SozGg06/02/01

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Sozialgeographie
© Peter Weichhart, 2003
M 06/02
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Wir haben im letzten Modul ein einfaches
handlungstheoretisches Modell der MenschUmwelt-Interaktion besprochen und dabei einige
der Grundbegriffe und Grundkonzepte der
Handlungstheorie kennen gelernt. Wir haben
gesehen, dass die Handlungstheorie gegenüber
den älteren Ansätzen der Sozialgeographie
zweifellos eine Reihe von Vorzügen aufweist.
Fassen wir noch einmal kurz zusammen, worin
die wichtigsten Stärken dieses Paradigmas liegen.
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Eine klar erkennbare Verbesserung ergibt sich
durch das neue Menschenbild. # Mit den
handlungstheoretischen Ansätzen kann die
Sozialgeographie ein realitätsangemesseneres
und der Komplexität menschlicher Existenz
entsprechenderes Menschenbild übernehmen, bei
dem auch die Bedeutung subjektiver Rationalität
und Kausalität angemessen berücksichtigt ist.
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# Der zweite entscheidende Vorzug besteht drin,
dass es möglich und erforderlich ist, sich auf
systematische Weise mit den für den Menschen
so fundamentalen Phänomenen Sinn und Wert zu
befassen. Die Bedeutung dieser normativen
Grundstrukturen menschlicher Weltsicht als
Steuergrößen und eigentlich entscheidende
Determinanten menschlichen Tuns sowie deren
selbstreferenzielle Dynamik kann bisher nur von
der Handlungstheorie angemessen erfasst
werden.
#
Der
wohl
wichtigste
Vorzug
der
Handlungstheorie besteht darin, dass mit ihrer
Hilfe der soziale Kontext
menschlicher
Tätigleiten berücksichtigt werden kann. Im
Rahmen dieses Paradigmas wird es möglich, die
sozial
mitbedingte
Entstehung
von
Wertkonfigurationen,
die
Einbindung
von
Individuen und Gruppen in den Kontext des
übergeordneten sozialen Systems und die
sozialen Bedingungsfelder menschlichen Tuns auf
dem
Weg
über
humanteleologische
Erklärungsmodelle darzustellen. Damit kann die
Sozialgeographie eine definitiv und dezidiert
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gesellschaftstheoretische
Perspektive
übernehmen und sich endlich konsequent in den
Kanon der Sozialwissenschaften einordnen. Damit
wird es ihr auch möglich, aus dem reichen Fundus
sozialwissenschaftlicher Theorien zu schöpfen.
# Da viertens im Rahmen dieses Modells aber
auch das menschliche Einzelindividuum, die
Person und Persönlichkeit des Handlungsträgers
ausdrücklich
thematisiert
ist,
ergibt
sich
gleichzeitig die große Chance, einerseits auch
endlich Zugang zu psychologischen Theorien zu
finden. Andererseits ergibt sich die Notwendigkeit,
eine Integration von gesellschaftstheoretischen
und
mikroanalytisch-individualtheoretischen
Perspektiven anzustreben und zu realisieren.
Diesen letztgenannten Punkt müssen wir im
Folgenden noch etwas ausführlicher besprechen.
Wir haben schon darauf hingewiesen, dass
empirische Arbeiten innerhalb dieses Paradigmas
in der Sozialgeographie noch recht selten sind.
Das liegt unter anderem daran, dass eine
handlungstheoretisch konzipierte Untersuchung
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nur mit großem Aufwand operationalisierbar ist.
Aus den Überlegungen im letzten Abschnitt kann
abgeleitet werden, dass auch kognitive Prozesse
und die Entwicklung appraisiv-designativer Mental
Maps
in
Zusammenhang
mit
konkreten
Handlungsabläufen stehen. Die Welt wird im
Handeln erfahren. Dies bedingt, dass bereits die
Grundkonzeption einer empirischen Untersuchung
auf die Handlungsrelevanz von Analyseeinheiten
Rücksicht nehmen muss. Wir haben darauf bei
der Besprechung von Untersuchungen zum
Thema Wohnsitzpräferenzen schon hingewiesen.
Es macht wenig Sinn, Wohnsitzpräferenzen von
Probanden erfragen zu wollen, die zum Zeitpunkt
der Befragung gar keine Wohnung suchen.
Relevante Antworten könnte man nur dann
erwarten, wenn die Inhalte einer Befragung mit
der aktuellen Lebenssituation und dem aktuellen
Handlungskontext
der
Probanden
korrespondieren.
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Im Folgenden soll noch kurz besprochen werden,
welche „konzeptionellen Bausteine“ erforderlich
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sind,
um
das
Paradigma
einer
handlungstheoretischen
Sozialgeographie
inhaltlich so zu entwickeln, dass substanzielle
empirische Ergebnisse erzielt werden können.
# Ein wichtiger Aspekt ist hier die Entwicklung
eines Beschreibungsrasters, mit dessen Hilfe die
Vielzahl
menschlicher
Handlungen
nach
Ähnlichkeiten zusammengefasst und in ihren
charakteristischen Verlaufsformen dargestellt
werden können. Erforderlich wäre also eine Art
formaler
und
inhaltlicher
Typologie
von
Handlungen.
