Kein Kampf der Kulturen - sondern was? - Uni

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Wolfgang Nethöfel
Kein Kampf der Kulturen – sondern was?
Politische und theologische Reflexionen zum 11. September 2001
1. Ein Jahr danach
Der Jahrestag des 11. September 2001 gibt Anlass, nach dem Verhältnis von Religion und Politik zu fragen.1 Schon den ersten Anschlag auf
das World-Trade-Center nahm Mark Juergensmeyer vor dem Hintergrund eines „weltweiten Anstieges religiöser Gewalt“ wahr und nannte
sein jetzt natürlich neu aufgelegtes Buch „Terror in the Mind of God“,
was man wohl „Terror im Namen Gottes“ übersetzen muss.2 Denn nicht
nur diese Attentäter begründeten ihre Anschläge religiös. Religion, so
scheint es, hat die Tendenz, Politik gewalttätig zu machen. Wir sehen
das vielfach in islamischen, aber etwa auch in hinduistischen und buddhistischen Gesellschaften. Und die politische Domestizierung der Religion gehört zwar zu den Identitätsmerkmalen unserer westlichen Kultur
– aber gerade weil wir uns noch an die blutige Geschichte des Christentums erinnern, schmerzt uns die christliche Begründung von politischer
Gewalt etwa in Irland oder auf dem Balkan besonders, und wir zuckten
wohl alle zusammen, als Präsident Bush nach dem 11. September von
einem „Kreuzzug“ gegen den Terrorismus sprach.
Ist jene – vielleicht ja nur trügerische - politische Domestizierung von Religion im Innern unserer Kultur also nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt, und bestätigten die Ereignisse vor einem Jahr nicht dramatisch
die These von einem bevorstehenden „Kampf der Kulturen“, auf den sich
auch der Westen einstellen müsse? Jene pessimistischen Frage nach
dem „clash of civilisations“, die Samuel P. Huntington 1993 gestellt hatte3, scheint endgültig die optimistische Frage nach dem „End of History“
1
Der Text geht zurück auf einen Vortrag, den ich am 11. September 2002 auf Initiative von Reinhard Ueberhorst im Rahmen der Elmshorner Vortragsreihe „Demokratie
im 21. Jahrhundert“ gehalten habe. Die kritische Diskussion hat mir geholfen, meine
Gedanken so weiterzuentwickeln, dass ich hoffe, sie jetzt weniger missverständlich
ausdrücken zu können.
2
Untertitel. The Global Rise of Religious Violence, Berkeley/ Los Angeles/ London
2001.
3
Untertitel: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/ Wien
1998.
abgelöst zu haben, die einige Jahre zuvor die Gemüter bewegt hatte.
Francis Fukuyama hatte 1986 das Ende der Kultur- als Umsetzungsgeschichte politischer Ideen ins Auge gefasst.4 Der erreichte Stand von
Wissenschaft und Technik hat seiner Ansicht nach alle Alternativen zur
liberalen Demokratie vielleicht nicht faktisch, jedoch politisch erledigt.
Aber gerade weil ein befriedetes globales Neben- oder Miteinander aller
Staaten möglich und das Ende der bisherigen politischen als Gewaltgeschichte denkbar wird, bleibt Religion ein politisches Problem, das in
dieser Perspektive nur noch einmal besonders scharf hervortritt. Fukuyama glaubt, dass sie im Zentrum jeder Kultur weiter pocht als das überwältigende Gefühle auslösende Bedürfnis jedes Einzelnen, sozial anerkannt zu werden. Hierfür wird in Konfliktsituationen jeder Preis bezahlt,
fremdes wie eigenes Leben eingeschlossen. Wird jenes Gefühl also
nicht in konstruktive Bahnen gelenkt oder wird es, etwa durch gentechnische Entwicklungen, tief irritiert, droht eben dennoch „Das Ende des
Menschen“.5
Bei solchen konträren Einschätzungen und angesichts solcher Fragen,
die viele Menschen tief bewegen, empfiehlt es sich zunächst zu überprüfen, worüber eigentlich jeweils und worüber schließlich überhaupt geredet wird. Ich spreche im Folgenden zunächst über Kultur, dann über Religion und erst anschließend über Politik. Sie stehen vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Vorgeschichte. Aber „Politik“ wurde erst sichtbar und machbar, als auch „Kultur“ und „Religion“ je für sich definiert
werden konnten. Und unser Verständnis von „Geschichte“, von „Terror“
und von „Fundamentalismus“ ist ebenfalls von dieser Ausgangskonstellation geprägt. Eigenarten von und Differenzen zwischen Kultur und Religion erkennen wir, weil wir bereits eine neue Epochenschwelle überschritten haben, die durch das Stichwort „Globalisierung“ gekennzeichnet werden kann. Das ist auch von praktisch-politischem Interesse. Meine Hauptthese ist, dass der Terrorismus des 11. Septembers angemessen nur innerhalb einer „postmodernen“ Konstellation verstanden werden kann, in der alle Karten neu gemischt werden.
Im Zeitalter der Globalisierung kann also über das Verhältnis von Politik
und Religion nicht sinnvoll gesprochen werden, wenn wir nicht auch neu
nachdenken über beider Verhältnis zur Kultur. Hier könnte ich es mir
leicht machen. Die Evangelische Kirche fordert in einer soeben erschienenen Denkschrift dazu auf, den Streit der Kulturen zu „zivilisieren“, und
sie will deshalb die Kirchen zu „Stätten der Begegnung“ machen: durch
4
Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992.
5
Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen, Stuttgart 2002.
2
„Kultur“.6 Das ist dann wohl weniger das, was wir alle schon haben, als
vielmehr das, was Künstlerinnen und Künstler machen und wofür wir sie
gegebenenfalls bezahlen müssten, wenn das zur Verständigung aller
beiträgt. Ich gehe allerdings erst im Schlussteil auf die Frage ein: Was
tun? Das ist bekanntlich eine Leninsche Politikfrage, die allzu oft unkultivierte Antworten provoziert hat. Das hier zu Tage tretende Geflecht von
Vorverständnissen macht aber vielleicht den langen Anmarschweg verständlich.7
2. Kultur, Religion, Politik: Konstellationen von gestern
2.1 Was ist Kultur?
„Kultur“, das zeigt sich schnell, kann ganz verschiedene Bedeutungen
haben. Es gibt die eine Kultur im Gegensatz zur Natur oder zur Barbarei,
vielleicht auch nur zu dem, was in Deutschland „unzivilisiert“ heißen
würde. Kultur kann etwas – eben – kulturell Hochstehendes bezeichnen,
so dass man eben im Gegensatz dazu von einer Volks- oder Popkultur
sprechen kann. Dazwischen können sich die politische, die Sprach- oder
die Ess- und Witz- oder andere Spezialkulturen in den verschiedensten
Bereichen als etwas entweder besonders Beachtliches oder einfach nur
als das Eigentümliche einer Gesellschaft oder einer Gruppe so voneinander unterscheiden, dass es einem Beobachtenden auffällt.
