Der Missbrauch der Medizin für die Zwecke des MfS gehört zum

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Der Missbrauch der Medizin für die Zwecke des Ministeriums für Staatssicherheit gehört zum
dunkelsten Kapitel der DDR-Vergangenheit und es gibt Gründe dafür, dass Erich Mielke diesen
Themenbereich zur Chefsache erklärte. Heidrun Budde gibt in diesem Beitrag Einblick in dieses
brisante und bislang noch wenig erforschte Thema.
Die Frage, wie die Medizin für die Ziele und Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
(MfS) missbraucht wurde, fand bisher wenig Beachtung. Es ist zwar allgemein bekannt, dass es im zivilen
medizinischen Bereich Zuträger, “Inoffizielle Mitarbeiter” des MfS, gab, aber die Frage, ob daneben
weitere Einflussbereiche durch das MfS und eine getarnte Zusammenarbeit existierten, wurde bisher
öffentlich kaum diskutiert.
Die Akten zeigen, dass das MfS ab 1973 über ein Arbeitsgebiet “operative Medizin” verfügte und dass der
heimliche Zugriff auf medizinische Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitspflege wohlorganisiert war.
Erste Untersuchungen zeigen auf, dass es Anhaltspunkte für ein medizinisches Schattenreich in der DDR
mit brisanten Aufgaben gab, das streng geheim von der Staatssicherheit geführt wurde.
ZMD des MfS
Der Zentrale Medizinische Dienst des MfS (ZMD des MfS) hatte nicht nur die Aufgabe der
Gesundheitsfürsorge für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Geheimdienstes. Daneben gab es
“militärmedizinische und militärtschekistische Aufgabenstellungen” sowie “organspezifische Aufgaben”.
Ärzte des MfS führten “fachspezifische operative Einsätze” durch und die Anregungen für “politischoperative Aktionen” des ZMD kamen direkt vom Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke:
Erich Mielke machte die Einbindung des ZMD in die “operative” Arbeit zur Chefsache, was auf die
Bedeutung dieser Struktureinheit hinweist.
“Operative Medizin” des MfS
Spätestens 1973 verfügte das MfS über ein Fachgebiet “operative Medizin”, das “noch günstigere
Voraussetzungen zur Unterstützung bei operativen Fragen” schaffen sollte, was Oberst Rosulek am 23.
September 1973 in einer Beurteilung über die Arbeit des Chefs des ZMD Günter Kempe lobend erwähnte.
Der medizinische Bereich sei nun “vielseitiger als bisher nutzbar” und würde stärker als in der
Vergangenheit mithelfen, “die spezifischen politisch-operativen Probleme” zu lösen.
Beim ZMD wurden “Medizinische Mittel, Methoden und Möglichkeiten” unterschieden. Der Chef des
ZMD, Günter Kempe, hatte “wesentlichen Anteil an der Konzipierung und am Aufbau des Bereiches
operative Medizin” und in der Begründung zur Verleihung des akademischen Titels “Professor” an ihn ist
zu lesen, dass die Psychologie für die Staatssicherheit ein “operativer Hebel für die Arbeit im inoffiziellen
Netz” und die Anwendung von “Hypnose” und “Suggestologie” von “operativem Interesse” sei.
Abteilung 10 des ZMD
Zum Jahresbeginn 1975 wurde die Abteilung 10 des ZMD geschaffen. Medizinisches Personal dieser
Abteilung war auf den Gebieten der “operativen Medizin” und der “operativen Psychologie” tätig. Zu den
Aufgaben dieser Abteilung gehörte das “Hineinwirken in das staatliche Gesundheitswesen in
Krankenhäuser, Polikliniken und wissenschaftliche Einrichtungen unter Nutzung von Spezialisten, d. h.
Fachärzten der verschiedensten Disziplinen” zur Bewältigung von “operativ-medizinischen und operativpsychologischen” Aufgaben, was allerdings öffentlich nicht bekannt werden durfte.
So wurde am 1. Juni 1971 ein “Arzt, Abt. medizinische Sonderaufgaben” beim MfS eingestellt, ohne dass
sich seine Tätigkeit in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) zunächst änderte. Bis zum 31. März 1974 war er
weiter als Betriebsarzt beim VEB Spezialhochbau Berlin (vormals VEB Montagebau Berlin) tätig und sein
gleichzeitiges Dienstverhältnis zum MfS unterlag strengster Geheimhaltung.
