Document

Werbung
o.Univ.-Prof. Dr. Susanne Weigelin-Schwiedrzik
Vorlesung: Politik und Ökonomie
WS 2003/2004
Die „Große Proletarische Kulturrevolution“
Genau hier nun liegen die Wurzeln jener für außenstehende Beobachter schier
unverständlichen Massenbewegung, die Mao Zedong unter dem Namen
„Kulturrevolution" im Jahr 1966 initiieren sollte und die der heute gültigen
Interpretation in der VR China folgend das Land in „zehn Jahre des Chaos“ trieb. In
ihr gelang es Mao Zedong, eine Jugendrevolte zu inszenieren, die sich gleichzeitig
gegen die „akademischen Autoritäten“ und den Parteiapparat wandte und ihn dabei
unterstützte, eine Gefolgschaft aufzubauen, in der die altgedienten Parteiführer
keinen Platz mehr haben sollten. Die Parteiführung stand dem Vorhaben zunächst
machtlos gegenüber und versuchte sogar, wiewohl ihr klar sein mußte, daß sie das
eigentliche „Objekt“ dieser Bewegung war, das Schlimmste abzuwenden, indem sie
sich hinter die Pläne Mao Zedongs stellte. Wieder demonstrierte ihr Mao Zedong
unter Hinweis auf die Massenversammlungen der Rotgardisten, die keine Mühen
scheuten, um nach tagelanger Reise eine Gelegenheit zu ergattern, an einer
Massenaudienz des „obersten Steuermanns“ auf dem Tian-An-Men-Platz in Peking
teilzunehmen, daß er die Massen hinter sich und damit die „Wahrheit“ aus seiner
Seite hatte. Doch diesmal ließ er ihnen keine Chance. Hatte man sich bisher durch
Loyalitätsbekundungen gegenüber Mao Zedong noch vor dem Schicksal eines Peng
Dehuai retten können, so gab es jetzt keinen Ausweg mehr. Ein Mitglied der
Parteiführung nach dem anderen wurde den Massen zur Kritik vor die Füße geworfen
und zum Feind Mao Zedongs erklärt, das Ritual der Kritikversammlungen auf allen
Ebenen der Partei wiederholt und die Parteikader zu Liebedienern jenes obersten
„Machthabers auf dem kapitalistischen Weg“ Liu Shaoqi gemacht. „Die Revolte ist
gerechtfertigt“ hatte Mao Zedong erklärt und damit Tür und Tor geöffnet, all den
aufgestauten Unmut und Haß, alle Enttäuschung und Verbitterung der letzten Jahre
mit „revolutionärem Enthusiasmus“ zu mischen und sich als Beschützer des Großen
Vorsitzenden und seiner Ideale zu erweisen.
Die Bewegung der Rotgardisten ging dabei von den Mittelschulen und Universitäten
der Hauptstadt aus. Sie erreichte ihren ersten Höhepunkt, als eine Dozentin der
Philosophieabteilung an der berühmten Peking-Universität eine Wandzeitung auf
dem Campus aufhängte, in der sie den Präsidenten der Universität der
Unterdrückung der Massenbewegung bezichtigte. Diese erste „Wandzeitung“ wurde
natürlich sofort von der Universitätsleitung entfernt und Nie Yuanzi bestraft. Doch
eine Woche später bezeichnete sie Mao Zedong als „Manifest der Pekinger
Commune“ und ließ sie unter dem Titel „Bombardiert das Hauptquartier“ in dem
Parteiorgan der KPCh, der Pekinger Volkszeitung, veröffentlichen und über
Rundfunk verlesen. Als Antwort darauf entstanden zunächst in Peking, dann in
anderen großen Städten „Massenorganisationen“, in denen sich nicht nur Studenten,
sondern vor allem auch Arbeiter organisierten und auf die Weise ihre Bereitschaft
bekundeten, an der Kulturrevolution teilzunehmen.
Je mehr sich dabei das System destabilisierte, um so stärker trat Mao Zedong als
charismatischer Führer hervor. Nur die durch immer radikalere Formen des
„Kampfes“ unter Beweis gestellte Loyalität und „Liebe“ zu ihm konnte einen davor
retten, dasselbe Schicksal zu erleiden, das man anderen zu Teil werden ließ. Wer
nicht mitmachte, mußte damit rechnen, zu den Gegner gezählt zu werden. Viele
persönliche Rechnungen wurden in dieser Zeit beglichen, Menschen in den Tod
getrieben, die sich bis zuletzt als die loyalsten Bürger der Volksrepublik China
1
begriffen hatten. Keiner war von dem anderen sicher, konnte doch jederzeit eine
Denunziation die entscheidende Schicksalswende herbeiführen. In den ersten
Monaten nach Beginn der Kulturrevolution ergriff auf die Weise die Mobilisierung
große Teile vor allem der städtischen Bevölkerung und führte zu einer Zerschlagung
des Parteiapparates, einer Lähmung der Bürokratie, zur Schließung der Universitäten
und Schulen und zu einem weitgehenden Stillsand der Produktion. Die Studenten
einiger Universitäten übten auf dem Campus den Guerillakampf, Arbeitermilizen
holten ihre Waffen hervor und eröffneten den Bürgerkrieg. Die Feinde wurden in
„Kuhställe“ gepfercht, tagtäglich zum Studium der Mao-Zedong-Ideen und der
Tageszeitung aufgefordert und immer wieder den „Massen“ zur Kritik vorgeführt, um
sie auf die Weise zur Selbstkritik zu zwingen. Keine Härte war dabei hart genug:
Schüler ließen ihre Lehrer stundenlang auf Glasscherben knien,
Studenten
verlangten von ihren Professoren, sich während der nicht enden wollenden
Kritikversammlungen mit dem Kopf nach unten und den Händen nach oben vor ihnen
zu verbeugen. Medizinische Hilfe wurde verweigert, die betroffenen Familien von
jeder Nachricht über Verbleib und Befinden des in das Feuer der Kritik geratenen
Anverwandten abgeschnitten. Der Klassenkampf war endlich mit Händen greifbar
geworden.
Verschiedene Untersuchungen haben inzwischen ergeben, daß die Mobilisierung der
Massen zwar mit der charismatisch begründeten Autorität Mao Zedongs untrennbar
verbunden war, die Mobilisierungswilligkeit aber weit weniger von den Idealen der
„Massen“ her begründet werden kann als von dem eigentlich von Mao abgelehnten
Eigennutz. Die jeweils Unterprivilegierten ließen sich gegen die Privilegierten
mobilisieren, die Privilegierten verteidigten ihre Vorrechte. Beide Gruppen beriefen
sich dabei auf Mao Zedong und ließen sich durch persönlich geknüpfte Kontakte zum
sogenannten „Hauptquartier“ bzw. zur „Gruppe der Kulturrevolution“, die inzwischen
die Rolle der obersten Parteiorgane übernommen hatte, Anweisungen geben. So
erklärt sich der für die Kulturrevolution typische Kampf zwischen den verschiedenen
„Massenorganisatonen", der bisweilen in Bürgerkrieg ausartete. Unger, Rosen und
Chan konnten beispielsweise nachweisen, daß die verschiedenen RotgardistenOrganisationen politische Programme vertraten, deren Logik sich unschwer aus der
sozialen Zusammensetzung ihrer Mitglieder ableiten läßt. Auf der einen Seite
standen Rotgardisten, in denen sich die Töchter und Söhne der Parteikader
organisierten und die dementsprechend die Theorie vertraten, daß nur Nachkommen
der 1.Generation der Revolutionäre ein Anrecht darauf hätten, in diese Organisation
aufgenommen zu werden. Die „Abstammungstheorie“ war dabei Ausdruck ihrer
Konkurrenz zu den Nachkommen von Intellektuellen, die schon vor der
Kulturrevolution immer wieder ihren Anspruch auf Aufnahme in den
Kommunistischen Jugendverband damit begründet hatten, daß sie die besseren
Ergebnisse in den verschiedenen Examina vorzuweisen hatten. Im Gegensatz zu
den Kaderkindern pochten sie darauf, daß die Leistungsbereitschaft Kriterium der
Aufnahme sein sollte.
Unter den Arbeitern, so berichten Walder und McCormick, spielte die Konkurrenz
zwischen sogenannten Vertragsarbeitern und den Stammarbeitern in den Betrieben
eine große Rolle. Die Gruppe der Vertragsarbeiter setzte sich aus vom Land
abgeworbenen Arbeitskräften zusammen, die im Gegensatz zu den Stammarbeitern
über keine Lebenszeitposition in den „Einheiten“ verfügten und dementsprechend
nicht nur weniger Lohn erhielten, sondern auch in Fragen der Gesundheits- und
Altersversorgung weniger abgesichert waren. Sie gründeten in Shanghai eine
Arbeiterorganisation, die mit einer Weisung Jiang Qings im Rücken die
Gleichstellung mit den Stammarbeitern sowie eine rückwirkende Lohnangleichung
2
forderte, während sich die Stammarbeiter formierten, um das etablierte System zu
verteidigen.
Die
Auseinandersetzung
zwischen
diesen
beiden
„Massenorgansationen“ bildete die Basis für den sogenannten Januarsturm, der
1967 zum Sturz der Stadtregierung und zur Gründung der Shanghaier Commune
führte. Der später der „Viererbande“ zugeordnete Zhang Chunqiao wurde von
Peking nach Shanghai entsandt, um die „Massenorganisationen“ zu bändigen. Er las
den nach wirtschaftlichem Vorteil strebenden Vertragsarbeitern die Leviten und
kritisierte ihren Ökonomismus, nutzte aber ihren revolutionären Impetus, um die im
wesentlichen von ihnen herbeigeführte Entmachtung der Stadtregierung in einen
Sieg der Kulturrevolution umzumünzen und in Shanghai die Machtübernahme durch
die Kulturrevolutionäre Realität werden zu lassen.
Unter dem Druck der
heftig um direkte Partizipation kämpfenden
Massenorganisationen war Zhang Chunqiao jedoch einen Schritt weiter gegangen,
als der angesichts der um sich greifenden Anarchie nach Lösungen suchende Mao
Zedong es für richtig hielt. In der Shanghaier Commune war vorgesehen, daß die
Massenorganisationen anstelle der Partei die Macht übernehmen. Die Arbeiterklasse
sollte direkt „an die Macht“ und nicht indirekt und symbolisch, so wie dies bisher der
Fall gewesen war. Dementsprechend wurde nicht, wie von manchen in Shanghai
erhofft, die Shanghaier Commune das Vorbild für den Aufbau „neuer“
Machtstrukturen aus den Ruinen der Kulturrevolution, sondern die noch im Verlauf
des Januar 1967 in mehreren Provinzen gegründeten „Revolutionskomitees“, in
denen die Massenorganisationen als nur eine von drei Kräften sich die Macht mit der
wieder aufzubauenden Partei und der Armee teilen sollten.
