesicht“ (S. 27) war „bewundernswert“ (S. 29). Sie
123
Vgl. M. Bönnighausen, S. 28/29.
Aus: I. Schröder: Das innere Bild und seine Gestaltung. Die Erzählung „Der Sandmann“ als Theorie und
Praxis des Erzählens, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 9, 2001, S. 29.
125
I. Schröder, S. 30.
126
R. Safranski, S. 327.
127
Damit steht sie in einer Linie mit den berühmten Vaucansonschen Automaten und denen anderer
Automatenbauer, die im 18. und 19. Jahrhundert bekannt waren.
128
D. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 185
124
61
sieht also auf den ersten Blick völlig menschlich aus. Trotz des täuschenden Aussehens hat sie
aber ihre Schwachpunkte. Diese liegen einerseits in den Augen, andererseits in Olimpias
Beschaffenheit. Die Augen, das „Fenster des Seele“ (Hegel), erscheinen Nathanael beim
ersten Hinsehen noch als „hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe möchte ich sagen keine
Sehkraft, es war mir so, als schliefe sie mit offnen Augen.“ (S. 16) Noch eine zeitlang wird
das so bleiben; Nathanael bemerkt noch das ‚steife’ Benehmen der Olimpia, doch irgendwann
verfällt er ihr, oder besser gesagt seinem Wahn.
Wie kommt es dazu? Um dieses Problem zu lösen, greift Hoffmann in die romantische
Trickkiste von Spiegeln und ähnlichen Apparaten, die eine ‚zauberhafte’ Wirkung haben. In
unserem Falle ist es ein Taschenperspektiv. Nathanael kauft dieses dem schon bekannten
Coppola ab, den er zuvor noch für den grässlichen Coppelius hält. Erst als er durch das
Perspektiv schaut, beginnt Olimpia sich zum Leben zu verwandeln. Auffallend ist diese
Tatsache, da Olimpia zuvor immer in einem statischen Zustand beschrieben wurde. Ab jetzt
nicht mehr. Auf welche Art und Weise dieses Requisit funktioniert, wird nicht geklärt. Genau
sowenig, ob es überhaupt an dem Perspektiv liegt. Hier treffen wir wieder auf die angenehme
Zurückhaltung, in der sich der Erzähler befindet. Der Leser muss selbst bestimmen, was die
Wahrheit ist, und aufgrund der äußeren Indizien und der jeweiligen Sichtweise entscheidet er
sich für das eine oder andere. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass das Perspektiv
eine verfälschende Wirkung auf Nathanaels Sichtweise hat.
Weil die Funktionsweise nicht näher spezifiziert wird, werden nun die Auswirkungen
behandelt. Beim ersten Blick durchs Perspektiv ging es folgendermaßen zu:
„Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar
seltsam und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in
Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde;
immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer
fort und fort die himmlisch – schöne Olimpia betrachtend.“ (S. 27)
Es bleibt nur eine Schlussfolgerung möglich: das Perspektiv ‚verzerrt’ Nathanael seinen
Blick, es bewirkt eine schwere Verkehrung, indem es das Tote als lebendig darstellt –
zumindest für Nathanael. „Denn Coppolas Glas führt nicht etwa zur Wahrheit, sondern direkt
in den Wahn; das unbewaffnete Auge Nathanaels schließlich war blind gewesen für die
trügerischen Reize der Puppe Olimpia.“130 Von einer solchen Annahme muss man ausgehen,
da die Schlussszene einen weiteren Beleg dafür liefert. Dort zieht Nathanael „mechanisch“
(S. 38) Coppolas Perspektiv aus der Rocktasche, sieht zufällig Clara dadurch an und wird
wieder wahnsinnig. Er beschimpft sie als „Holzpüppchen“ (S. 39), also als Automat. Sie
129
130
D. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 185.
Vgl. S. Diebitz, S. 124.
62
erscheint ihm also tot, wieder eine ‚Verzerrung’ und Verkehrung seines Blicks.
Vergleichend zum Motivkreis des Zauberspiegels ziehen wir noch einmal die Golem-Bella
aus Arnims „Isabella“ heran. Natürlich unterscheiden sie sich in vielen Punkten, doch es gibt
auch Ähnlichkeiten. Beide Geschöpfe sind künstlich hergestellt worden und beide erhalten
durch Variationen von Zauberspiegeln ihre Lebendigkeit. Beide Figuren haben die Funktion
einer Verführerin. Sie werden beide ihrer Rolle zeitweise gerecht, bis sie durchschaut bzw.
zerstört werden. Beide besitzen Sprachgabe, zumindest zum Teil. Gemäß ihren Möglichkeiten
ist diese Gabe beim Golem ausgeprägter. Durch ihre Erbauer können beide beeinflusst
werden. Beim Golem war es „Hochmut, Wollust und Geiz, drei plumpe Verkörperungen
geistiger, herrlicher Richtungen, wie alle Laster; […]“131, die der Jude ihr mit auf den Weg
gab. Bei Olimpia ist alles reine Einstellungssache, sie besitzt keinerlei Vernunft, keine
Gedanken und keinen Willen. Ihre Taten sind vorprogrammiert, genau wie ihr Gesang und
überhaupt alles an ihr. Sie ist eigentlich nur ein Werkzeug, wie alle Automaten in Hoffmanns
Werk. Durch diese Attribute wird man leicht an den Vaucansonschen „Flötenspieler“ erinnert,
der in den „Automaten“ erwähnt wird. Die Nähe zu den zeitgenössischen Automaten ist
unverkennbar. Jedoch die Anlagen Olimpias und Golem-Bellas als verschiedenartige Wesen
macht weitere eindeutige Parallelen schwer.
Zurück zu den Augen und ihrer Schwäche. Bei lichtem Verstand erkennt Nathanael das auch
sofort. Das Auge ist, wie bereits erwähnt, als Motiv oder Metapher so oft vorkommend, dass
es als Leitmotiv gelten kann. Das ist nicht nur romantischer Kanon, im „Sandmann“ sind die
Augen in Anlehnung an Hegel durchaus charakterisierbar in ihrer Funktion und Wichtigkeit:
„Fragen wir aber, in welchem besonderen Organe die ganze Seele erscheint, so werden wir sogleich das
Auge angeben; denn in dem Auge konzentriert sich die Seele und sieht nicht nur dasselbe, sondern wird auch
darin gesehen. Wie sich nun an der Oberfläche des menschlichen Körpers im Gegensatze des tierischen
überall das pulsierende Herz zeigt, in demselben Sinne ist von der Kunst zu behaupten, daß sie jede Gestalt
an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge verwandle, welches der Sitz der Seele ist, und den
Geist zur Erscheinung bringt.“132
Der zweite verwundbare Punkt Olimpias, der sie verraten kann, liegt in ihrer Beschaffenheit.
Sie ist eine Maschine und als solche unterliegt sie mechanischen und physikalischen
Gesetzen. So erklärt sich auch ihre „rhythmische Festigkeit“ und ihr „abgemessener und
steifer Schritt und Stellung“ (S. 30). Das kann sie nicht verbergen, und einem
durchschnittlichen Studenten wie Siegmund fällt so etwas sofort auf, was Nathanael später
ignoriert bzw. völlig fehlerhaft interpretiert. Ihre ‚mechanischen Signale’, welche sie
aussendet, kann er nicht mehr dekodieren. Er verfällt ihr, doch eigentlich sich selbst, denn es
131
Achim von Arnim: Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe, Reclam, Stuttgart, 2002,
S. 76.
63
ist ja nur sein Echo, das er von ihr zurückerhält. Sie ist innerlich vollkommen leer, deshalb ist
sie die perfekte Projektionsfläche für ihn. „[…] Olimpia is nothing more than sheer
emptiness.“133
„And so Olimpia, the narcisstic projection of Nathanael’s ideal vision of love, emerges in “Der Sandmann”
as a kind of sister soul of the hero, an erotically transfigured doppelganger who becomes the mirror image of
the solipsistic poet (“nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder”), and whose imagined sensitivity
and receptiveness (“O du herrliches, du tiefes Gemüt,” [357]) alone constitute qualities capable of plumbing
the depths of the poetic soul.”134
Von ihr erfährt er keine Widerrede, keine Störungen, sie verwandelt sich in den besten
Zuhörer, während er immer tiefer in seinen Wahn verfällt. Es sind gewiss narzisstische Töne,
die hier anklingen, wenn er sich ständig selbst reden hört.
Die Augen sind die Stelle, an der sich das Innere mit dem Äußeren berührt, sie haben eine
ganz wichtige Funktion und sind deshalb so wertvoll in der Erzählung. Es zeigt sich, dass ihre
Herstellung nicht leicht ist. Aus diesem Grund will sie Coppelius Nathanael auch nehmen. An
Olimpias totem Blick erkennt man ihre unschätzbare Bedeutung. Olimpia ist innerlich tot, sie
besitzt keine Seele oder Bewusstsein, deshalb strahlen ihre Augen auch keine Sehkraft, keine
Lebendigkeit aus. „Denn durch das Auge kommt nicht nur die Außenwelt nach innen, sondern
auch das Innere nach außen.“135 Die Augen können nicht lügen, außer man ist verzaubert oder
unter andersartigem Einfluss. Die hohe Wertigkeit mag wohl auch der Grund sein für eine so
massive Einsetzung des Motivs im Werk.
Bevor das Augenmotiv beendet werden soll, nur noch ein Hinweis, der in dieser Hinsicht
wichtig ist, nämlich die Namen Coppelius und Coppola. Ihnen liegt die italienische Wurzel
*cop– zugrunde; italienisch coppo heißt „Becher, Schale“, im weiteren Sinne auch
„Augenhöhle“, womit wir beim Augenmotiv wären. Coppela heißt „Schmelztiegel“ und
erinnert an die nächtliche Laborszene. Die Namen haben also Bedeutung, deshalb weiter zu
Spalanzani. Der Name war im 18. Jahrhundert bekannt, denn Lazzaro Spalanzani136 war ein
Forscher, der sich u.a. mit künstlicher Befruchtung beschäftigte. Damit wären wir beim
Thema des künstlichen Menschen. Spalanzani stellt mit Hilfe Coppolas neues Leben her. Auf
künstliche Art und Weise, aber viel künstlicher als der Namensgeber Spalanzani. Spalanzani
spielt Gott, indem er ein dem Menschen ähnliches Geschöpf herstellt. Olimpias Wirkung auf
die Gesellschaft bleibt selbst nach ihrer Vernichtung bestehen. Bei den Menschen schleicht
132
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik I, hrsg. von Friedrich Bassenge, Europäische Verlagsanstalt,
Frankfurt am Main, 1965, S. 203.
133
Aus: Allan J. McIntyre: Romantic Transcendence and the Robot in Heinrich von Kleist and E.T.A.
Hoffmann, in: The Germanic Review 54, 1979, S. 31.
134
Aus: Thomas A. Kamla: E.T.A. Hoffmann’s „Der Sandmann“: The Narcisstic Poet as Romantic Solipsist, in:
The German Quarterly 63, 1988, S. 95.
135
Vgl. G. Hartung, S. 63.
136
Vgl. Rudolf Drux: Erläuterungen zum „Sandmann“, S. 48.
64
sich Angst ein, deshalb verlangen jetzt viele Liebhaber, „daß die Geliebte etwas taktlos singe
und tanze […]“ (S. 37). Olimpia verweist auf die Austauschbarkeit des Menschen und ist
deshalb so gefürchtet. Sie ist nicht das, was sie zu sein scheint. Ihr trügerisches Äußeres lässt
uns an bis dato bestehenden Erfahrungswerten zweifeln.
3.4.6 Das Doppelgängermotiv
Als zweites zentrales Motiv des „Sandmanns“ ist noch das für unsere Untersuchung
wichtigere Doppelgängermotiv zu nennen. Wie schon in dem kurz vorher beendigten Roman
„Die Elixiere des Teufels“, verwendet Hoffmann das Motiv, um Konfusion und Spannung zu
erzeugen. Die Werke unterscheiden sich aber im Punkte des Doppelgängermotivs erheblich.
Im „Sandmann“ ist es nur peripher und nicht sehr ausführlich behandelt. Der Prozess der
Herleitung des doppelgängerischen Verhältnisses verläuft zunächst aus der subjektiven Sicht
Nathanaels, der im ersten Brief gleich alle drei Personen, die den Kern des
Doppelgängermotivs ausmachen, in die Erzählung einführt. Ganz wichtig scheint auch die
Tatsache, dass nicht, wie in den meisten anderen Erzählungen der Untersuchung, der
Protagonist verdoppelt wird, sondern eine andere Figur. Dadurch eröffnen sich andere
Möglichkeiten, die Hoffmann auch nutzt. Der junge Nathanael wird durch die Geschichte
vom Sandmann angeregt und will schließlich entdecken, wer der Sandmann ist und was er
abends mit seinem Vater macht. Die Geschichte des Kindermädchens hat für ihn realen
Charakter. Als er entdeckt, dass der Advokat Coppelius der nächtliche Besucher ist,
identifiziert er ihn als Sandmann. In seiner Phantasie ist er der böse Sandmann, der den
Kindern Sand in die Augen streut. Im normalen Leben ist er ein Freund des Vaters. Seine
Gestalt wird durchaus mit dämonischen Zügen beschrieben, jedoch mit „zeitgenössischrealistischen Zügen vermischt“137. „Denke Dir einen großen breitschultrigen Mann mit einem
unförmlich dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigen grauen Augenbrauen, unter denen ein
paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln, großer, starker über die Oberlippe
gezogener Nase […]“ (S. 7) Die grünen Augen und die Habichtsnase sind relativ eindeutige
Signale, auch das Grau der Augenbrauen und des Rocks deuten in Richtung eines verkappten
Teufels, der in solch biedermeierlicher Verkleidung schon im „Schlemihl“ sein Unwesen
trieb.
Soweit Nathanaels Sicht, die, wie gesagt, nur eine in der Erzählung ist. Am Ende des Briefes
wird erst der wahre Grund und Doppelgänger genannt. Nathanael bekam Besuch von einem
Wetterglashändler namens Coppola, den er als den Advokaten Coppelius erkannt haben will.
„Wenn ich Dir nun sage, mein herzlieber Freund! daß jener Wetterglashändler eben der verruchte Coppelius
137
Vgl. G. Hartung, S. 58f.