Laut Akten hatte der VEB Spezialhochbau eine “Zwitterstellung”, die allerdings nicht näher erklärt wird,
und der Arzt war “Kompaniechef einer medizinischen Kompanie”, ohne dass die Akten darüber aufklären,
welche Aufgaben sich dahinter verbargen.
Für diese “inoffiziellen Fachärzte” des MfS gab es regelmäßige Zusammenkünfte. 1984 gliederte die
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin alle inoffiziell genutzten Spezialisten der Abteilung 10, die
keine Angehörigen von Mitarbeitern des MfS waren, “in sein inoffizielles Netz ein.” Ausdrücklich wird
erwähnt, dass “finanzielle oder materielle Zuwendungen für geleistete Arbeit solcher Spezialisten”
geflossen sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Einbindung dieses Personenkreises beim MfS
gründlich vertuscht wurde, denn zu den Aufgaben dieser Abteilung 10 gehörte auch die “Legendierung und
Abdeckung von inoffiziellen oder gedeckten Kräften des MfS mit medizinischem Hintergrund.”
Es war ein hochgeheimes medizinisches Schattenreich in der DDR, ein unsichtbarer Verbund zwischen
ZMD und öffentlichen medizinischen Einrichtungen, der vom MfS geführt wurde.
Getarnte medizinische Einrichtungen des MfS
Dieses vom MfS angeworbene Personal war verdeckt in zivilen Einrichtungen, aber auch in getarnten
medizinischen Einrichtungen der Staatssicherheit tätig, die von der Öffentlichkeit nicht als MfS-Objekte
wahrgenommen wurden. Neben Betriebsambulanzen mit einer “Zwitterstellung” wurden auch neue
Gebäude unter einer Tarnbezeichnung geschaffen. 1977 wurde beispielsweise in der Waldowallee 101 in
Berlin ein neues Sozialgebäude für die medizinische Betreuung gebaut, abgedeckt als “Sozial-Gebäude der
Versorgungseinrichtung des Ministerrates”. Tatsächlich war es das MfS-Objekt “Medizin” RegisterNummer MfS/XV 3858/79.
Die größte abgedeckte medizinische Einrichtung war aber wohl das Krankenhaus Berlin-Buch, was sich
aus einer Sicherungskonzeption vom 1. August 1980 ergibt, die als “Geheime Verschlußsache” erlassen
wurde:
Der medizinische Komplex Berlin-Buch war ein Hochsicherheitstrakt und das Personal handverlesen.
Allen Mitarbeitern war die “hohe politische und fachliche Verantwortung bewußt zu machen“ und eine
“tschekistische Denk-, Arbeits- und Verhaltensweise” anzuerziehen. Die Sicherungskonzeption der
Arbeitsgruppe des Ministers regelte detaillierte Vorgaben zur Geheimhaltung, Ordnung und Sicherheit. Zu
den Bereichen mit besonderen Sicherheits- und Geheimhaltungsmaßnahmen im Krankenhaus gehörten eine
“Sonderstation” und eine “Waffenkammer”.
Was in diesem Krankenhaus tatsächlich geschah, ist heute schwer zu ermitteln. Die Akten sind nur noch
bruchstückhaft vorhanden. So ist belegt, dass der Operativ-Technische Sektor des MfS am 22. Mai 1987
“biologisches Material von Probanden mit chromosomalen Aberrationen” für “spezielle
Untersuchungsaufgaben” anforderte, ohne dass deutlich wird, wofür das Material konkret verwendet
wurde. Es ist auch belegt, dass es regelmäßige Krankentransporte von Rostock nach Berlin-Buch gab. Die
Frage bleibt offen, wer aus welchem Grund dorthin gebracht wurde und ob die Transporte immer
medizinische Ursachen hatten.