Überhaupt gewann die Armee im Verlaufe des sich 1967 ausbreitenden Chaos
immer mehr an Bedeutung. Mao, der wohl ursprünglich gehofft hatte, er könne die
Revolution entfachen, ohne daß die Produktion und die innere Sicherheit großen
Schaden nehmen würden, sah die Bewegung außer Kontrolle geraten und
mobilisierte die seinem engsten Kampfgenossen Lin Biao unterstehende Armee. In
Wuhan spitzte sich die Situation im Sommer 1967 zu, als die Organisation der
Stammarbeiter mit ca. 500.000 Mitgliedern, „Eine Million Helden“ genannt und von
der lokalen Parteiorganisation und der Armee unterstützt, den Angriff der radikaleren
Massenorganisation mit dem Namen „Allgemeines Hauptquartier der Arbeiter“
abzuwehren suchte, die ca. 400.000 Mitglieder zu verzeichnen hatte. Da beide
Organisationen nicht der Order folgten, den bewaffneten Kampf aufzugeben, wurden
zwei Mitglieder der Pekinger Führung nach Wuhan geschickt, um die örtliche Partei
und das Militär davon zu überzeugen, daß sie ihre Unterstützung für die Organisation
der Stammarbeiter aufzugeben und der anderen Organisation zu zollen hatten. Diese
folgten aber nicht dem Befehl. In der Folge nahmen sie die beiden Emissäre aus
Peking in Haft. Zhou Enlai, der zur Rettung der beiden sich auf den Weg machte,
konnte mit seinem Flugzeug nicht landen und mußte unverrichteter Dinge nach
Peking zurückkehren. Erst die daraufhin mobilisierten drei Infanteriedivisionen und
die Anwesenheit von Marineeinheiten, die, von Einheiten der Luftwaffe begleitet,
sich mit ihren Schiffen auf dem Yangtze der Stadt näherten, konnten die Kapitulation
der örtlichen Partei herbeiführen. Die beiden Emissäre wurde wie Helden in Peking
empfangen, während die führenden Militärs in Wuhan als Gefangene nach Peking
gebracht wurden. Was damals niemand ahnte: Wenig später wurden die beiden
Helden aus Peking der „Konterrevolution“ bezichtigt und ihrer Ämter enthoben, der
Wuhaner Parteivorsitzende jedoch als Mao loyaler Kämpfer in der Kulturrevolution in
die oberste Parteiführung eingereiht.
An anderer Stelle wird zu analysieren sein, was diese Vorgänge über das Verhältnis
von Partei, Staat, Armee und Gesellschaft aussagen. Bezogen auf die Stellung Mao
3
Zedongs zeigte sich in den ersten Monaten nach Ausrufung der Kulturrevolution, daß
Mobilisierung inzwischen zum Selbstzweck in dem Sinne geworden war, daß es nicht
mehr darauf ankam, auf welcher „Linie“ die Massen mobilisiert wurden. Die
Tatsache, daß angeblich die ganze Gesellschaft dem Aufruf Maos folgte und sich an
der Kulturrevolution beteiligte, war Beweis genug. Dabei war die Position eines jeden
Mitglieds der Gesellschaft durch die von oben entfachte Revolution in Frage gestellt,
nur die des „großen Steuermanns“ nicht. Dementsprechend sah sich jeder, der seine
Stellung verteidigen wollte, genauso gezwungen, sich hinter Mao zu stellen wie
jeder, der mit der Revolution die Hoffnung verband, seine Stellung verbessern zu
können.
Mao und die um ihn herum versammelte Gruppe der Kulturrevolution nun wußten
diese Konstellation zu nutzen, indem sie mit einander konkurrierende Interessen in
jeweils unterschiedlicher Form ihrer Unterstützung versicherten und damit den
Konkurrenzkampf zwischen ihnen anheizten. Auf die Weise konnte der
Mobilisierungspegel für den Zeitraum bis Mitte/Ende 1967 hoch gehalten werden.
Auch wenn die Auseinandersetzungen nicht überall das Maß annahmen, das in
Wuhan zu beobachten war, zeigte sich im Verlaufe des Jahres 1967 immer
deutlicher, daß die Massenmobilisierung als Selbstzweck große Gefahren in sich
barg. Maos Konzept, sich direkt auf die „Massen“ zu beziehen und diese gegen den
Parteiapparat aufzubringen, unterschätzte dabei offenbar das Ausmaß der in der
Gesellschaft schlummernden Konflikte und die Bereitschaft großer Teile vor allem
der jugendlichen Stadtbevölkerung, diese in eigener Regie auszutragen. Was
vielleicht als groß angelegte Massenmanipulation geplant war, artete vielerorts weit
mehr als gewünscht zu einer Massenmobilisierung im wahrsten Sinne des Wortes
aus. Die Revolutionsrhetorik, die seit Gründung der Volksrepublik von den
Massenmedien unablässig bedient worden war, um die Verdienste der Parteiführung
nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, kehrte sich dabei genau gegen diese
Parteiführung. Die Jugend hatte dabei kaum eine andere Chance, als dem Aufruf
Maos zu folgen, die festgefahrenen Strukturen zu zerstören. Die eifrigen
Rotgardisten kämpften um einen Platz in der neu zu bildenden Elite und übertrafen
sich dabei gegenseitig in ihrer „revolutionären“ Radikalität. Je härter sie ihren
„Feinden“ gegenüber auftraten, je blutiger ihr Kampf, um so revolutionärer war er.
Endlich hatten sie die Gelegenheit gefunden, es der 1.Generation der Revolutionäre,
die ihnen immer wieder als Vorbild vor Augen geführt worden war, gleichzutun.
Hinzu kommt, daß die Parteiorganisationen auf den unteren Ebenen mit allen Mitteln
um ihr Überleben kämpften. Während die oberste Riege der Parteiführer fast wehrlos
miterleben mußten, wie einer nach dem anderen von Mao und seiner Gefolgschaft
ausmanövriert wurde, lernte die Partei auf Provinzebene, sich der
Massenmobilisierung zu bedienen, um sich gegen die Massen zu wehren. Dabei
gelang es ihnen in der Regel, wie auch das Beispiel der Auseinandersetzungen in
Wuhan zeigt, zumindest eine der vor Ort aktiven Massenorganisationen für sich zu
gewinnen. Dies wiederum trug dazu bei, die Fraktionskämpfe zu verschärfen.
Die Hoffnungen der Jugend blieben letztlich unerfüllt. Unter der Parole, “große
Allianzen“ zu bilden, wurden sie zunächst aufgefordert, von den Fraktionskämpfen
zwischen den Massenorganisationen abzulassen. Und wenn es zu entsprechenden
„Waffenstillstandsabkommen“ nicht von selbst kam, griff die Armee mit aller Härte ein
und stellte die „Allianzen“ her. An die Stelle der Revolution trat nun die viel
beschriebene Loyalitätsbekundung zur revolutionären Sache, indem man sich täglich
mehrmals aufstellte, um die wichtigsten Texte Mao Zedongs aufzusagen, mit dem
„Roten Buch“ in der Hand Mao Treue zu schwören und zu beteuern, man wolle für
immer an der „revolutionären“ Linie Mao Zedongs festhalten. Die Jugendlichen, vor
4
allem die Studenten und Mittelschüler unter ihnen, wurden aufs Land geschickt, um
den Gedanken der Kulturrevolution dort zu verankern und um sich unter den harten
Bedingungen des Lebens auf dem Land als Revolutionäre zu stählen. Die Arbeiter
wurden wieder in ihre Fabriken zurückgeschickt und gleichzeitig die Partei wieder
aufgebaut.
Mao auf der Suche nach den „Fortsetzern der Revolution“
In der Zwischenzeit verfolgte Mao Zedong mit der Unterstützung der Gruppe
Kulturrevolution das eigentlich von ihm angestrebte Ziel der Neuordnung der
Parteiführung. Dabei ging es ihm im wesentlichen darum sicherzustellen, daß die
Partei über seinen Tod hinaus die personelle Voraussetzung dafür böte, an seiner
„Linie“ festzuhalten und nicht – wie die KPdSU nach dem Tode Stalins – in
Revisionismus zu verfallen. Die Kulturrevolution sollte auf allen Ebenen „Fortsetzer
der revolutionären Sache“ heranbilden. Dazu mußten quasi alle Positionen im Staatsund Parteiapparat erst einmal geräumt werden, um sie dann mit den Aktivisten zu
besetzen, die sich in der Kulturrevolution als Mao Zedong gegenüber besonders
loyal hervorgetan hatten. Die Partei würde fürderhin nicht mehr ihren
Führungsanspruch daraus ableiten, daß sie das chinesische Volk von der Last der
drei Berge – des Imperialismus, des Feudalismus und des bürokratischen
Kapitalismus – befreit hatte, die neu zu errichtende Partei würde von einer neuen
Generation der „Kulturrevolutionäre“ geführt werden und ihren Führungsanspruch mit
dem „Sieg“ der Kulturrevolution begründen. Mao Zedong und die Gruppe der
Kulturrevolution initiierten damit einen Generationswechsel in der Partei, der die
Parteiherrschaft neu begründen, die Kader auf den Führungsebenen „erneuern“ und
an der Spitze einen neuen Führer hervorbringen sollte, der die Position Maos zu
übernehmen in der Lage war.
In der ersten Phase der Kulturrevolution wurde Liu Shaoqi aus seiner Position als
Anwärter für die Nachfolge Mao Zedongs verdrängt, am Ende der zweiten Phase der
designierte Nachfolger Mao Zedongs Lin Biao des Putschversuches bezichtigt und
im wörtlichen wie symbolischen Sinne des Wortes „vom Himmel geholt“, während in
der letzten Phase der mit Ende dreißig vergleichsweise junge Wang Hongwen als
Anwärter auf die Nachfolge Mao Zedongs galt. Doch der wurde nach Maos Tod, wie
wir wissen, nicht Vorsitzender der Partei, sondern als Mitglied der sogenannten
„Viererbande“ inhaftiert, aller Ämter enthoben und aus der Partei ausgeschlossen.
Aus der Perspektive des Parteiführers ist die Kulturrevolution demnach in allen Zielen
gescheitert: weder kann davon ausgegangen werden, daß sich die KPCh über den
Tod Maos hinaus der von Mao in seinen letzten Lebensjahren formulierten „Linie“
verpflichtet fühlt, noch kann mit der de facto Machtübernahme Deng Xiaopings und
der in der Kulturrevolution entmachteten Kader von einem gelungenen
Generationswechsel gesprochen werden, ganz zu schweigen davon, daß Mao in 10
Jahren drei seiner designierten Nachfolger verschliß und letztlich angeblich einem
4.Kandidaten die Weihe gab, der in keiner Form den hoch gesteckten Ansprüchen an
den Parteivorsitzenden gerecht werden konnte.