65
war, so wirst Du mir es nicht verargen, daß ich die feindliche Erscheinung als schweres Unheil bringend
deute. Er war anders gekleidet, aber Coppelius’ Figur und Gesichtszüge sind zu tief in mein Innerstes
eingeprägt, als daß hier ein Irrtum möglich sein sollte.“ (S. 11)
Aus dieser Passage erscheint die Sache für Nathanael eindeutig: es ist ein und dieselbe
Person, somit kein Doppelgänger. Zumindest nicht für Nathanael, denn ihm kann er nicht
vormachen er sei jemand anders. Doch diese Eindeutigkeit stellt Hoffmann geschickt in
Zweifel, indem er Nathanael alles im Konjunktiv sagen lässt, was die Wirkung zumindest
etwas abschwächt. Er darf schließlich nicht zu eindeutig werden, da noch Claras Sicht kommt
und bestehen bleiben muss.
Eines ist zumindest sicher, beide Personen – wenn es denn zwei verschiedene sind – treten als
reale Personen auf und sind keine Einbildungen oder Trugbilder. Sie bestehen aus Fleisch und
Blut. Zwischen den beiden werden bis zum Schluss einige Korrespondenzen hergestellt, so
wie das Aussehen und die Namen. Es wird aber keine direkte Verbindung hergestellt, außer
von Nathanael selbst. Als der Brief zu Ende ist, wird der Leser mit größter
Wahrscheinlichkeit zu Nathanaels Sicht der Dinge tendieren und Coppelius mit Coppola
gleichsetzten.
Daran schließt sich Claras Brief an, der kürzer, aber nicht weniger eindeutig das Gegenteil
von dem behauptet, was Nathanael denkt. Der Leser gerät ins Wanken, er fühlt sich seiner
bisherigen Position nicht mehr sicher.
Als im dritten Brief Nathanaels seine Einsicht schildert, er denke jetzt: „Übrigens ist es wohl
gewiß, daß der Wetterglashändler Giuseppe Coppola keineswegs der alte Advokat Coppelius
ist.“ (S. 16), ist die Position noch ungewisser. Es stehen sich zwei Erklärungen gegenüber, die
beide akzeptabel erscheinen, aber total entgegengesetzt sind.
Beim nächsten Zusammentreffen zwischen Coppola und Nathanael wird ein erster
Berührungspunkt zwischen den vermeintlichen Doppelgängern sichtbar – (wieder) die Augen.
Während Coppelius Nathanaels Augen nehmen wollte, ist Coppola darum bemüht, ihm eine
Brille oder ein Perspektiv zu verkaufen. Bei beiden Personen ist stets starke Augenmetaphorik
vorherrschend. Das verbindet sie auf eine gewisse Weise. Während Coppelius beim ersten
Mal nicht Nathanaels Augen bekam, hat Coppola mehr Glück und schafft es, ihn später zu
manipulieren. Er verkauft ihm das Perspektiv, welches ihm die Wirklichkeit verzerrt. Durch
das Medium des Auges wird ihm etwas vorgegaukelt. Das Perspektiv als Apparat wirkt
verstärkend, weil man während des Sehvorgangs ‚automatisch‘ immer ein Auge schließt. Die
Folge ist, dass man alles um sich herum nur durch das Perspektiv wahrnimmt, der Rest wird
ausgeblendet. Bei der nächsten Begegnung der beiden ist auch Spalanzani anwesend. Die
Szene wird zur variierten Verdopplung des Jugendtraumas.
66
Die Doppelgänger sind hier auf jeden Fall negative Figuren, so wie das bei Arnim die
künstlichen Menschen sind. Sie treiben die Handlung voran, sie manipulieren Nathanaels
Familie und Nathanaels Leben. Ihre Kräfte, Fähigkeiten und ihr Wissen setzen sie
zerstörerisch und manipulativ ein. Das Doppelgängermotiv entsteht nur, um noch größere
Verwirrung zu stiften und das doppelte Erklärungspotential zu verstärken. Es ist nicht
strukturbestimmend, sondern eher eine beiläufig realisierte Idee und Möglichkeit, die sich
Hoffmann bot.
4. Clemens Brentano: Die Auflösung des Schreckens in der
ironischen
Potenzierung:
„Die
mehreren
Wehmüller
und
ungarischen Nationalgesichter“138
Clemens Brentano war mit dem Doppelgängermotiv, so wie die meisten Romantiker,
ebenfalls gut vertraut, doch er hatte immer Skrupel und Angst, es wie Hoffmann in zu ernster
und gefährdender Art einzusetzen. Nicht, dass er Hoffmann nicht schätzte oder mochte, aber
dessen Weg konnte er nicht gehen. Die Angst schildert er auch in seinem leider nie
abgeschickten Brief an Hoffmann139. Seine Verwendung findet jetzt keinen Platz mehr für
übernatürliche Ursachen. Aus ganz anderen Gründen spielt er darauf an, denn er wendet das
Motiv ins Parodistische und Ironische. Die angedeutete Ernsthaftigkeit verfliegt schnell
wieder. Das Thema und das Motiv haben aber durchaus ernsthafte Züge im Hinblick auf die
Kunst und die Kommerzialisierung der Kunst. Alles in allem wird uns hier eine menschliche,
fast allzu menschliche Geschichte vorgetragen, dessen Doppelgänger aus dem wahren Leben
stammen und deren Ziele nur auf Irdisches ausgerichtet sind. Bei Brentano gehört am
wenigsten dazu, um einen Doppelgänger zu schaffen. Einfache Verkleidungen reichen meist
aus. Das Plus, was er noch verwendet, hat andere Gründe. Ein Blick auf die Erzählung wird
dies bestätigen.
4.1 Allgemein
Die eigenwilligste, bunteste und lustigste Erzählung innerhalb dieser Untersuchung ist
138
Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: Gesamtausgabe der Werke, Bd. 19, Erzählungen, hrsg. von
Gerhard Kluge, Kohlhammer, Stuttgart, 1987.
139
Der erwähnte Brief ist nachzulesen in: E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel, gesammelt und erläutert von Hans
von Müller und Friedrich Schnapp, Band II, Darmstadt, 1968, S. 82. „Was Sie geschrieben, hat mich
mannichfaltig gefreut,[...] dann stellen Sie sich vor ich möchte die Lichter ausputzen meinen Schatten nicht zu
sehen, die Spiegel verhängen, das Spiegelbild nicht zu erblicken, und dieser Schatten, dieses Spiegelbild von mir
in Ihrem Buch hat mich darum oft geängstet, weswegen ich nicht begreifen kann, daß Sie das Ihre selbst drinn
sehen und zeigen mochten.“
67
Clemens Brentanos „phantastische Burleske“140, „Die mehreren Wehmüller und ungarischen
Nationalgesichter“. Die Erzählung, die wohl aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen den
Jahren 1810 und 1817 entstanden ist, gehört zu den letzten weltlich ausgerichteten Arbeiten
von Clemens Brentano. Dieser Umstand macht die Erzählung noch interessanter, denn ihr
Inhalt steht offenbar nicht unter dem Einfluss der am 27. Februar 1817 abgelegten
Generalbeichte, die einen inneren und äußeren Umbruch für ihn bedeutete. Weitestgehend
stimme ich mit Hans-Jürgen Schrader überein, wenn er behauptet, „[...] der Dichter [hat] hier
ein letztes Brillantfeuerwerk von höchster Farbigkeit und Vollkommenheit abgebrannt und
dann letztwillig die Sprühkegel der Romantikkonzeption seiner Jugend ausgelöscht.“141 Umso
erstaunlicher ist die Tatsache, dass die Erzählung in der Forschung relativ wenig Beachtung
fand. Nur eine Handvoll Abhandlungen existieren überhaupt. Zu der Entstehung und all ihren
Einzelheiten, den stofflichen Einflüssen und vielem mehr, gibt Gerhard Kluges Nachwort der
historisch-kritischen Ausgabe reichlich Material. Darauf kann hier nicht näher eingegangen
werden, da die Fülle der Zeugnisse einfach zu groß ist. Letztlich kommt es doch wieder auf
den schon erwähnten Zeitraum zwischen 1810 – 1817 zurück. Wichtig war wohl der Einfluss
den die Alt-Wiener Volkskomödie auf ihn gehabt hat. Auch das Doppelgängermotiv kommt
dort vor (z.B. bei Schikaneders Stück „Der dumme Gärtner aus dem Gebirge oder die zween
Anton“, 1789)142, und zwar, genau wie in der hier behandelten Erzählung, in einer eher
humoristischen Verwendungsart.
4.2 Zur Forschung
Die Geschichte offenbart eine Menge verschiedenster Motive und Elemente, die für die
Romantik sehr spezifisch waren. Leider können nicht alle bearbeitet werden, da sie zumindest
direkt nicht viel mit dem Doppelgängermotiv zu tun haben. Während Kluge in seiner
Untersuchung überwiegend nur auf die inhaltliche und strukturelle Seite der Erzählung(-en)
eingeht, spielt bei ihm noch die „unsichtbare, höhere Fügung“, die er auch als „Schicksal“
bezeichnet, eine bedeutende Rolle143. Mittels ihres Eingreifens endet die Geschichte
glücklich, sie vermag, die entstandene Krise zu überwinden und den ursprünglichen Zustand
wiederherzustellen, den der „Zufall“ hervorbrachte.
Böhler liest die Geschichte aus ihrem zeitgenössischen Diskurs heraus und sieht in ihr die
140
Werner Hoffmann: Clemens Brentano. Leben und Werk. Bern / München, 1966, S. 289.
Hans-Jürgen Schrader: Brentanos „Die mehreren Wehmüller“. Potenzieren und Logarithmisieren als
Endspiel, in: Aurora 54, 1994, S. 119.
142
Siehe im Nachwort der Sämtlichen Werke von G. Kluge, S. 662.
143
Gerhard Kluge: Clemens Brentanos Erzählungen aus den Jahren 1810–1818. Beobachtungen zu ihrer Struktur
und Thematik, in: Clemens Brentano. Beiträge des Kolloquiums im Freien Deutschen Hochschulstift, hrsg. von
Detlev Lüders, Niemeyer, Tübingen, 1980, S. 131.
141
68
Kritik der aufkommenden Industrialisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Er
betont die ausgeprägten aufklärerischen Tendenzen, die sich in der Erzählung finden.
Die Deutung David B. Dickens’ konzentriert sich auf die Ironie und Parodie im Werk. Seiner
Ansicht nach hat Brentano in dem Werk die romantische Ironie ironisiert. Gleichzeitig
versucht er, eine gewisse Korrespondenz zwischen den „Wehmüllern“ und der Geschichte
vom „Braven Kasperl und dem schönen Anerl“ herzustellen, die seines Erachtens
zusammenhängend sind144.
4.3 Motivik und Aufbau
Die Motivlandschaft ist durchdacht zusammengesetzt, um die erwünschte, größtenteils
humoristische Wirkung zu erzielen. Dabei wirkt das ganze nicht aufgesetzt oder gekünstelt.
Darin liegt mit Sicherheit eine der Stärken der Erzählung.
Die Erzählung, dessen Name uns schon zwei der tragenden Motive erschließen lässt, ist aber
keinesfalls nur auf den Doppelgänger begrenzt oder ausgerichtet. Vielmehr taucht Bekanntes
auf, das wir schon bei Arnim sahen, so z.B. die „Zigeunerromantik“. Einen bleibenden
Eindruck von Zigeunern hat Brentano bei seinem Aufenthalt in Bukowan erhalten, wo auch
ein Teil der Erzählung entstanden sein könnte. Doch die Zigeuner sind ganz und gar nicht so,
wie man sich das in der Romantik gerne vorstellte: „[...] die Zigeuner sind alle zum Galgen
reif und gar nicht romantisch.“145 Weitere Parallelen sind im Aufbau zu beobachten. Brentano
verwendet hier, ebenso wie Arnim, eine Konstruktion, die aus Rahmenerzählung und
Binnengeschichte146 besteht. Jedoch bleibt es nicht, wie bei Arnims „Isabella“, nur bei einer
Binnengeschichte, nein, Brentano potenziert diese und reiht gleich drei von ihnen in die
Erzählung ein. Die Potenzierung ist eines der Merkmale der Erzählung, welches an vielen
Stellen sichtbar wird147 und sie mitunter so interessant macht.
Die Binnengeschichten werden jeweils immer in Ich-Form erzählt, sodass uns dadurch gleich
ein mehrmaliger Perspektivenwechsel untergeschoben wird. Darin besteht eine Parallele zu
Hoffmann, der ebenfalls multiperspektivisches Erzählen bevorzugte, was auch mit seinem
‚serapiontischen Prinzip’ im Einklang ist. Es sind alles ‚Erlebnisse’ aus den eigenen Leben
der Ich-Erzähler. Dadurch wird die Plattform für deren Aussagekraft geschaffen, gleichzeitig
David B. Dickens: Brentanos „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“. Ein
Deutungsversuch, in: The Germanic Review 58/1, 1983, S. 12f.
145
Brief an Jacob und Wilhelm Grimm, vom 3. September 1810.
146
Vgl. G. Kluge, S. 105.
147
H.J. Schrader geht in seiner Untersuchung größtenteils auf das Begriffspaar der Potenzierung und
Logarithmisierung ein. Dadurch beschränkt er sich zu sehr darauf und vernachlässigt andere ganz wichtige
Elemente und Anklänge, die in der Erzählung vorkommen.
144
69
wird die Erzählung dadurch mehrfach subjektiv gebrochen148.
Der
Rahmen
der
Erzählung
ist
in
ihrer
Manier
Boccacchios
„Decamerone“
nachempfunden149. Eine Gesellschaft findet sich unter widrigen Umständen zusammen und
vertreibt sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten. Die Ursache ist auch hier die Pest
(wie im „Decamerone“), die in diesem Falle als Pest-Cordon Wehmüller, und später auch
Devillier und Michaly, am Übergang in ein anderes Gebiet hindert.
Die drei Binnengeschichten folgen nacheinander, wobei die dritte den Übergang zur
Rahmenerzählung herstellt: mittels einer Unterbrechung durch Devillier, der die Geschichte
dann aus seiner Perspektive weitererzählt und somit in die Erzählebene zurückschwenkt. Die
„hermetische Abgeschlossenheit der Binnenhandlung“150 wird hier durchbrochen und die
Rückkehr zur Rahmenhandlung erreicht.