Einen Hinweis darauf, was in Berlin-Buch geschah, fand ich beim BStU in den handschriftlichen
Überlieferungen eines Wolfgang B. In der Akte befindet sich ein ganzer Stapel von kleinkarierten,
handbeschriebenen Seiten, kombiniert mit Zeichnungen, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben, aber
es muss einen Hintergrund haben, dass diese vielen Seiten aufbewahrt wurden. Wer Wolfgang B. war,
konnte nicht ermittelt werden. Es ist nicht mit Sicherheit zu erkennen, was dieser Mann schon vor dem
Schreiben durchgemacht hatte und in welchem Gesundheitszustand er sich befand. Bei genauem Lesen
lassen einige Fragmente in den Schriftstücken aber aufmerken:
War Wolfgang B. ein Opfer der “Sonderstation” Berlin-Buch? Wer hat ihn “auf das grausamste gefoltert”
und warum? Welchen Hinweis will uns dieser Mann bezüglich des Umgangs mit Kindern geben?
Personalrekrutierung unter Kindern?
Die Staatssicherheit hatte große Personalprobleme. Am 24. August 1984 führte der Leiter der
Hauptabteilung Kader und Schulung ein Gespräch mit dem Chefgutachter des ZMD, Oberst Dr. Meyer.
Aus einem Vermerk, den der Offizier für Sonderaufgaben, Major Kisch, zu diesem Treffen fertigte, ergibt
sich, dass die Kadergewinnung ausgesprochen schwierig war. Neben kaderpolitischen Aspekten wurde
ausdrücklich vermerkt, dass es eine “weniger stark ausgeprägte Bereitschaft für den langjährigen Dienst in
den bewaffneten Organen” gab.
Von 150 Einstellungskandidaten blieben nach der “kaderpolitischen Prüfung” nur 18 übrig. Von diesen 18
Kandidaten waren zehn gesundheitlich nicht tauglich, so dass letztlich nur acht Personen eingestellt werden
konnten. Der Chefgutachter wurde in diesem Gespräch gebeten, für die gesundheitlichen
Tauglichkeitsanforderungen je nach vorgesehenem Einsatz der Kandidaten “flexiblere Einschätzungen” zu
treffen, um mehr Nachwuchskräfte einstellen zu können.
Das MfS suchte händeringend geeignetes Personal und die zielgerichtete Ausbildung von familiengelösten
Kindern und Jugendlichen war eine Alternative zur spärlichen Kadergewinnung auf der Basis der
Freiwilligkeit, denn die Heranwachsenden konnten isoliert und kaserniert erzogen, beeinflusst und gedrillt
werden, und das MfS sorgte sogar für eine Berufsausbildung, was der Öffentlichkeit nicht bekannt war.
Dass sich Kinder im Ausbildungscamp der Staatssicherheit aufgehalten haben, ergibt sich aus einem
geheimen Bericht von Dezember 1971, den Hauptmann Zieger, Leiter der Schule I “Maria” in Struvenberg
verfasste:
Der ZMD gab Offizieren, die für die Ausbildung zuständig waren, Ratschläge, wie mit Kindern und
Jugendlichen umzugehen war. Dr. med. Oberstleutnant Helga W., Fachbereichsleiterin des ZMD für das
Fachgebiet Neurologie/Psychiatrie, hielt am 8. Oktober 1985 einen Vortrag vor Ausbildungsoffizieren der
Hauptabteilung Kader und Schulung und sagte:
Erich Mielke sagte zum Ziel der Ausbildung für Spezialeinsatzgruppen 1979:
Der Verdacht, dass Kinder von “republikflüchtigen” Eltern für diese Ausbildung der Staatsicherheit
rekrutiert wurden, liegt auf der Hand. 1972 wurden noch 1179 Kinder von “Republikflüchtlingen” in der
DDR mit der makabren Begründung festgehalten, dass eine erlaubte Nachreise die Flucht der Eltern
rechtfertigen würde und sie in Kinderheimen besser aufgehoben seien. Am 12. September 1972 regelte
Innenminister Friedrich Dickel in einer “Vertraulichen Verschlußsache”, dass Kinder “republikflüchtiger”
Eltern nur dann nachreisen durften, wenn sie “körperliche oder geistige Gebrechen besitzen, an chronischen
Erkrankungen leiden, Hilfsschüler sind oder erhebliche Erziehungsschwierigkeiten bereiten, die das
Heimkollektiv gefährden und von denen eine positive Entwicklung nicht zu erwarten ist.” Die gesunden,
intelligenten und leistungsstarken Kinder hatten dazubleiben und der SED-Staat verfügte nach Belieben
über sie. Viele Eltern suchen noch heute nach ihren Kindern und wissen nicht, welchen Weg sie gehen
mussten.