Liu Shaoqi war im Gegensatz zu Lin Biao nie ein ausdrücklich designierter Kandidat
für die Nachfolge Mao Zedongs. Er galt jedoch bis zum Beginn der Kulturrevolution
als aussichtsreichster Kandidat für das Amt des Parteivorsitzenden, da er seit dem
7.Parteitag als Nr.2 in der Hierarchie der Parteiführung eingestuft war und Mao
Zedong 1959 an ihn das Amt des Staatspräsidenten abgegeben hatte. Liu verfügte
damit im Sinne der von der Partei festgelegten Kriterien über einen begründbaren
Anspruch, auch wenn dieser nie öffentlich begründet wurde, und im Sinne des
5
Staatsapparates über das höchste Amt, das er in Übereinstimmung mit den in der
Verfassung festgelegten Regeln erhalten hatte. Teiwes geht sogar davon aus, daß
Liu als möglicher Nachfolger eindeutig Maos eigene Wahl gewesen ist und daß
dieser bereits Mitte der fünfziger Jahre aus seiner Präferenz innerhalb der
Parteiführung keinen Hehl gemacht habe. MacFarquhar kolportiert demgegenüber
eine andere Version, wonach Mao auf der entscheidenden Sitzung des Politbüros Liu
Shaoqi seine Stimme verweigert und sich seit Mitte der fünfziger Jahre für Lin Biao
als best möglichen Nachfolgwer ausgeprochen habe. Wie dem auch sei: Seit Anfang
der sechziger Jahre hatte Mao sich auf die „zweite Linie“ zurückgezogen und Liu
Shaoqi weitgehend das Tagesgeschäft überlassen. Er hatte das Land vielfach
bereist und sich weit von den alltäglichen Aufgaben der Partei und Staatsführung
entfernt. Liu Shaoqi galt als für alle Bereiche der „Parteiarbeit“ verantwortlich. Warum
also sollte dieser Mann, der keine Situation ungenutzt ließ, seine Loyalität zu Mao
Zedong zu unterstreichen, warum sollte er das prominenteste Opfer der
Kulturrevolution werden?
Liu Shaoqi war in die Falle seiner selbst gewählten Rolle als Verwalter des
Alltäglichen geraten. Er stand an der Spitze des Staatsapparates und dirigierte die
Teile der Partei, welche die konkret greifbare und täglich erfahrbare Macht im Lande
ausübte. Er war damit untrennbar mit den Institutionen und Personen verbunden,
gegen die sich zunehmend der Unmut weiter Teile der Bevölkerung richtete, und
deshalb in Maos Augen verantwortlich dafür, daß die Partei an Einfluß und Ansehen
verlor und die Früchte der Revolution verspielte.
Maos Theorie vom Klassenkampf im Sozialismus
Seit Ende der fünfziger Jahre hatte Mao Zedong an einer Theorie des Sozialismus
gearbeitet, die wie die Mao-Zedong-Ideen vor 1949 den besonderen Bedingungen in
China entsprechen sollte. Angesichts der großen Schwierigkeiten, mit denen sich die
KPCh in diesen Jahren konfrontiert sah, und angesichts der Tendenzen zur
Dichotomisierung von Privilegierten und Unterprivilegierten, von Stadt und Land,
Handarbeitern und Kopfarbeitern hatte er die Auffassung entwickelt, daß auch nach
vollzogener Revolution und der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei
im Gegensatz zu den von Lenin und Stalin gemachten Äußerungen die
Weiterführung des Klassenkampfes notwendig sei. Je mehr sich die Probleme
verschärften, um so härter wurde seine Analyse und seine Absage an eine
Bourgeoisie, die sich in die Partei hineinschleiche, die Parteikader ihrem Einfluß
aussetze und auf die Weise versuche, die Partei des Proletariats in ihr Gegenteil
umzukehren. Wenn die Arbeiter und Bauern mit der Entwicklung des Sozialismus in
China also nicht zufrieden waren, so hat dies nach den Vorstellungen Mao Zedongs
nichts damit zu tun, daß die Partei als solche Fehler macht. Das, was von außen
betrachtet wie ein Fehler der Partei aussieht, ist vielmehr Ausdruck der Tatsache,
daß die „Bourgeoisie mitten in der Partei sitzt“ und von dort aus im Gewande einer
rechts- oder linksopportunistischen Linie eine Politik betreibt, welche den Sozialismus
pervertiert. Die Existenz von Klassen ist dabei vom Willen der politisch handelnden
Subjekte unabhängig, Ausdruck einer objektiven Gesetzmäßigkeit. Die Partei habe
deshalb im Sozialismus die Aufgabe, die Revolution weiterzuführen und den Einfluß
der Bourgeoisie zu bekämpfen als Voraussetzung dafür, daß der Sozialismus
erfolgreich aufgebaut werden könne.
Wie schon in den Jahren vor 1949 hatte Mao Zedong seine Auffassungen als
Antwort auf die sich stellenden politischen Probleme aber auch in scharfer
Auseinandersetzung mit seinen Genossen, diesmal mit der von Lenin und Stalin
6
formulierten Theorie des Sozialismus und der Praxis der Herrschaft der KPdSU
entwickelt. Obwohl Mao aus seiner Kritik an der Politik der Komintern nie einen Hehl
gemacht und deren Auflösung begrüßt hatte, sah er zunächst für die
Kommunistische Partei Chinas nach deren Machtübernahme keine Alternative zu
einem engen Bündnis mit der Sowjetunion und zur Übernahme der dort zur
Anwendung gelangten Politik. Der Sozialismus in China orientierte sich in den ersten
Jahren nach der Machtübernahme am sowjetischen Modell und ließ damit jene
Besonderheit nicht erkennen, die nach Maßgabe dessen, was die KPCh in Form der
Mao-Zedong-Ideen im Verlaufe der chinesischen Revolution hervorgebracht hatte,
Grundlage ihrer siegreichen Strategie gewesen war. Als mit der nach dem Tode
Stalins einsetzenden Entstalinisierung die KPdSU unter der Führung Chrutschows
selbst begann, dieses Modell in Frage zu stellen, war für Mao Zedong der Zeitpunkt
gekommen, diesen Makel zu überwinden und die Partei theoretisch wie praktisch
vom Vorbild der Sowjetunion zu lösen. Je mehr sich in der Sowjetunion in Abkehr
von der antagonisierenden Politik Stalins die Auffassung durchsetzte, im Sozialismus
gebe es keine Klassen mehr und die KPdSU sei demnach nicht mehr die Partei des
Proletariats, sondern des ganzen Volkes, um so mehr betonte Mao die Notwendigkeit
der Fortsetzung des Klassenkampfes als Antwort auf die Existenz von Klassen und
Klassenkampf im Sozialismus. Auch wenn es ihm nicht gelang, mit dieser Theorie die
Führung über die kommunistische Weltbewegung zu erlangen, so war es ihm doch
möglich, in der in der VR China öffentlich geführten Polemik gegen Chrutschow und
seinen Revisionismus seine einzigartigen Führungsqualitäten unter Beweis zu
stellen. Unter seiner Führung würde die KPCh als eine der wenigen
kommunistischen Parteien auf der Welt den Verlockungen des Revisionismus
widerstehen und nicht nur die Reinheit des Marxismus-Leninismus bewahren,
sondern diesen in seiner spezifisch chinesischen Form auch weiterentwickeln. Die
Souveränität Chinas war damit ein zweites Mal hergestellt: das erste Mal im Kampf
gegen die japanische Invasion und den Imperialismus westlicher Provinienz, das
zweite Mal in der Loslösung von der Dominanz der Sowjetunion in wirtschaftlicher,
politischer und ideologischer Hinsicht.
Aus Maos Theorie vom Klassenkampf ergab sich jedoch ein völlig neues Bild von der
Partei, ein Bild, das sich von dem, auf welches sich die Partei im Zuge der
Ausrichtungsbewegung von Yan‘an geeinigt hatte, dramatisch unterscheidet. War
dort Mao Zedong noch als der zwischen den Extremen von Rechts- und
Linksopportunismus ausgleichende Führer verstanden worden, rückte Mao Zedongs,
je mehr er sich von der Existenz feindlicher Kräfte in der Partei überzeugte, von
diesem Konsens ab und führte das Konzept des „Kampfes zweier Linien“ ein. Die
zwei Linien in der Partei waren damit Ausdruck antagonistischer
Klassenbeziehungen in der Gesellschaft, d.h. die richtige Linie die des Proletariats (in
seiner oben dargestellten symbolischen, nicht in seiner realen Bedeutung), die
falsche die der Bourgeoisie. Die Abweichungen von der richtigen Linie wurden von
ihm nicht mehr primär als Erkenntnisproblem verstanden, sondern als Ausdruck
eines Klassenstandpunktes, der von den jeweiligen Parteimitgliedern mehr oder
weniger bewußt übernommen wurde. Dementsprechend hatten Mitglieder der
Parteiführung, die einen von Mao Zedong abweichenden Standpunkt vertraten, damit
zu rechnen, daß sie als „Klassenfeind“, nicht einfach als fehlerhaft denkendes und
handelndes Parteimitglied eingestuft wurden.
Mit seiner Theorie vom Klassenkampf im Sozialismus machte er begreifbar, warum
die Ideale nicht schneller zur Verwirklichung kamen, und zeigte auf, gegen wen sich
der Enthusiasmus der Massen richten mußte, um diesem Zustand ein Ende zu
versetzen. Als die Kulturrevolution ihren Höhepunkt erreichte, wurde diese Theorie in
7
einem Leitartikel des Zentralorgans der KPCh, der Pekinger Volkszeitung, auf den
Punkt gebracht: Mao, so war dort zu lesen, hatte aus der Entwicklung in der
Sowjetunion gelernt, daß, wenn die Revisionisten in der Partei die Macht an sich
rissen, von diesen die Restauration des Kapitalismus betrieben würde. Um dies zu
verhindern, müßten die Massen mobilisiert werden, um den Klassenkampf
fortzuführen gegen jene Autoritäten in der Partei, die den „kapitalistischen Weg“
einschlagen. In diesem Kampf lernten die Massen, sich selbst zu revolutionieren,
indem sie ihren Eigennutz überwanden. Es würde ein wahrhaft revolutionäres
Bewußtsein entstehen, das die Gewähr dafür böte, daß die Reinheit des Sozialismus
auf Dauer gegen die Subversion durch den Revisionismus bewahrt bliebe.
Mao im Kampf gegen den Revisionismus in Partei und Gesellschaft
Mao Zedong entwickelte diese Theorie, während sich die Auseinandersetzungen
innerhalb der obersten Parteiführung immer weiter zuspitzten. Seit dem Großen
Sprung nach vorn und der sich daran anschließenden Hungersnot hatte Mao deutlich
an Autorität unter seinen engsten Kampfgenossen verloren, mußten sich diese doch
nach den Ereignissen auf dem Lushan-Plenum gleich in zweifacher Weise bedroht
fühlen: zum einen durch den wachsenden Unmut der Bevölkerung; zum anderen
durch einen Parteiführer, der sich als Fürsprecher der Bevölkerung verstand und
meinte, jederzeit die Massen mobilisieren zu können, um Kritiker seiner
Auffassungen aus der Führungsspitze zu verbannen.
In der Zeit nach dem Großen Sprung hatte die Parteiführung verschiedene
Maßnahmen unternommen, die wirtschaftliche Lage des Landes zu verbessern. Die
weitreichende Kollektivierung der Landwirtschaft wurde zurückgenommen, in den
Städten die leistungsorientierte Entlohnung der Arbeiter wieder eingeführt und
gleichzeitig im kulturellen Bereich mehr Freiraum für die Intellektuellen geschaffen.