4.4 Zum Text und zum Doppelgänger Wehmüller
Die Handlung beginnt mit einer Nachricht von Wehmüllers Frau Tonerl. Sie schreibt ihrem
Mann, er solle schnell zu ihr nach Stuhlweißenburg kommen, da er sonst zu spät kommen
könnte, um einem ungarischen Grenadier- und Husarenregiment seine Bilder zu verkaufen, da
das Regiment in Kürze ihren derzeitigen Standort verlässt. Wehmüller ist reisender Maler, der
seine Porträts vorab malt, ohne die Gesichter und Menschen, denen er sie später verkauft,
selbst jemals gesehen zu haben. Er denkt sich einige typische Gesichter aus, denen er „durch
wenige Meisterstriche, einige persönliche Züge und Ehrennarben oder die Individualität des
Schnurrbartes des Käufers unentgeldlich bei[fügt], für die Uniform aber, welche er immer
ausgelassen hatte, mußte nach Maßgabe ihres Reichtums nachgezahlt werden.“ (S. 254)
Diesmal hat er 39 ungarische Nationalgesichter gemalt und will mit diesen so schnell als
möglich nach Stuhlweißenburg, um dort ein gutes Geschäft zu machen.
Mit diesem Thema schneidet Brentano eine ganz empfindliche Stelle der Kunst an, nämlich
ihre Kommerzialisierung151. Der Maler Wehmüller hat also durch einen beinahe
automatisierten, modernen Herstellungsstil eine Marktlücke entdeckt, die ihm anscheinend ein
vernünftiges Einkommen sichert. Im Winter hat er Zeit, die Porträts im Voraus zu malen, um
sie in der schöneren Jahreszeit verkaufen zu können. Durch Verwendung von speziellen
Mitteln trocknen seine Bilder schneller, womit er eine kürzere Wartezeit hat. Damit schöpft er
148
Vgl. G. Kluge, S. 105.
In der deutschen Literatur gibt es ebenfalls prominente Beispiele für solche Konstruktionen, z.B. Goethes
„Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. Da die vorliegende Erzählung aber eher komisch-ironisch ist,
könnte es auch als eine Reaktion auf Goethe sein. Siehe bei Bettina Knauer, S. 103f.
150
Wolfgang Frühwald: Kindlers Literaturlexikon, Band 7, Darmstadt, 1972, Sp. 2307.
151
Vgl. Michael Böhler: Clemens Brentanos „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“.
Kunst, Kommerz und Liebe im Modernisierungsprozeß, in: Aurora 54, 1994, S. 145f.
149
70
das Maximale aus seiner Zeit aus.
Doch die Situation ist nicht optimal, denn er hat Konkurrenz, die sich in Person des Malers
Froschhauer offenbart, der „von der entgegengesetzten Schule“ (S. 255) ist. Froschhauer malt
nämlich zuerst die Uniformen, und für das Gesicht muss extra gezahlt werden. Der
Unterschied, falls es denn überhaupt einen gibt, besteht ausschließlich darin, dass Wehmüller
noch radikaler und individualitätsverachtender ans Werk geht als sein Konkurrent. Eigentlich
ist es aber pure Ironie, die Brentano hiermit ausdrückt. Wehmüller konnte sich bisher nicht
beklagen; durch die große Auswahl an vorgefertigten Bildern kann sich jeder sein Bildnis
selbst aussuchen, „[...] wie einen Weck auf dem Laden [...]“ (S. 254), sodass sich niemand
über Unähnlichkeiten beklagen kann. Es steht jedem frei, welches Porträt er sich aussucht und
ob er eines kaufen möchte. Das Geschäft scheint zu laufen, er hat Erfolg. Dass ihm diese
Einstellung zur Kunst und zur Individualität noch Ärger einbringt, wird sich zeigen.
Wehmüller packt schnell seine Sachen und Porträts und beschließt, sofort nach
Stuhlweißenburg aufzubrechen. Doch es stellt sich ihm ein Problem in den Weg, ein PestCordon versperrt den Weg zu seiner Frau und dem lockenden Geschäft. Mit dem Pest-Cordon
taucht eine Grenze auf, die überschritten werden muss, um zu seinem Glück zu kommen. Sie
stellt, nach Frühwald, eine Grenze zum verlorenen Paradies dar152. Diese Lesart ist durchaus
gängig im Rahmen von Brentanos Prosa, die deutliche Anzeichen für solche Interpretationen
liefert: die Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter, das wir verloren haben und wiederfinden
müssen153.
Auf Rat seines Freundes Lury soll er mit einem Bauern sprechen, der ihm mehr über den
Cordon erzählen soll. Wehmüller tut dies und wundert sich nicht wenig, als ihn eben dieser
Bauer wiedererkennen will und ihn beschuldigt, er würde ihm noch seinen Lohn schulden, für
die er für die Überführung durch den Cordon von ihm bekommen sollte. Zu seiner Bestürzung
zieht er als Beweis noch ein angebliches Bild von ihm hervor, auf welchem das Gesicht seiner
Frau zu sehen ist. Das Doppelgängermotiv tritt hier also zum ersten Mal als Verwechslung
auf. Wehmüller wehrt sich gegen den Vorwurf, beteuert, er könne es nicht gewesen sein. Der
abergläubische kroatische Bauer ist verwirrt und hält Wehmüller für einen „Teufel“ (S. 257).
Der hat aber ganz andere Sorgen, denn ihm fällt seine Frau ein, die ja in Stuhlweißenburg auf
ihn wartet, dort, wohin der andere Wehmüller angeblich unterwegs ist. Er bricht sofort auf,
will keine Zeit verlieren. Auf dem Weg zum Cordon wird er vom Grafen Giulowitsch
eingeholt, der von dem Vorfall schon gehört hat und der ihn ein Stück auf seinem
152
W. Frühwald, Sp. 2307.
Wolfgang Frühwald: Clemens Brentano, in: Deutsche Dichter der Romantik, hrsg. von Benno von Wiese,
Schmidt, Berlin, 1983, S. 350.
153
71
„Wurstwagen“ (S. 257) mitnimmt. Er befragt ihn gleich nach den Umständen der
Verwechslung und ob er nicht jemanden kenne, der so aussehe und male wie er. Ein erster
Versuch, die Verwechslung bzw. die Doppelgängerei rational zu erklären. Wehmüller
antwortet voreilig und behauptet, er kenne niemanden, der so aussieht und malt wie er. Was
ihn aber noch mehr verunsichere sei das Bild seiner Frau, „[...] denn dadurch zeige sich eine
Beziehung des falschen Wehmüllers auf seine Frau, welche ihm besonders fatal werden
könnte.“ (S. 258)
Hier wird auf eine geheime Beziehung oder höhere Macht angespielt, die man vor allem bei
Hoffmann oft findet, doch Brentano lässt diese Andeutungen kurze Zeit später durch eine
eindeutige rationalistische Erklärung als lächerlich erscheinen bzw. enttarnt sie als falsch.
Diese Beziehung, auf die Brentano anspielt, existiert gar nicht, ja, sie wird noch jäh als
absolut falsch und abwegig erkannt werden. Deshalb ist es eher eine ironische Verspottung
des Schauerromantischen, was ihm gleichzeitig dazu diente, die Spannung zumindest etwas
zu erhöhen. Eine tiefergehende Bearbeitung findet nicht statt. Schon in der Anfangspassage
des Werks, also in der Rahmenerzählung, werden uns diese beiden gegensätzlichen
Tendenzen vorgeführt.
Auf der einen Seite steht der Aberglaube und die mit ihm verbundene Unaufgeklärtheit, auf
der anderen die rationalstisch-aufklärerischen Tendenzen, die vor allem in Devilliers Rolle
verkörpert wurde. Der Graf verunsichert den armen Wehmüller noch mehr, indem er seine
eigene Theorie äußert, die besagt: „[...] der falsche Wehmüller sey wohl nur eine Strafe
Gottes für den ächten Wehmüller, weil dieser alle Ungarn über einen Leisten male, so gäbe es
jetzt auch mehrere Wehmüller über einen Leisten.“ (S. 258) Damit deutet der abergläubische
Kroate den Vorfall als von höheren Mächten, von Gott bestimmt. Zugleich wäre es auch
Kritik an ihm und seiner Einstellung zur Kunst und zum Geld. Es wäre also eine Strafe, die
sich in einer Potenzierung manifestiert, die das Gegenteil von dem ist, was er selber durch
seine Malerei macht; denn er vereinfacht alles, indem er alles über einen Leisten malt. Die
Potenzierung hat aber dieselbe Wirkung wie seine Malerei, sie beraubt ihn seiner
Individualität. Freilich nur für kurze Zeit und rein äußerlich, denn er zweifelt niemals an
seiner Existenz oder Wahrnehmungsfähigkeit. Das unterscheidet ihn von den üblichen
Doppelgängern. Der Grund dafür könnte in seiner Geschäftigkeit liegen, die das nicht zulässt.
Er steht mit beiden Beinen fest im Leben, ist eigentlich selbstbewusst und so nicht anfällig für
Identitätsprobleme und persönliche Krisen. Zudem gilt er eigentlich nicht als wahrer Künstler,
sodass er die Prädispositionen dafür nicht mitbringt, wie das Hoffmanns Künstlerfiguren tun.
Auf seinem Weg zum Pest-Cordon kommt er ins Grenzdorf. In der Dorfschenke wird er zum
72
zweiten Mal als der Maler Wehmüller erkannt. Erneut beteuert er, dass er es unmöglich sein
konnte, denn er war niemals vorher hier, doch niemand glaubt ihm. Der Zwischenfall
beunruhigt ihn und er gerät „[...] beinahe in Verzweiflung.“ (S. 259) Schnell verlässt er die
Schenke und läuft in Richtung des Cordons, an welchem er auch ankommt. Dort wird er zum
dritten Mal als Wehmüller erkannt, es läuft ihm „[...] eiskalt über den Rücken [...]“ (S. 260),
als er dies vernimmt. Der Soldat behauptet, er hätte vor einigen Tagen schon hier passiert. Da
wird Wehmüller klar, dass sein Nebenbuhler bzw. Doppelgänger schon in Stuhlweißenburg
sein muss.
Um das Missverständnis zu lösen, wird ein Chirurg gerufen, der ein Bild von Wehmüller
bekommen haben soll. Der hat zunächst Angst vor dem zweiten Wehmüller und will nur
getrennt durch ein Feuer aus Wachholderholz mit ihm sprechen. Eine typisch abergläubische
Einstellung, wie die des Bauern, der ihn als Teufel bezeichnet hatte. Nach kurzem Plausch
holt der Chirurg schließlich das Bild, welches er von dem ersten Wehmüller bekommen hat,
und zeigt es Wehmüller. Der muss zugeben: „[...] er würde nie dies Bild von den seinigen
unterscheiden können [...]“ (S. 260/261) Das zeugt von mangelnder Individualität, schlechter
und profilloser Massenware, die ein halbwegs geschickter Maler locker nachahmen kann, und
nicht auf eine Art geheimer oder gar telepathischer Beziehung zwischen den beiden, wie sich
anschließend zeigt.
Zu Wehmüllers Gunsten ändert sich die Situation, als der Chirurg behauptet, er habe dem
ersten Wehmüller, für den er ihn halte, einen Zahn gezogen. Wehmüller zeigt ihm seine
Zähne, und dadurch wird die Verwechslung endlich aufgeklärt. Durch eine rationale
Erklärung, die sich auf eine medizinische Tatsache stützt, wird Wehmüller doch noch seine
Individualität zugesprochen. Er bekommt sogar noch ein Attest vom Chirurgen, welches ihm
bescheinigt, „[...] daß seine Person eine ganz andre sey, als die des ersten Wehmüllers [...]“
(S. 261). Dadurch wird klar, dass es sich bei dem anderen Wehmüller um einen Intriganten
oder Hochstapler handelt. Jeglicher Schrecken und übernatürliche Einfluss wird dem Motiv
damit genommen, doch das Interesse an der Identität des Hochstaplers bleibt bestehen.
Wehmüller kümmert sich nicht weiter darum, er hat nur seine Frau im Kopf, er hat Angst, sie
könnte vom anderen getäuscht werden und ihn für den ‚echten’ Wehmüller halten. Damit
spielt Brentano auf die Doppelgängerkonstellation aus Plautus’ „Amphytrion“154 an. Dort
erschleicht sich der Buhle, durch Annahme von Amphytrions Gestalt, eine Liebesnacht mit
der Frau des kopierten Gatten. Die Übernahme einer der frühesten bekannten
Dopplegängervarianten. Allerdings kommt es hier nicht zur Liebesnacht. Der Grundgedanke
154
Vgl. M. Böhler, S. 146 und H.J. Schrader, S. 138.
73
besteht allerdings.
Trotz aller Überredungsversuche kommt Wehmüller nicht durch den Pest-Cordon. Der
Chirurg schickt ihn in die Schenke zurück, aus der er ihn holen lassen will, sobald er ihn
passieren lassen kann. Als er zur Dorfschenke kommt, sind dort schon etliche Personen
versammelt, die sich gerade über die doppelten Wehmüller unterhalten. Zunächst erschrecken
sie, als sie ihn wieder erblicken, und lassen ihn nicht in die Schenke herein. Als der
Vizegespann, vom Lärm angelockt, hinzukommt, besticht ihn Wehmüller mit einem seiner
Porträts, wenn er ihm dafür Einlass und ein Nachtquartier verschaffe. Deutlich kommt hier
Wehmüllers Händlercharakter zum Vorschein.
Drinnen wird derweil über ihn diskutiert und allerlei Theorien über ihn geäußert, immer
passend zum Bild (Klischee) des nationalen Charakters des jeweiligen Redners. „Wehmüller
holte seine Nationalgesichter aus der Blechbüchse und der Vizegespann hatte bald sein
Portrait gefunden, versprach auch dem Maler ins Ohr: daß er ihm morgen über den Cordon
helfen wolle, wenn er ihm heute Nacht noch eine Reihe Knöpfe mehr auf die Jacke male.“ (S.
264) Währenddessen ist die Mehrheit der Gesellschaft raus aus der Schenke zum Tanzen
unter eine Linde gezogen. Nach kurzer Zeit entsteht ein Aufruhr, denn ein dritter Wehmüller
soll eben draußen aufgetaucht sein. Es klärt sich aber sehr rasch auf, dass Devilliers sich nur
wie Wehmüller verkleidete und so die arme Kammerjungfer Nanny genarrt hat. Daran zeigt
sich eindeutig die humoristische, parodistische Seite der Erzählung, gleichzeitig führt uns
Brentano dadurch vor, wie einfach es ist die Menge zu täuschen. Es genügen Mantel, Hut und
Ofenrohr, um eine halbwegs akzeptable Verwechslung hervorzurufen.