Denn das ist das wirklich Gemeinsame aller dieser Begriffsbildungen: sie
setzen eine gesellschaftliche Distanz voraus, Unterscheidungen, die wir
jeweils nach nachvollziehen können. Zunächst: es gibt Schichten. Der
Mensch weiß sich vom Tier unterschieden durch die Möglichkeit, Nahrung zuzubereiten und sich zu bekleiden, vor allem aber: solche Unterschiede benennen zu können. Die reale ermöglicht die symbolische Unterscheidung von roh und gekocht, nackt und bekleidet, und eben das ist
„Der Ursprung der Tischsitten“: kulturelles im Unterschied zu natürlichem
Verhalten, wie der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss in sei-
6
Räume der Begegnung - Religion und Kultur in evangelischer Perspektive. Eine
Denkschrift der evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, Gütersloh 2002.
7
Zum weiteren Kontext der hier aktualisierten Konzeption und für Einzelbelege verweise ich vorläufig auf Wolfgang Nethöfel, Christliche Orientierung in einer vernetzten Welt, Neukirchen-Vluyn 2001.
3
nen monumentalen „Mythologica“ herausgearbeitet hat. Kultur ist das,
was man aus gespeichertem Wissen lernen kann, und das, was dabei
so hervorgeht, dass es wiederum Information speichert: formgeprägte
Tätigkeiten und Verhaltensweisen, überdauernde Produkte, Artefakte,
auch Kunstwerke.
Die Differenz von Mythos uns Logos aber tritt ins Bewusstsein, als im
östlichen Mittelmeerraum und anderswo die Schrift eine Kontrolle unterschiedlicher mündlichen Überlieferungen nicht nur ermöglicht, sondern
erzwingt. Kultiviert sind jetzt die, die das, was von den Vorfahren übernommen werden soll, kritisch überprüfen – mit jenen nervenden Fragen,
wie sie Platon Sokrates zuschreibt. Ich bemerke im Vorübergehen, dass
die Propheten in Israel genau dieselbe Funktion haben wie die Philosophen und Sophisten in Griechenland. Sie reagieren auf die Krise, die die
Schrift auslöst, indem sie die Tradition tiefer begründen. Man streitet
darüber, was der rechte Weg ist, aber es gibt Kriterien: das Wahrheit,
das Gesetz; es gibt Verfahren: das Recht, und es gibt eine letzte Instanz: den einen Gott als personifizierten Inbegriff von Recht und Wahrheit.
Mit der Schrift weitet sich der Erfahrungsraum der Gesellschaften. Die
anderen kommen in den Blick – und werden doch gleich wieder in den
gemeinsamen Kulturraum einbezogen, wie zunächst der Hellenismus
und dann die römische Staatsbildung zeigt. Soweit die gemeinsame
Schriftkultur reicht, gibt es eine gemeinsames Übersetzungssystem für
Normen, Werte und Götter, das die relativen Unterschiede zu interpretieren erlaubt. Wirklich draußen, wirklich bedrohlich sind die Barbaren, die
Ammen, später die Hebammen: die draußen wie drinnen immer noch aktiven Träger des unkontrollierbaren mündlichen Überlieferungssystems.
Denn die kulturelle Gesamtentwicklung spiegelt sich in der individuellen
Entwicklung, genauer: sie funktioniert durch Erziehung. Gebildet ist, wer
sich mit Hilfe der Unterscheidungen orientieren kann, die das kulturelle
Leitmedium ermöglicht. Die überlagern einander, sie relativieren sich in
ihrer Bedeutung, können aber beim Kompetenzerwerb nicht wirklich
übersprungen werden. Die „kleinen Wilden“ mussten damals also nicht
nur sprechen und Verse lernen, immer mehr von ihnen mussten auch
schreiben und lesen lernen. Bis gestern reichte es dann, sich in Schwanitz’ Bildungskanon und in einer Formelsammlung bewegen zu können.
Heute ist Kulturkompetenz die Kompetenz, sich in Computernetzen orientieren zu können (was dann allerdings ein Mindestmaß an Text- und
Sprachkultur voraussetzt).
So wurden die Bindungen an „die Väter“, an Blut und Boden damals
schon im Prinzip überwunden. Aber wir sollten doch nicht vergessen,
dass so etwas – damals wie heute – nur im Ausnahmefall bewusst wird.
4
Man kann die anderen, man kann auch sich selbst beobachten, aber
man tut dies eben normalerweise nicht. Normalerweise wissen Gesellschaften nicht, dass sie selbst eine bestimmte Kultur haben. Dass man
eine gemeinsame Kultur hat, merkt man in der Regel daran, dass man
nichts merkt, sondern ohne nachzudenken mit anderen gemeinsam reagiert. Und wenn man dabei von ganz anderen gestört wird, dann weiß
man zunächst nur: die – und wir.
2.2 Was ist Religion?
Wenn Alexis Sorbas tanzt (und wenn er sich gerade nicht mit „dem Amerikaner“ unterhält), dann weiß er nicht, dass das ein spezifischer Ausdruck traditionaler griechischen Kultur ist. Er weiß auch nicht, dass er
sich so eines Ausdrucksmittels traditionaler Religion bedient. Gesellschaften wissen normalerweise nicht, dass sie eine bestimmte Religion
haben, und wenn und sofern sie ihnen bewusst wird, unterscheiden sie
diese zunächst nicht von ihrer Kultur. In den Sprachen vieler schriftloser
Völker, in traditionalen Kulturen ist selbst der Begriff Mensch für diejenigen reserviert, die dieselbe Sprache sprechen, dieselben Gebräuche
haben und die selbstverständlich auch dieselben Götter verehren. „Religio“ bezeichnet die traditionale, an mündliche Überlieferung gebundene
Lebensweise der Vorfahren im ganzen; ähnlich funktioniert bei den Griechen der Ausdruck „Mythos“. Das Christentum nennt sich selbst oft „der
Weg“, ähnlich wie wir das im japanischen Ju-Do oder Ken-Do kennen.