All dies beobachtete Mao Zedong offenbar mit großem Mißtrauen, setzen sich doch
jene Mechanismen der Ungleichheit und Privilegierung wieder durch, die er als den
Idealen des Sozialismus widersprechend betrachtete. Der Angriff auf die für diese
Politik Verantwortlichen in der Partei begann zunächst an der intellektuellen Front.
Als geeignetes Objekt der Auseinandersetzung wurde der prominente Intellektuelle
und stellvertretende Bürgermeister von Peking, Wu Han, ausgesucht. Dieser hatte
Ende der 50ger Jahre ein Theaterstück unter dem Titel „Hai Rui wird aus dem Amt
entlassen“ veröffentlicht, in dem er das Problem der ungerechtfertigten Entlassung
eines „integren Beamtens“ durch den Kaiser thematisierte. Mao begriff dies als
Angriff auf die Säuberung Peng Dehuais und beschloß Ende 1964, Wu der
öffentlichen Kritik auszusetzen. Dabei beauftragte er in einem ersten Schritt den
1.Bürgermeister von Peking, Peng Zhen, die Kritik zu koordinieren. Peng geriet
dadurch in eine schwierige Situation, war er doch Wu Han nicht nur durch die
gemeinsame Tätigkeit als Bürgermeister, sondern auch persönlich eng verbunden.
Peng beschloß, dem Aufruf Mao Zedongs Folge zu leisten, indem er die Kritik an Wu
in eine Diskussion über die Bedeutung der „integren Beamten“ in der chinesischen
Geschichte ummünzte. Doch Mao durchschaute seine Taktik sofort und beauftragte
in Shanghai den später der „Viererbande“ zugeordneten Yao Wenyuan, einen
Kritikartikel vorzubereiten, in dem Wu Han direkt angegriffen und der aktuelle Bezug
seines Werkes herausgestellt werden sollte. Der Artikel wurde im November 1965 in
Shanghai
veröffentlicht
und
setzte
damit
Peng
Zhen
und
seine
„Diskussionskampagne“ in Peking unter heftigen Druck. Peng konnte zwar zunächst
verhindern, daß der Artikel in Peking veröffentlicht wurde, doch brachte dies nur eine
zeitweilige Entlastung. Wenig später erschien ein Leitartikel in der Armeezeitung
8
Jiefangjunbao, der sich lobend hinter die Ausführungen Yao Wenyuans stellte, bevor
auch das Zentralorgan den Artikel, wenn auch von einem kritisch gehaltenen
Kommentar begleitet, abdruckte.
Im Winter 1965/66 ging die Auseinandersetzung um die Frage, ob das Problem der
„integren Beamten“ historisch-akademisch oder aktualisiert-politisch geführt werden
sollte, weiter. Mehrere Konferenzen wurden einberufen, Papiere von Vertretern
beider Richtungen erstellt. Auf einer zentralen Arbeitskonferenz im Februar 1966
kam es dann zur Konfrontation zwischen Mao und Peng. Peng wurde auf dieser
Konferenz in die Defensive gedrängt und begann nun den Kampf um das eigene
Überleben. Er forderte das Pekinger Parteikomitee auf, die Kritik an Wu Han zu
intensivieren, übte Selbstkritik, was seinen Umgang mit dem Problem Wu Han betraf,
und appellierte an seine Kollegen, seine Verdienste für die Partei aus der
Vergangenheit gegen seinen aktuellen Fehler abzuwägen. Doch seine Bitten blieben
ungehört: Im Mai 1966 kam es zu einer Sitzung des Politbüros, in der Peng einer
Gruppe von Konterrevolutionären zugeordnet wurde, die angeblich einen Anschlag
auf Mao Zedong geplant hatte. Peng wurde seines Amtes als Bürgermeister von
Peking enthoben und aus der Parteiführung verbannt.
Mit der oben dargestellten Auseinandersetzung um Wu Han und Peng Zhen war das
Muster der im Verlauf der Kulturrevolution vorzunehmenden Säuberung der
Parteispitze vorgegeben. Auch im Falle Liu Shaoqis sollte es zu einer schrittweisen
Eskalation der Vorwürfe kommen. Auch ihm stellte Mao zunächst die Aufgabe, sich
an die Spitze der Bewegung zu setzen. Nach dem formellen Beschluß der
Parteispitze über die Eröffnung der Kulturrevolution wurde ein Zirkular verbreitet, in
dem zur Kritik an den „Vertretern der Bourgeoisie“ , die sich in die Partei
eingeschlichen hatten, aufgerufen wurde. Diese Kritik zu koordinieren war, so wollte
es Mao Zedong, Aufgabe Liu Shaoqis, obwohl er, wie er später unterstrich, schon
seit langem Liu als Revisionisten verdächtigte. Wie schon Peng geriet Liu mit der
Übernahme dieser Aufgabe in ein unlösbares Dilemma: Wollte er seine eigene
Entmachtung verhindern, mußte er der Weisung Mao Zedongs folgen. Folgte er der
Weisung Mao Zedongs, würde er seine eigene Machtbasis verlieren. Seinen
Auffassungen von der „Führung der Partei“ entsprechend nutzte Liu die 50-tätige
Abwesenheit Maos im Juni und Juli 1966, um sogenannte „Arbeitsgruppen“ in die
Universitäten zu entsenden, deren Aufgabe es sein sollte, die sich dort entwickelnde
Massenbewegung „anzuleiten“ und damit auf weniger radikale Bahnen zu lenken.
Dieser Schritt wiederum wurde ihm auf dem 11.Plenum des 8.ZK als Akt der
Unterdrückung der Kulturrevolution ausgelegt. Liu wurde seines Amtes als
stellvertretender Parteivorsitzender enthoben und innerhalb der Parteihierarchie von
Platz 2 auf Platz 8 verwiesen. Und als im Frühjahr Mitglieder der Parteiführung noch
einmal versuchten, das Schlimmste zu verhindern und das sich ausbreitende Chaos
einzudämmen, war dies Anlaß zu einer weiteren Radikalisierung auf Seiten Mao
Zedongs und seiner Gefolgschaft, in deren Verlauf Liu öffentlich als der „chinesische
Chrutschow“ bezeichnet wurde. Im Sommer 1967 wurde er, wie übrigens auch Deng
Xiaoping, unter Hausarrest gestellt, bevor das 12.Plenum des 8.ZK beschloß, Liu aus
all seinen Ämtern in Partei und Staat zu entfernen. Liu wurde in dem öffentlich
verbreiteten Kommunique des Plenums als „Lakai des Imperialismus, des modernen
Revisionismus und der Guomindang Reaktionäre“ bezeichnet und „unzähliger
konterrevolutionärer Verbrechen“ bezichtigt, die er angeblich im Verlauf seiner
langjährigen Parteizugehörigkeit begannen hatte. 1969 starb er im Gefängnis.
Mao und Lin Biao: Der Kampf um die Nachfolge
9
Was in der Auseinandersetzung mit Liu Shaoqi und den altgedienten Mitgliedern der
Parteiführung noch als Disput über die richtige Ideologie und die richtige politische
Linie erscheint, verkommt in der nächsten Phase der Suche nach einem Nachfolger
zu einer rein machtpolitischen Fehde. Wiewohl Lin Biao zunächst auch keine
Gelegenheit ausließ, Mao Zedong in den höchsten Tönen zu loben, ihn als Genius
herauszustellen und die Mao-Zedong-Ideen als neue Stufe der Entwicklung des
Marxismus-Leninismus zu preisen, war er doch von Mißtrauen gegenüber Mao
Zedong erfüllt, so wie andererseits Mao Zedong ihn zwar an die Spitze seiner neu
aufzubauenden Gefolgschaft setzte, gleichzeitig jedoch immer wieder Reserve und
Distanz zu ihm erkennen ließ.
Lin Biao war nach der Absetzung Peng Dehuais zum Verteidigungsminister avanciert
und bekleidete schon vor der Kulturrevolution das Amt einer der stellvertretenden
Parteivorsitzenden. Obwohl jünger als die meisten Revolutionäre der ersten
Generation hatte er sich seine Meriten vor allem im Bürgerkrieg gegen die Armee der
Nationalregierung erworben und konnte somit für sich reklamieren, einen
entscheidenden Beitrag zum Sieg der Revolution geleistet zu haben. Aufgrund
gesundheitlicher Probleme war er jedoch nie in dem Maße wie Liu Shaoqi in das
alltägliche Geschäft der Politik verstrickt und war eher als Mitstreiter Mao Zedongs
auf dem Feld der Ideologie hervorgetreten. So war Lin Biao der Initiator jener
Massenkampagne zum Studium der Werke Mao Zedongs, die ihren Ausgangspunkt
in der Armee unmittelbar im Anschluß an die Absetzung Peng Dehuais haben sollte
und im Kult um die sogenannte „Mao-Bibel“ während der Kulturrevolution ihren
Höhepunkt fand. Er verfügte zunächst weder in den Reihen des Militärs über eine
fest gefügte Gefolgschaft, noch entsprach er den Vorstellungen der Teile der Partei,
welche für das administrative Geschäft zuständig war. Um so mehr baute er auf
seinem Weg an die Parteispitze auf die Unterstützung Mao Zedongs und stand
deshalb unter dem Druck, die Nachfolge Mao Zedongs noch antreten zu müssen,
bevor dieser von fortschreitender Krankheit geschwächt, wohlmöglich seinen
entscheidenden Einfluß auf die Partei verlieren würde. Einerseits mußte er also seine
Treue zu Mao Zedong mehr als alle anderen Mitglieder der Parteiführung im
Anspruch um die höchste Macht
unterstreichen; andererseits sah er sich
gezwungen, die Machtfrage zu stellen, bevor sich diese als Folge des Ablebens Mao
Zedongs auf dem natürlichen Wege und damit legitimer Weise „von selbst“ stellte.
Dabei war Lins Aufstieg logische Konsequenz der oben dargestellten Entwicklung
der Kulturrevolution. Je mehr die Massenbewegung außer Kontrolle geriet und die
Partei als Ordnungsfaktor in den Hintergrund trat, desto mehr war Mao Zedong
gezwungen, die Armee für seine Ziele zu instrumentalisieren. Lin Biao als
Verteidigungsminister bot die personelle Gewähr für eine Mao ergebene Armee, die
vor allem im Zuge des Neuaufbaus staatlicher Strukturen in Form der
Revolutionskomitees für ihren Einsatz auch in Form eines politische Machtgewinns
belohnt wurde. Doch je mehr die Armee personell auf allen Ebenen der staatlichen
Verwaltung an Einfluß gewann, um so stärker bedurfte es einer mit ihr
konkurrierenden Kraft, die verhindern konnte, daß es zu einer uneingeschränkten
Machtübernahme des Militärs kam. Die Partei mußte wieder aufgebaut werden,
wollte Mao Zedong verhindern, daß das von ihm schon vor der Machtübernahme
definierte Verhältnis von Politik und Militär auf den Kopf gestellt würde. Mao bestand
darauf, daß die Armee der politischen Führung des Landes unterstellt sein sollte. Er
war sich der Tatsache bewußt, daß die politische Macht der Kommunistischen Partei
letztlich das Ergebnis des militärischen Kampfes der Armee war, versuchte aber die
Entwicklung im Verhältnis von Armee und Partei zu verhindern, welche die
Guomindang und „ihre“ Armee genommen hatten. Der zum Selbstzweck
10
verkommene militärische Kampf führt zum Verlust der „Massenbasis“ und macht die
Armee zu nicht mehr als einer marodierenden Horde, während die nach der
Maßgabe politischer Ziele agierende Armee über genau die moralischen Qualitäten
verfügt, die sie zum Vollstrecker der Massenmobilisierung werden läßt. Nur wenn die
Armee für mehr als militärische Ziele kämpft, wenn die Soldaten von einem höheren
Auftrag beseelt sind, kann sie – so Mao Zedong – dem inneren Verfall vorbeugen
und sich selbst einen technisch weitaus besser gerüsteten Feind erfolgversprechend
entgegenstellen.