Darauf folgt die erste Binnengeschichte vom kroatischen Edelmann, der durchwegs namenlos
bleibt. Es folgen noch zwei Binnengeschichten, die inhaltlich nicht viel mit dem Rahmen
gemeinsam haben, dafür aber andere Parallelen besitzen. Sie haben viel Eigendynamik. Die
Gesellschaft ist eine bunte Truppe, recht eigenwillig und deshalb erinnert das ganze etwas an
Arnims „Isabella“, insbesondere an das Haus der Frau Nietken und die Kutschenfahrt des
Alrauns, des Bärnhäupters, der alten Braka und des Golems.
Die Binnengeschichten werden übersprungen, weil sie zur Thematik dieser Arbeit nichts
Wesentliches beitragen. Nachdem die persönlichen Verhältnisse geklärt sind, haben sich
Wehmüller, Devillier und Michaly entschlossen, mit dem Vizegespann morgen früh den
Cordon zu überschreiten. Dort angekommen hören sie, dass die Pestkranken den Cordon
stürmen, worauf der Vizegespann davonläuft. Die drei nutzen die Chance und wollen über
den Cordon, als sie plötzlich von einem bewaffneten Reiter gestellt werden. Der Reiter ist
Mitidika (Michalys Schwester und Devilliers ehemalige Geliebte), die sich ihnen zu erkennen
74
gibt und daraufhin auf Wehmüller losgeht und ihn beschimpft. Dadurch wird er zum vierten
Mal verwechselt und gerät deshalb in Wut und Verzweiflung. Wehmüller behauptet weiterhin
felsenfest, er sei der wahre Wehmüller. Mitidika geht und will ihrerseits den wahren
Wehmüller holen.
Währenddessen trifft der falsche Wehmüller auf den echten und es entsteht ein Kampf
zwischen den beiden. Genau in dem Moment kommt noch der dritte Wehmüller mit Mitidika
dazu. Jetzt haben wir drei Wehmüller in einem Raum. Eine dreifache Potenzierung, die sich
aber bald ganz logisch auflöst, da sich Tonerl und Franz, also Frau und Herr Wehmüller,
erkennen und in die Arme fallen. Tonerl hat sich nämlich zu ihrer Sicherheit die Kleidung
ihres Mannes angezogen und sich so als Mann verkleidet, was erklärt, wieso sie für
Wehmüller gehalten werden konnte.
Ein Spezifikum des Textes ist die Kleidung, die, wie aus den Beispielen hervorgeht, ausreicht,
um verwechselt zu werden. Das Gesicht ist dabei zweitrangig. Damit steht das ganze im
Einklang mit den Porträts Wehmüllers, die ebenfalls das Gesicht als zweitrangig werten, die
Uniform aber viel wichtiger einstufen. Bleibt noch zu klären, wer der Dritte ist, der sich als
echter Wehmüller ausgibt und der dem echten überall einen Schritt voraus war. Nach kurzer
Weigerung, seine wahre Identität preiszugeben, beichtet der Hochstapler unter Druck und gibt
zu, der Maler Froschhauer aus Klagenfurt zu sein. In höchster Erzürnung verbietet Wehmüller
ihm, ihn jemals wieder zu kopieren, weder in Aussehen, noch in seiner Malerei. Froschhauer
verspricht es letztlich und das „Mißverständnis“ (S. 307) um den Pest-Cordon wird auch
noch geklärt, indem der Vizegespann bekannt gibt, es wäre nur ein Fehler gewesen, der
Cordon ist schon weiter gezogen.
Die gesamte Gesellschaft zieht auf das Gut des Grafen Giulowitsch, um weitere Geschichten
zu erzählen. Dabei wird die eigentliche Ursache für die Imitation Wehmüllers geklärt. Alles
war nur wegen einer Wette entstanden, in der es um eine Braut und 25 Dukaten ging.
Froschhauer sollte Wehmüller den Rang ablaufen, weil der als bekannter und erfolgreicher
Porträtist gilt, weshalb Froschauer seine Bilder genau studiert hat und nun ganz in seiner
Manier arbeite. Anschließend schlägt er ihm eine Zusammenarbeit vor, die Wehmüller nicht
abschlagen kann, denn sie bringt ihnen offensichtlich nur Vorteile. Wehmüller ist bereit, ihm
ein Attest auszuhändigen, welches ihn als ihm ebenbürtig auszeichnet und mit welchem er
vielleicht sogar noch die Braut und die Dukaten bekommt. Selbst Tonerl freut sich, da sie
damit eine mögliche Begleitung bekommen könnte, und sie nicht mehr so alleine bei ihren
Reisen wäre. Damit löst sich alles in Wohlgefallen auf und Wehmüller vergrößert sein
Geschäft, indem er sich mit Froschauer zusammenschließt.
75
4.5 Die Eigenheiten des Doppelgängermotivs
In seiner Erzählung handhabt Brentano das Motiv in einer für die Romantik eher untypischen
Weise155. Tieck, Arnim und Brentano verwenden es vorwiegend in der äußerlichen Form der
Verwechslung oder der Lösung verwickelter Handlungen durch Identifizierung verschiedener
Personen156. Der Doppelgänger weist zwar anfangs einige Merkmale auf, die durchaus für
romantische Doppelgänger üblich sind, doch diese verlieren sich schnell wieder.
Eigenartig und eigenwillig ist die Potenzierung des Doppelgängers. Nicht nur einer, nein,
sogar bis zu drei verschiedene Doppelgänger scheint Wehmüller zeitweise zu haben. Diese
Eigenart erklärt sich durch die ironisch-parodistische Intention des Motivs. Es wird z.T.
maßlos übertrieben. Die potenzierten Wehmüller sind aber nicht von langer Dauer, jeder
einzelne wird, sobald er in die Nähe des Originals kommt, sofort enttarnt.
Wie schon erwähnt, verbindet Brentano mit seinen Doppelgängern, eine ganz alte
Konstellation, die aus Plautus’ „Amphytrion“ bekannt ist. Diese Variation wird die
Haupttriebfeder seines rasch erhofften Übertritts des Cordons, da Wehmüller große Angst hat,
seine Frau könnte den Intriganten tatsächlich für ihn halten und einen Ehebruch begehen.
Darin sieht man die Unsicherheit Wehmüllers in die Intelligenz und Wahrnehmungsfähigkeit
seiner Frau.
Das Doppelgängermotiv ist passend zu Wehmüllers Beruf und seinem Umgang mit der Kunst
gewählt. Die abgesprochene Individualität, die er seinen Kunden entgegenbringt, kommt auf
ihn zurück. Das zeigt sich ganz deutlich daran, dass er jedes Mal verwechselt wird, obwohl:
„[...] der andre Wehmüller viel glatter und auch etwas fetter sey, ja daß sie Beide, wenn sie
neben einander ständen, kaum verwechselt werden könnten[...]“ (S. 261).
Wie schon an Devilliers Scherz deutlich wird, genügt es, sich passende Kleidung zu besorgen,
um für seinen Doppelgänger bzw. für ihn gehalten zu werden. Die Ursache ist aber nicht etwa
Gottes Rache, Schicksal oder Einwirkung einer höheren Macht, so wie es in den restlichen
Dichtungen überwiegend der Fall ist. Das ist der markanteste Unterschied der Handhabung
des Motivs. Hervorgerufen wird der Doppelgänger durch Wehmüllers geschäftlichen Erfolg,
den er durch seine Idee und seine Art der Kunsthandhabung hat. Schließlich muss
Froschhauer ihn imitieren, weil Wehmüller als ein anerkannter Maler und Geschäftsmann in
der Gesellschaft angesehen wird. Dass Wehmüller dabei weniger virtuoser Künstler als
Geschäftsmann ist, zeigt sich durch die relativ leichte Nachahmung seiner Bilder, die
Froschhauer nach einiger Übung ganz wie der echte Wehmüller zu leisten vemag.
155
Vgl. D.B. Dickens, S. 14. Auch Böhler nennt Brentanos Umgang eher „atypisch“, S. 146.
76
Der Schluss, in welchem die Doppelgänger erstmals zusammentreffen, ist wieder in
klassischer Doppelgängermanier. Größtenteils treffen sich die Doppelgänger erst am Schluss
persönlich (oder zumindest noch einmal, falls sie sich vorher schon getroffen haben). Ein
Beispiel wäre „Amphytrion“, aber auch Hoffmanns „Doppeltgänger“ folgt diesem Schema.
Der Doppelgänger hat im Werk eigentlich eine reine Verwechslungsfunktion, die zwar für
Verwirrung und allerlei Spekulationen gut ist, doch in keinster Weise auch nur annähernd in
Richtung Ich-Problematik oder gar Ich-Spaltung führt. Ein ganz wesentlicher Grund ist die
zahnmedizinische Untersuchung, die ziemlich zu Beginn der Erzählung (für den Leser)
keinen Zweifel an der Individualität Wehmüllers aufkommen lässt. Die schrecklichen,
grausamen, spukhaften Elemente des Doppelgängers, wie wir ihn bei Hoffmann präsentiert
bekommen, gehen der Erzählung ganz ab. Das liegt schon im Ton und der Stimmungslage der
Erzählung selbst, die in ihrer ironischen, witzigen, schnellen und bunten Stimmung ganz
andere Ziele hat als ‚herkömmliche’ romantische Doppelgängerdichtungen.
Der Doppelgänger ist eine Bedrohung im doppelten Sinne. Erstens in der Ehe und zweitens
im Geschäft. Nicht so sehr für Wehmüllers Identität, daran zweifelt er nicht. Brentano lässt
seinen Helden nicht über sich selbst reflektieren. Zwar wird reflektiert, aber vom restlichen
Personal, oder dem Leser. Wehmüller hat nur im Sinne, so schnell wie möglich zu seiner Frau
zu kommen und den möglichen entstandenen Schaden zu verhindern bzw. zu begrenzen.
Damit zeigt Brentano eine ganz andere Seite, die durch das Doppelgängermotiv erzeugt
werden kann. Es findet sich keinerlei philosophischer oder psychologischer Hintergrund zum
Motiv. Brentano waren „alle philosophisch-spekulativen Systeme suspekt“157.
Man darf aber nicht den Fehler machen, den Doppelgänger zu verharmlosen, denn harmlos ist
er keinesfalls. Er bedeutet im finanziellen Sinne eine große Bedrohung, da er der Beweis ist,
dass Wehmüller ersetzbar ist. Da er nicht an Ort und Stelle ist, kann der Doppelgänger das
Geschäft machen. Was die Gefahr für seine Ehe betrifft, so erfährt man, dass es dafür keinen
Anlass zur Sorge gab, doch Wehmüller war sich dessen nicht so sicher. Auch die Tatsache,
dass der Cordon, der die ganze Aufregung und Abgrenzung verursachte, ein
„Mißverständnis“ war, mildert in keinster Weise die Geschehnisse. Er zeigt nur noch
eindeutiger, wie der Zufall das Potential besitzt, vieles zu bewirken.
156
Vgl. Otto Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, Internationaler psychoanalytischer
Verlag, Leipzig/Wien/Zürich, 1925, S. 283.
157
H.J. Schrader, S. 120.
77
5. Der fehlende Doppelgänger: Adelbert von Chamisso: „Peter
Schlehmihl’s wundersame Geschichte“158
Bei unserem letzten Fall der Doppelgängerdichtung betreten wir ein neues, bisher
unbekanntes Gebiet dieser Dichtungsart. Vermutlich hatte Chamisso nicht direkt die Absicht,
eine Doppelgängerdichtung zu schreiben, doch sein „Schlemihl“ wurde es dennoch. Der
Schatten, in diesem Falle der verlorene Schatten, kann und muss in die Reihe der
Doppelgänger gezählt werden, genau wie das mit dem Spiegelbild und dem Porträt der Fall
ist. Die Eigenart hier ist das Fehlen159, ein Manko an Entsprechung (Doppelgängertum) also,
welches Hoffmann später literarisch verarbeitet und in die „Geschichte vom verlornen
Spiegelbilde“ und den „Abenteurn der Sylvester-Nacht“ einbaut.
Damit ist diese Art der Doppelgängerdichtung eine invertierte Variante. Der Normalfall der
Verdopplung gestaltet sich hier in einer Halbierung. Der Schatten, wie das Spiegelbild, sind
feste Bestandteile eines jeden Menschen, sie verleihen ihm einen Anschein von
Vollständigkeit. Der Schatten ist im Normalfall ein passiver Doppelgänger. Während ein
Zwilling oder menschliche Doppelgänger körperlich unabhängig vom Original sind, ist es der
Schatten oder auch das Spieglbild nicht. In unserem Falle wird diese Abstrahierung mittels
phantastischer Mittel bewerkstelligt. Dieser Umstand, bringt uns der Arnimschen Phantastik
näher, doch es vollzieht sich auch eine Ich-Problematik des Helden, sodass Chamisso auch in
Hoffmanns Nähe gerät.
Vielleicht ist die persönliche Krise im Leben der beiden ausschlaggebend für eine ernsthaftere
Beschäftigung mit dem Ich. Chamisso hatte Probleme mit seiner Nationalität, Hoffmann hatte
lange Zeit finanzielle Probleme. Beide waren existentiell bedroht. Die phantastischen
Elemente zieht Chamisso aus Märchen und anderer Literatur, nur der Schattenverkauf ist
seine Erfindung. Hoffmann dagegen zieht seine phantastisch anmutenden Szenen aus dem
wissenschaftlichen Bereich, vor allem der Psychologie und der damals beliebten Disziplin des
tierischen Magnetismus.
5.1 Allgemein
Den letzten Abschnitt dieser Arbeit möchte ich mit einem ungewöhnlichen Fall zur
Doppelgänger- und Ich-Thematik abschließen, nämlich mit Adelbert von Chamissos
Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihl’s wundersame
Geschichte, hrsg. von Joseph Kiermeier – Debre, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999.
159
Die Form und Gestaltung des Doppelgängers ist hier also grundlegend anders. Seine Funktion ist ebenfalls
eine andere als bisher gesehen. Er stellt nicht das Unbewusste (Viktorin) o.ä. dar. Deshalb ist er auch so vielfach
und verschieden gedeutet worden.