# Ein besonders zentraler Punkt ist die
Einbindung der konzeptionellen Grundlagen einer
handlungstheoretischen Sozialgeographie in die
generelle und aktuelle „Sozialtheorie“ der
Sozialwissenschaften.
Besonders
wichtig
erscheint hier die Verknüpfung von Mikro- und
Makroperspektive der Sozialwissenschaften. Hier
bietet sich besonders die „Strukturationstheorie“
des britischen Soziologen Anthony GIDDENS an,
die wir im Folgenden kurz besprechen werden.
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Für
diesen
zweiten
Bereich
ist
die
innergeographische
Entwicklungsarbeit
am
weitesten vorangeschritten. Insbesondere in den
Veröffentlichungen von Benno WERLEN liegt hier
eine elaborierte Grundlage vor, die als solides
Fundament
der
handlungstheoretischen
Sozialgeographie gelten kann. Offen ist allerdings
noch die Möglichkeit, neben GIDDENS noch
andere Konzeptionen von Handlungstheorie für
die Sozialgeographie nutzbar zu machen. Hier
werden wir im Folgenden in sehr knapper Form
die
„Symbolische
Handlungstheorie“
des
Kulturpsychologen Ernst Emmerich BOESCH
ansprechen.
# Als dritten großen konzeptionellen Baustein der
handlungstheoretischen Sozialgeographie möchte
ich die Entwicklung paradigmenspezifischer
Raumkonzepte anführen. Hier hat Benno
WERLEN mit seinen Konzepten der „alltäglichen
Regionalisierungen“ und des „Schauplatzes“
ebenfalls schon wichtige Impulse geliefert. Es sind
aber gerade in diesem Bereich noch besonders
viele Fragen offen. Besonders interessant
erscheint hier die Möglichkeit, das Konzept des
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„Schauplatzes“ (GIDDENS spricht von „locale“)
durch das umweltpsychologische Konzept des
„behavior settings“ zu ergänzen und inhaltlich zu
konkretisieren (vergl. P. WEICHHART, 2003).
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Wie kann man Handlungen eigentlich formal und
inhaltlich beschreiben? Lassen sich Handlungen
in inhaltlicher oder funktionaler Sicht zu
bestimmten
Klassen
oder
Typen
zusammenfassen? Wie bekommt man so etwas
wie Ordnung und Generalisierbarkeit in die Vielfalt
menschlichen Tuns?
# Eine erste Möglichkeit besteht vielleicht darin,
„lebensweltliche“ # und „professionalistische“
Handlungstypen
zu
unterscheiden.
Lebensweltliche Handlungen oder Alltagshandeln
stellen menschliches Tun dar, das im Vollzug der
alltäglichen Existenz abläuft. Demgegenüber
werden professionalistische Handlungen als
„theoriegeleitetes Tun“ aufgefasst. # Tatsächlich
ist
aber
auch
Alltagshandeln
auf
Wissensbestände abgestützt, deren Inhalte man
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als „lebensweltliche Theorien“ bezeichnen könnte.
Einerseits handelt es sich hier um diskursives
Wissen, also ein Wissen, das gelehrt werden
kann, sprachlich artikuliert wird und auch
schriftlich kodifiziert sein kann – in Texten
gespeichert ist und über die Zeit transportiert wird.
In sehr erheblichem Maße beziehen sich
lebensweltliche
Theorien
auch
auf
„Wissensbestände“, die man als „tacit“ oder
„implicit
knowledge“
bezeichnet.
Auch
Alltagshandeln
ist
also
„theoriegeleitet“,
wenngleich die hier relevanten Theorien eine
andere Form und andere Inhalte aufweisen, als
wir es von „wissenschaftlichen“ oder technischen
Theorien gewohnt sind. # Letztere sind für das
professionalistische Handeln bedeutsam.
Um Handlungen als analytisch fassbare Einheiten
von Geschehensströmen darstellen zu können,
erscheint es sinnvoll, sie nach Zusammenhängen
zu strukturieren, die aus der Sicht des Akteurs
oder Handlungsträgers als kognitive Einheiten
darstellbar sind. Dazu bietet sich das Konzept des
# „Projekts“ an. Dieses Konzept wurde
ursprünglich im Rahmen der Zeitgeographie des
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schwedischen
Geographen
Torsten
HÄGERSTRAND und seiner Schule entwickelt.
(Wir werden noch sehen, dass HÄGERSTRAND
eine wichtige Rolle für die Entwicklung der
handlungstheoretischen Sozialgeographie spielt.
Er ist einer der wenigen Geographen, deren
theoretische Konzepte von Nachbardisziplin
Soziologie ernsthaft rezipiert wurde. So hat
Anthony GIDDENS in seiner Strukturationstheorie
ausdrücklich und intensiv auf die Zeitgeographie
HÄGERSTRANDs Bezug genommen.)
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Socienties” (1982) auf Seite 48. (Ich übersetze die
Stelle gleich.)