Da Lin Biao als Personifizierung der Militarisierung von Politik im Verlaufe der
Kulturrevolution außer seiner engen Beziehung zu Mao Zedong über keine andere
Basis seines Machtanspruches verfügte als über die Armee, ergab sich aus der oben
dargestellten Konstellation, daß er die Machtfrage vor Maos Ableben nur würde
stellen können, wenn es ihm gelänge, die Armee gegen Mao einzusetzen und damit
in den Augen Mao Zedongs das Verhältnis von Politik und Militär auf den Kopf zu
stellen. Das Mißtrauen Lin Biaos gegenüber Mao Zedong beruhte darauf, daß er
befürchtete, Mao könnte seine Doppelstrategie - ein Höchstmaß an Loyalität
gegenüber Mao Zedong, den Mao-Zedong-Ideen und den Zielen der Kulturrevolution
einerseits und Aufbau einer letztlich gegen Mao zu richtenden militärischen Kraft
andererseits – aufdecken, bevor Lin für den Kampf um die höchste Macht im Land
gerüstet war; das Mißtrauen Mao Zedongs gegenüber Lin Biao resultierte aus
Zweifeln an der Aufrichtigkeit des von ihm betriebenen Mao- Kultes gepaart mit der
Angst vor einem uneingeschränkten Erstarken des Militärs.
Der Doppelstrategie Lin Biaos entsprach die Doppelstrategie Mao Zedongs.
Einerseits machte dieser seinen Einfluß geltend und verhalf Lin Biao Schritt für
Schritt zu immer höheren Positionen innerhalb der sich neu aufbauenden Partei im
Austausch für den von ihm betriebenen Mao-Kult, der – wie Mao selbst formulierte –
in Zeiten der Unruhe zum wichtigsten Kontrollinstrument werden sollte. Auf dem
9.Parteitag der KPCh, der die Partei formell rekonstituieren sollte, wurde Lin Biao
nicht nur zum einzigen Stellvertreter Mao Zedongs ernannt, sondern er wurde mit der
Bezeichnung „engster Kampfgenosse des Vorsitzenden Mao“ versehen, auch als
designierter Nachfolger Mao Zedongs in das Parteistatut aufgenommen.
Andererseits versuchte Mao, als Gegenkraft zu der mit dem Machtgewinn Lin Biaos
einhergehenden Erstarkung der militärischen Präsenz die zivile Komponente der aus
der Kulturrevolution hervorgegangenen Parteiführung zu stärken und mit ihr eine
Gegenkraft gegen die Dominanz des Militärs aufzubauen. So standen in dem neu
gewählten Politbüro des 9.ZK 8 Vertreter des Militärs und Verbündete Lin Biaos 6
zivilen „Kampfgenossen“ Mao Zedongs aus der frühen Phase der Kulturrevolution
und 6 Überlebenden aus der alten Garde gegenüber. Im Ständigen Ausschuß des
Politbüros stand hinter Mao Lin Biao an der Spitze und mußte sich mit Zhou Enlai als
Vertreter und Beschützer der alten Parteiführung sowie Kang Sheng und Chen Boda
als Führer der Kulturrevolution arrangieren.
Damit führte Mao Zedong die Fraktionierung in die Parteipolitik ein. Er war nicht mehr
der Parteiführer, der seine Führung über die Partei dadurch sicherte, daß er die
Parteiführung hinter sich und gegen einen zum Feind deklarierten Opponenten
zwang. Er nutzte vielmehr die Rivalität der gegeneinander um die Vorherrschaft in
der Partei kämpfenden Netzwerke, die ihren jeweiligen Machtanspruch daraus
ableiteten, daß sie unterschiedliche Loyalitätsverbünde innerhalb der Partei und
Interessenkonstellationen innerhalb der Gesellschaft repräsentierten. Diese
Loyalitätsverbünde hatten schon immer latent in der Partei bestanden, doch hatte
die Koalition, die auf dem 7.Parteitag zwischen Liu Shaoqi und Mao Zedong
geschlossen worden war, verhindert, daß sie sich zu Meinungsgruppen
11
herausbildeten, die in dem von der Gesamtpartei vorgegebenen Rahmen als fest
gefügte „Fraktionen“ mit einander rivalisierende politische Programme ausbildeten.
Erst der durch die Kulturrevolution vollzogene Bruch der Koalition des 7.Parteitages
und die damit einhergehende Ersetzung einer weitgehend auf Konsens und
Ausgleich gerichteten Politik durch den Kampf um das Machtmonopol hatte die
Voraussetzung dafür geschaffen, daß die unterschiedlichen Netzwerke mit einander
zu konkurrieren begannen und politische Programme entwickelten, die der
Abgrenzung untereinander dienen und ihren jeweiligen alleinigen Machtanspruch
begründen sollten. Noch war Maos Autorität ausgeprägt genug, daß jede der
„Fraktionen“ ohne seine Unterstützung nicht in der Lage war, die Macht zu ergreifen.
Insofern stand er als Parteiführer immer noch über der Partei. Doch bedingte nicht
zuletzt seine biologisch begründete abnehmende physische und geistige Präsenz,
daß er sie nicht mehr in eine Koalition und zur Unterordnung der jeweils von ihnen
repäsentierten Partikularinteressen unter seinen Machtanspruch zwingen konnte.
Eine vorzeitige bzw. seinen Interessen nicht entsprechende Machtübernahme durch
eine der unterschiedlichen „Fraktionen“ konnte er in den letzten Jahren seines
Wirkens nur dadurch verhindern, daß er die Rivalität unterschiedlicher „Fraktionen“ in
der Parteiführung genauso wie ihre jeweilige Bindung an ihn ausnutzte und damit die
Konkurrenz auf die Spitze trieb. Diese Interpretation legt zumindest die Darstellung
der Auseinandersetzung zwischen Lin Biao und Mao Zedong nahe, so wie sie nicht
nur in der VR China, sondern auch im Westen von den meisten Publikationen
geliefert wird. In ihnen ist Lin Biao die treibende Kraft in einem sich immer schärfer
zuspitzenden und letztlich zu seinen Ungunsten ausgehenden Konflikt, der seinen
ersten Höhepunkt in Lin Biaos Versuch fand, die vor der Kulturrevolution von Liu
Shaoqi gehaltene und seit seiner Entmachtung nicht besetzte Position des
Staatsoberhauptes für sich zu requirieren. Da der Staatsaufbau in Form der
Revolutionskomitees von unten nach oben nicht die erhofften Resultate zeitigte,
wechselte Mao Zedong die Strategie in einen Aufbau von oben nach unten und
unterbreitete im Frühjahr 1970 den Vorschlag, die Einberufung des 4.Nationalen
Volkskongresses vorzubereiten und von ihm eine neue Verfassung verabschieden zu
lassen. Obwohl Mao sich mehrfach dafür eingesetzt hatte, die Institution des
Staatspräsidenten im Zuge der Neuformulierung der Verfassung abzuschaffen,
machte Lin Biao sich unter Bezug auf die „Psychologie der Massen“ dafür stark,
diese beizubehalten und Mao Zedong für dieses Amt vorzusehen. Doch Mao blieb
bei seiner Ablehnung und unterstrich, daß er kein Interesse an diesem Amt habe. Lin
Biao ließ sich dadurch nicht von seiner Position abbringen und sorgte über die
Positionierung seiner Gefolgsleute in dem Komitee zur Ausarbeitung der neuen
Verfassung dafür, daß seine Vorstellungen in den Verfassungsentwurf aufgenommen
wurden.
Hinter der insistierenden Haltung Lin Biaos stand offenbar die Überlegung, daß,
sollte Mao Zedong daran festhalten, nicht selber das Amt des Staatspräsidenten
übernehmen zu wollen, er es für sich beanspruchen könne. Dieses Amt würde ihn
deutlicher als das des stellvertretenden Vorsitzenden der Partei über die anderen
Mitglieder des Politbüros herausstellen und ihn mit einer besonderen Aura und
Publizität umgeben. Zum anderen konnte er mit dieser Forderung Maos Loyalität zu
ihm auf die Probe stellen, von ihm einen weiteren Beweis seiner Auserwähltheit
verlangen.
Die Auseinandersetzung erreichte ihren Höhepunkt auf der 2.Plenumssitzung des
9.ZK, die wieder einmal im Lushan-Gebirge stattfand. Am Vorabend der Sitzung
tagte das Politbüro mit Mao an seiner Spitze, und Mao rang sich trotz weiter
bestehender Ablehnung gegenüber Lin Biaos Vorschlag zu einer Bemerkung durch,
12
die zu erkennen gab, daß er sich der Übernahme des Amtes durch wen auch immer
nicht widersetzen würde. Dies ermöglichte Lin, seine alte Taktik weiterzuverfolgen: Er
präsentierte auf dem ZK-Plenum seinen Vorschlag, das Amt beizubehalten und Mao
dafür vorzusehen. Sein Vorschlag war wie immer begleitet von exorbitanten
Lobeshymnen auf die Genialität Mao Zedongs. Im Anschluß an seine Rede meldeten
sich die Mitglieder seiner „Fraktion“ zu Wort und unterstrichen die Ausführung des
Vize-Vorsitzenden.
Die Mitglieder der kulturrevolutionären „Fraktion“ im Politbüro Jiang Qing und Zhang
Chunqiao sahen nun ihre Chance gekommen und berichteten Mao von den
Vorgängen auf und um die Sitzung herum. Sie hielten es für möglich, Lin Biaos
Illoyalität gegenüber Mao auszunutzen, um sich selbst in eine für die Nachfolge
günstigere Position zu bringen. Und sie sollten Recht bekommen: Mao rief am Abend
des 25.August eine um Jiang Qing und Zhang Chunqiao erweitere Sitzung des
ständigen Ausschusses des Politbüros ein, in der Chen Boda als einer der engsten
Mitstreiter Lin Biaos in Sachen Staatsoberhaupt zur Selbstkritik aufgefordert und der
Beschluß gefällt wurde, die Frage des Staatspräsidenten nicht weiter zu diskutieren.