MfS in der Psychiatrie Teupitz
Die Aufmerksamkeit des MfS galt unterschiedlichen öffentlichen medizinischen Einrichtungen,
konzentrierte sich aber besonders auf die Psychiatrien, was am Beispiel der Psychiatrie Teupitz näher
betrachtet werden soll. Sie befand sich neben einem sowjetischen Militärkrankenhaus. Teupitz war sowohl
für den sowjetischen Geheimdienst als auch für das MfS ein wichtiger Standort. Dort wurden Eliteeinheiten
ausgebildet.
Das MfS hatte eine enge Zusammenarbeit mit dem Chefarzt dieser Einrichtung und konnte die Psychiatrie
für ihre Zwecke “operativ” nutzen. Akten des BStU geben über die Zustände in Teupitz Auskunft. Ein
ehemaliger Patient der Klinik hielt in einer Eingabe seine persönlichen Erlebnisse in den siebziger Jahren
fest. Damit wollte er einem Arzt helfen, der gegen den Chefarzt der Psychiatrie wegen der brutalen
Vorgehensweise Anzeige erstattet hatte. Dieser Arzt kam daraufhin selbst mit angeblichen
“Wahnvorstellungen” in die Psychiatrie. Dieser Bericht ist erschütternd. Er beschreibt schwerste
Misshandlungen, Schläge, Hunger, Isolationshaft, Psychopharmaka und absolute Willkür. Die Akten des
MfS selbst belegen den Wahrheitsgehalt der Aussagen dieses Patienten. Wegen der Anschuldigungen
wurde der Chefarzt der Klinik von der Kreisdienststelle Königs Wusterhausen “operativ bearbeitet”, was
bedeutet, das MfS hat heimlich hinterfragt, ob die Anschuldigungen berechtigt waren. Aus einem Vermerk
von Februar 1982 ergibt sich: “In der bisherigen Bearbeitung, insbesondere durch die Befragung
verschiedener Personen (Patienten und ehemalige Patienten) verdichtete sich der objektive Wahrheitsgehalt
der Anschuldigungen in der Eingabe.” Hier ein Auszug aus dem Bericht:
Die Patienten in Teupitz nannten den Chefarzt “Iwan den Schrecklichen”. Nach geltendem DDR-Recht war
der Chefarzt von Teupitz ein Straftäter. Die Behörden kannten die Zustände, aber anstatt ihn zu bestrafen,
belohnten sie seine brutalen Misshandlungen mit dem Titel “Verdienter Arzt des Volkes”. Weder die
Eingabe des Patienten noch die Strafanzeige eines Arztes, der auch in Teupitz arbeitete und die Zustände
nicht ertragen konnte, führten für den Chefarzt zu Konsequenzen. Das MfS schützte ihn, da man eine enge
Zusammenarbeit pflegte.
“Iwan der Schreckliche” in Teupitz
1973 wurde Dr. med. Dieter H. Ärztlicher Direktor der Nervenklinik Teupitz. Kurze Zeit später, am 26.
November 1974 wurde der bis dahin als GMS-Kandidat geführte Arzt mit Handschlag als GMS “Dieter”
verpflichtet. Später erhielt er den Decknamen “Titel” Bei den GMS – Gesellschaftliche Mitarbeiter der
Staatssicherheit – handelte es sich um eine besondere Form der inoffiziellen Zusammenarbeit.
Die Akten belegen, dass es zahlreiche Treffen mit H. zu unterschiedlichen Themen gab. Mal ging es um
Informationen zu Arbeitskollegen aus der Klinik, ein anderes Mal aber auch um Patienten. Die willfährige
Zusammenarbeit zwischen dem Chefarzt und dem MfS wurde am Jahresende 1984 in einer Beurteilung so
zusammengefasst:
“Gezielte Gespräche” durch diesen Chefarzt mit “operativ interessierenden Patienten”, begleitet von
Isolationsfolter mit Schleimkost, waren sehr wirkungsvolle “medizinische Mittel und Möglichkeiten”, um
ein ganz bestimmtes Verhalten je nach Wunsch der Staatssicherheit zu erzwingen, ob nun Rücknahme
eines Ausreiseantrages, politisches Wohlverhalten oder eine erzwungene Bereitschaft, sich den
bewaffneten Organen, insbesondere der Staatssicherheit, anzudienen. Alles geschah unter dem Dach der
angeblichen psychischen Krankheit und war damit perfekt getarnt.