Es verbreitet sich ebenso wie die auf Textüberlieferungen gestützten
Philosophenschulen und Mysterienkulte quer zu religiösen Traditionen,
die zur Routine geworden sind; es ist Bekehrung gefordert. Die Orientierung an schriftlich tradierbaren christlichen, manichäischen oder stoischen Traditionsmustern verändert die ganze Lebensführung und alle
sozialen Beziehungen. Einerseits überlagern diese neuen sozialen
Gruppierungen nur die alten Stammesbeziehungen. Anderseits aber
konkretisieren sich in ihnen auch immer wieder die antitraditionalen Verhaltensweisen, die von der hellenistische Kultur und der römischen
Reichsorganisation vorausgesetzt werden, bis diese Gesamtorganisation zerfällt.
Aber geht es dabei in der Religion nicht doch um etwas Besonderes? Mit
den Schriften in der Hand kann in jenen Gesellschaften zum ersten Mal
um die letzten Dinge, um Letztorientierungen gestritten werden. Die Philosophen, die Propheten und die großen Religionsstifter weisen dabei
regelmäßig von sich weg auf eine Sache, die größer ist als sie selbst.
Man soll nicht an Moses oder Jesus, an Gautama, an Mohammed glauben, man soll sich nicht nach Paulus, nach Luther, nach Marx usw. be5
nennen. Aber das bleibt schwer, bis heute: alles Antitraditionale bleibt
eine dünne Schicht, das Bedürfnis nach Heiligenverehrung und Personenkult ist tief verankert.
Dennoch wissen heute genauer als früher, was Religion ist, so scheint
es. Es gibt jedenfalls Begriffe, von denen wir eindeutig sagen können,
dass sie zum Bereich der Religion gehören. Wenn wir Kirche oder Jesus, Moschee oder Mohammed hören, dann ist von Religion die Rede.
Bei Marx und Moskau, den Marx Brothers oder McDonald ist das anders. Religion ist heute ein Bereich neben anderen. Neben ihr gibt es in
unseren Gesellschaften Politik und Recht, Wissenschaft und Wirtschaft,
die Medien, das Erziehungswesen und eben die Kultur im engeren Sinne als gesellschaftliche Teilsysteme, die mit eigenen Institutionen und
nach eigenen Regeln funktionieren. In diesem umfassenden Modernisierungszusammenhang hat Niklas Luhmann die Säkularisierung des vormals Religiösen gestellt. Ihr bleibt dann die Aufgabe, das Einzelne auf
das Ganze hinzuorientieren und dem Alltag durch „Komplexitätsreduktion“ einen Sinn zu geben
Aber eine Inkonsequenz bleibt, auch bei Luhmann übrigens, der – um es
polemisch zu sagen – mit seiner Systemtheorie die Theologie beerben
will und diese daher gern auf die traditionell definierte Institution Kirche
beschränkt. Denn was ist nun Religion: ein abgrenzbarer Restbereich,
auf den sich die religiöse Substanz des Heiligen bloß konzentriert hat?
Funktioniert unser Begriffstest, weil sich in den Begriffen das Wesen der
Religion erschließt? Oder ist religiös alles, was die religiöse Funktion erfüllt? Auch hier gibt es klassische Definitionen: Religion ist alles, was –
wie einst die Gnosis – die Fragen beantwortet, woher wir kommen, wer
wir sind, was wir hier sollen und wohin wir gehen werden. „Woran du
dein Herz hängst, das ist dein Gott“, wusste Luther, und er zeigte gleich,
wie sich so die „entmythologisieren“ lässt: der Abgott konnte für ihn
schon „Mammon“ heißen, Geld.
Religiössein, sagte Paul Tillich, sei das „Ergriffensein von dem, was uns
unbedingt angeht“. „Dargestellte Tradition“, „verkörperter Glaube“, „Einklang mit einer unsichtbare Ordnung“: das sind Definitionen, die auf dieser Linie liegend Substanzdefinitionen vermeiden, aber vergleichsweise
blass wirken. Aufregend ist, dass auch die rein funktonalen Definitionen
einen Plausibilitätstest bestehen, wie sich gerade in säkularisierten Kontexten zeigt. Die Funktion produziert nämlich Substanz: religiöse Formen
und Verhalten, die man so nicht erwartet hätte, die man sogar – im militanten Atheismus – heftig bekämpfen wollte. In fast jedem Studentenzimmer findet sich ein Herrgottswinkel, in dem Fotos und Ähnliches aufgestellt werden. Der Kommunismus vollzog mit seiner Jugendweihe
Passageriten; der Kreml erschien von der Architektur bis zum Protokoll
6
wie eine Karikatur des Vatikans. Die Zivilreligion der formal säkularisierten westlichen Gesellschaften ist vielfach beschrieben worden, sie reproduzieren aber vor allem in ihrem Innern, wenn es um die tiefsten
Sehnsüchte und Wünsche der Verbraucher geht, religiöse Formen massenhaft.
Gibt es das Heilige also doch als eine Art Urphänomen, als „mysterium“,
wie es Rudolf Otto bestimmte? Oder bleibt doch jedenfalls jenes „tremendum et fascinans“ gültig, mit dem er Religion charakterisierte als ein
für das Menschsein konstitutives ambivalentes Grundverhältnis? Führen
uns jener archaische Schrecken und jene unheimliche Anziehungskraft
gar zum Ursprung des politischen Terrors, den wir heute weltweit erleben? Oft genug begründet der sich ja religiös, und die ideologischen
Begründungen wären dann schon von vornherein als Ersatzreligionen
entlarvt.
Unser erster Analyseschritt führt zu einem anderen Ergebnis. Religion ist
ein Aspekt des Orientierungsprozesses, der in allen Gesellschaften Kultur entstehen lässt. Sie wird zum ersten Mal gesellschaftlich bewusst,
als das Leitmedium Schrift die Selbstthematisierung von Orientierung
erzwingt – und die Orientierung an den religiös identifizierbaren Orientierungsmustern der Schriftreligionen erlaubt. Aber von nun an besteht
auch eine doppelte Gefahr, Religion einseitig wahrzunehmen. Man kann
sie aus dem Auge verlieren, wenn man sich auf die Funktion aller Orientierungsmuster fixiert, in allen Gesellschaften sonntags wie alltags, gemeinschaftlich und individuell deren kulturelle Identität zu reproduzieren.
Und man kann sie verzerrt wahrnehmen, indem man sie mit bestimmten
Kulturgestalten einer bestimmten Gesellschaft identifiziert oder sie gar
gleichsetzt mit einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft.
Diese Gefahr wird virulent in der Neuzeit, in der sich die Gesellschaften
so formieren, dass sie als politische Akteure eine neue Bühne betreten.
Nun kann es so aussehen, als ob Kultur und Religion Politik und Geschichte machen. Es lohnt sich daher, die Konstellation genauer zu betrachten, in der wir selbst erst gelernt haben, jene Bereiche zu unterscheiden und zu benennen.