Zugleich verfaßte er ein Dokument, das er unter den anwesenden Mitgliedern der
Parteiführung zirkulieren ließ und in dem er seine engsten „Kampfgenossen“ des
„bürgerlichen Idealismus“ bezichtigte. Seine Kritik führte zur sofortigen Entlassung
Chen Bodas und signalisierte Lin Biao sowie seiner Gefolgschaft aus der Armee, daß
die Auseinandersetzung sich verschärfte. Diese hatten de facto eine herbe
Niederlage erlitten und sahen sich, wollten sie ihren eigenen Untergang verhindern,
zu weitaus radikaleren Vorstößen genötigt, zumal sich bald herausstellen sollte, daß
Mao Zedong sich mit der Entlassung Chen Bodas nicht zufriedengeben würde.
Zunächst versuchten Lin Biao und seine Gefolgschaft Zeit dadurch zu gewinnen, daß
sie dem Vorsitzenden Selbstkritiken vorlegten. Doch Maos Mißtrauen konnte dadurch
nicht gebrochen werden. Im Gegenteil, er brachte nicht nur seinen Unmut über die
Selbstkritiken zum Ausdruck, sondern unternahm alles, um die kulturrevolutionäre
Fraktion innerhalb der Parteiführung zu stärken und im Militär seinen eigenen Einfluß
geltend zu machen. Mittel der Veröffentlichung dieses partei-internen Zwists war die
über die Massenmedien geführte Kampagne zur Kritik an Chen Boda, ein geschickter
Schritt, mit dessen Hilfe die Kunde über Maos sinkendes Vertrauen in Lin Biao weit
über den Kreis der Eingeweihten hinaus verbreitet werden konnte.
Derart in die Enge getrieben, entschloß sich Lin Biao, die Verbindung zu Mao
Zedong als Grundlage für seinen Machtanspruch aufzugeben und einen direkten
Konfrontationskurs einzuschlagen. Lin Biao versuchte, mittels eines Coup d‘état an
die Macht zu kommen und stützte sich dabei nicht auf seine Gefolgsleute in der
Partei –und Armeeführung, sondern auf eine Gruppe junger Offiziere aus der
Luftwaffe der Volksbefreiungsarmee, die mit seinem Sohn Lin Liguo verbunden war.
Das Komplott trug den Decknamen „571“ (lautlich verwandt mit wuqiyi, i.e.
bewaffneter Aufstand). Mao sollte auf dem Rückweg von einer Reise nach Südchina
durch einen Bombenanschlag auf seinen Zug ausgeschaltet werden. Doch Mao
ahnte, was ihm bevorstand, und erhielt vermutlich Hinweise auf einen drohenden
Anschlag, weshalb es ihm gelang, durch kurzfristige Veränderung seiner Route dem
Attentat zu entkommen. Er erreichte Peking, noch bevor Lin Liguo und seine
Mitkonspiratoren sich hatten auf eine Methode, Mao umzubringen, einigen können.
Die nächste Stufe des Planes, welche die Gründung einer Gegenregierung in Kanton
vorsah, scheiterte ebenfalls, diesmal aufgrund der Denunziation der Tochter Lin
Biaos, die von ihrem Bruder bis zu einem gewissen Maße in die Umständ des
bevorstehenden Fluges ihrer Eltern von deren Ferienort im Norden Chinas nach
Kanton eingeweiht worden war. Auf die Weise wurde Zhou Enlai alarmiert: Dieser
13
versuchte, den Flug der Familie Lin zu verhindern, indem er den eng mit Lin Biao
verflochtenen Offizier, der das Kommando über den Militärflughafen hatte, von dem
aus Lin Biao zu starten gedachte, mitteilte, die Maschine dürfen nur starten, wenn
außer Zhou noch 3 weitere Mitglieder des Politbüros, übrigens alle aus der
Gefolgschaft Lin Biaos, dem zustimmten. Als Grund für diese Maßnahme gab er das
schlechte Wetter und die damit verbundene hohe Gefahr für Leib und Leben des
stellvertretenden Vorsitzenden Lin an. Das wiederum erregte das Mißtrauen der
umgehend von dieser Weisung in Kenntnis gesetzten Familie Lin, die sofort alles für
einen vorzeitigen Abflug vorbereitete. Auf dem Militärflughafen wagte man nicht, sich
den Befehlen Lin Biaos zu widersetzen, zumal die Weisung Zhou Enlais auch nicht
im Wortlaut weitergegeben worden war. Das Flugzeug startete, kam jedoch nie, wie
ursprünglich geplant, in Kanton an, sondern wurde gegen Mitternacht auf dem
Radarschirm erfaßt, als es die Grenze zur Mongolei überquerte. Am nächsten Tag
teilte der mongolische Botschafter in der VR China der chinesischen Regierung
offiziell mit, die Maschine, die einzige Trident aus britischer Produktion in
chinesischem Besitz, sei über der Mongolei abgestürzt. Warum Lin Biao seinen Plan,
eine Gegenregierung in Kanton zu errichten, nie ausführte und warum das Flugzeug
über der Mongolei abstürzte, bleibt bis heute ungeklärt.
Der Aufstieg Lin Biaos zum designierten Nachfolger Mao Zedong scheint auf ersten
Blick einem Muster zu folgen, das immer wieder in der chinesischen
Geschichtsschreibung beschrieben wird. Wenn immer die ökonomische Lage sich
erheblich verschlechterte – oft in Folge von Naturkatastrophen - , machte sich der
Unmut der Bevölkerung in Form von lokalen Revolten bemerkbar, denen sich die
Regierung mit Hilfe des Militärs entgegenstellte. In diesem Zusammenhang gewann
das Militär an Einfluß auf die Politik, und zwar sowohl auf der Seite der Regierung als
auch auf Seiten der Aufständischen. Aus diesem Prozeß, der oft Dekaden in
Anspruch nahm, kristallisierte sich häufig ein militärischer Führer heraus, der meinte,
so stark zu sein, daß er die herrschende Dynastie stürzen und durch eine neue
ersetzen konnte. Die Wehrlosigkeit der Herrschenden war Ausdruck dafür, daß sie
das Mandat des Himmels verloren hatten. Mit dem Dynastiewechsel würde in der
Regel auch eine Verlegung der Hauptstadt einhergehen. Die am Dynastiewechsel
beteiligten Militärs würden nach Errichtung der neuen Dynastie zunächst eine
entscheidende Rolle in der Politik übernehmen. Hat Lin Biao also von dem letzten
von diesem Modell vorgesehenen Schritt, der Gründung einer Gegenregierung in
Kanton, deshalb abgesehen, weil er sich seines Mandates doch nicht sicher war und
das Mandat Maos noch nicht als „verloren“ betrachten konnte? Oder war es einfach
die Angst vor der niederschmetternden Autorität Maos und das Bewußtsein seiner
eigenen Schwäche, die ihn daran hinderte, seinen Plan in letzter Konsequenz zur
Ausführung zu bringen? Und wenn ja, war Mao Zedong überhaupt noch der
charismatische und nicht zu überbietende Führer der Partei und des chinesischen
Volkes, den Lin Biao noch immer vor sich meinte?
Die obige Darstellung der Auseinandersetzung wird von Teiwes sowie inoffiziellen
Quellen aus der VR China, auf die Teiwes sich bezieht, in Frage gestellt. Für Teiwes
ist nicht Lin Biao die treibende Kraft in der Auseinandersetzung, sondern Mao
Zedong, nicht Mao Zedong ist das zumindest anvisierte Opfer, sondern Lin Biao.
Teiwes sieht Lin Biao als von Mao Zedong in die Rolle des designierten Nachfolgers,
der seine Machtgier nicht unter Kontrolle zu bringen vermag, gedrängt, eine Rolle,
die er zu übernehmen hatte, weil Maos siegreiche Unterdrückung dieses neuen
Feindes ihm selbst zum Ruhme und dem Militär zur Schande gereiche. Die
Putschpläne waren dabei weder Teil der Strategie Maos gegen Lin noch Teil der
Pläne Lin Biaos gegen Mao, sie entstammten dem Hirn des jungen Lin Liguo, der
14
seinen zur Passivität neigenden Vater für eigene Pläne instrumentalisierte und im
übrigen tat, was er für richtig hielt. Lin Biao war damit in die Falle eines jungen
Heißsporns und eines machtsüchtigen Greises gegangen. Ausgangspunkt für Teiwes
Revisionismus in der Interpretation der Vorgänge um Lin Biao ist die für chinesische
Verhältnisse durchaus ungewöhnliche Tatsache, daß Lin Biaos Konterfeit auf einer
Briefmarke erschien, die 1983 in der VR China zu kaufen war. Wie konnte ein
General, der Mao umbringen und eine Gegenregierung in Kanton gründen wollte und
angesichts der drohenden Niederlage zum „Feind“ überlief, wie konnte dem in einem
Satz von Briefmarken gedacht werden, der den ruhmreichen Marschällen der
Volksbefreiungsarmee gewidmet war? Dieser Vorgang ist noch mehr als die
Retuschierung Lin Biaos aus öffentlich zugänglichen Photos, auf denen er mit Mao
Zedong zusammen abgebildet war, durchaus beachtlich und legt nahe, daß die
„Verbrechen“ Lin Biaos wohl nicht ganz so schlimm gewesen sein können, wie sie
bisher offiziellerseits dargestellt werden. Angelpunkt der Interpretation von Teiwes ist
die Annahme, daß Lin Biao ohne eigene Hintergedanken das Loblied auf Mao
Zedong gesungen habe. Er wie die Parteispitze überhaupt sei der übergroßen
Autorität Mao Zedongs erlegen und habe deshalb die Machtfrage überhaupt nicht
erst stellen können. Für ihn insbesondere, aber auch für die übrigen Mitglieder der
Parteiführung habe es so etwa wie ein Eigeninteresse nicht gegeben. Der von
Teiwes offensiv vertretene Mao-Zentrismus degradiert die Parteielite um Mao
Zedong zu Marionetten.
Dabei ist eines sicher: Aus den oben beschriebenen Vorgängen ist nicht nur Lin Biao
als Verlierer hervorgegangen. Auch Maos Ansehen hatte angesichts der Tatsache
gelitten, daß dem von ihm auserwählten Nachfolger nachgesagt wurde, er habe sich
letztlich gegen ihn gewandt und sei nicht davor zurückgeschreckt, einen Anschlag
auf ihn zu planen. Er mußte befürchten, daß seine seherischen Fähigkeiten, die seit
Beginn der Kulturrevolution immer mehr in den Mittelpunkt des Mao-Kultes gerückt
waren, von der Bevölkerung in Frage gestellt würden. Wie konnte der große
Vorsitzende in der von ihm selbst und der tagtäglich wiederholten Propaganda als
zentral herausgestellten Frage der Auswahl seines Nachfolgers ein zweites Mal
fehlen? Wie konnte das Diktum vom erfolgreichen Verlauf der Kulturrevolution
aufrechterhalten werden, wenn genau der Führer, der aus ihr hervorgegangen war,
sich gegen den stellte, der sie initiiert hatte? Erst mit gehörigem Zeitabstand zu den
oben beschriebenen Vorgängen sollte der Bevölkerung mitgeteilt werden, daß Lin
Biao ein „faules Ei“ war und das ihm adäquate Ende als Linksopportunist und
intriganter Usurpator gefunden habe. Eine genauere Darlegung der Umstände seiner
letzten Tage blieb die Propagandamaschinerie ihren Rezipienten jedoch lange
schuldig. Auch das ein Hinweis darauf, daß Mao Zedong und die Parteiführung sich
selbst durch die Vorgänge in ihrem Führungsanspruch gegenüber der Bevölkerung
geschwächt sahen. Andererseits hatte Mao Zedong immer wieder seine Autorität
unterstrichen, indem er die Krise heraufbeschwor und die Hilfe der Massen bei der
Überwindung interner Feinde eingefordert hatte. Gerade die Instabilität der Lage
hatte ihm genutzt, weil er in ihr als der einzig stabile Faktor erschien und alle, die sich
mit ihm verbanden, an dieser Sicherheit teilhaben lassen konnte. Indem sich Lin Biao
als der exponierteste Betreiber der Mao-Kultes letztlich als dessen tödlicher Feind
entlarvte, wurde das offenbar tief verwurzelte Mißtrauen der chinesischen
Bevölkerung gegenüber den höchsten Vertretern der Macht bedient und gleichzeitig
Mao als der einzige stilisiert, der in völliger Selbstlosigkeit „dem Volke diente“, zu
sehr ähnelte der Kampf des Lin Biao um die Macht den unzähligen Palastintrigen,
von denen wir in den chinesischen Geschichtsbüchern lesen.