Der Chefarzt der Psychiatrie Teupitz wurde von der Staatssicherheit geschützt und hofiert. Im April 1989
war er inzwischen Obermedizinalrat und die Kreisdienststelle Königs Wusterhausen bemühte sich für ihren
Günstling um eine Reise ins westliche Ausland als Belohnung.
Die Psychiatrie Teupitz mit ihrem Chefarzt, der von den Patienten “Iwan der Schreckliche” genannt wurde,
war für das MfS “operativ” wichtig. Es ist gut möglich, dass so etwas mit “operativer Medizin” gemeint
war. Der Zweck heiligte die Mittel und alles wurde gründlich “legendiert” und vertuscht.
“Medizinische Mittel, Methoden und Möglichkeiten” konkret
Dr. med. Erhard Scholz arbeitete 1963 als Pflichtassistent für vier Monate in der Klinik für Psychiatrie und
Neurologie in Frankfurt (Oder). In dieser Zeit lernte er den Chefarzt der Klinik, Dr. med. Hans L., kennen.
L. war beauftragt, Gerichtsgutachten für das MfS zu fertigen. Erhard Scholz erinnert sich:
Das, was L. hier im weißen Kittel praktizierte, war nichts anderes als Folter, getarnt als medizinische
Begutachtung. Der Chefarzt der Klinik in Frankfurt (Oder) war ähnlich wie “Iwan der Schreckliche” aus
Teupitz ein Günstling der Staatssicherheit, der seine Dienste jahrzehntelang zur Verfügung stellte. Seine
Akte beim BStU liegt nur noch in Fragmenten vor, aber sie weist aus, dass er bereits seit 1969 als GMS
“Hans” inoffiziell und daneben seit 1962 auch offiziell als Gutachter mit der Staatssicherheit
zusammengearbeitet hat. In der Begründung zur Registrierung als GMS heißt es: “Gen. Dr. L. hat in der
Vergangenheit bewiesen, daß er bereit ist, das MfS im Rahmen seiner Möglichkeiten zu unterstützen. Es
besteht ein guter offizieller Kontakt zu ihm. Mehrfach gab er operativ interessante Hinweise und half bei
der Schaffung von Voraussetzungen für die Durchführung operativer Aufgaben.”
Der Teil seiner Akte, der konkrete Informationen über seine “operativen” Dienste liefern könnte, ist nicht
erhalten. L. hatte aber mehrere Vorteile aus dieser engen Zusammenarbeit mit dem MfS. So durfte er
Privatpatienten behandeln, eine absolute Ausnahme in der DDR, und er hatte ein sehr hohes Einkommen.
Am 13. Oktober 1969 wurde vom MfS vorgeschlagen, ihm die “Verdienstmedaille der NVA” zu verleihen.
1984 erhielt er anlässlich des 34. Jahrestages des MfS die “Medaille für Waffenbrüderschaft” in Silber.
Seine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit endete erst 1988. Eine “Zusammenfassende Information”
zur Person L., inzwischen Obermedizinalrat, trägt den handschriftlichen Vermerk: “L. scheidet demnächst
aus seiner Gutachtertätigkeit für uns aus!” Über Jahrzehnte konnte dieser Arzt “Begutachtungen”
vornehmen wie sie Dr. Scholz beschreibt. Heute werden jedoch kaum noch Akten vorhanden sein, die seine
Folter unter dem Deckmantel der Medizin offenbaren und uns zeigen, wie viele Personen bleibende
Körperschäden durch diese Torturen erlitten haben.
Fazit
Der Missbrauch der Medizin für die Zwecke des MfS gehört zum dunkelsten Kapitel der DDRVergangenheit und es gibt Gründe dafür, dass Erich Mielke diesen Themenbereich zur Chefsache erklärte.