2.3 Was ist Politik? oder: Wie verhielten sich bis gestern Kultur und
Religion zueinander?
Ob wir nun die religiöse Substanz als abgrenzbaren, besonderen Wirklichkeitsbereich ins Auge fassen oder ob wir die religiöse Funktion isolieren, die das Verhältnis des Alltags zum Ganzen sichert, indem sie ihn
orientiert,: auf beiden Pfaden sind wir in der Neuzeit angekommen. Bei
7
uns, denn wir haben gesehen, dass wir heute noch Religion eben so
verstehen, als etwas Bestimmtes neben anderem und als etwas, das
problemlos einen Plural haben kann: eine bestimmte neben vielen anderen Religionen in einem oder in mehreren Staaten. Das ist nicht immer
so gewesen. Selbstverständlich gab es religiöse und politische Haltungen, Rollen und Institutionen neben- und gegeneinander. Das Mittelalter
ist durchzogen vom Konflikt zwischen Kaiser- und Papsttum um die Vorherrschaft im Reich. Aber dies sind Gegensätze innerhalb einer einheitlichen Kultur. Der Bauer geht zum Priester und nicht zum Schamanen,
so wie er ackert und nicht jagt. Man betet in der Familie und später allein
in der Kammer, so wie man zusammen den Hof bestellt und später in die
Stadt zieht. Der Ritter zieht in den Kreuzzug, weil dies zu seiner politischen Kultur gehört – und eine solche Tradition gab es im Islam ebenso,
wie sie im Judentum bezeugt ist.
Genau deshalb müssen wir mit dem Kulturbegriff ebenso vorsichtig umgehen wie mit dem der Religion. Die Frage nach der Religion ist jedenfalls von der Neuzeit als Epoche nicht zu trennen. Die mechanische Vervielfältigung der kulturellen Speichermedien: Buch- und Tabellendruck
zusammen mit der Standardisierung von Messinstrumenten erzwang
neue, von den alten Regeln nicht mehr zu steuernde Orientierungsentscheidungen und erzeugte neue Unsicherheiten. Religion entstand nun
als dass, was dem Einzelnen Gewissheit gibt: durch Hören auf die Bibelbotschaft oder durch die Befolgung des Beichtrats. Inbegriff der Kultur wird jenes Verhältnis zu einem Orientierungsmuster, das die individuelle Lektüre von Gedrucktem ermöglicht, das intime Bemühen um den
Sinn, indem ich selbst noch davon entlastet bin, die kollektive Orientierungsfunktion des Musters wirksam werden zu lassen. Odo Marquard
hat fast beiläufig darauf hingewiesen, dass der Ursprung dieser Hermeneutik der Dreißigjährige Krieg ist. Der Streit um den Textsinn ersetzt
den Religionskrieg und erzeugt Kultur.
Genauer muss man sagen: jetzt erst entsteht jener Bereich, in dem der
Einzelne sich zu einer als zu seiner Religion bekennt (denn es geht ja
um „Konfessionen“ und Konfessionskriege): als Gegenüber zu jenem
anderen Bereich, in dem nun öffentlich, wenn auch friedlich gestritten
werden darf und in dem sich immer neue Themenfelder entfalten mit je
eigenen Vergewisserungsformen definieren. Und nun wird auch deutlich,
wer hier als handelndes Subjekt neu auf den Plan tritt: Es ist der souveräne Nationalstaat, der sich durch diesen Akt der Trennung von Religion
und Kultur konstituiert, aus dem langsam der Gegensatz von privater
und öffentlicher Sphäre hervorwächst. Dieser Urakt von Politik, wie wir
sie kennen, ist ein friedensstiftender Akt – freilich um einen hohen Preis.
Denn jene Nationalstaaten werden das Recht für sich in Anspruch neh8
men, aus „rein politischen“ Gründen Kriege gegeneinander zu führen.
Und die nun ebenso autonom sich begründende Ethik, das Recht und
wieder die Religion hecheln bis heute hinter ihnen her, um sie wieder an
die Leine zu legen. Sie können in der Neuzeit aber nur durch Verfahren
und Verträge, Abmachungen und Abstimmungen wieder eingebunden
werden in das große Ganze, aus dem alle gemeinsam hervorgegangen
sind.
Das gemeinsame Gegenüber von Kultur und Religion ist also ursprünglich die barbarische, auch die kindliche Welt unter dem Terror mündlicher Tradition. Bereits Schriftgesellschaften und Schriftkundige können
bewusster, erwachsener mit unterschiedlichen Möglichkeiten umgehen,
sich hier und jetzt an der Tradition zu orientieren. Kultur und Religion treten dann an der Neuzeitschwelle auseinander, als die Schriftmuster mechanisch vervielfältigt werden und die Orientierungs- wie die Steuerungsmöglichkeiten sich potenzieren. Im Ergebnis entsteht jetzt der Nationalstaat, der durch Politik Geschichte macht. Politik aber beruht im
Prinzip auf der Trennung zwischen Religion als Privatsache des Bürgers
und Kultur als öffentlicher Angelegenheit. Einmal steht hier der Einzelne
vor Alternativen, einmal die Gemeinschaft. Daher werden beide Bereiche
jetzt mit unterschiedlichen Institutionen und Ausdrucksgestalten identifiziert. Erst diese Identifikation erlaubt dann die heute mögliche unterschiedliche und regelmäßig konkurrierende Zuordnung von Menschen
und Gemeinschaften zu Staaten, zu Religionen und zu Kulturen, erlaubt
Vorstellungen von Volks-, National-, Religions- und Kulturgeschichte, erlaubt Begriffsbildungen und Verhältnisbestimmungen von Kultur (und
Natur), von Religion und Ethik, von Politik und Geschichte, wie sie auch
heute noch die gemeinsame Plattform unserer Überlegungen sind, auf
die wir uns beziehen können.
Das Bemühen um die Tradition mit ihren Ansprüchen und Wertungen
und um die sich daran abarbeitende und sich ausdifferenzierende Innenwelt getrennt von der externen Überprüfung von Fakten der Außenwelt: ein Gegeneinander als heimlich sich stützendes Miteinander „zweier Kulturen“ ist für die Neuzeit konstitutiv. Mit dieser Ergänzung im Sinne
der kritischen Analyse von Jürgen Habermas ist der Diagnose von
Charles Percy Snow zuzustimmen. Erst auf der Grundlage dieser Trennung entstehen nun die theoretischen und praktischen Konzeptionen,
die Religion, Politik und Kultur zueinander in jene Verhältnisbestimmungen setzen, die uns allzu vertraut sind. Weil Religion und Wirtschaft theoretisch getrennt sind, können Karl Marx und Max Weber nach den
wechselseitigen Einflussmöglichkeiten fragen – natürlich in politischer
Absicht und natürlich mit unterschiedlichen Antworten. Wir betrachten
9
heute freilich eher die Fragestellung als Problem, aus der jenes BasisÜberbau-Schema hervorging.