15
Auch die Position Maos innerhalb der Parteiführung hat kurzfristig betrachtet keinen
größeren Schaden genommen, war doch allen mit einander rivalisierenden
„Fraktionen“ innerhalb der Parteiführung noch einmal vor Augen geführt worden, daß
sowohl der Lin Biao zugeschriebene Plan, mit Hilfe Mao Zedongs noch vor dessen
Ableben an die Macht zu gelangen, gescheitert als auch der Versuch, gegen Mao
einen Machtwechsel durchzusetzen. Auch führte ihnen Mao vor Augen, daß der
erfolglose Versuch Lin Biaos nicht nur ihm eine Niederlage beschert hatte, sondern
auch seine gesamte Gefolgschaft aus den obersten Etagen der Macht verbannen
sollte. In dem nach der Lin-Biao-Affaire neu gestalteten Politbüro war keiner der zu
seiner engeren Gefolgschaft gehörenden Militärs mehr vorgesehen. Obwohl ihnen
bis zum heutigen Tage eine direkte Beteiligung an den Plänen Lin Biaos nicht
nachgesagt werden konnte, wurden sie sofort aus ihren Ämtern entlassen, standen
zunächst unter Hausarrest und wurden später vor Gericht gestellt. An ihrer Stelle
sollte General Ye Jianying, ein Mitglied der Fraktion der alten Garde, die wichtigste
Verbindungsperson zur Armee werden und aus dieser Position heraus 1976 eine
bedeutende Funktion beim Sturz der „Viererbande“ übernehmen. Zhou Enlai, der
während der Kulturrevolution immer wieder eine Mittlerrolle zwischen Mao Zedong
und der Gruppe der Kulturrevolution auf der einen und dem Parteiapparat auf der
anderen übernommen hatte, ging ebenfalls gestärkt aus den Vorgängen hervor,
hatte er doch angeblich eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung von Lin
Biaos Flug nach Kanton gespielt. Er war nun Nr. 2 in der Parteihierarchie und mit
seinen diplomatischen Fähigkeiten sowohl in der Außen- wie in der Innenpolitik
unersetzbar. Mit ihm und mit der Aufwertung Ye Jiangyings erstarkte somit die später
siegreiche Gruppe der Überlebenden aus dem Chaos der Kulturrevolution, und er
sollte diese zurückgewonnene Macht reichlich nutzen, um durch die Rehabilitierung
während der Kulturrevolution entmachteter Kader auch in den unteren Gliederungen
der Partei diesem Loyalitätsverbund zu mehr Einfluß zu verhelfen.
Die Gruppe der Kulturrevolutionäre in der Parteispitze war demgegenüber zunächst
eher von einem Einflußverlust bedroht, war sie doch in den Augen der nicht im
engsten Zentrum der Macht Stehenden mit Lin Biao eng verbunden. Sie brauchte
also Zeit, um sich für die Öffentlichkeit nachvollziehbar aus dem Dunstkreis Lin Biaos
zu lösen, und personelle Verstärkung, um ein Gegengewicht gegen Zhou Enlai und
die alte Garde bilden zu können. Diese Verstärkung bescherte ihr die zunehmende
Integration von „Kulturrevolutionsgewinnlern“ in die oberste Parteiführung. Diese
wurden überwiegend aus dem Militär, aber auch aus den Reihen der Parteiführer aus
den Provinzen rekrutiert. Als besondere Unterstützung Mao Zedongs für diese
Gruppe sollte jedoch der eilig von Shanghai nach Peking versetzte Wang Hongwen
gelten, der im Pekinger Volksmund als „Senkrechtstarter“ bezeichnet, in kürzester
Zeit den Weg bis in die oberste Parteiführung machte und auf dem 10.Parteitag im
August 1973 bereits Platz 3 in der Hierarchie einnahm, als einer der stellvertretenden
Parteivorsitzenden fungierte und einen Platz im Ständigen Ausschuß des Politbüros
erhielt. Angesichts der Tatsache, daß Zhou Enlai als Nachfolger Maos wegen
gesundheitlicher Probleme nicht in Frage kam, war Wang damit in den Augen der
Bevölkerung der neue Kandidat für den Parteivorsitz in der Ära nach Mao Zedong.
So wenig die Bevölkerung über die Massenmedien konkret über die Vorgänge um
Lin Biao erfahren sollte, so sehr sollten sich die Zeitungen mit Artikeln füllen, die
Einblick in den Rivalitätskampf zwischen den unterschiedlichen „Fraktionen“ an der
Spitze der Partei gaben. Wer immer gerade über mehr Einfluß in der Parteispitze
verfügte, dominierte die Propagandamaschinerie und ließ über sie seine „Linie“ an
die Öffentlichkeit bringen. Zunächst hatte die Gruppe um Zhou Enlai dazu
Gelegenheit. Während sie die Rehabilitierung in der Kulturrevolution gesäuberter
16
Kader betrieb, lancierte sie Artikel in der Presse, in denen Lin Biao als Linksextremist
kritisiert wurde, um damit indirekt zu einer Rücknahme kulturrevolutonärer
Maßnahmen vor allem im Bereich der Landwirtschaft und im Bildungssektor
aufzurufen. Es ging dabei letztlich um die Bewertung der Kulturevolution und die
Frage, ob diese als erfolgreich und für die weitere Entwicklung in der VR China
modellhaft betrachtet werden sollte, so wie dies von den Nutznießern und Betreibern
der Kulturrevolution innerhalb der Parteispitze gefordert wurde. Doch der
10.Parteitag erwies, daß die Bemühungen der Gruppe um Zhou Enlai noch nicht
ausreichten, um längerfristig die Geschicke der Partei bestimmen zu können. Das
neue Parteistatut, das auf ihm verabschiedet wurde, forderte, daß Kulturrevolutionen
auch in Zukunft wiederholt werden sollten und stufte die Abweichungen Lin Biaos
nicht als „links“-, sondern als rechtsopportunistisch ein. Die Partei sollte also ihrem
Kampf gegen den Rechtsopportunismus oberste Priorität einräumen. Zhou Enlai an
der Spitze der „Fraktion“ der alten Revolutionäre war damit indirekt zum „Objekt“ des
Kampfes geworden.
Doch Mao Zedong gab Zhou Enlai nicht zur öffentlichen Kritik frei. Er spielte dabei
nicht nur das bekannte Spiel, Rivalitäten innerhalb der Parteispitze in seinem Sinne
auszunutzen; er brauchte Zhou Enlai und den sich um hin scharenden Partei- und
Regierungsapparat aus pragmatischen wie aus taktischen Gründen. So sind die
letzten Jahre vor seinem Tod von Massenkampagnen geprägt, die wohl kaum die
Massen erreichen konnte. In der Kampagne zur „Kritik an Lin Biao und Konfuzius“
setzte sich ein neuer, wenn auch den Gebildeten in China höchst vertrauter Stil
durch: das Alte für das Neue nutzen. In geradezu esoterisch gehaltenen Artikeln
wurde
Konfuzius
als
ideologischer
Vorreiter
der
Restauration
der
Sklavenhalterordnung im Kampf gegen die von Qin Shihuang, dem ersten Kaiser von
China, der das Reich 331 v.Chr. einte, errichte Feudalordnung kritisiert und das
Argument lanciert, alle aus Revolutionen hervorgegangen Gesellschaften machten
eine lang andauernde Phase des Kampfes zwischen Revolution und Restauration
durch, bevor sie sich eines Tages konsolidieren könnten. Gemeint war damit, daß
auch der Sozialismus in China, wiewohl er nun schon seit fast dreißig Jahren als
etabliert zu gelten habe, nach wie vor der Gefahr der Restauration des Kapitalismus
ausgesetzt sei. Qin Shihuang stand dabei für Mao Zedong, eine Anspielung, die
durchaus Gefahren in sich barg, war es Qin Shihuang doch nicht gelungen, die von
ihm errichtete Dynastie über seinen Tod hinaus länger als 30 Jahre zu bewahren,
obwohl er seine Gegner, die Konfuzianer, mit den abscheulichsten Mitteln bekämpfte
und Hunderte von ihnen lebendig begraben ließ. Andererseits wurde Lin Biao des
Konfuziuskultes bezichtigt, weil angeblich über seinem Bett das Konfuziuszitat
„Überwinde Dich selbst und kehre zurück zu den Riten“ hing. Doch bald erlahmte das
Interesse an Konfuzius, und der Minister Li Si wurde ins Kreuzfeuer der Kritik
genommen, eine allzu offensichtliche Anspielung auf Zhou Enlai, die wiederum
Gefahren in sich barg, war es doch genau das „Konfuzianische“, der Tradition
verhaftete, nach Ausgleich und Konsens suchende Wesen Zhou Enlais, das ihn in
der Bevölkerung in diesen Jahren zu dem beliebtesten Politiker werden ließ. So
spiegelte die Kampagne die Rivalitäten in der Parteiführung wieder, ohne jedoch die
Gewißheit zu verbreiten, daß die Kulturrevolutionäre aus ihnen siegreich
hervorgehen würden, sobald es zur alles entscheidenden „Schlacht“ um die
Nachfolge Mao Zedongs kommen würde.
Eine weitere Kampagne befaßte sich mit dem Problem des Kapitulationismus in der
chinesischen Geschichte. Auch hier wurde wieder auf historische Beispiele
zurückgegriffen, diesmal auf Song Jiang, den Führer einer Bauernrevolte, der die
17
Möglichkeit eines Dynastiewechsels dadurch verspielte, daß er vor den Truppen des
Kaisers kapitulierte, auch das wieder ein indirekter Angriff auf Zhou Enlai.
