Sezuan_Material

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1.19 Szene 10 "Der Prozeß"
Die aus dem Verlauf des Stücks bekannten Personen betreten in Gruppen den Saal: Shu Fu und Mi
Tzü, die Mächtigen, Frau Yang und ihr Sohn Sun, der Wasserverkäufer Wang, die beiden Alten und
einige, die Shen Te unterstützt und Shui Ta dann ausgebeutet hat.
Unter den Geschädigten herrscht Skepsis. Sie wissen, dass der Richter auf der Seite der Mächtigen
steht. Doch dann kommen als neue Richter die drei Götter in den Saal. Sie haben sich falsche
Legitimationen für dieses Amt besorgt. Der eigentlich zuständige Richter hat sich an einem
Bestechungsgeschenk den Magen verdorben.
Shui Ta wird unter Pfiffen hereingeführt, er zeigt eine herrische Haltung. Als er aber die Götter
erkennt, bricht er zusammen. Der Anklage, er habe Shen Te "beiseite geschafft (...), um sich ihres
Geschäfts zu bemächtigen" (S.125), bekennt er sich nicht schuldig.
Der Polizist und die Bourgeois Shu Fu und Mi Tzü stellen dem Angeklagten wie erwartet günstige
Leumundszeugnisse aus: Er sei ein verdienstvoller Bürger. Doch dann beginnt der Hagel der
Anklagen, Shui Ta habe ruiniert, erpresst, ausgebeutet, gemordet. Alles pariert Shui Ta mit
Gegenvorwürfen und dem Hinweis, nur mit seiner schmutzigen Arbeit habe Shen Tes Existenz
gerettet werden können, nur mit seiner Hilfe habe sie längere Zeit Gutes tun können. Die barbarische
Fabrik habe er nur gegründet, um Shen Tes Wunsch nach einer sicheren Zukunft für ihr Kind zu
erfüllen. Er sei immer nur so lange geblieben, wie es unbedingt nötig war.
Der Mordverdacht wird entkräftet durch Sun, der angibt, Shen Tes Stimme aus dem Hinterzimmer des
Kontors gehört zu haben.
Nun wird Shui Ta bestürmt, zu sagen, wo Shen Te sich aufhalte:
"ALLE Wo ist sie?
SHUI TA Verreist.
WANG Wohin?
SHUI TA Ich sage es nicht!
ALLE Aber warum mußte sie verreisen?
SHUI TA (schreiend:) Weil ihr sie sonst zerrissen hättet!"
(S.130)
Daraufhin wird es still und Shui Ta bietet ein Geständnis an, wenn er mit den Richtern allein gelassen
werde. Der Saal wird geräumt.
Als er nur noch den drei Göttern gegenübersteht nimmt Shui Ta die Maske ab und gibt sich als Shen
Te zu erkennen. Der gute Mensch ist auch der böse.
In einer großen Versrede legt Shen Te dar, dass die Welt, so, wie sie sei, es unmöglich mache "gut zu
sein und doch zu leben". Diese doppelte Forderung der Götter habe sie "wie ein Blitz in zwei Hälften"
(S.130) zerrissen.
"Etwas muß falsch sein an eurer Welt. Warum
Ist auf die Bosheit ein Preis gesetzt und warum erwarten den Guten
So harte Strafen?"
(S.131)
Shen Te legt verschiedene Motive für ihr Doppelspiel dar: ihr Glücksverlangen, den scharfen Blick
des Gossenkindes und die Schmerzen des Mitleids, die angesichts des Elends "wölfischen Zorn"
(S.131) in ihr hervorriefen.
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Sie wiederholt ihre Verteidigung:
"Verdammt mich: alles, was ich verbrach
Tat ich, meinen Nachbarn zu helfen
Meinen Geliebten zu lieben und
Meinen kleinen Sohn vor dem Mangel zu retten."