Ob “Erziehung” durch unangebracht schmerzhafte Untersuchungen, Organhandel, Medikamentenversuche,
Babyraub nach der Geburt oder Zwangsrekrutierung – das alles sind Themen, die bisher weitestgehend
verdrängt wurden. Bei meinen Gesprächen mit ehemaligen Ärzten fiel mir immer wieder auf, wie sehr sie
sich bemühten, die damaligen Zustände schönzureden. Einen kritischen Rückblick wagen nur sehr wenige.
Die einstigen Nutznießer der Zusammenarbeit mit dem MfS verlangen Beweise für ihre Einbindung,
wohlwissend, wie schwer es ist, diese Belege zu finden.
Besonders ist aber hervorzuheben, dass die Opfer dieser “medizinischen” Folter heute so gut wie keine
Chance auf Anerkennung ihrer erlittenen Qualen haben. Dem ersten Anschein nach waren sie Kranke, die
medizinisch betreut wurden. Wenn überhaupt noch Akten da sind, geben diese keine Auskunft über den
Missbrauch.
Den Berichten der Opfer wird kein Glauben geschenkt, insbesondere nicht, wenn sie in einer Psychiatrie
waren. Die Vorverurteilung, psychisch krank zu sein, stigmatisiert sie. Ärzte, die früher diese
Machenschaften unterstützten, sind zum Teil heute noch am selben Platz und schreiben Gutachten über
Betroffene.
Die Verbitterung auf der Opferseite ist groß. Viele haben inzwischen resigniert, weil sie eine Beweislast
tragen müssen, die sie nicht erbringen können. In den letzten 25 Jahren wurden viele belastende Unterlagen
aufgrund von Verjährung vernichtet und die Zeit drängt, wenn wir bei der Aufarbeitung zu diesem
brisanten Thema noch etwas erreichen wollen. Hier sollten Historiker, Mediziner und Juristen gemeinsam
nachforschen und Licht ins Dunkel bringen.
Zitierweise: Heidrun Budde, Medizin im Dienste der Staatssicherheit, in: Deutschland Archiv, 30.4.2015,
Link: http://www.bpb.de/205841
Fußnoten
“Die ihm übertragenden militärmedizinischen und militärtschekistischen
Aufgabenstellungen erfüllt er in sehr guter Qualität und mit hoher
Einsatzbereitschaft.”, Vorschlag zur Beförderung vom 8.2.1987 in der
Personalakte von MR Dr. med. Joachim W., Facharzt für Gynäkologie,
BStU, MfS, KS 9465/90.
“Als Leiter des ihm anvertrauten Dienstkollektivs hat er es verstanden, mit
Umsicht, Eifer und Fleiß die vielfältigen organspezifischen Aufgaben in
hoher Qualität zu erfüllen.”, Vorschlag zur Beförderung zum Major von
Hptm. Joachim W. vom 8.2.1983, ebd.
Vgl. Personalakte von Dr. med. Marianne S., Fachärztin für Neurologie und
Psychiatrie, BStU, MfS, KS 22457/90.
Begründung zur Verleihung des Titels “Professor” an Generalmajor Dr.
med. Günter Kempe, BStU Kaderakte von Dr. Günter Kempe, MfS, KS
28423/90. Er wurde 1971 zum Professor ernannt.
“Beurteilung über den Oberst Dr. Kempe, Günter” von Oberst Rosulek vom
25.9.1973, Kaderakte von Kempe, Chef des ZMD, BStU, MFS, KS
28423/90.
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Abt. Kader und Schulung vom 19.
Juli 1988 “Vorschlag zur Entlassung” von Major MR Dr. Winfried H.,
BStU, MfS, Diszi Nr. 4955/92 und in BStU, MfS, BV Gera Abt. KuSch
4861.
Begründung zur Verleihung des Titels “Professor” an Generalmajor Dr.
med. Günter Kempe, BStU Kaderakte von Dr. Günter Kempe, MfS, KS
28423/90.
Vgl. Schreiben der Hauptabteilung Kader und Schulung
AKG/Kontrollgruppe “Zuarbeit zu einigen Ergebnissen des Standes der
medizinischen Betreuung und Versorgung abgedeckter Kräfte des MfS und
der Organisation der politisch-operativen Arbeit im ZMD/Abteilung 10”
vom 7.4.1986, BStU, MfS, HA KuSch Nr. 30333.