Auf der Grundlage der Trennung zwischen Staat und Kirche geht der
Staat Beziehungen ein, die bis zum Staatskirchentum reichen können.
Ein freundliches Nebeneinander ist die Position unseres Grundgesetzes,
scheinbar begründet durch das „Böckenförde-Axiom“: „Der freiheitliche,
säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann ..., ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.“ Wir haben Anlass, daran zu zweifeln – aber vor allem erleben wir seine Zweischneidigkeit in einer Zeit, in der die Volkskirchen ihr kulturelles Potential verspielen und in der mehrere Traditionsgemeinschaften nebeneinander ihre verfassungsmäßig verankerten kulturellen Ansprüche anmelden. Dahinter tun sich Abgründe einer polykulturellen Gesellschaft auf, in der
nebeneinander existierende Traditionsgemeinschaften gar keine gesellschaftlichen Claims mehr anmelden: für den späten Habermas eine
postmoderne Horrorvision, die sich wohl auf seine us-amerikanischen
Erfahrungen gründet.
2.4 Der Fundamentalismus als Übergangskrise
Vor dem Hintergrund jener beziehungssichernden Trennung werden also auch Sonderentwicklungen und Pathologien ansprechbar. Die kulturell isolierte christliche Mission ließ in traditionalistischen Gesellschaften
erst das Bewusstsein religiöser Identität entstehen und induzierte daraufhin erst so etwas wie neobuddhistische und neohinduistische Mission im Westen. Die Globalisierungswellen der Kolonialzeit gingen einher
mit jenem „Kulturalismus“, den Gandhi, als er gefragt wurde, „Mister
Gandhi, what do you think of western civilisation?“, mit der Antwort entlarvte: „This would be a great idea.“
Vor allem aber ist der Fundamentalismus eine pathologische Neuzeitreaktion. Historisch bezieht sich der Ausdruck auf die antimodernistische
und antiliberale Reaktion amerikanischer Freikirchen. Statt sich mit den
Herausforderungen des neuzeitlichen Weltbildes auseinander zu setzen,
konstruierten sie angeblich biblische „Fundamente“ ihrer Theologie wie
die Erschaffung der Welt in sieben Tagen, die leibhaftige Auferstehung
und die persönliche Wiedergeburt. In einem weiten, aber immer noch
präzisen Sinn kann man damit das Ergebnis aller religiösen Fehlorientierungen angesichts eines Leitmedienwandels bezeichnen. Es gibt mittlerweile in allen großen Religionen in den sozialen Institutionen, in den
Bewusstseinslagen und in den expliziten Theologien Kulturgestalten, die
man den großen Kulturepochen zuordnen kann. Es gibt eine neuzeitkompatible islamische Theologie, und es gibt ein animistisches Christen10
tum. Spannungen entstehen, wenn Rollen, Gebräuche, Institutionen oder Theologien mit weiter evolvierten Leitmedien konfrontiert werden.
In diesem Sinne kann man sagen, dass "der Islam" in vielen Gesellschaften eine Auseinandersetzung mit der Neuzeit noch vor sich hat, der
er sich nicht entziehen können wird. Sadik Jala al-Azm hat das in aller
Schärfe beschrieben und das präzisiert als eine sicher spezifische verlaufende Trennung von Staat und Moschee sowie als Abschied von religiös-politischen Macht- und kulturellen Allmachtsphantasien, die von einem kulturellen Minderwertigkeitskomplex gespeist werden. Aber: vor
ähnlichen Aufgaben steht auch das Christentum in einigen Gesellschaften. Alle Religionen stehen in allen Gesellschaften vor der Aufgabe, im
harten Alltag des Erziehungsprozesses diejenigen Orientierungen erst
herzustellen, die mit der jeweils herrschenden vorherrschenden Leitkultur kompatibel sind. Und all jene Differenzen verblassen vor den Anforderungen, vor die alle Religionen der gerade sich global vollziehende
erneute Wechsel des kulturellen Leitmediums stellt. Es gibt heute Anforderungen an eine Weltkultur, die nur um einen Preis unterschritten werden können, den – im „Raumschiff Erde“ – alle gemeinsam bezahlen
müssen.
Aber gerade in der jetzigen Übergangssituation, der wir uns jetzt eigens
zuwenden müssen, sollten wir an der erreichten Präzision unserer Bestimmung von „Fundamentalismus“ festhalten. Er wirkt sicher kulturell
immer destruktiv; Verdrängung ist auch kollektiv keine Ersatz für das
Durchstehen eines Konflikts. Und gewiss begünstigt und provoziert diese religiöse Verdrängung auch gesellschaftliche Gewalt. Aber nicht alles, was sich bei der Gewaltausübung auf Religion beruft, ist Fundamentalismus, und jeder Erklärungsversuch, der politisch hilfreich sein will,
muss scheitern, wenn er unter der Hand von der Definition ausgeht,
Fundamentalismus sei ein Synonym für gewalttätige Politik.
3. Kultiviert überleben nach dem Ende der Geschichte: eine religiöse Perspektive
3.1 Politik, Religion und Kultur im Zeitalter der Globalisierung
Die neuzeitliche Konstellation von Politik, Religion und Kultur bleibt als
gemeinsame Basis unserer Verstehens-, Analyse und Handlungsmöglichkeiten unverzichtbar. Nur so können wir auch das kurzfristige Bündnis zwischen einer klassisch politischen und einer klassisch religiösen
11
Option erkennen und benennen, das wir am 11. September 2001 erlebt
haben. Die Staaten, in denen der Terrorismus zu Hause ist, sind feudalistische Regime und zynische Militärdiktaturen, die sich offenkundig der
Religion bedienen, um Privilegien zu bewahren und soziale und politische Reformen zu vermeiden. Dort haben politische Hasardeure religiöse Fundamentalisten für ihre Zwecke missbraucht. Das Ergebnis war ein
verabscheuungswürdiges Verbrechen, dem unschuldige Menschen zum
Opfer gefallen sind. Was auch gesagt werden muss: Dieser Fundamentalismus fand sein Ziel und er konnte seine Sprengkraft entfalten, weil es
aktuelle sicherheitspolitische-, aber vor allem: weil es zuvor sozial- und
kulturpolitische Fehler des Westens gegeben hat, die man nun allerdings in besonderer Weise den USA anlasten muss.