158
78
Novellenmärchen160 „Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte“ (1813). Die Geschichte
besitzt in der Literaturwissenschaft eine Ausnahmestellung, weil ihr Hauptmotiv, der
verlorene bzw. der verkaufte Schatten, hier zum ersten Mal in dieser Form literarisch
verwirklicht wurde161. Damit ist Chamisso der Begründer dieses Motivs in seiner uns heute
bekannten Form. Aus diesem Grunde lassen sich auch nur begrenzt Quellen und Einflüsse
feststellen.
In der Untersuchung bildet die Geschichte ebenfalls eine Ausnahme, weil das
Doppelgängermotiv in Form des Schattens präsentiert wird, bzw. hier eben nicht präsentiert
wird – da er ja fehlt. Der Held leidet unter einem Mangel an Schatten. Obwohl es auch anders
lautende Meinungen gibt162, wird der „Schlemihl“ hier zu den Doppelgängerdichtungen
gezählt. Der Schatten verweist auf ein Subjekt, denn er existiert nur durch, und mit ihm.
Chamisso verändert diese Vorstellung. Die durchaus materielle Handhabung des Schattens in
der Geschichte deutet schon auf das hin. Die auf den Schattenverlust folgende persönliche
Krise, die der Held durchlebt, weist ebenfalls in eine ernsthafte Richtung. Die Krise wird zwar
nicht allzu psychologisch oder gar philosophisch untermalt, doch sie ist vorhanden. Diese
Krise näher am Text zu untersuchen, wird Ziel sein, neben der Frage, was denn der Schatten
symbolisieren soll (falls er überhaupt etwas symbolisieren soll). Am wichtigsten wird es sein
herauszufinden, welche Funktion sein Verlust hat.
5.2 Einflüsse
Zu den Einflüssen der Entstehung, gibt es nicht allzu viel zu sagen. Literarisch gab es kaum
ähnliche Stoffe, die Chamisso nachgewiesen werden können. Höchstens die Geschichte um
„Des Esels Schatten“ wäre hier zu registrieren, die eine Schattenthematik beinhaltet, den
Schatten aber noch nicht von seinem Urheber abstrahieren kann163. Es ist aber eher davon
auszugehen, dass ein Gespräch zwischen Chamisso und Fouqué der Auslöser für die
Entstehung des „Schlemihl“ war:
„Wenn ich selber eine Absicht gehabt habe, glaube ich es dem Dinge nachher anzusehen, es wird dürr, es
wird nicht leben, - und es ist, meine ich, nur das Leben, was wieder das Leben ergreifen kann. [...] Der
Schlemihl ist auch nicht anders entstanden. Ich hatte auf einer Reise Hut, Mantelsack, Handschuhe,
Schnupftuch und mein ganzes bewegliches Gut verloren; Fouqué frug: ob ich nicht auch meinen Schatten
verloren habe? Und wir malten uns das Unglück aus. Ein andrer Mal ward in einem Buche von Lafontaine
[...] geblättert, wo ein sehr gefälliger Mann in einer Gesellschaft allerlei aus der Tasche zog, was eben
gefordert wurde – ich meinte, wenn man dem Kerl ein gut Wort gebe, zöge er noch Pferd´ und Wagen aus
160
Zur Gattungsfrage an späterer Stelle noch etwas ausführlicher.
Es gab auch schon vorher den Schatten als Thema oder gar Motiv in der Literatur, aber niemals wurde dieser
Schatten als abstrahierbar gesehen. Chamisso hat also weiter gedacht und ihn mit dem Motiv des Verkaufs
verbunden. Wie weit er gegangen ist, zeigt sich noch im Verlauf der Analyse.
162
Vgl. Gero von Wilpert: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs, Kröner, Stuttgart, 1978,
S. 32.
163
Vgl. G. von Wilpert, S. 25.
161
79
der Tasche. Nun war der Schlemihl fertig und wie ich einmal auf dem Lande Langeweile und Muße genug
hatte, fing ich an zu schreiben.“164
Obwohl diese Aussage fast 20 Jahre später gemacht wurde, braucht ihr Wahrheitsgehalt nicht
angezweifelt werden, da sie sich mit noch zwei anderen Quellen deckt. Aus drei
verschiedenen Briefen geht dies klar hervor. Wenn auch jeweils verschiedene Versionen des
Gesprächs auffallen, so bleibt das Motiv des Schattenverlusts doch überall gleich165. Der
Anstoß war ganz klar das Gespräch zwischen den beiden. Dort taucht das Thema zum ersten
Mal wissentlich und nachweisbar auf. Dass sich Chamisso gründlich mit dem Schattenverlust
und dem Phänomen des Schattens auseinandergesetzt hat, zeigt sich an der konsequenten
Durchführung der Geschichte.
Desweiteren beschäftigte Chamisso sich auch mit dem Doppelgängermotiv, wie sein zu spät
gekommenes Kapitel zu „Den Versuchen und Hindernissen Karls“ beweist. Erst seit seiner
Geschichte gibt es literarisch den doppelgängerischen Schatten.
Im Aberglauben verschiedendster Kulturen hatte der Schatten schon viel früher eine
vergleichbare Bedeutung.
5.3 Entstehungszeit
Der Zeitpunkt der Entstehung ist ebenfalls interessant. Im Jahre 1813, zur Zeit der
Befreiungskriege gegen Napoleon, schreibt Chamisso die Geschichte. Bei Chamisso entsteht
vor großen Ereignissen fast immer ein Werk166. Für den französischstämmigen Chamisso war
das eine sehr schwere Zeit. Der innerlich ‚zerrissene’ wollte sogar selbst in den Krieg ziehen
und gegen Frankreich und sein Volk kämpfen, doch er wird von Freunden davon abgehalten
und nach Kunersdorf bei Berlin geschickt, wo der „Schlemihl“ entsteht.
Der eindeutige Einschlag autobiographischer Fakten, der sich in der Geschichte feststellen
lässt, hatte eine autobiografische Deutung zur Folge, die den Peter der Geschichte dem
Dichter Adelbert von Chamisso gleichsetzte. Dadurch wurde Peter zu Chamissos
Doppelgänger gemacht, was er aber keinesfalls ist. Von so einer Interpretation ist aufs
Eindringlichste abzuraten; sie besitzen vielleicht Gemeinsamkeiten, doch sind sie nicht gleich
und schon gar nicht ein und dieselbe Person.
5.4 Bisherige Deutungen
Die Problematik der Deutung des Schattens, wird mit einem kurzen Blick auf die bisherigen
164
Brief vom 11. 4. 1829. In: Julius Eduard Hitzig: Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso. (5. Und 6. Bd.
Von Chamissos Werken. Leipzig 1836.) 5., verm. Auflage. Berlin 1864. Bd. 6., S. 114f.
165
Vgl. G. von Wilpert, S. 29
166
Vgl. Norbert Miller: Chamissos Schweigen und die Krise der Berliner Romantik, in: Aurora 39, 1979, S. 115.
80
Forschungsergebnisse deutlich. Seit der Erstausgabe der Geschichte hat der Schatten sehr
verschiedene Deutungen erfahren. Diese hängen erheblich mit dem jeweiligen Zeitgeist der
Forscher zusammen. Deshalb schließe ich mich von Wilpert an, wenn er meint, „[e]s sei
schon hier darauf hingewiesen, daß die Deutungsgeschichte des Schattens starke Affinität zur
Geistesgeschichte aufweist, indem die Werte, die für den Schatten eingesetzt werden, sich
stets mit den Werthaltungen der jeweiligen Gesellschaft berühren, […]“167.
Neben der Deutung des Schattens war die Gattungsfrage offenbar das zweitwichtigste Thema
der Forschung. Diese Frage soll uns nur ganz peripher interessieren. „Wie schon im »Peter
Schlemihl« fordern die besten seiner Stücke den Verstand zu einer Sinnsuche heraus und
entziehen sich ihm zur gleichen Zeit.“168
Das Hauptproblem des „Schlemihl“ scheint mir die Suche nach einer konkreten Entsprechung
für den Schatten zu sein. Der Schatten wurde in der Forschung entweder allegorisch oder
symbolisch verstanden und dadurch entweder sehr speziell oder sehr allgemein gehalten. Er
wurde als „Beglaubigung voller Wirklichkeit“169 oder als „Volkstum, Bekenntnis, Familie,
Rang, Stand, Beziehungen, Ruf und Name“170 gesehen. Thomas Mann sah in ihm das
„Symbol aller bürgerlichen Solidität und menschlichen Zugehörigkeit“171, während H. J.
Weigand ihn mehr als ein Symbol für bürgerliche Scheinwerte sieht. Dergleichen Deutungen,
die sich auf etwas mehr oder weniger bestimmtes festlegen, gibt es viele. Das war nur ein
kurzer Auszug der wichtigsten Erkenntnisse.
Wie dem auch sei, für unser Ziel ist eine konkrete Entsprechung des Schattens irrelevant, weil
er einfach zu vieles sein kann, aber eben auch nur das, was er ist – ein Schatten. Seine
Abwesenheitswirkung scheint doch das Ausschlaggebende zu sein. Um es mit den Worten J.
Kiermeier-Debres zu sagen, die Geschichte: „[…] belegt erneut eindrucksvoll die von allem
Anfang an fesselnde Unausdeutbarkeit von Chamissos Erzählung insbesondere ihres
Zentralmotivs, des verlorenen Schattens.“172 Die neuere Forschung schließt sich dieser
Tendenz an.
167
Aus G. von Wilpert, S. 32.
N. Miller, S. 119.
169
Vgl. H. A. Korff: Geist der Goethezeit, Versuch einer ideellen Entwicklung der klassizistisch-romantischen
Literaturgeschichte, Amelang, Leipzig, 1956, S. 349.
170
Vgl. Josef Nadler: Die Berliner Romantik 1800–1814, Ein Beitrag zur gemeinvölkischen Frage: Renaissance,
Romantik, Restauration, Reiß, Berlin, 1921, S. 122.
171
Vgl. T. Mann: Chamisso, in: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Band 9, Reden und Aufsätze, Fischer,
Frankfurt, 1960, S. 55.
172
Aus dem Nachwort zu Adelbert von Chamisso „Peter Schlemihl´s wundersame Geschichte“, hrsg, von Joseph
Kiermeier-Debre, DTV, München, 1999, S. 128.
168
81
5.5 Aufbau
Kommen wir zum Text und seinem Aufbau. Auffällig ist die Form der Geschichte, denn sie
ist in Form eines verkappten Briefes geschrieben. Das ähnelt dem Aufbau der „Elixiere des
Teufels“ und dem Anfang des „Sandmanns“, wo ebenfalls in der ersten Person (schriftlich)
berichtet wird. Diese Methode eignet sich gut, um innere Prozesse darzustellen und um eine
stärkere Identifikation des Lesers mit dem Helden zu erreichen. Der gesamte Erzählton, wie
auch die Vorgehensweise der Handlung, fallen sehr nüchtern aus. Man ist fast gewillt zu
sagen: extrem rationalistisch. Darin besteht sicherlich ein Grund für die Streitigkeiten in der
Gattungsfrage173.
Durch den auffallenden Zwiespalt der märchenhaften und der realistischen Züge wird der
Leser etwas verunsichert, doch nur, weil die wunderbaren, phantastischen Dinge und
Ereignisse von den Personen im Text nicht als wunderbar angesehen werden. Der
überwiegende Teil der Handlung ist sehr realistisch gestaltet, nur die Märchenmotive, die im
Text vorkommen, verströmen den Duft von Exotik. Doch nicht bei den Gestalten der
Geschichte (außer Peter), diese nehmen alles sehr selbstverständlich hin. „Die märchenhaften
Utensilien werden also insgesamt einfach als noch nicht erforschte, aber dem Bereich der
Empirie und ihren Gesetzen unterstellte Phänomene betrachtet.“174 Für Peter, dem das alles
als einzigem merkwürdig vorkommt, ist alles Neuland, das untersucht werden muss. Das
beweist sein wissenschaftlicher Umgang mit der Schattenlosigkeit. „Das Phantastische wird
bis hinein in die eigenste Substanz modifiziert und so – nicht wie etwa bei E.T.A. Hoffmann
ein Parallelismus von Phantasie- und Wirklichkeitswelt, - sondern ein Übergewicht der
Wirklichkeit geschaffen […]“175.
Die Konfusion, die diese relativ kurze Erzählung seit ihrer Veröffentlichung verbreitet hat, ist
bemerkenswert, deshalb sei ebenfalls darauf hingewiesen, dass der Text sich einer einzigen
Deutungsweise geschickt entzieht176. Darin liegt wohl sein Reiz, den er bis heute behalten hat.
„Die Suche nach einer eindeutigen Entsprechung für den verlorenen Schatten kann der
173
Um es nicht ausführlich zu formulieren, nenne ich nur einige der zur Diskussion stehenden Begriffe für die
Geschichte: Märchen, Kindermärchen, romantisches Märchen, allegorisches Märchen, Kunstmärchen,
romantisch-allegorische Stimmungsnovelle, Novellen-Märchen, Märchennovelle und phantastisches Märchen.
Vgl. bei Franz Schulz: Die erzählerische Funktion des Motivs vom verlorenen Schatten in Chamissos „Peter
Schlemihl“, in: The German Quarterly 45, 1972, S. 429; Benno von Wiese: Die deutsche Novelle. Von Goethe
bis Kafka, Band 1, Bagel, Düsseldorf, 1956, S. 97 und Dagmar Walach: Adelbert von Chamisso: „Peter
Schlemihls wundersame Geschichte (1814)“, in: Romane und Erzählungen der Romantik, hrsg. von Paul
Michael Lützeler, Reclam, Stuttgart, 1981, S. 286f.
174
Ernst Fedor Hoffmann: Spiegelbild und Schatten. Zur Behandlung ähnlicher Motive bei Brentano, Hoffmann
und Chamisso, in: Lebendige Form, Fink, München, 1970, S. 184.
175
Ernst Loeb: Symbol und Wirklichkeit des Schattens in Chamissos „Peter Schlemihl“, in: GermanischRomanische Monatsschrift, Neue Folge, Band 15, 1965, Winter, Heidelberg, S. 401.
176
Eine Parallele zu Hoffmanns „Sandmann“.