Aktenvermerk der ZMD Abteilung 10 vom 18. Oktober 1984,
unterschrieben von Oberst Liebing, BStU, MfS, HA KuSch Nr. 26196.
Dieses Einstellungsverfahren war bei sogenannten “U-Mitarbeitern” –
unbekannten Mitarbeitern – üblich. U-Mitarbeiter waren hauptsächlich
neueigenstellte Kader. Das war eine Personenkategorie im MfS, über die
bisher nur wenig bekannt ist und die einer außerordentlich hohen
Geheimhaltung unterlag, auch im MfS-Apparat selbst. Erhalten ist die UMitarbeiter-Ordnung Nr. 10/86 vom 22. April 1986, erlassen als “Geheime
Verschlußsache – o008 MfS-Nr. 32/86”, BStU, MfS, Sekretariat Neiber
Band 368, S. 169-179, in der es zur Vertuschung der MfS-Einbindung dieser
Mitarbeiter heißt: “Ihre Zugehörigkeit zum MfS ist außerhalb des MfS und
gegenüber anderen Angehörigen des MfS dauerhaft zu legendieren, wenn
erforderlich durch ein Scheinarbeits- bzw. -dienstverhältnis.” Zu U-Objekten
siehe auch MfS-Diplomarbeit von Falk Ostrowski BV Suhl/VIII; 22. HDL
vom 30.6.1986 “Anforderungen und Grundsätze für das Verhalten der UMitarbeiter der operativen Beobachtung im Zusammenhang mit der
Gewährleistung der Konspiration der U-Objekte”, JHS MF VVS 0001288/86, JHS 20536, Quelle: BStU.
Schreiben des ZMD, Unterabteilung Außenstellen vom 19. März 1975
“Entwicklungsbeurteilung für den Zeitraum 1972 bis 1974” von Dr. Helmut
P., unterschrieben von MR Dr. S., Chefarzt Außenstellen Major, BStU, MfS,
KS 26482/90
Aktenvermerk der ZMD Abteilung 10 vom 18. Oktober 1984, MfS, HA
KuSch Nr. 26196.
BStU, MfS, HA KuSch Nr. 30333.
Objekt “Medizin” Reg.-Nr. MfS/XV 3858/79 BStU 2001/91.
Schreiben der Arbeitsgruppe des Ministers “Konzeption zur Gewährleistung
der allseitigen Sicherung des Krankenhauses des Zentralen Medizinischen
Dienstes des MfS – Sicherungskonzeption” vom 1.8.1980 “Geheime
Verschlußsache MfS 005 Nr. 122/80“, BStU, MfS, AGM 95.
Schreiben an den OSL Jaeckel HA XX/1 vom Operativ-Technischen Sektor
vom 22. Mai 1987 “Ersuchen um operative Unterstützung”, BStU, MfS, HA
XX Nr. 1572 Teil 1.
“Jeder Mittwoch ist beispielsweise für Fernfahrten vorgesehen. Bad Berka
und Berlin-Buch gehören zu den oft angesteuerten Zielen.”, vgl. “Richard
Rostock“ bitte kommen! Krankentransporteure des DRK immer
einsatzbereit”, in: Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 11.12.1970, Akte
Krankentransport 1951-1971, Archiv der Medizinischen Fakultät.
BStU, Akte KD Eberswalde Nr. 848.
BStU, Akte MfS, HA KuSch, Nr. 30333.
Schreiben der HA KuSch vom 27.8.1980 “Ärztliche Tauglichkeits- und
Eignungsuntersuchung von Jugendlichen” vor “Aufnahme einer
Berufsausbildung in den MfS-gebundenen Lehrstellen”, BStU, Akte MfS,
HA KuSch Nr. 647.
Vgl. Auskunftsbericht zur operativen Sicherung der Dienstobjekte – Schule I
vom 10. Dezember 1971, unterschrieben von Hauptmann Zieger, BStU,
Archiv der Zentralstelle MfS, HA XXII Nr. 961/4. Dieses Ausbildungscamp
in Struvenberg war als NVA-Einrichtung getarnt.