Wir können gerade am Jahrestag des Anschlags nicht ausschließen,
dass in Fortsetzung dieser Politik weitere Menschen, die nicht dumm,
arm oder schlecht ausgebildet sein müssen, jenen Politverbrechern als
nützliche Idioten zugetrieben werden, um deren Zwecke zu dienen. Aber
die Bedeutung all jener Analysen relativiert sich nun dadurch, dass der
Anschlag vor einem Jahr bereits innerhalb einer gewandelten globalen
Situation stattgefunden hat. Die wirkliche Gefahr falscher Gegenmaßnahmen ist heute weniger, dass sie nach den Maßstäben eines klassischen Politikverständnisses scheitern, sondern bereits die, dass diese
Maßnahmen die großen kulturellen Chancen ungenutzt lassen, die die
weltweite Kommunikation dieses Ereignisses eröffnet hat. Der Angriff
selbst war ja bereits gescheitert, als er zum weltweit sichtbaren Medienereignis wurde. Denn die Fernsehbilder wurden innerhalb eines Netzes
kommuniziert, das sich als unzerstörbar erwiesen hatte. Die Banken sicherten die laufenden Transaktionen online durch Kreditzusagen und die
Zentralbanken stützten die Liquidität noch am selben Tag durch eine
weltweit koordinierte Aktion. Das System hatte sich nur kurz geschüttelt;
die anschließende Rezession gehört zu den Normalreaktionen, mit denen es seine Stabilität sichert.
Es ist die weltweit vernetzte Informations- und Kommunikations- (IuK-)
Technik, die sich dabei auswirkt. Nach Schrift und Buchdruck ist sie zum
Leitmedium einer neuen weltgeschichtlichen Epoche geworden, an deren Anfang wir jetzt stehen. Wie zuvor die handwerkliche und die mechanische Speicherung, Vervielfältigung, Verbreitung und Präsentation
von Kulturmustern wird nun die elektronische Revolution im Bereich der
Technik eine Revolution des Weltbildes nach sich ziehen, der man nur
um den Preis kognitiver Dissonanzen entgeht. Der bewusstseinsgeschichtliche Einschnitt war die erste Club-of-Rome-Studie „Grenzen des
Wachstums“ aus dem Jahre 1972. Unabhängig davon, wir gut wir sie
kennen und ihrem Ansatz trotz vielfach widerlegter Einzelbehauptungen
12
trauen: seit diesem Zeitpunkt wissen wir alle, ob wir es wollen oder nicht,
dass wir gemeinsam im „Raumschiff Erde“ leben.
Unter diesem ökologischen Primat sind alle Elemente des klassischen
Politikbegriffs erledigt. Erledigt sind Nationalstaaten als autonome Akteure, sind deren Aktionen politischer Machtausübung, sind die Ziele nationalen Macht- und Wohlstandszuwachses. Denn wir erleben gegenwärtig in der Tat „das Ende der Geschichte“. Ich knüpfe an diese Formulierung von Fukuyama freilich an, ohne dessen Ansatz zuzustimmen.
Fukuyama denkt Geschichte hegelianisch als "Weltgeschichte". Wäre
ich nur Luhmannianer, würde ich sagen, wir wissen nichts darüber. Meine Meinung ist hingegen, dass statt eines objektiv sich vollziehenden
Sinnprozesses, an dem sich linke wie rechte Fortschrittskonstruktionen
festmachten, so etwas wie eine natürlich-kulturelle Evolution mit nicht
rückholbaren Ergebnissen erlaubt, zwischen mehr oder weniger plausiblen Hypothesen zu entscheiden (auch wenn dies wieder eine Konstruktion ist).
Geschichte ist also am Ende, ebenso wie "Politik", "Kultur" und "Religion" am Ende sind: alle diese Konzeptionen gehören in die Neuzeit und
sind mit dieser vergangen. Karl der Große machte noch Heilsgeschichte,
Macchiavelli wollte Geschichte machen, Richelieu, Metternich und Bismarck machten Geschichte, Kissinger hätte dies vielleicht schon lassen
sollen, Rice darf es nicht mehr machen: sie und wir haben etwas anderes zu tun. Die kulturelle Evolution auf unserem Globus hat am Ende der
Neuzeit den Vorhang zugezogen und diesen Sinnhorizont politischen
Handelns zusammengerollt, vor dem sie sich inszeniert hat. Der 11.
September 2001 spielte bereits vor einem anderen Bild. Mit welcher Variante der säkularisierten Heilsgeschichte wir auch das Ziel des historischen Zeitpfeils bestimmen, als ökonomisches Wachstum oder als sozialen Fortschritt: wir wissen, dass es „in Wirklichkeit“ um ein sinnerfülltes
Leben in einem System geht, das wir gemeinsam erhalten müssen.
Natürlich ist dieses neue Weltbild nur in Umrissen erkennbar. Es entfaltet aber bereits seine Erfahrung und Erkenntnis orientierende Wirkung.
Nur aus ihm heraus, nämlich bereits von außen und als vergangen beschreiben wir die neuzeitliche Konstellation von Religion, Kultur und Politik und ihre Vorgeschichte; nur vor einem erweiterten Hintergrund identifizieren wir den neuerlichen Leitmedienwechsel mit seinen typischen
Überlagerungen, und wir können die daraus hervorgehenden nichttrivialen Kontroversen schon in gewohnter Weise auf den Wechsel zweier
sich überlagernder Paradigmen zurückführen. Ich möchte das an zwei
nicht zufällig ausgewählten Beispielen erläutern.
Die entgegengesetzten politischen Bewertungen der Globalisierung
können sich jeweils auf Fakten berufen: Der Abstand zwischen den Ar13
men und den Reichen ist weltweit größer geworden, während zugleich
der Anteil der in absoluter Armut lebenden Menschen weltweit abnahm.
Aber als die Linke die Globalisierung als neoliberalen Mythos zur Rechtfertigung von Deregulierungen darstellte und dies damit begründete, die
Exportquote sei früher größer gewesen, da blendete sie damals noch
nicht sichtbare Zusammenhänge unseres globalisierten Gesellschaftssystems aus, dessen nationale ökonomische Konsequenzen inzwischen
unübersehbar sind. Ihr gemeinsamer Nenner ist die IuK-Technik.8
Anderseits: eine solche Analyse zeigt auch, wo die überlagerten Beziehungen auch im neuen globalen Kontext gültig bleiben. So kann man
Religion und Terror systematisch immer trennen, weil eben diese Trennung, weil Politik für den Terror konstitutiv geblieben ist. Nicht nur das
Wort, sondern die Konzeption entstand in der Französischen Revolution.