82
Vielschichtigkeit des Motivs nicht gerecht werden.“177 Im Schatten eine konkrete
Entsprechung zu suchen, hat Chamisso selbst abgelehnt und sich „über diese ‚kuriosen
Hypothesen’ mokiert“178. Dass der „Peter Schlemihl“ eine Doppelgängerdichtung ist, wird
sich noch zeigen, obwohl die Geschichte auf den ersten Blick durch keinen realen,
körperlichen Doppelgänger gekennzeichnet ist – so wie das in den restlichen Texten dieser
Arbeit der Fall ist. Seine Zugehörigkeit zu diesem Phänomen besteht dennoch, zumal die IchProblematik
einen
Großteil
der
Handlung
ausmacht,
wie
bei
fast
allen
Doppelgängergeschichten. Und um diese geht es uns schließlich auch.
5.6 Interpretation
Peter kommt nach einer langen Seereise ans Land. Mit einem Empfehlungsschreiben hofft er,
bei einem Herrn Thomas John Hilfe „bei [s]einen bescheidenen Hoffnungen“ (S. 13) zu
bekommen. Er findet Herrn John inmitten einer illustren Gesellschaft, die sich mit allerlei
Dingen den Tag verkürzt. Erstes Thema, welches zur Sprache kommt, ist das Geld. Aus dem
kurzen Gespräch werden gleich zwei Dinge klar. Zunächst der zynische und überhebliche
Umgang des Herrn John mit Geld und Peters Affinität zum selben. „»Wer nicht Herr ist
wenigstens einer Million« warf er hinein, »der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft!«
»O wie wahr!« rief ich aus mit vollem überströmenden Gefühl.“ (S. 14) Geld ist also für beide
eine wichtige Motivation, für Peter noch mehr, weil er momentan keines besitzt. Noch etwas
fällt auf, nämlich dass er in die Gesellschaft eigentlich gar nicht hineinpasst. Er unterscheidet
sich von ihnen, deshalb verkauft er später auch den Schatten, weil er ihm nichtig ist, während
die Gesellschaft sehr großen Wert auf ihn legt.
Die Probleme, die Peter bekommt, entstehen aus der Diskrepanz seiner Wertvorstellungen
und denen der restlichen Welt. Dass Peter eigentlich der Gesellschaft (der Welt) fremd ist,
zeigt schon die Eingangsszene. Ohne Geld und Ansehen ist er ein Nichts in der Gesellschaft,
das wird ihm schnell klar. Peter fällt sofort der graue Mann auf, der nach und nach
verschiedene Dinge aus seiner Rocktasche hervorzieht und zur Belustigung der Gesellschaft
herumreicht.
Das Wunderbare der Geschichte fängt eigentlich mit dem Fernrohr an, welches der Graue aus
seiner Tasche zieht und welches eigentlich viel zu groß für diese ist. Die Tatsache fällt Peter
gleich auf. Die weiteren Dinge, die der Graue noch aus der Tasche hervorzieht, dienen
eigentlich nur der Ausschmückung der Szene. An dieser Stelle ist die Verwirrung und
Anspannung Peters besonders deutlich zu sehen. Er gerät von Verwunderung in Betroffenheit,
177
E.F. Hoffmann, S. 429.
83
Furcht, Schauer und letztlich erschrickt er sogar vor dem Grauen, als er sieht, was er alles aus
seinem Rock hervorzieht. Die ganze Szenerie ist ihm anscheinend als einzigem unbegreiflich.
Die restliche Gesellschaft sieht nichts Ungewöhnliches darin, sie nehmen es einfach so hin.
Nicht ein Kommentar fällt dazu! Ein deutliches Anzeichen für die Diskrepanz zwischen ihm
und der restlichen Welt.
Aus Verlegenheit und Unwissenheit traut er sich zunächst nicht zu fragen, was da vor sich
geht und wer der wunderliche Mann ist. Als er sich doch entschließt zu fragen, geht er von der
Hierarchie aus und sucht sich „[...] einen jungen Mann [...] der mir von minderem Ansehen
schien [...]“ (S. 17) aus. Doch er bekommt eine unbefriedigende Antwort. Er hilft ihm nicht
im Mindesten weiter.
In diesem Augenblick merkt er selbst – der Leser übrigens auch –, wie unpassend er in dieser
Gesellschaft in seiner jetzigen Lage ist. Er entschließt sich deshalb, so unauffällig wie
möglich zu gehen. Aufgeregt und verängstigt durch die merkwürdigen Ereignisse schleicht er
von dannen, doch der Graue folgt ihm und bittet ihn untertänigst um einen Handel. Peter ist
zunächst verwirrt, denn es scheint ihm unmöglich, seinen Schatten, den der Graue ihm
abkaufen will, von sich zu lösen. Der Graue redet wie ein wahrer Geschäftsmann unermüdlich
und in tiefster Demut weiter, und als er nach und nach die Gegenleistungen für den
„unschätzbaren Schatten“ (S. 21) aufzählt, die er bereit ist, Peter zu geben, wird Peter beim
„Fortunati Wunschhütlein“ schwach. „»Fortunati Glücksseckel«, fiel ich ihm in die Rede, und
wie groß meine Angst auch war, hatte er mit dem einen Wort meinen ganzen Sinn gefangen.“
(S. 20f.)
Hier ist das Offensichtlichste aber nicht das Naheliegendste. Weil er der Sache noch nicht
recht traut, probiert er den Säckel erst aus, und wie im Rausch kann er nicht aufhören,
Dukaten aus ihm zu ziehen. Er zeigt hier eine wissenschaftliche, empirische Art des Umgangs
mit neuen Phänomenen. Durchaus rational und naturwissenschaftlich. Anhand dieses
wunderbaren Dinges lernt Peter später, dass es in seiner Wirkung nicht umkehrbar ist. Solche
Erfahrungen macht er, als er sieht, wie die verschiedenen Sachen aus der Tasche des Grauen
herauskommen, aber nicht wieder zurück in die gleiche gehen. Dasselbe passiert mit den
Golddukaten und mit seinem Schatten. Den kann er nur durch noch größeren Einsatz
wiedererlangen, das Geschäft einfach so rückgängig machen kann er nicht.
Überwältigt von dem Potential, welches sich ihm dadurch erschließt, glaubt er, noch einen
guten Handel zu machen und hält dem Grauen sogleich die Hand hin, um den Handel zu
besiegeln. Der Graue schlägt ein, faltet den Schatten vor seinen Augen zusammen und steckt
178
Aus Volker Meid: Metzler – Literatur – Chronik. Stuttgart, 1993, S.350.
84
ihn ein. In Windeseile hat er Peter überlistet und ihm den Schatten abgeluchst. Geblendet vom
Gold, nach welchem er sich sehnte, schließt er einen überhasteten Handel, der ihn für immer
kennzeichnen wird. Sein Wunsch nach Anpassung und Anerkennung konkretisiert sich im
Wunsch nach Gold179.
Was können wir aus dieser kurzen, aber sehr ereignisreichen Einleitung der Geschichte
entnehmen? Stofflich bzw. motivisch ist es eine reichhaltige Passage. Ganz wichtig ist der
Graue, der ursprünglich aus einer von Lafontaines Erzählungen stammt und in diesem Falle
ein Stellvertreter des Teufels ist. Doch er sieht ganz und gar nicht so aus und benimmt sich
noch weniger wie einer. Dadurch ähnelt er Hoffmanns „Sandmann“, der auch nicht eindeutig
als Teufel beschrieben wird. In der Tat wirkt er eher wie ein gelassener, „biedermeierlicher
Mephisto“180, der mehr von einem Geschäftsmann hat, als vom Herrscher der Hölle. Darauf
weist auch Schulz hin, der in der Person die Kritik am aufkommenden Kapitalismus verewigt
sieht. In seinem Repertoire an Kleinodien befinden sich fast ausschließlich Dinge, die aus
dem Volks- und Aberglauben bekannt sind, die aber literarisch schon verarbeitet wurden181.
Das Wichtigste allerdings ist der Handel mit dem Teufel bzw. der Verkauf des Schattens. Den
Teufelspakt, der ihm aus Goethes „Faust“ schon hinlänglich bekannt war, hat Chamisso182
modifiziert und in zwei Teile getrennt. Der erste Teil ist hier als Schattenverkauf realisiert,
der zweite Teil sollte dann tatsächlich die Seele beinhalten. Die zentrale Frage bleibt, was
hinter dem Schatten steckt, für was er steht – falls er überhaupt irgendeine Entsprechung hat –
und was das alles mit den Doppelgängern zu tun hat?
Peters Doppelgänger in der Geschichte ist sein Schatten. Er ist eine „oberflächliche
Verdoppelung“183 Peters. Der Schatten ist, wie das Spiegelbild, ein Äquivalent für ein
einzelnes Individuum, das normalerweise von seinem Urheber (dem Original) nicht
abstrahiert werden kann. Er ist also ein fester Bestandteil und Doppelgänger, der sich ständig
und in jedem Moment dem Original anpasst bzw. ihn nicht verläßt. Sein Nachteil im
normalen Leben ist der, dass er unfassbar bleibt, er ist sichtbar (durchsichtig) aber nicht
greifbar, er hat keine materielle Note. Wir können ihn zwar verändern, indem wir uns
bewegen oder die Lichtverhältnisse ändern, wir können ihn anschauen und sogar zeitweise
verschwinden lassen, doch er bleibt dennoch unfassbar und unantastbar, da er normalerweise
179
Vgl. F. Schulz, S. 432.
Aus Peter A. Kroner: Adelbert von Chamisso, in: Deutsche Dichter der Romantik, hrsg. von Benno von
Wiese, Schmidt, Berlin, 1983, S. 452.
181
Vgl. G. von Wilpert, S. 25.
182
Chamisso selbst hat in seiner Jugend (1803) an einem Faust-Fragment gearbeitet, was uns schließen lässt,
dass er das Thema sehr wohl gekannt hat.
183
Vgl. Alice A. Kuzniar: „Spurlos... verschwunden“: „Peter Schlemihl“ und sein Schatten als der verschobene
Signifikant, in: Aurora 45, 1985, S. 195.
180
85
immaterieller Natur ist. So nah und doch so fern, so könnte man ihn charakterisieren. Er ist
das Gegenteil von dem, was Peter will, nämlich materielles Gut. Es ist erstaunlich, dass der
Rationalist und spätere Naturforscher Schlemihl ausgerechnet etwas dem Naturgesetz
Widersprechendes macht, was ihn dann lebenslang zeichnet und der Welt der Menschen
entfremdet184.
Der Schatten ist ein optisches Phänomen, das auf physikalischen Gesetzen beruht, also auf
Naturgesetzen, die dem Wissenschaftler das Heiligste sind. Der „Schlemihl“ bildet also eine
Ausnahme in der Doppelgängerdichtung bis dahin, denn bei ihm ist es die Abwesenheit des
Doppelgängers, die die Handlung kennzeichnet und die Peters Ich-Problematik in Gang
setzt185. Sein Fehlen ist der Motor der Geschichte. Seine Bewältigung des Verlusts ist der
Inhalt der Handlung.
Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass Peter für Geld, in diesem Falle in seiner
„ursprünglichsten Form als Gold“186, seinen Schatten und damit einen festen Bestandteil
seiner Person (nicht der Identität oder Seele) dem Teufel verkauft hat. Damit verliert er einen
seiner natürlich gegebenen Doppelgänger, und er wird ihn nicht mehr zurückbekommen! Die
Motivation für diesen Handel ist einerseits bedeutend, genau wie die Tatsache, dass Peter
seinen Schatten anscheinend nicht zu schätzen wusste bzw. eine andere Werteskala besitzt als
seine restliche Umwelt. Anders ist dieser Handel nicht zu erklären. Damit wird ihm durch
eigene Torheit, Geldgier und Unwissenheit der Schatten vom Grauen abgeluchst.
Viel wichtiger als seine Entsprechung scheint dagegen seine Funktion, die der Schatten in der
Geschichte einnimmt. Damit schließe ich mich der Meinung von F. Schulz an, der ebenfalls
darauf hinweist, dass es leichter und nützlicher ist, „[…] wenn man nicht nach direkten
Entsprechungen für den verlorenen Schatten sucht, sondern nach seiner Funktion innerhalb
des Erzählwerks fragt.“187 Welche Funktion hat er denn eigentlich? Sein Verlust hat die
Funktionn einer Selbstfindung.
Peter fühlt sich von Beginn an in der reichen Gesellschaft nicht wohl. Daran ändert sein
Schatten, den er anfangs noch hat, auch nichts. Die Gesellschaft und die Welt, in der er
ankommt, sind nicht gerade nach seinem Geschmack. Er wird ausgegrenzt und fühlt sich
Vgl. Willy R. Berger: Drei phantastische Erzählungen. Chamissos „Peter Schlemihl“, E.T.A. Hoffmanns „Die
Abentheuer der Sylvesternacht“ und Gogols „Die Nase“, in: Arcadia, Sonderheft für Horst Rüdiger, 1978, De
Gruyter, Berlin, S. 118.
185
Das bleibt aber nicht lange so, denn E.T.A. Hoffmann nimmt dieses Thema auf und verarbeitet es in seinen
„Abenteuern der Sylvester-Nacht“. Dort realisiert er, neben dem doppelgängerischen Schatten, auch das
doppelgängerische Spiegelbild.
186
D. Walach, S. 286.
187
F. Schulz, S. 431.
184
86
irgendwie „wesensfremd“188. Sein Wunsch, sich anzupassen, ist vom ersten Gespräch mit
Herrn John an merkbar. Der Graue spürt das gleich und bietet ihm deshalb genau das an, was
„seinen ganzen Sinn gefangen“ (S. 21) nimmt. Die Realisation der Anpassung denkt Peter,
nur mittels des Geldes vornehmen zu können. Dabei erscheint ihm der Schatten – den er noch
für nichtig hält – ein geringer Preis zu sein, weshalb er den Handel auch überstürzt eingeht.