Parallel dazu und ohne gegenseitige Bezugnahme
ist das handlungstheoretische Konzept des
„Projekts“ zeitgleich aber auch in der Psychologie
von Brian B. LITTLE entwickelt worden.
# Unter einem Projekt versteht man Sequenzen
zukunftsbezogener Aktivitäten von Individuen und
Gruppen, die zur Erreichung eines vordefinierten
Ziels oder Ergebnisses geplant und durchgeführt
werden. Als Ergebnis ihrer Durchführung
entstehen
irgendwelche
Systemzustände,
Produkte, soziokulturelle Outputs. Die mit
Projekten verknüpften Aktivitäten müssen auf
Ressourcen zurückgreifen. Sie beanspruchen
Zeit,
nutzen
Raum-Zeitstrukturen
von
Siedlungssystemen,
Energie,
Materialien,
Werkzeuge, andere Menschen und verschiedene
andere Einrichtungen oder Gegebenheiten.
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Der
HÄGERSTRAND-Schüler
Tommy
CARLSTEIN hat 1982 eine sehr einprägsame
Definition des Projekt-Begriffes vorgelegt. Es
findet sich in seinem Buch „Time Resources, Society and Ecology. On the Capacity for Human Interaction in Space and Time. Vol. 1. Preindustrial
Auch in der Sozialpsychologie werden seit Anfang
der
1980er
Jahre
übergeordnete
Handlungseinheiten als „personal projects“
bezeichnet. Dieses Konzept wurde mit dem
ausdrücklichen Ziel entwickelt, eine adäquate
Analyseeinheit für die Darstellung von Individuum-
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Umwelt-Interaktionen
bereitzustellen.
Ein
besonderer Vorteil des Konzepts besteht darin,
dass es als interaktive Messkategorie die
Persönlichkeitsmerkmale
und
Wertekonfigurationen von Handlungsträgern mit
dem zeitlichen, räumlichen, sozialen und
instrumentellen Kontext des Handlungsgefüges in
Verbindung bringt. Nach Brian B. LITTLE lässt
sich ein Projekt folgendermaßen definieren (ich
übersetze gleich):
# Ein „persönliches Projekt“ wird als Menge
zusammengehöriger oder aufeinander bezogener
Handlungsakte angesehen, die sich über die Zeit
hin erstrecken. Mit diesen Akten wird das Ziel
verfolgt, einen bestimmten Zustand zu erreichen,
der vom Individuum antizipiert und vorhergesehen
wird. In persönlichen Projekten kommen
kognitiven, affektive und tätigkeitsbezogene
Aspekte menschlichen Tuns zum Ausdruck.
Daher sind sie besonders gut als integrale
Untersuchungseinheiten
in
der
Persönlichkeitsforschung geeignet. Sie stellen
gleichsam natürliche Interaktionseinheiten dar, in
denen
typischerweise
die
aktive
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Auseinandersetzung von Einzelpersönlichkeiten
mit ihrer Umwelt in einem spezifischen zeitlichen
Kontext zum Ausdruck kommen. Als analytische
Untersuchungseinheiten
stellen
persönliche
Projekte den jeweiligen Handlungsträger in einen
raum-zeitlichen
Zusammenhang
konkreter
Rahmenbedingungen.
Persönliche Projekte sind also exakt auf die
kognitiven Strukturen individueller und gruppenoder
kulturspezifischer
Welterfahrung
und
Sinnfindung zugeschnitten.
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Projekte sind also Vehikel der Zielerreichung oder
des Strebens nach einem Ziel. Sie besitzen damit
auch eine ihnen innewohnende Prägekraft für
konkrete Handlungsvollzüge. Man könnte von den
„positiven Zwängen“ eines Projekts sprechen. #
Projekte
„kanalisieren“
gleichsam
die
Handlungsvollzüge, lenken sie in eine bestimmte
Richtung, haben eine allokative Kraft. # Wenn
einmal eine Entscheidung zur Verfolgung eines
bestimmten Zieles getroffen wurde und die
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erforderliche
Handlungssequenz
begonnen
wurde, dann zwingt diese Entscheidung dazu, den
begangenen Weg weiter zu schreiten. Dies ist
schon deshalb einleuchtend, weil ansonst die
bereits getätigten „Investitionen“ an Arbeit und
Material verloren oder entwertet wären. Nehmen
wir als Beispiel einen Bauern, der gerade seine
Feldfrüchte ausgesät hat und damit einen Schritt
zur Erreichung seines Produktionsziels gesetzt
hat. Er ist nun durch seine eigene Wahl und seine
eigene Entscheidung dazu genötigt, die
notwendigen
Feldund
Pflegearbeiten
weiterzuführen, bis die Ernte eingebracht ist.
Denn wenn er das nicht tut, wird er sein Ziel nicht
erreichen und überdies werden die bislang
getätigten
Arbeiten
nutzlos,
das
bisher
eingesetzte Kapital und Material wären verloren.