Vortragsmanuskript in BStU, Akte MfS, HA KuSch Nr. 22679.
Zit. nach: Thomas Auerbach, Einsatzkommandos an der unsichtbaren Front.
Terror- und Sabotagevorbereitungen des MfS gegen die Bundesrepublik
Deutschland, Berlin 1999, S. 24.
Kai Diekmann (Hg.), Freigekauft. Der DDR-Menschenhandel. Fakten Bilder
Schicksale, München/Zürich 2012, S. 53 und 58.
Dienstvorschrift Nr. 015/72 über vertrauliche Regelungen im
grenzüberschreitenden Personenverkehr vom 12. September 1972, VVS I
020 488, Bundesarchiv (BArch) DO 1/60088, Blatt 30.
Am 7.1.2014 berichtete der Focus, dass es in der DDR ungefähr 75.000
Inkognitoadoptionen gab und dass viele Eltern noch heute verzweifelt nach
ihren Kindern suchen. Siehe “Gestohlenes Leben”, 7.1.2014,
»www.focus.de/politik/deutschland/ddr-zwangsadoptionenseite2_id_3521120.html«, letzter Zugriff am 8.4.2015.
Für eine Lageskizze zum “Krankenhaus für Psychiatrie” Teupitz neben dem
“Hospital I der Freunde” siehe BStU BVfS Potsdam Abt. II 654 Bd. 5. Zur
Ausbildung von Elitesoldaten siehe BStU, Archiv der Zentralstelle MfS, HA
XXII Nr. 19645.
BStU, Akte MfS, HA XX Nr. 1572, Teil 2.
BStU (Anm. 28).
Ebd.
Bericht über erfolgte Verpflichtung des GMS “Dieter” vom 27.11.74 und
Beschluß über das Anlegen einer GMS-Akte Deckname “Titel” vom
29.4.1980, Akte BStU Potsdam BVfS Potsdam KD KWh 603.
Reg.-Nr. IV/1932/80 Beurteilung über GMS “Titel” vom 27.12.1984, Akte
BStU Potsdam BVfS Potsdam KD KWh 603.
Schreiben der BV für Staatssicherheit Potsdam KD Königs Wusterhausen an
die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Abteilung VI “Unterstützung bei
der Bereitstellung einer Reise mit besonderen Visabestimmungen“ von
Oberstleutnant Stark vom 3.4.1989 Tgb.-Nr.: kr-sc/1169/89. Akte BStU
Potsdam BVfS Potsdam KD KWh 603.
Mit Herrn Dr. Scholz hat die Autorin persönlichen Kontakt und er
genehmigte den Abdruck seiner Erinnerungen. Dafür herzlichen Dank!
Vgl. Abschlussbericht zum GMS “Hans” vom 14.11.1980, GMS Akte
MfS/BV Frankfurt Ref. XII/Archiv AGMS Archiv Nr. 1951/80, BStU
Außenstelle Frankfurt/O.
Vorschlag zur Registrierung des Dr. L., Hans, zum GMS vom 17.3.1969,
GMS Akte MfS/BV Frankfurt Ref. XII/Archiv AGMS Archiv Nr. 1951/80,
BStU Außenstelle Frankfurt/O.
Das ergibt sich aus der Information eines heimlichen Informanten GI
“Moorbirke”, der in der Klinik tätig war. GMS Akte MfS/BV Frankfurt Ref.
XII/Archiv AGMS Archiv Nr. 1951/80, BStU Außenstelle Frankfurt/O.
Schreiben der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Stellvertreter Operativ
vom 16.4.1988 “Zusammenfassende Information zum Chefarzt der
Nervenklinik im BKH Frankfurt (O), Genossen OMR Dr. med. L., Hans,
geb. […]” BVfS Frankfurt (O) Abt. XX, 1667, BStU.
Die Autorin
Heidrun Budde
Dr. jur., geb. 1954 in der DDR; Studium der Rechtswissenschaften an der Martin-Luther-Universität
Halle/Wittenberg, Promotion zum Seevölkerrecht, seit 1992 wissenschaftliche Mitarbeiterin mit
Verwaltungsaufgaben an der Juristischen Fakultät der Universität Rostock.
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