Während Dschingis Khan in seinem Expansionskalkül Kultur und Religion nicht unterschied, als er den Schrecken vor seinen Hunnen militärisch einsetzte, während Juden, Janitscharen und Kreuzritter, später die
chinesischen „Boxer“ und indianische Geistertänzer in religiöser Raserei
töteten und starben, während Soldaten in psychischen Ausnahmesituation zu Killern werden, konstruierten die Jakobiner den Schrecken aus
politischem Kalkül, weil sie der religiösen Furcht nicht mehr vertrauten.
Und dieser eiskalte, programmatisch säkularisierte Schrecken, in dem
eine ideologisierte politische Vernunft die Ausschaltung des Mitgefühls
zur Tugend pervertiert, bleibt für die Neuzeit kennzeichnend; nur die systematisierbare Herabwürdigung von Opfern kann zu Massentötungen
und Massakern führen. Und während es neben dem Schrecklichen, das
man den Religionen und Kirchen anlasten muss, eine gut begründete
Tradition religiöser Gewaltlosigkeit gab und gibt, wollte nur die Politik mit
Terror Geschichte machen.
Die neue globale Konstellation nach ihrem Ende kann offensichtlich
durch so etwas wie einen kulturellen Fundamentalismus unterlaufen
werden, der zu weltweit wirksamen politischen Felsteuerungen führen
kann. So analysiert Jalal al-Azm Huntingtons apokalyptische Vision vom
bevorstehenden „clash of civilisations“: „Offensichtlich reduziert Huntington Zivilisation auf Kultur, Kultur auf Religion und Religion auf eine archetypische Konstante. Im Fall des Islam bringe diese einen Homo islamicus hervor, der sich auf einem Kollisionskurs mit dem instinktiv liberalistischen Homo oeconomicus des Westens oder mit dem polytheistischen Homo hierarchicus Indiens befindet.“ Kaum weniger bedrohlich
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Vgl. den Bericht der Enquete-Kommission des Bundestages “Globalisierung der
Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten", Berlin 2002. – Am Auf- und Ab
in der Einschätzung der IuK-Technik, die häufig mit dem Nasdaq-Börsenstand einhergeht, könnte ein weiteres Beispiel ansetzen.
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ist allerdings Fukuyamas von Nietzsche inspirierte Furcht, in einer Weltgesellschaft, in der die Geschichte in Konstellationen liberaler Demokratie an ihr systemisches Ende gekommen sei, könne sich der „Thymos“:
die Gefühlsenergie der „letzten Menschen“ destruktiv entladen, wenn es
nicht gelingt, diese eigentlich religiöse Energie auf „metaphorische Kriege und symbolische Siege“ umzuleiten.
Das sind Schlaglichter auf den Kontext des 11. September 2001. An
Epochenschwellen, das wissen wir, gibt es immer kulturelle Gewinne
und Verluste. In meinen abschließenden Bemerkungen ziehe ich, um die
Diskussion zu eröffnen, ein Fazit, mit dem ich mich im Bewusstsein jener neuen Vereinfachungsgefahren noch einmal auf die beiden Brennpunkte meiner Fragestellung konzentriere: Politik und Religion.
3.2 Noch einmal: Politik und Religion
Politik hat heute eine neue Dimension; sie wird erkennbar als neue Perspektive, in der politische Einzelerscheinungen und Erkenntnisse in einen neuen Sinnzusammenhang treten. Mag dadurch in der jetzigen
Übergangssituation auch das einzelne Faktum noch ein wenig verzerrt
erscheinen, wir können daraus lernen. Dies betrifft zunächst die politischen Akteure. Mit Ausnahme der USA treten Nationalstaaten, wenn
überhaupt, dann überwiegend in Koordinierungszusammenhängen auf
den Plan. Für die UNO selbst ist das Zusammenwirken mit NGOs charakteristisch, und deren institutionalisierten Organisationsformen geraten
wiederum unter Legitimationsdruck durch die Spontanzusammenschlüsse des ATTAC-Netzwerks. Idealtypische „Subjekte politischen Handelns“
– alle diese Begriffe verlieren ihren Sinn – sind Knoten im weltweiten
Netzwerk.
Denn was ist eine typische Aktion, was ist Wirkung in diesem Netzwerk?
Es geht um mediale Resonanzen und Umweltkonstellationen, die Zustimmung erschweren und Reibungskosten erzeugen, die Netzauschlüsse aufheben, neue Verknüpfungspotentiale bereitstellen und so
in einem komplexen gesellschaftlichen Ökosystem Evolutionsbedingungen setzen. Selbstverständlich ist es dabei, mit einem Pluralismus von
Universalisierungskonzepten gewaltfrei umzugehen. „Soft law“, freiwillige
Selbstverpflichtung völlig verschiedener gesellschaftlicher Subjekte: etwa von Behörden, Firmen und Umweltgruppen wird zum Standard, und
die Erkenntnis, dass der Weg das Ziel und dass Legitimität nur durch
Verfahren erreicht wird, liegt schon so weit zurück, dass sie gelegentlich
in Vergessenheit gerät.
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Schließlich enthüllt der nicht zufällig im ökologischen Kontext entstandene Slogan: think global, act local jetzt erst seine Bedeutung. Die Reichweite heutiger Politik im Leitmedium global vernetzter IuK-Technik ist
nicht mehr national oder international, sie ist trans- und intranational zugleich. Sie steht lediglich vor der Alternative, sich langfristig an dieser
Reichweite zu orientieren oder ihre systemischen Rückwirkungen auszublenden, so lange es geht.
Diese neue Dimension war in kulturellen Übergangskonzeptionen von
Kultur vorgezeichnet. Snow wollte aus humanitärer Verpflichtung heraus
weltweit technische Entwicklungshilfe leisten. Huntington schreibt ebenfalls, um einen möglichen Krieg der Kulturen zu verhindern – und er vertraut dabei darauf, dass die „dichten“ Kulturen ein dünnes, aber unzerreißbares Stahlnetz universalistischer Moral beieinander hält. Hans
Küng setzt politisch auf die Weltreligionen als Träger eines solchen Weltethos, und Fukuyama kombiniert am Ende seines Buches den zivilreligiösen Gründungsmythos der USA mit einem Bild aus der christlichjüdischen Apokalypse. Er sieht die einzelnen Nationen in Trecks und
einzelnen Planwagen – westward, ho – auf die Stadt des ewigen Friedens zurollen.
In der Tat, das ist auch meine Überzeugung, im Rahmen unseres neuen
Weltbildes wird mit Politik (und Kultur) auch Religion etwas anderes bedeuten und andere gesellschaftliche Funktionen haben, als das in der
Neuzeit der Fall war. Alle Religionen haben Entwicklungspotentiale, die
längst nicht ausgeschöpft sind. Ich erläutere auch das mit wohl nachvollziehbaren Gründen am Beispiel des Islam. So wenig ich vergessen
will, dass die christliche Theologie des Mittelalters bei der islamischen in
die Schule ging, so entschieden halte ich an meiner Behauptung fest,
dass der Islam in vielen Gesellschaften seine Neuzeitprüfung noch vor
sich hat. Aber was ist, wenn er sie in der Breite bestanden haben wird?