Er könnte auch nicht irgendwann im späteren
Frühjahr auf die Idee kommen, jetzt andere
Feldfrüchte auszuwählen und sein Produktionsziel
nachträglich zu verändern. Denn der Zeitpunkt der
Aussaat ist in der Zwischenzeit verpasst.
# Projekte legen die Synchorisation und die
Synchronisation der Einzelelemente, Mittel und
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Beteiligten einer Handlungssequenz fest. Die
Einzelteile einer Handlungssequenz, in die ja
andere
Personen,
Werkzeuge,
Hilfsmittel,
Institutionen etc. einbezogen sind, müssen wie die
Zahnräder
einer
komplizierten
Maschine
ineinander
greifen,
perfekt
aufeinander
abgestimmt sein, damit das Gesamtprojekt
vorangetrieben und realisiert werden kann. Ein
Beispiele für eine solche Synchorisation und
Synchronisation: Sie können ein Studium nur an
einem
Hochschulort
und
während
einer
bestimmten Zeitperiode beginnen, nämlich
innerhalb der Inskriptionsfrist am Semesterbeginn.
Und
Sie
müssen
(zumindest
bei
der
Immatrikulation) persönlich anwesend sein. Es ist
also eine „Kopräsenz“ mit anderen Akteuren eines
bestimmten Handlungssystems erforderlich. Die
Realisierung bestimmter Ziele, die Ausführung
von bestimmten Handlungen setzen voraus, dass
die Interaktionspartner eines Projekts gleichzeitig
am gleichen Ort zusammenkommen. Wenn ich
etwas kaufe, dann muss ich in der Regel
persönlich mit dem Verkäufer im Geschäft
zusammentreffen.
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Natürlich
gibt
es
im
Zeitalter
der
Telekommunikation auch vielfältige Möglichkeiten,
diese Kopräsenz zu umgehen: Teleshopping,
Internetshopping oder Versandhandel sind
geläufige Beispiele. Der weitaus überwiegende
Anteil aller derartigen Interaktionsbeziehungen
findet aber auch heute unter den Bedingungen
einer körperlichen Kopräsenz statt.
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Aus diesen Hinweisen und Beispielen wird auch
klar, welche wichtige Rolle dem Raum in der
Handlungstheorie zukommt. Erstmals ist hier eine
anspruchsvolle sozialwissenschaftliche Theorie
entstanden, in der räumliche Gegebenheiten,
Anordnungsmuster und Konstellationen nicht
einfach ausgeblendet, als unerhebliches Beiwerk
vernachlässigt
oder
bestenfalls
als
Rahmenbedingung interpretiert werden. # In den
Handlungstheorien wird „Raum“ vielmehr als
unabdingbarer Bestandteil, funktionales oder
instrumentelles Element bzw. „Werkzeug“ von
Handlungsvollzügen
fassbar.
#
Es
wird
ausdrücklich thematisiert, dass Handlungen auch
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„Schauplätze“ haben, an bestimmten Orten
stattfinden. Diese Schauplätze (A. GIDDENS
spricht von „locales“) sind „regionalisiert“, sie
werden
in
Bezug
auf
bestimmte
Handlungselemente in sozial definierte funktionale
Teilabschnitte gegliedert. Wir werden darauf noch
näher eingehen.
Aus Zeitgründen können wir eine Reihe von
Fragen zur Handlungstheorie jetzt nicht mehr
besprechen:
etwa
die
Typisierung
von
Handlungen nach ihrem Komplexitätsgrad, die
Zusammenhänge zwischen Lebensstilen und
Handlungstypen
oder
etwas,
das
man
„Handlungsgrammatik“ nennen könnte. Darunter
wäre gleichsam die „Syntax“ von Handlungen zu
verstehen.
(Handlungen
können
einen
kommunikativ-diskursiven
Interaktionsstil
aufweisen oder autoritär strukturiert sein;
partnerschaftlich,
gruppenbezogen
oder
individualistisch geprägt sein, eine offensive oder
eine defensive Struktur aufweisen etc.)
Der
WERLENsche
Entwurf
einer
handlungstheoretischen Sozialgeographie basiert
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in starkem Maße auf der Strukturationstheorie des
britischen Soziologen Anthony GIDDENS. Zum
Verständnis der Entwürfe und Konzepte
WERLENs müssen wir uns zumindest mit den
Grundzügen der Strukturationstheorie vertraut
machen.
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# Anthony GIDDENS, Jahrgang 1938, ist der
bekannteste
und
einflussreichste
britische
Soziologe der Gegenwart. Seine Bekanntheit
stützt sich nicht nur darauf, dass er in der
Politikberatung (für Tony BLAIR) tätig ist, sondern
auch
auf
eine
sehr
umfangreiche
Publikationstätigkeit. Er schreibt pro Jahr etwa
zwei Bücher. Er promovierte an der London
Schiool of Economics and Social Politics (LSE).
1969 ging er als Dozent an die Universität von
Cambridge und als Fellow an das dortige King’s
College. 1985 wurde er Professor am Social and
Political Commitee der Universität Cambridge, seit
1997 ist er Direktor der London School of
Economics. Seine theoretischen Schriften werden
weit über die Soziologie hinaus rezipiert.