Das sieht seine Umwelt anders. Durch die Isolation, die er sich dadurch einhandelt, muss er
sich zwangsläufig mit einer wichtigen Frage auseinandersetzten, der nach seiner Identität und
nah dem Wert des Schattens in der Gesellschaft. Durch die äußeren Umstände wird er zur
Anpassung getrieben und verkauft deshalb sich selbst bzw. einen Teil von sich. Er wird zum
Sklaven des Geldes, welches aber nicht erarbeitet, sondern durch den Teufelspakt erhandelt
wird. Der Verlust des Schattens macht Peter zu einem noch größeren Außenseiter als er
ohnehin schon war. Er wird dadurch gezwungen, sich intensiver mit sich selbst, aber auch mit
seiner Umwelt zu beschäftigen, die einen Schattenlosen nicht als vollwertig akzeptiert. Peters
Problem ist, dass er unbedingt in dieser Gesellschaft leben will. Es gibt Menschen, denen der
Schatten nicht so viel bedeutet. Das wird an der Figur Bendels gezeigt, der zu seinem Herrn
hält, auch wenn er weiß, dass dieser keinen Schatten hat. Wäre Peter nicht auf Anerkennung
aus, hätte er besser leben können. Die Funktion des Schattenverlustes, die Chamisso
vorschwebte, liegt in der Erkenntnis der Welt und ihrer Werte bzw. Scheinwerte.
Zurück zur Handlung. Dort sehen wir Peter, wie er, immer noch berauscht vom vielen Gold
und seinen schier unendlichen Möglichkeiten, in die Stadt zurückkehrt. Gleich die erste
Person, auf die er trifft, spricht ihn auf seine Schattenlosigkeit an. Nicht nur das, sie spricht
ihm auch eine Warnung aus: „Sehe sich der Herr doch vor, Sie haben ihren Schatten
verloren.“ (S. 22) Doch Peter schlägt die Warnung in den Wind und speist die Alte
überheblich mit Goldstücken ab. Noch ist er sich nicht bewusst, was er da tut und welchen
Wert der Schatten in der Gesellschaft hat. Die nächsten Personen, denen er begegnet,
entdecken ebenfalls sofort seine Schattenlosigkeit. Merkwürdig in diesem Zusammenhang ist,
dass alle Personen auf ihn reagieren, aber niemand es für notwendig hält, seinen Standpunkt
zu erläutern, weshalb es so schlimm ist, keinen Schatten zu haben. Dieses Wissen wird als
vorausgesetzt empfunden. Genau deshalb wird es wohl nicht erläutert. Merkwürdig ist nur,
dass Peter es auch nicht weiß, oder nicht begreift. Damit ist der Leser auf demselben
Erkenntnisstand wie Peter. Andererseits deutet es auf seine Weltfremdheit hin, in einer Welt,
in der jeder über solche Dinge Bescheid weiß. Chamisso tut damit der Auflösung des Rätsels
keinen Gefallen, was auch sicherlich von ihm so intendiert war.
188
F. Schulz, S. 432.
87
Dieser Umstand lässt eindeutig darauf schließen, dass der Schatten eine große Rolle im
Wertesystem der Menschen in der Geschichte spielt, denn es scheint, als achten alle peinlichst
genau auf diesen. Wäre ihm das heutzutage passiert, glaube ich, dass es kaum jemandem auf
Anhieb auffallen würde. Erst jetzt begreift Peter dass er in einer Welt des Scheins lebt, in der
nur das Sichtbare zählt und geachtet wird, während das, was sich hinter den Kulissen abspielt,
bedeutungslos ist, solange es auch dort bleibt. Ein Schatten kann durchaus eine große Rolle
spielen, und ohne ihn gilt man als gebrandmarkte Person. Ihm wird allmählich klar, was für
einen Fehler er gemacht hat. Das ganze Geld bleibt wertlos, solange sein äußerer Schein nicht
vollständig ist. So sind die Regeln der Welt. Darin besteht der Unterschied zwischen ihm und
Herrn John, der gleich seine Seele verkauft hat und somit einen äußerlich vollständigen
Eindruck macht, folglich auch von allen respektiert wird.
Peter gibt sich nicht zufrieden und will seine Schattenlosigkeit noch einmal überprüfen. Dabei
fällt seine Haltung als Naturforscher189 (Wissenschaftler) auf, indem er alles zu untersuchen
pflegt, was seine Schattenlosigkeit angeht. Von der Wirkung auf die Mitmenschen, über die
Einrichtung der Lichter um nicht aufzufallen, bis zur Auswahl seines Dieners Bendel, der eine
„treue und verständige Physiognomie“ (S. 25) hat. Alles, was jetzt folgt, ist Peters Versuch,
durch das einzige, was ihm geblieben ist, das Gold, sich sein Leben so einzurichten, dass sein
Makel niemandem auffällt. Deshalb macht er jetzt noch keine psychische Entwicklung durch.
Er versucht zwar gleich am nächsten Tag, als ihm bewusst wird, was er da getan hat, den
Grauen zu finden und den Handel rückgängig zu machen, doch es gelingt ihm nicht
Generell muss er feststellen, dass jegliche Tat und jegliches Geschäft unumkehrbar ist.
Deshalb wendet er alle erdenklichen Mittel an, um seinen Makel zu verbergen. Seine
Bereitschaft diese Gesellschaft und ihre Scheinhaftigkeit aufzugeben, weshalb er ja letztlich
in diese Lage kam, ist noch nicht erreicht. Zunächst wechselt er die Identität. Durch seine
veränderten Verhältnisse, die sich einerseits im Verlust des Schattens und andererseits im
Gewinn des Goldes äußern, sieht er sich gezwungen, eine andere Rolle zu spielen190. Das
macht er nur, weil er den Besitz des Geldes öffentlich ausleben will. „Ansehen, Geltung und
Reichtum scheinen ihm immer noch wichtige Werte.“191
Hier kommen wir zu einer wichtigen Stelle, dem ersten Traum Peters. Er träumt von
Chamisso, der in der Erzählung öfters als Figur angesprochen wird und der in der Geschichte
als sein Freund auftritt. Es ist ein toter Traum, den er träumt, in dem nichts lebendig erscheint
und die Zeit stehengeblieben ist. Um etwas weiter vorzugreifen und einen Vergleich
189
Vgl. E.F. Hoffmann, S. 182.
Vgl. E. Loeb, S. 405.
191
Ebd. S. 435.
190
88
anzustellen, soll die Sprache hier auf den zweiten Traum Peters kommen, der nach der
Lossagung vom Grauen und dem Geld geträumt wird. Dieser ist das Gegenteil vom ersten
Traum, der noch unter dem Einfluss des Geldes (Grauen) geträumt wurde. In ihm ist alles
lebendig und alle Personen sind ohne Schatten; „[…] und was seltsamer ist, es sah nicht übel
aus,-“ (S. 80) Das zeigt schon, dass er sich mit seiner Schattenlosigkeit abgefunden hat. Der
erste Traum zeigt deutlich, in welcher Verfassung er sich befindet, denn der Graue hat durch
den Säckel stets Kontakt zu ihm: „O dieser Seckel! – Und hätten gleich die Motten Ihren
Schatten schon aufgefressen, der würde noch ein starkes Band zwischen uns sein.“ (S. 78)
Erst, nachdem er sich davon befreite, war auch der Einfluss des Grauen über ihn
verschwunden.
Gleichzeitig hat sich auch ein innerer Wandel vollzogen, der sich in der Absage an die
Scheinwelt manifestiert. Er sieht keine Möglichkeit, den Handel rückgängig zu machen, ohne
seine Situation noch weiter zu verschlimmern. Dadurch verändert sich sein Verhältnis zu
Chamisso, den er jetzt lebendig träumt.
Die nächste, für das Verständnis des Werkes wichtige Passage, scheint die Liebe zu Mina zu
sein. Immer noch gebunden an die Werte der Gesellschaft und getrieben durch die trügerische
Sicherheit des Geldes, legt er es darauf an, sie zu heiraten. Doch Rascal, der schurkische
Diener, der als Gegenpart Bendels fungiert, macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Er
lässt ihn auffliegen und verhindert so seine Heirat.
Im Moment der größten seelischen Verzweiflung kommt der Graue zurück und bietet Peter
mit den untertänigsten Gebärden den Seelenhandel an. Der Moment ist günstig für den
Grauen, doch Peter lehnt trotz aller Überredungsversuche ab. Das geschieht aber nicht aus
Vernunft, wie zumindest jetzt schon zu vermuten wäre, sondern weil der Graue ihm „von
Herzensgrunde verhaßt“ ist und er einen „persönlichen Widerwillen“ (S. 55) gegen ihn hegt.
Der Graue ist hartnäckig und startet mehrere geschickte Manöver, um ihn zur Unterschrift zu
bewegen. Dabei zeigt er sein wahres Talent zum Handel und Manipulation192. Schließlich
lockt er ihn zur Laube, wo sich die Hochzeit von Mina und Rascal vollziehen soll. Peter ist
schon so weit zu unterschreiben, als er in eine „tiefe Ohnmacht“ (S. 67) fällt193. Dadurch
verhindert wahrscheinlich eine höhere Macht („dritte Macht“194) den Handel, den er
ansonsten nicht nur seinetwegen, sondern vielmehr um Minas Willen getätigt hätte.
192
Am Beispiel des Vogelnestes wird die Körperlosigkeit des Schattens probeweise demonstriert. Mit der
Tarnkappe wird gleichzeitig die Körper- und Schattenlosigkeit vorgeführt. Diese Märchenelemente passen
ausgezeichnet zum Hauptmotiv, weil sie als Spielarten des Themas angesehen werden können.
193
Chamisso macht es geschickt und lässt Peter nicht selbständig diese Entscheidung treffen, weil er als wahrer
Schlemihl (Pechvogel), wahrscheinlich die falsche Wahl getroffen hätte. Auch hier ist die Ohnmacht positiv zu
bewerten, so wie wir das bei Hoffmann schon bemerkt haben.
194
Ausdruck von F. Schulz, S. 437.
89
„Nach dem übereilten Fehltritt, der den Fluch auf mich geladen, hatt’ ich durch Liebe frevelnd in eines
andern Wesens Schicksal mich gedrängt; was blieb mir übrig, als wo ich Verderben gesät, wo schnelle
Rettung von mir geheischt ward, eben rettend blindlings hinzuzuspringen? Denn die letzte Stunde schlug. –
Denke nicht so niedrig von mir, mein Adalbert, als zu meinen, es hätte mich irgend ein geforderter Preis zu
theuer gedünkt, ich hätte mir irgend Etwas, was nur mein war, mehr als eben mit Gold gekargt.“ (S. 66)
Als er wieder aufwacht, ist die Hochzeit vollzogen. Bewusst will er jetzt sein Leben ändern.
Er verabschiedet sich noch von Bendel und stellt ihn frei, wobei er ihm den Rest des Goldes
schenkt, um damit etwas Sinnvolles anzufangen. Niedergeschlagen verlässt er die Stadt und
sucht die Einsamkeit.
Der Graue unternimmt noch einen Versuch und gesellt sich zunächst getarnt zu Peter. Er
versucht, den in sich gekehrten und schweigenden Peter durch „eine rationalistische
Metaphysik mit wenig Phantasie“195 von der Nichtigkeit der Seele zu überzeugen und sie ihm
doch noch abspinstig zu machen. Die Wirkung bleibt aber aus, Peter hat, wie sein
„Seelenverwandter“196 Chamisso, keinen sonderlichen Bezug zur Philosophie.
Die Macht, Peter zu überzeugen, hat der Graue also nicht.
„Er entfaltete seine Ansichten von dem Leben und der Welt, und kam sehr bald auf die Metaphysik, an die
die Forderung erging, das Wort aufzufinden, das aller Räthsel Lösung sei. Er setzte die Aufgabe mit vieler
Klarheit aus einander, und schritt fürder zu deren Beantwortung. Du weißt, mein Freund, daß ich deutlich
erkannt habe, seitdem ich den Philosophen durch die Schule gelaufen, daß ich zur philosophischen
Spekulation keinesweges berufen bin, und daß ich mir dieses Feld völlig abgesprochen habe; ich habe seither
Vieles auf sich beruhen lassen, Vieles zu wissen und zu begreifen Verzicht geleistet, und bin, wie Du es mir
selber gerathen, meinem geraden Sinn vertrauend, der Stimme in mir, so viel es in meiner Macht gewesen,
auf dem eigenen Weg gefolgt. Nun schien mir dieser Redekünstler mit großem Talent ein fest gefügtes
Gebäude aufzuführen, das in sich selbst begründet sich empor trug, und wie durch eine innere
Nothwendigkeit bestand. Nur vermißt´ ich ganz in ihm, was ich eben darin hätte suchen wollen, und so ward
es mir zu einem bloßen Kunstwerk, dessen zierliche Geschlossenheit und Vollendung dem Auge allein zur
Ergötzung diente; [...]“ (S. 72f.)
In einem Gefühl von völliger Fremdheit der Welt und ihren Bewohnern gegenüber,
entschließt er sich, der Gesellschaft zu entsagen und im Bergbau, unter Tage, sein zukünftiges
Leben zu fristen. Durch Zufall oder die Einwirkung einer höheren, „dritten Macht“ gelangt er
in den Besitz von Siebenmeilenstiefeln. Das Motiv kommt in Tiecks „Phantasus“ vor, auf
welchen er sich am Schluss bezieht, als er die Hemmschuhe einführt, die eine
Weiterentwicklung des Motivs der Siebenmeilenstiefel darstellen197. So wird ein altbekanntes
Märchenmotiv in die Handlung eingebaut, welches Peters Zukunftsperspektive erheblich
verbessert und ihm neue Möglichkeiten bietet. Trotzdem bleibt er von der Menschheit isoliert
und in seinem „[…] beweglichen Wander-Exil […]“198 gefangen. Ob der Erwerb nun durch
bloßen Zufall, oder doch eine Art Belohnung für die Abkehr vom Bösen, dem Gelde und der
195
Benno von Wiese, S. 107.
F. Schulz, S. 459.
197
Auch hier zeigt sich die praktische Untersuchung des Phantastischen, durch Hemmschuhe und durch erneutes
Besohlen werden neue Erkenntnisse gewonnen.
198
N. Miller, S. 117.
196
90
scheinheiligen Gesellschaft ist, bleibt offen.
Durch die Siebenmeilenstiefel findet Peter doch noch zu einer sinnvollen Berufung und
untersucht die Pflanzen- und Tierwelt. Hierbei werden ihm auf schmerzliche Weise neue
Grenzen gesetzt, denn er kann zu seinem Leidwesen nicht nach „Neuholland“ schreiten und
somit bleibt seine Arbeit Fragment. Eine beliebte Form in der Romantik, wie bei Hoffmanns
„Automaten“ schon zu sehen war.