Die prinzipielle Aufhebung des Unterschieds zwischen Klerus und Laien,
zwischen religiöser, rechtlicher und ethischer Sphäre, die Idee der
transnationalen, Herkunfts- und Statusgrenzen überwindende Gemeinschaft: all das hat im Christentum seine kulturellen Wirkungen zwar gewaltig, aber erst spät entfaltet. Und wir Christen müssen daran erinnert
werden, dass die global player von heute auf den Schultern von global
prayern stehen – weil man leider nicht sagen kann, dass jene verweltlichten Akteure deshalb schon weiter blicken, als ihre geistlichen Vorgänger dies taten. Solch ein Säkularisierungspotential hat aber den Islam von Anfang an geprägt, weil er bei seiner Entstehung bereits auf die
Erfahrungen des Juden- und des Christentums zurückgreifen konnte. Er
bewahrt diese Verbundenheit auch in seinen Quellen – und ich sage
das nicht, um Bedrohungsgefühle auszulösen, sondern um Hoffnung zu
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machen, dass wir in einer neuen Weltepoche wieder anknüpfen können
an die großartigen Traditionen eines angstfreien religiösen Dialogs der
Religionen, die ja Gott sei Dank auch niemals völlig abgerissen sind.
Was bleibt? Sicher ist die für die Identität individuellen wie gesellschaftlichen Menschseins konstitutive Aneignung von Orientierungsmusters von
den kulturellen Anfängen an mit heftigen Gefühlen verbunden, die immer
auch „religiös“ waren. Aber in unserer weltgeschichtlichen Umbruchsituation ist jenes Durchbrechen traditionaler Orientierungsvorgaben von
besonderer Bedeutung, das zum gemeinsamen kulturellen Erbe aller
Schriftreligionen gehört. Sie bewirkt das schubweise sich ausdifferenzierende Bewusstsein personaler Identität. Diese kommt aber nicht im blutleeren Formalismus idealistischer Philosophie zu sich selbst, sondern in
den Krisen- und Durchbruchserfahrungen religiöser, wissenschaftlicher
und künstlerischer Kreativität. Hier bezeugen alle Berichte, dass das intensivste Ich-Erlebnis an die Einsicht in Inhalte gebunden ist, die wie ein
Geschenk empfangen werden. Religiöse Metaphern stellen wie von
selbst sich ein.
Dieses Deutungsmuster werden wir – so meine Prognose – in unserer
Umbruchsituation immer wieder verwenden müssen, weil wir ganz regelmäßig in Identitätskrisen geraten werden. Dabei wird wiederum weniger die Überlegenheit westlicher Kultur sich erweisen, sondern dahinter
werden die darin tief angelegten, einander sich überlagernden dynamischen Orientierungspotentiale der jüdisch-christlichen Tradition zu Orientierungskandidaten werden. Mit dem Islam ist diese Tradition durch
die Erfahrung verbunden, dass dabei auch vertiefenden Durchbrüchen,
in denen Welt- und Selbstbilder sich verändern, Durchsetzungsimpulse
beherrscht und Verbundenheitsgefühle bewahrt werden können.
Es ist dieses Verbundenheitsgefühl, das trägt und das aus sich heraus
das Bild einer ganzen Welt entwirft. Schon die Neuzeit griff schließlich
wieder auf die alte Vorstellung von der Welt als Schöpfung zurück, weil
es ihr nicht gelang, den Eigenwert nicht menschlichen Lebens aus sich
heraus zu begründen. Systemisches Denken erschließt nun allerorten
Vernetzungen innerhalb der kosmologischen Evolution, von der die kulturelle ein Teil ist und offenbart psycho-physische Wechselwirkungen, in
denen die alten Behauptungen menschlicher Willensfreiheit sinnlos werden. Wenn jenes religiöse Verbundenheitsgefühl sich äußert, offenbart
es mütterliche und väterliche Züge zugleich. „Ich bin Leben, das leben
will, inmitten von Leben, das Leben will“ – so erschloss es sich Albert
Schweitzer, und er orientierte sich dabei an der weltgeschichtlich wirksamen „Vision des Galiläers“, Jesus von Nazareth, dem sich dieses Leben nicht von unserem Selbstbehauptungswillen eher erschloss, sondern von unserer Fähigkeit, mit anderen zusammenzuleben. Dies be17
gründet Verantwortung. Aber noch tiefer orientierte seine Erfahrung und
seine Erkenntnis, dass wir uns selbst einer „grundlosen“, unverdienten
Liebe verdanken, und dass wir von ihr her neu erfahren können, was
Leben, was die Welt ist und was sie „im Innersten zusammenhält“.
Doch das ist wieder ein eigentlich verlegenes Sprachbild der Neuzeit. In
ihr hat sich das antike und mittelalterliche Weltbild umgestülpt, in dem
Gott draußen „alles in allem“ war und die Raum-Zeit-Welt erkennbarer
und unterscheidbarer Einzelexistenzen gleichsam aus ihm herausgefallen war. Wirklichkeit war geschrumpft zum Bereich innerweltlicher Wirkungen, der Hinweis auf alles andere war in diesem Weltbild symbolisch,
an individuelle Interpretation gebunden. Die „virtuelle Realität“ des Netzes widerspricht dem nicht; die Bedeutung neuzeitlicher Erfahrungen ist
aber im Weltbild unserer Epoche in jedem Sinn aufgehoben, und sie relativiert sich dadurch. Daher werden wir vermutlich auch die Paradoxien
ethischen, politischen Engagements in komplexen Systemen besser ertragen können. Wir wissen, dass in ihnen die nicht intendierten Nebenfolgen unseres Handelns Gestalt annehmen werden – und wir müssen
dieses dennoch an Informationen und Zielen orientieren. Die tröstliche
Gewissheit wird dann praktisch werden, dass unsere guten Intentionen
unabhängig vom Erfolg aufgehoben bleiben im Gedächtnis Gottes.
Weil wir die Schwelle in eine neue weltgeschichtliche Epoche überschritten haben, erschlossen die Fernsehbilder des 11. September 2001
einigen von uns ja auch bereits die religiöse Wahrheit eines anderen Bildes wieder, das in der Neuzeit zur Metapher verblasst war: Die Opfer
des 11. September konnten nicht tiefer fallen als in die Hand Gottes.
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