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Wenn man sein theoretisches Werk auf
kürzestmögliche Weise charakterisieren sollte,
dann müsste man wohl das Folgende sagen: #
Die soziologischen Theorien, wie sie Laufe des
letzten Jahrhunderts entwickelt wurde, folgt im
Wesentlichen zwei kontrastierenden Denkschulen:
einer kollektivistisch-strukturellen und einer
individualistisch-interpretativen
Gruppe
von
Ansätzen. (Wir haben darauf schon mehrmals
hingewiesen.) Die erste Gruppe konzentriert sich
auf soziale Strukturen und vertritt eine
systemtheoretisch-funktionalistische Auffassung,
bei das Primat des Sozialen vor dem Individuellen
ausdrücklich betont wird. Strukturalismus und
Funktionalismus betonen also den Vorrang des
gesellschaftlichen Ganzen vor seinen individuellen
Teilen. Als besonders wichtigen Klassiker dieser
Richtungen könnte man stellvertretend für viele
andere Talcot PARSONS nennen.
Demgegenüber
betonen
die
sogenannten
interpretativen Richtungen der Soziologie den
Vorrang des handelnden Individuums, des
handelnden Subjekts, aus dessen sinnbezogenem
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Tun so etwas wie soziale Strukturen erst
entstehen können. Max WEBER oder Alfred
SCHÜTZ können als Klassiker dieser Richtungen
angesehen werden, die methodologisch auf der
Phänomenologie und der Hermeneutik basieren.
Diese beiden Hauptrichtungen der Soziologie
haben sich in strenger Konkurrenz zueinander
entwickelt und erscheinen ihren jeweiligen
Vertretern
als
absolut
inkompatibel
und
unvereinbar.
Beide Richtungen sind aber auch mit Problemen
konfrontiert, weisen Defizite und Schwachstellen
bei ihren Erklärungspotentialen auf. Die
kollektivistisch-systemtheoretischfunktionalistischen Richtungen vermögen nicht zu
erklären, wie in einer grundlegend sozial
konstruierten Welt so etwas wie menschliche
Individualität und Persönlichkeit entstehen kann,
und wie andererseits durch das subjektive Wirken
herausragender
Einzelpersönlichkeiten
gesellschaftliche Gegebenheiten tief greifend
verändert werden können. Sie sind damit auch
nicht im Stande, die Einmaligkeit einer
menschlichen
Person
auszuloten.
Die
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subjektivistisch-interpretativen
Richtungen
scheitern
letztlich
am
Unvermögen,
Intersubjektivität begründen und funktionale
Strukturen sozialer Systeme erklären zu können.
Diese Spaltung, dieser Dualismus findet natürlich
auch in den anderen Sozialwissenschaften ihren
Niederschlag. Die empirisch vorfindbare Praxis
der Sozialgeographie, die wir in wesentlichen
Bereichen bereits kennen gelernt haben, ist
letztlich ein Spiegelbild dieser Situation: den
funktionalistischen
und
strukturtheoretischen
Ansätzen
der
makroanalytischen
(WienMünchener-Schule, Raumstrukturforschung) und
der gesellschaftstheoretischen Sozialgeographie
stehen die mikroanalytischen Ansätze weitgehend
unverbunden
und
gleichsam
dichotomisch
gegenüber.
Genau dieser Dualismus zwischen dem in seiner
Ausschließlichkeit
unangemessenen
Objektivismus der kollektivistischen Richtungen
und dem ebenso unangemessenen reinen
Subjektivismus der interpretativen Soziologie ist
der Ausgangspunkt von GIDDENS’ Kritik an der
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Theorie der gegenwärtigen Sozialwissenschaft. #
GIDDENS wendet sich, wie er einmal sehr
pointiert formuliert hat, gegen den jeweils
orthodoxen Imperialismus sowohl der strukturellsystemtheoretischen Perspektive als auch der
interpretativen Perspektive. Er will die bestehende
Lücke zwischen dem sozialen Objekt und dem
Subjekt endlich schließen und damit die
makroanalytischen und die mikroanalytischen
Ansätze der Soziologie in einem theoretischen
Gesamtkonzept integrieren. #
Es ist sein
ausdrückliches Ziel, den Dualismus zwischen dem
sozialen System und dem handelnden Individuum
aufzuheben und als nur scheinbaren Gegensatz
zu entlarven.
In methodologischer Hinsicht bedeutet diese
Zielsetzung die Überwindung des Dualismus von
strukturell-kausalistischen Verfahren auf der einen
und von interpretativ-teleologischen Verfahren auf
der anderen Seite. Das ist die Hauptstoßrichtung
der GIDDENSschen „Theorie der Strukturierung“.
Die englische Erstveröffentlichung erschien 1984
unter dem Titel „The Constitution of Society.
Sozialgeographie M 06/02
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Outline of the Theory of Structuration”. Die
deutsche Übersetzung erfolgte 1988.