Durch ein letztes Abenteuer gelangt Peter noch einmal zurück unter die Menschen und
erwacht nach einem Unfall im „Schlemihlium“ (S. 93), einem Hospiz für arme und bedürftige
Menschen. Wie er erfährt, hat es Bendel mit Hilfe seines Geldes gegründet. Mina, seine große
Liebe, hat nach dem Tode ihres Gatten Rascal dort ebenfalls eine Anstellung gefunden, in der
sie viel Gutes tun kann. Auffällig ist, dass die Schattenlosigkeit hier von niemandem bemerkt
wird. Eine Erklärung wäre der Ort, an dem er sich befindet. Es ist ein Ort der Güte und
Wärme. Hier bricht nicht der Schein der äußerlichen Welt ein, sondern es ist ein Ort der
Mithilfe, Nächstenliebe und des Wesentlichen, in welchem der Schatten keinen Wert hat. Eine
andere, viel lapidarere Erklärung, wäre physikalischer Natur. Peter liegt im Krankenhaus auf
einem Bett. In dieser Position wirft der Mensch keinen Schatten, oder nur einen sehr kleinen,
deshalb merkt es auch niemand. Peter gesundet wieder und verlässt das Schlemihlium im
Wissen, dass mit seinem Geld etwas Gutes geschaffen wurde und dass es seiner Mina besser
geht. Schließlich hätte er ihretwegen sogar seine Seele verkauft. So endet die Geschichte mit
einer Moral, die passend zum Inhalt gestaltet den Schatten und das Geld herausstreicht und
ihre Bedeutung nochmals unterstreicht: „Du aber, mein Freund, willst Du unter Menschen
leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld. Willst Du nur Dir und
Deinem bessern Selbst leben, o so brauchst Du keinen Rath.“ (S. 96) Allein der Ausgang der
Geschichte ist nicht so märchenhaft, wie man sich das vorstellen könnte. Ein richtiges Happyend gibt es nicht.
6. Synopsis
Wir haben bis hierher einiges über Doppelgänger und Automaten der romantischen Literatur
erfahren. Es bleiben noch ein Paar zusammenfassende Worte, die uns das Wichtigste noch
einmal vor Augen führen.
Als Fakt gilt die vielfältige Realisation/Gestaltung beider Motive. Der Doppelgänger wurde in
vielfacher Weise verwirklicht und hat verschiedene Funktionen zu erfüllen gehabt. So
verschieden sind auch die Einflüsse, die das Motiv geprägt haben und die zur Entstehung von
Doppelgängerdichtung beigetragen haben. Hier ist Arnim seinen Quellen treuer als
91
Hoffmann. Obwohl für beide gesagt werden kann, dass sie Literatur aus Literatur geschaffen
haben, ist Arnim seinen Vorbildern doch verbindlicher. Dennoch ist seine Phantasiekraft so
stark, dass er einige Umformungen und Neukreationen erschafft.
Was den Doppelgänger angeht, so ist er der einzige Autor der Untersuchung, dessen
Doppelgänger nur durch künstliche Wesen verwirklicht werden. Bei Hoffmann werden diese
beiden Motive streng getrennt und einzeln für sich behandelt.
Bei Hoffmann fällt uns ein ganz anderes Bild des Doppelgängers auf. Das Motiv hat eine
gewisse Wichtigkeit und Schwere, die ihm anhaftet. Bei ihm gibt es keinen spielerischen
Umgang in dieser Hinsicht. Der Grund liegt wohl in der schicksalhaften Wirkung und
Bedeutung für den/die Betroffenen. Während das Motiv bei Arnim verhältnismäßig wenig
psychologischen Charakter aufweist, ist es bei Hoffmann stark psychologisch durchflochten.
Diese Psychologie steht in Verbindung mit dem naturphilosophischen Hintergrund, zu dem
Hoffmann Kontakt hatte. Wie er selbst öfters erwähnt, las er den Pinel und den Reil und
andere naturphilosophische Abhandlungen. Sein Umgang mit Dr. Marcus hat ihn viel in
dieser Hinsicht gebracht. Auch die Naturphilosophen Schelling und Schubert hatten starken
ideologischen Einfluss auf ihn. Allen waren der Glaube und die Beschäftigung mit
übernatürlichen Phänomenen gemeinsam. Der tierische Magnetismus, der Somnambulismus
und die menschliche Psyche waren die drei essentiellen Punkte, mit denen sich auch
Hoffmann auseinandersetzte. Die „Nachtseiten“ waren eine anziehende Macht, von der er
nicht lassen konnte. Diesen Phänomenen wurde eine enorme Wirkung zugeschrieben.
Deshalb nutzt Hoffmann das auch literarisch. Immer werden Ansspielungen auf diese
Phänomene eingebaut, es gibt keine Ausnahmen. Das ist Beweis seiner persönlichen
Überzeugung. Er glaubte wirklich daran.
Auch andere Dichter haben dieses Gebiet gekannt, ihr Glaube daran war allerdings nicht so
stark. Hier ist es Brentano, der bewusst auf übernatürliche Verbindungen hinweist, um seine
Doppelgänger zu erklären, doch nur um diese Anspielungen jäh ad absurdum zu führen und
als lächerlich zu verspotten. Brentano ist ohnehin ein Sonderfall der Untersuchung, insofern,
als es bei ihm nichts, aber rein gar nichts Übernatürliches gibt. Bei allen anderen sind
übernatürliche Phänomene notwendig, um die Doppelgängergeschichte in Gang zu bringen
oder zu erklären. Nicht bei Brentano. Bei ihm wird alles auf eine natürliche Art und Weise
erklärt. Wenn es denn Übernatürliches gibt, so ist es sehr gut versteckt. Die Doppelgängerei
wird letztlich als leicht realisierbar dargestellt und verliert also an Einfluss, vor allem an
psychischem Einfluss auf den Menschen bzw. Betroffenen. Wie Brentano uns präsentiert, ist
es eher der finanzielle Einfluss, den der Doppelgänger hier ausübt. Auch in der Liebe wird er
92
als Störfaktor empfunden, doch eine Ich-Problematik löst er nicht aus.
Das Geld hatte auch Chamisso zum eigentlichen Thema erkoren. Seine Geschichte fällt
aufgrund der Beschaffenheit und des Zustandes aus dem Rahmen. Der doppelgängerische
Schatten, der für etwas x-beliebiges stehen kann, ist wahrlich ein Meisterwerk der deutschen
romantischen Literatur. Geld und Schatten im Tausch, dazu ist auch etwas Phantastik
notwendig, die in der Romantik nicht zu knapp kommt. Mit dem „Schlemihl“ wurde die
Doppelgängerdichtung um ein Werk und eine neue Spielart des Phänomens reicher. Schon
wegen seiner Einmaligkeit ist er schwer vergleichbar.
Das hat ihn aber nicht vor Nachahmung und Fortsetzungen bewahrt. Vor allem Hoffmann
bedient sich bei Chamissos Werk, dessen Helden er in einer seiner vielen Dichtungen
auftreten lässt. Dabei ist Chamissos Werk durch eine sehr ernste Haltung und Thematik
gekennzeichnet, was ihn Hoffmann nahe bringt. Die eigentliche Tragik des Handels Peters,
die den Schluss der Geschichte noch einmal unterstreicht, ist ebenso näher an Hoffmann und
Arnim, als es bei Brentano der Fall ist.
Eine gute Vergleichsmöglichkeit bietet der Ausgang doppelgängerischer Begenungen. Bei
Hoffmann nehmen die Begegnungen meist ein negatives, tragisches Ende. Sie bedeuten eine
schwere Verunsicherung für das eigene Ich. Die eigene Einzigartigkeit wird zwangsläufig in
Frage gestellt. In seinen späteren Werken scheint ein tödliches Ende nicht mehr Pflicht zu
sein. Die Doppelgänger Arnims nehmen auch ein tödliches Ende. Zumindest die Kopie muss
ihr künstliches Leben lassen. Die Auswirkungen auf die Psyche und das eigene Ich bleiben
allerdings begrenzt bei Arnim. Vielleicht liegt es daran, dass seine Doppelgänger keine
richtigen Menschen sind. Sie besitzen keine echten Gefühle und haben auch keine entwickelte
Persönlichkeit. Damit sind sie zu keiner vollständigen Ersetzung befähigt; die Bedrohung
sinkt dadurch.
Die Funktion des Doppelgängers ist fast überall anders. Ob als kurzzeitiger Spaß (Devillier),
als begrenzter zeitweiliger Ersatz (Golem-Bella), oder als Spiegel des eigenen Ichs (Viktorin),
ist relativ unwichtig. Das Motiv und seine Einsatmöglichkeiten sind vielfältig. Die
Verwechslungsfunktion ist allerdings fast überall gebräuchlich. Sie ist mit Abstand die
ureigenste und innewohnendste Eigenschaft dieses Motivs. Einen tieferen, geistigen Kontakt
zwischen den Doppelgängern gibt es nur bei Hoffmann, dort aber sehr ausgeprägt. Die
Gründe dafür wurden schon genannt.
Was das Automatenmotiv und das Motiv des künstlichen Menschen betrifft, so haben wir in
dieser Arbeit nur bei Arnim und Hoffmann solche Fälle vorliegend. Hoffmann bevorzugt den
Automaten, weniger allgemein künstliche Menschen oder Wesen. Der Automat wird bei ihm
93
in eine ähnlich schauerliche, unheimliche Umgebung integriert wie der Doppelgänger. Ihm
wird die Möglichkeit eines menschlichen Ersatzes bedingt zugesprochen. Allerdings ist er
keine vollständig selbständige Kreatur. Ein Lenker im Hintergrund wird stets vermutet oder
vorausgesetzt. Psychische Auwirkungen verursacht er auch, genau wie der Doppelgänger,
doch nur als Mittler bzw. Werkzeug einer höheren Macht. Ansonsten ist sein erschreckender
Effekt Resultat der Verblüffung des Menschen, der sich bewusst wird, dass er von einer
Maschine genarrt wurde. Sein Typ des Automaten wird auf einem zeitgenössischen
Verständnis aufgebaut. Die Vorbilder sind die damals bekannten Automatenbauer und ihre
Meisterwerke der Automatenbaukunst. Zumindest in technischer Hinsicht gleichen sie den
realen Vorbildern. Arnims künstliche Menschen entstammen, wie erwähnt, dem literarischen
Bereich. Sie sind sehr unterschiedlich und bilden eine bunte Truppe, die letztendlich zum
vorzeitigen Untergang geweiht ist. Sobald sie ihre vorgesehene Funktion erfüllen, werden sie
entbehrlich.
Im Sinne einer weitergehenden Untersuchung zu diesem speziellen Thema, wäre es positiv,
wenn noch weitere romantische Texte mit derselben Motivik zu Vergleichszwecken
untersucht werden würden. Stoff und Anreiz ist ausreichend vorhanden und eine Fortsetzung
nicht ausgeschlossen.
94
7. Bibliographie
Primärliteratur
-
Achim von Arnim: Isabella vonn Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe,
Reclam, Stuttgart, 2002.
-
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Sämtliche Werke, Bd. 3, hrsg. von Renate Moering, DTV, Frankfurt am Main, 1990.
-
Clemens Brentano: Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter, in:
Sämtliche Werke und Briefe der Historisch-Kritischen Ausgabe, Bd. 19, Kohlhammer,
Stuttgart, 1987.
-
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihl´s wundersame Geschichte, hrsg. von Joseph
Kiermeier-Debre, DTV, München, 1999.
-
E.T.A. Hoffmann: Die Automate, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, hrsg. von Wulf Segebrecht,
DTV, Frankfurt am Main, 2000.
-
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Stuttgart, 2002.
-
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-
E.T.A.
Hoffmann:
Die
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Späte
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Allgemein
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Berlin, 1987.
-
Albrecht Decke – Cornill: Vernichtung und Selbstbehauptung. Eine Untersuchung zur
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1987.
-
Paul Heinemann: Potenzierte Subjekte – Potenzierte Fiktionen. Ich–Figurationen und
ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett, Könnighausen & Neumann,
Würzburg, 2001.
-
Ingrid Fichtner: Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens, Haupt, Bern,
1999.
-
Christof Forderer: Ich – Eklipsen. Doppelgänger in der Literatur seit 1800, Metzler,
Stuttgart, 1999.
-
Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur, Kröner, Stuttgart, 1988.
95
-
Leah Gordon: Voodoo. Magie und Rituale, Bassermann, 2000.
-
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik I, hrsg. von Friedrich Bassenge, Europäische
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-
Aglaja Hildenbrock: Das andere Ich. Künstlicher Mensch und Doppelgänger in der
deutsch- und englischsprachigen Literatur, Stauffenburg, Tübingen, 1986.
-
Helmut Himmel: Geschichte der deutschen Novelle, Francke, Bern, 1963.
-
Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle, Steiner, Wiesbaden, 1960.
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Ronald D. Laing: Das geteilte Selbst, DTV, München, 1989.
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Volker Meid: Metzler – Literatur – Chronik. Werke deutschsprachiger Autoren, Metzler,
Stuttgart, 1993.
-
Otto Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, Internationaler
psychoanalytischer Verlag, Leipzig, 1925.
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Hans - Jürgen Schrader: Brentanos „Die mehreren Wehmüller“. Potenzieren und
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Ernst Fedor Hoffmann: Spiegelbild und Schatten. Zur Behandlung ähnlicher Motive bei
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Alice A. Kuzniar: „Spurlos... verschwunden“: „Peter Schlemihl“ und sein Schatten als
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Norbert Miller: Chamissos Schweigen und die Krise der Berliner Romantik, in: Aurora
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Ernst Loeb: Symbol und Wirklichkeit des Schattens in Chamissos „Peter Schlemihl“, in:
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Wolfgang Neubauer: Zum Schatten-Problem bei Adelbert von Chamisso oder zur NichtInterpretierbarkeit von „Peter Schlemihls wundersamer Geschichte“, in: Literatur für
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Franz Schulz: Die erzählerische Funktion des Motivs vom verlorenen Schatten in
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Dagmar Walach: Adelbert von Chamisso: „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“
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Lützeler, Reclam, Stuttgart, 1981.
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Benno von Wiese: Adelbert von Chamisso, Peter Schlemihls wundersame Geschichte, in:
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Die Deutsche Novelle von Goethe bis Kafka, Band 1, Bagel, Düsseldorf, 1956.
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Gero von Wilpert: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs, Kröner,
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