Während die kulturrevolutionäre Fraktion auf dem ideologischen Feld versuchte, ihre
Gefolgschaft an sich zu binden, wirkte Zhou Enlai trotz der prekären politischen
Lage, in der er sich befand, und trotz seiner gesundheitlichen Probleme – seit Januar
1974 war er bis zu seinem Tode im Januar 1976 praktisch wegen einer
fortschreitenden Krebserkrankung die meiste Zeit im Krankenhaus - das Feld zu
besetzen, auf dem er und seine Verbündeten ihre Stärken hatten. Auf dem 4.Plenum
des Nationalen Volkskongresses, das eigentlich schon vor der Lin-Biao-Affäre hätte
tagen sollen und schließlich im Januar 1975 einberufen wurde, verkündete er das
Programm
der
vier
Modernisierungen
in
Landwirtschaft,
Industrie,
Landesverteidigung, Wissenschaft und Technik, das später Grundlage der
Reformpolitik in der Ära Deng Xiaoping werden sollte. Zusammen mit Deng Xiaoping,
der in die Parteiführung zurückgekehrt war, um Zhou Enlai zu entlasten, wurde
bereits vor dem Tod Mao Zedongs ein Programm entworfen, das den ökonomischen
Wiederaufbau einleiten sollte. Keine dieser Überlegungen konnten in der Zeit
zwischen 1973 und 1976 in die Tat umgesetzt werden. Es gelang aber trotz der
Dominanz der kulturrevolutionären Gruppe in den Medien, diesen Vorstellungen weit
über den Kreis der engeren Parteiführung hinaus Gehör zu verschaffen und
innerhalb der politisch aktiven und interessierten Kreise der Bevölkerung das Bild von
zwei „Fraktionen“ innerhalb der Parteiführung entstehen zu lassen, die eine
unterschiedliche politische Programmatik verfolgten.
Daß der „Kampf um die öffentliche Meinung“, wie Mao Zedong ihn einmal
bezeichnete, Auswirkungen auf das politische Verhalten eben jener politisch
interessierten Öffentlichkeit haben sollte, zeigte sich spätestens im Zusammenhang
der Trauerfeierlichkeiten nach Zhou Enlais Tod. Da die von der kulturrevolutionären
„Fraktion“ dominierte Presse sich mit Lobeshymnen über Zhou Enlai zurückhielt und
eher die Parole ausgab, man solle Kraft in Trauer verwandeln, als daß sie der in der
Bevölkerung weit verbreiteten Trauer Ausdruck verlieh, verbreitete sich in Peking das
Gerücht, Zhou Enlai sollte eine Feuerbestattung erhalten, um einer von der
Bevölkerung gewünschten Mumifizierung seiner Leiche zuvorzukommen und eine
seinen Verdiensten angemessene Bekundung von Trauer und Verbundenheit zu
unterbinden. Man versammelte sich deshalb vor dem Krankenhaus, in dem Zhou
Enlai gestorben war, und versuchte die Abfahrt des Leichenwagens so lange zu
verhindern, bis die Ehefrau Zhou Enlais, Deng Yinchao, vor den Toren des
Krankenhauses eine Erklärung abgab, wonach Zhou Enlai die Feuerbestattung
selbst gewünscht habe, weil er Zeit seines Lebens den Personenkult abgelehnt
habe. Der Leichenwagen konnte endlich das Krankenhaus verlassen und wurde auf
dem gesamten Weg quer durch die chinesische Hauptstadt von einer trauernden
Bevölkerung begleitet, die hier nicht nur einem hoch geschätzten Politiker ihren
Respekt erwies, sondern zugleich auch einer politischen Präferenz Ausdruck verlieh.
Wie politisch dieser Trauerzug war, zeigte sich im April 1976, als das von Chinesen
in aller Welt begangene Totenfest in Peking, aber auch in einigen andere großen
Städten der VR China zu einer politischen Demonstration für Zhou Enlai und - wie es
heute heißt – gegen die „Viererbande“ genutzt wurde. Der Vorwurf, man habe den
Tod Zhou Enlais nicht richtig betrauern könne, weil dies politisch nicht erwünscht
gewesen sei, wurde wieder laut, und Delegationen aus Universitäten, Schulen,
Ministerien und Fabriken zogen auf den Tian-An-Men-Platz, um dort am Mahnmal für
die Helden der Revolution Trauerkränze für Zhou Enlai niederzulegen. Gedichte
wurde verfaßt, die in mehr oder minder verschlüsselter Form Kritik an der
Kulturrevolution und der mit ihr am engsten verbundenen Jiang Qing übten, Reden
18
wurden gehalten, in denen im Gewande der Trauer an Zhou Enlai ein politischer
Neuanfang gefordert wurde. Die Stadtregierung von Peking schaute dem Treiben
drei Tage lang fast tatenlos zu, bevor der Bürgermeister Wu De ultimativ die
Räumung des Platzes forderte. Am Abend des 4.Tages befand sich nur noch eine
kleine Zahl wild Entschlossener auf dem Platz – wie sich später herausstellte,
überwiegend Töchter und Söhne der in der Kulturrevolution verfolgten Kaderfamilien.
Auf sie hetzte Wu De Arbeitermilizen aus den Fabriken der Hauptstadt, ließ viele
festnehmen und in den Gefängnissen unmenschliche Qualen erleiden. Kaum einer
von ihnen kam vor dem Sturz der „Viererbande“ wieder in Freiheit, manche bezahlten
ihren Einsatz gegen die kulturrevolutionäre Fraktion mit ihrem Leben.
Noch am selbigen Abend tagte das Zentralkomitee und beschloß die sofortige
Entfernung Deng Xiaopings aus all seinen Ämtern. Er wurde für den Aufruhr
verantwortlich gemacht und in der Presse als „nicht besserungswilliger Machthaber
auf dem kapitalistischen Weg“ bezeichnet.
Mao Zedong war in diesen Tagen und Wochen schwer erkrankt – 1972 hatte er
bereits einen schweren Schlaganfall erlitten, außerdem war er wegen einer
fortschreitenden Parkinson-Erkrankung zuletzt bewegungsunfähig, seine Worte
wurden nur noch von denen verstanden, die tagtäglich mit ihm zusammen waren und
dementsprechend als „Übersetzer“ für die noch immer eilfertig um Rat suchenden
Mitglieder der Parteiführung fungierten. Und dennoch übte er nach wie vor seine
Funktion als über allem stehender Vorsitzender aus. Ähnlich wie in der frühen Phase
der Kulturrevolution versuchte jede in der Parteiführung vertretene Gruppe, ihren
politischen Vorstößen durch seinen Rückhalt die notwendige Autorität zu verleihen.
Durch den Neffen Mao Zedongs Mao Yuanxin verfügte die Gruppe der
Kulturrevolutionäre über die direkteste Kontaktperson zu Mao. Durch seine Hände
gingen Anfragen an wie kaum leserliche Antworten von dem von Krankheit schwer
gezeichneten Parteiführer. So erhielt auch der Beschluß der Parteiführung über die
Entfernung Deng Xiaopings aus all seinen Ämtern die formelle Absegnung durch
Mao Zedong. Trotz Altersschwäche und Krankheit stand er immer noch im Zentrum
der Macht.
Wenn diese Darstellung stimmen sollte, Mao somit in den letzten Monaten vor
seinem Ableben enger mit der kulturrevolutionären Gruppe um Jiang Qing als mit
den Revolutionären der 1.Generation um Deng Xiaoping verbunden war, wenn es
stimmt, daß die Proteste am 5.April 1976 gegen eben jene Jiang Qing und die um sie
versammelte Gruppe der Kulturrevolution gerichtet war, warum, so stellt sich die
Frage, warum sollte die Bevölkerung aus Anlaß seines Todes in tiefe Trauer
versinken anstatt sich von der Last des großen Führers befreit zu fühlen? Ist es der
tief in jedem Chinesen sitzende Wunsch nach Autorität, den Lucien Pye zu erkennen
meint, der diese Reaktion bedingte, oder die Angst vor dem Chaos, das sich aus
dem Verlust des Machtzentrums, so wie Teiwes es beschreibt, unweigerlich ergeben
mußte? Ist die Trauer Ausdruck der wahrhaftig empfundenen Liebe zu Mao Zedong,
sowie es die Parteigeschichtsschreibung bis heute formuliert, oder doch alles eine
gut inszenierte Show, wie die westlichen Medien es vermuteten?
Wahrscheinlich war in der eingangs beschriebenen Reaktion auf die Tod Mao
Zedongs von allem etwas enthalten. Am wichtigsten erscheint jedoch eine Dimension
dieser Trauer zu sein, die angesichts dessen, was sich in den letzten Jahren in der
VR China entwickelte, besonders schwer zu begreifen ist: Es ist dies die Aura der
Größe, der Weisheit, des Sieges und der Stärke, die China groß und stark
erscheinen ließ, ohne daß es dies in ökonomischen oder militärischen Kategorien
war; es ist dies die Einzigartigkeit, die ihn umgab, welche China als Ersatz dafür,
daß es sich einst als die Welt begriff, nun als in seiner Einzigartigkeit herausragend
19
erscheinen ließ. Es ist dies seine ungewöhnliche Anziehungskraft auf alle Mächtigen
dieser Welt, an der das durch die Kolonialisierungsdrang der Europäer jäh zum
Armenhaus der Welt degradierte China teilhaben und auf die Weise ein wenig von
seiner Größe wiedererlangen konnte. Mao Zedong vereinte die Bewohner Chinas zur
Nation und verlieh jedem einzelnen eine über sich selbst, die Familie, das Dorf und
die Einheit hinausgehende Identität, welche auch in Zeiten größter Not, Erniedrigung,
Chaos und Ohnmacht in ihrer Größe Bestand hatte. Er war Trost und Utopie
zugleich, der Brennpunkt all jener Hoffnungen, die im Alltäglichen nie verwirklicht
werden können. Ohne ihn verlor jeder diese Dimension und blieb zurück in der
jeweils individuellen Kleinheit, die er unausweichlich angesichts der Größe des
Führers angenommen hatte, in einem Land, das ohne Mao Zedong nur noch das
war, was es wirklich war: arm, rückständig, zerrüttet und schwach.
Je weiter Mao von den Sorgen des Alltags entfernt war, je mehr er zu dem Mönch
unter dem Regenschirm wurde, mit dem er sich selbst verglich – einsam und die
Erkenntnis aus sich heraus, nicht als Eingebung des Himmels gebärend -, um so
mehr wurde er zu einer symbolischen Kraft, die weit mehr als Organisationen und
Ideologien, ganz zu schweigen von Polizei und Armee, ein in kleinste Einheiten
fragmentiertes, über eine riesiges Territorium verstreutes Volk vereinte. Doch je
näher man an ihn herankam, um so mehr wurde aus der symbolischen Kraft eine
bitter erkämpfte und mit allen Mittel verteidigte Macht. Deshalb konnte die
Parteiführung im Gegensatz zu der Annahme von Teiwes eben nicht jenem Bann
erliegen, der sie zur willenlosen Marionette in den Händen des Parteiführers machte.
Sie unterwarf sich Mao Zedong so weit und so lange, wie dies ihren eigenen
Interessen entsprach, weil sie um dessen Wirkung und Funktion wußte. Daß sie sich
dabei öfter verkalkulierte als er, hat nicht verhindert, daß genau die Gruppe innerhalb
der Parteiführung von ihm das Zepter übernahm, die er in den letzten zehn Jahren
seines Lebens mit allen Mitteln zu entmachten versucht hatte.
20
Herunterladen