Erinnern Sie sich bitte an unsere Beurteilung der
verschiedenen parallelen Entwicklungen in der
Sozialgeographie. Wir haben konstatiert, dass alle
besprochenen Ansätze in irgendeiner Form
inkomplett sind, alle weisen Schwachstellen und
Defizite auf. Genau deshalb ist dieser Versuch
GIDDENS’ zu einer Überwindung der Dichotomie
zwischen Kollektivismus und Individualismus für
die Sozialgeographie so interessant.
SozGg06/02/10
Das zentrale Konzept, der Schlüsselbegriff der
Strukturationstheorie, ist die Dualität der Struktur
(duality of structure). In einer einfachsten
Darstellung zusammengefasst meint GIDDENS
damit Folgendes: # Handelnde und Struktur, also
individuelle menschliche Akteure und soziale
Systeme dürfen nicht als polare Gegensätze oder
als Dualismus verstanden werden. Sie stellen
vielmehr
Momente
ein
und
derselben
soziokulturellen Wirklichkeit dar und stehen in
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einem dialektischen Vermittlungsprozess. Soziale
Strukturen werden nur über konkrete Handlungen
existent und können nur im Handlungsvollzug
produziert
und
reproduziert
werden.
Gesellschaftliche Strukturen werden also durch
das menschliche Handeln konstituiert und sind
gleichzeitig das Medium dieser Konstituierung.
Die soziale Welt entsteht nach GIDDENS also in
konkreten Interaktionssituationen und sie ist
gleichzeitig die Voraussetzung für die Existenz der
individuellen menschlichen Handlungsfähigkeit.
Ohne handelndes Subjekt kann soziale Struktur
gar nicht existieren und schon gar nicht
reproduziert werden. # Ohne soziale Struktur ist
die Existenz menschlicher Akteure als individuelle
Personen gar nicht denkbar. Diesen dynamischen
Prozess der Strukturerzeugung nennt GIDDENS
„Strukturierung“.
Natürlich ist es im Rahmen dieser VL nicht
möglich, hier auch nur die wichtigsten Grundzüge
der Theorie der Strukturierung darzulegen. Eine
sehr komprimierte Zusammenfassung oder
Kürzestversion in Form von 10 Theoremen findet
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sich in seinem Buch „A Contemporary Critique of
Historical Materialism. Vol. 1, Power, Property and
the State“ aus dem jahr 1981. Eine sehr knappe
Darstellung der Strukturationstheorie hat Anette
TREIBEL in ihrem Lehrbuch „Einführung in
soziologische
Theorien
der
Gegenwart“
(erschienen in 5. Auflage, 2000) vorgelegt, deren
Ausführungen ich im Folgenden in veränderter
und gekürzter Form übernehme.
SozGg06/02/11
Bereits das Menschenbild, das GIDDENS in
seiner Theorie entwirft, verweist auf seinen
Anspruch, den Dualismus von Mikro- und
Makrotheorie
zu
überwinden.
GIDDENS’
menschliche Wesen sind sich ihrer selbst
bewusst, aktiv und selbstreflexiv: # „Die
Handelnden oder Akteure ... besitzen als
integralen Aspekt dessen, was sie tun, die
Fähigkeit, zu verstehen, was sie tun, während sie
es tun“ (1988, S. 36). # Akteure besitzen also die
Fähigkeit zur Reflexivität und Selbstreflexivität.
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Durch die ständige oder häufige Anwesenheit von
anderen Menschen, mit denen ein Akteur
interagiert, entstehe so etwas wie eine besondere
Vertrautheit und Seinsgewissheit. # Diese durch
wechselseitige Interaktionen gekennzeichnete
Situation des gleichzeitig am gleichen Ort
Zusammenseins nennt GIDDENS „Kopräsenz“.
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Als „Gegenbegriff“ oder komplementäres Konzept
zum Handeln setzt GIDDENS den Begriff
„Struktur“ ein. # Unter „Strukturen“ versteht
GIDDENS die „Regeln und Ressourcen“, die in
die Produktion und Reproduktion sozialer
Systeme eingehen. # „Strukturen sind die
institutionellen, dauerhaften Gegebenheiten, mit
denen die Individuen konfrontiert werden, in
denen sie sich „bewegen“ und mit denen sie
„leben“ und sich auseinandersetzen müssen“ (A.
TREIBEL, S. 244). Eine Universität oder eine
Lehrveranstaltung ist beispielsweise so eine
Struktur.
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# Strukturen werden erst im Handeln real.
Akteure beziehen die Strukturen in ihr Handeln
ein, die Strukturen verleihen dem Handeln
Sicherheit und Kontinuität. TREIBEL führt als
Beispiel ein Seminar an: „So wissen die
Studierenden über ein Seminar, dass es
eineinhalb Stunden dauert, zu Anfang und Ende
jedoch gewisse Spielräume existieren (verspäteter
Beginn und verzögertes, „ausfransendes“ Ende)
oder dass z. B. nicht um Erlaubnis gefragt werden
muss, wenn man zur Toilette geht oder sich einen
Kaffee holen will. Die Beteiligten kennen die
Regeln und halten sich daran, haben aber auch
einen Gestaltungsspielraum“ (S. 244/5).
SozGg06/02/13
Strukturen bestehen – wir haben es schon
fetsgehalten – aus Regeln und Ressourcen. #
Unter Regeln versteht GIDDENS die Techniken
und Verfahren, die im praktischen Bewusstsein
zum Ausdruck kommen. Das praktische
Bewusstsein ist das meist nicht reflektierte und
problematisierte Wissen der Akteure über soziale
Zusammenhänge, Prozesse und Gegebenheiten.
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Es ist eine Art Alltagswissen über die
Funktionsweise der sozialen Welt. # Ressourcen
sind nach GIDDENS die Hilfsmittel, die zusätzlich
zu den Regeln notwendig sind, um soziale
Systeme herzustellen und zu erhalten. Sie dienen
also der Produktion und Reproduktion von
Systemen.
# Struktur ermöglicht Handeln, bietet Orientierung
für
die
Bewältigung
des
alltäglichen
Lebensvollzugs
und
definiert
die
Rahmenbedingungen
individueller
Handlungsoptionen.
#
Gleichzeitig
setzen
Strukturen damit die Grenzen unseres Handelns
fest und führen damit zu einer gewissen
Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit menschlicher
Handlungssysteme.
Für GIDDENS entspricht „Struktur“ genau dem,
was in der makroanalytischen Soziologie als
„System“ bezeichnet wird: es handelt sich um
überindividuelle soziale Entitäten. Während bisher
aber Handeln und soziale Systeme als polare
Gegensätze aufgefasst wurden, behauptet
GIDDENS, dass beide als komplementäre
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Aspekte derselben Sache angesehen werden
müssen.
SozGg06/02/14
Er ersetzt damit den früher gängigen Dualismus
von Individuum und Gesellschaft durch die
Dualität von Handlung und Struktur (häufig
spricht er auch nur von „Dualität der Struktur“).
Seine zentrale These lautet also (1988, S. 290):
# „Die Begriffe ;Struktur’ und ;Handeln’
bezeichnen
so
die
allein
analytisch
unterschiedenen Momente der Wirklichkeit
strukturierter
Handlungssysteme.
Strukturen
selbst existieren gar nicht als eigenständige
Phänomene räumlicher und zeitlicher Natur,
sondern immer nur in der Form von Handlungen
und Praktiken menschlicher Individuen. Struktur
wird immer nur wirklich in den konkreten
Vollzügen
der
handlungspraktischen
Strukturierung sozialer Systeme...“
Strukturen sind also die Voraussetzung sozialer
Interaktionen und gleichzeitig ihr Ergebnis.
Sozialgeographie
© Peter Weichhart, 2003
M 06/02
WS0304
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FRAGEN?
SozGg06/02/15
Während in den meisten anderen soziologischen
Theorien Zeit und (vor allem) Raum weitgehend
vernachlässigt werden, stellt GIDDENS den
konstitutiven
Charakter
dieser
beiden
Dimensionen für soziale Gegebenheiten und
Handlungsprozesse in aller Deutlichkeit heraus.
Dabei beruft er sich auf den schwedischen
Geographen Torsten HÄGERSTRAND und den
Soziologen Erving GOFFMAN. # Als (für die
Sozialgeographie besonders relevante) Innovation
geht GIDDENS ausdrücklich von der These aus,
dass Raum-Zeit-Beziehungen eine fundamentale
und konstitutive Bedeutung für die Produktion und
Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens
besitzen.
# GIDDENS unterscheidet drei Formen der
Räumlichkeit. # 1.) Die Regionen. Darunter kann
man funktional beschreibbare Bereiche von
Handlungsbühnen verstehen. Mit GOFFMAN
Sozialgeographie M 06/02
B - 15 –
lassen sich zum Beispiel „vorderseitige“ und
„rückseitige“
Bereiche
von
Regionen
unterscheiden. In einem Restaurant wäre der
Gastraum eine vorderseitige, die Küche und die
Arbeitsräume eine rückseitige Region. In einer
Wohnung sind das Vorzimmer und das
Wohnzimmer „vorderseitige“, Schlafzimmer oder
Abstellräume „rückseitige“ Bereiche. ...
# 2.) Die räumlichen Aspekte des Körpers und
seiner Bewegung in Zeit und Raum # und 3.) die
örtlichen Gegebenheiten und Bindungen von
Institutionen und Konventionen. Damit ist das
Faktum gemeint, dass bestimmte Handlungen in
der Regel immer auch an bestimmten Orten
stattfinden. Ehen werden zum Beispiel meist auf
dem Standesamt und/oder in der Kirche
geschlossen, Gerichtsverhandlungen finden im
Gerichtssaal statt etc. Es gibt generalisierbare
Zusammenhänge
zwischen
alltäglichen
Handlungen und den Orten, an denen sie
stattfinden.
Sozialgeographie
© Peter Weichhart, 2003
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Sozialgeographie M 06/02
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Als Bezeichnung für die spezifischen Schauplätze
von Handlungen führt GIDDENS – wie bereits
erwähnt – den Begriff „locale“ ein.
strukturelle Praxis sozialer Systeme verknüpft die
Zeitlichkeit der durée der alltäglichen Lebenswelt
mit der „longue durée“ von Institutionen.
Ähnliche Zusammenhänge können für die
Zeitlichkeit sozialer Gegebenheiten festgehalten
werden.
# Räumlichkeit und Zeitlichkeit verdeutlichen,
dass gesellschaftliche Strukturen für den
individuellen Akteur gleichermaßen im Sinne von
Chance oder Ermöglichung, aber auch im Sinne
von Zwängen oder Constraints zu sehen sind.
SozGgM06/02/16
Unter Bezug auf den Philosophen Henri
BERGSON und den Anthropologen Lévi-Strauss
unterscheidet GIDDENS drei Formen oder
„Schichten“ von Zeitlichkeit: # 1.) den Lebenslauf
bzw. die zeitliche Struktur, die sich aus dem
unmittelbaren Interaktionszusammenhang bei den
Sozialkontakten der Akteure ergibt, # 2.) die
tagtägliche Wiederholung sozialer Aktivitäten, die
als „durée“ bezeichnet wird und # 3.) die „longue
durée“ der Institutionen. Damit sind die
Zeitrhythmen und Lebenszyklen von Institutionen
gemeint. Institutionen werden von GIDDENS als
soziale Praktiken beschrieben, die sich über
große zeit-räumliche Distanzen erstrecken (z. B.
Universität,
Landesregierung,
Partei).
Die
FRAGEN?
Nach diesem knappen „Sturzflug“ über die
Konzeptionen von Anthony GIDDENS möchte ich
einige Teilaspekte der Strukturationstheorie
herausstreichen, die für die Sozialgeographie
besonders wichtig erscheinen.
Besonders herauszustellen ist der Versuch
GIDDENS’,
Gesellschaft
als
objektiven
Strukturzusammenhang und gleichzeitig als
subjektvermittelte
Handlungswirklichkeit
von
Individuen kategorial verfügbar zu machen.
Sozialgeographie
© Peter Weichhart, 2003
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SozGg06/02/17
Dabei kommt es zu einer Modifikation des
Handlungsbegriffes. Im Gegensatz zu klassischen
Formen der Handlungstheorie wird „Handeln“ bei
GIDDENS # nicht ausschließlich durch
Intentionalität bestimmt. Nach seiner Auffassung
soll sich „Handeln“ nicht nur auf die Intentionen
der beteiligten Subjekte beziehen, sondern auch
auf
deren
praktisches
Vermögen,
Veränderungen in der materiellen und sozialen
Welt zu bewirken.
Es geht also auch um die vom Handeln
produzierte Objektivität selbst, um die von den
Akteuren hervorgebrachten Geschehnisse. Das
sind also Dinge, die sich ohne die aktive
Intervention eines menschlichen Subjekts nicht
ereignet hätten. Handeln ist also auch als
Eingreifen des Menschen in die natürliche und
soziale Ereigniswelt zu verstehen. Dabei kommt
es ihm auch darauf an, das Eingebettetsein des
Handelns in Raum und Zeit herauszuheben.
GIDDENS belässt dabei das intentionale Subjekt
als „homo creator“ im Mittelpunkt der Betrachtung.
Sozialgeographie M 06/02
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Ihm kommt es aber darauf an festzuhalten, dass
Handeln durch Intentionalität allein nicht
erschöpfend charakterisiert werden kann. Damit
bezieht er sich genau auf jenen Kritikpunkt, den
wir bei der Besprechung der klassischen
Handlungstheorie schon betont haben: Die
unzulängliche
Berücksichtigung
der
nichtintendierten Folgen menschlichen Tuns. # Im
Konzept GIDDENS’ ist dieses Defizit behoben. In
der Strukturationstheorie können auch die nichtintendierten Folgen angemessen behandelt
werden. Wenn wir die Handlungstheorie für die
Sozialgeographie nutzbar machen wollen, dann ist
das ein sehr bedeutsamer Punkt. Denn viele
Erscheinungen der sozialräumlichen Realität sind
nur als unbeabsichtigte Folgen menschlichen
Tuns zu erklären.
Die Produktion bestimmter industriell gefertigter
Güter wird ja nicht mit der ausdrücklichen Absicht
unternommen, die Umwelt zu schädigen, der
Attentäter von Sarajewo wollte mit hoher
Wahrscheinlichkeit NICHT den Gaskrieg von
Flandern bewirken, die Erbauer und Betreiber von
Tschernobyl wollten Strom (und vermutlich auch
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Material für Atomsprengköpfe), aber mit Sicherheit
keine Nuklearkatastrophe produzieren.
Die „Symbolic Action Theory” von E. E. BOESCH
als Bespiel für eine sozialpsychologische
Handlungstheorie und ihr möglicher Nutzen für die
Sozialgeographie.
….
Die handlungstheoretische Sozialgeographie
wurde hier nur sehr kursorisch und in groben
Zügen behandelt. Eine wesentlich
tiefschürfendere Darstellung findet sich im
Lehrbuch von B. WERLEN (2000).
Sozialgeographie M 06/02
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