(S.131)
Entsetzt brechen die Götter die Verhandlung ab. Sie merken, wie gefährlich es wäre, den einzigen
guten Menschen, den sie finden konnten, näher zu betrachten. Der erste Gott dekretiert, es sei "alles in
Ordnung" (S.132). Die Gebote seien unverzichtbar und eine Veränderung der Welt sei zu kompliziert.
Die Götter treten unter verharmlosenden Versen den Rückzug an, sie beginnen auf einer rosa Wolke
nach oben, in ihr "Nichts" (S.134) zu entschwinden. Shen Te fleht vergeblich um Hilfe. Die Götter
präsentieren sie den in den Saal zurückkehrenden Zeugen als guten Menschen. Shen Tes letztes Wort
ist ein Hilfeschrei.
1.20 Epilog Auftrag ans Publikum
Das Parabelstück endet mit dem viel zitierten Epilog. Ein Spieler tritt vor den Vorhang und
entschuldigt sich bei den Zuschauern, denen das Theater einen Genuss schulde, dass kein "rechter
Schluß" gefunden worden sei. Die Möglichkeit wird angedeutet, dass den Theaterleuten "aus lauter
Furcht" (S.134) nichts einfiel. Für Brecht lag der vom Theater zu ermöglichende Genuss wohl in dem,
was dem Publikum in den letzten Versen empfohlen wird:
"Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!"
(S.135)
Entstehung und Deutung
Das Parabelstück "Der gute Mensch von Sezuan" entstand im skandinavischen Exil. Brecht nahm die
Arbeit 1939 in Dänemark auf, setzte sie in Schweden fort und beendete sie 1941 in Finnland, der
nächsten Station seiner Flucht vor den Truppen des nationalsozialistischen Deutschlands. Die Arbeit
wurde unterbrochen zugunsten zweier anderer Projekte, des Kriegsdramas "Mutter Courage und ihre
Kinder" und des Radiostücks "Das Verhör des Lukullus". Nicht nur was die Stücke angeht, auch im
Blick auf Gedichte, Erzählerisches, Essays und Journale ist merkwürdigerweise die Zeit der Flucht
Brechts produktivste Lebensphase gewesen. Wahrscheinlich hätte er weniger geschrieben, wäre er
nicht von der ihn stark anziehenden Theaterarbeit abgeschnitten gewesen.
Diese außerordentliche Leistung wäre undenkbar ohne die Hilfe, die Brecht vor allem von Frauen
erhielt. Von Gastgeberinnen wie den Schriftstellerinnen Karin Michaelis und Hella Wuolijoki, von
seiner Frau, Helene Weigel, einer der bedeutendsten Schauspielerinnen ihrer Zeit. Sie schaffte es,
Brecht an allen Stationen des Exils eine seinen Bedürfnissen entsprechende Wohnung einzurichten,
die Kinder und zahlreiche Gäste zu versorgen. Für Brecht arbeiteten im Exil die dänische
Schauspielerin Ruth Berlau und Margarete Steffin, eine außerordentlich begabte, selbst literarisch
produktive Frau aus dem Berliner Arbeitermilieu. Sie hatte Brecht bei Theaterprojekten eines
Arbeitervereins in Deutschland kennen gelernt. Ihre Mitarbeit an dem Parabelstück war so intensiv,
dass sie neben Ruth Berlau in der einleitenden Notiz zur Erstveröffentlichung als "Mitarbeiter"
genannt wurde. Steffin schrieb nicht nur Brechts Produktion laufend ins Reine, so dass er einen
"sauberen" Text vorfand, der ihn zu Änderungen und Erweiterungen einlud. Sie war ihm eine
unentbehrliche kritische Leserin - heute würde man von einer Lektorin sprechen.
Für Teile des Werks ist darüber hinaus ihre Mitautorschaft belegt, so an dem "Lied vom Rauch" in der
ersten Szene. Sie starb in einem Moskauer Krankenhaus an Lungentuberkulose, während die BrechtFamilie weiterreiste nach Wladiwostok zur Überfahrt nach Amerika. Der Verlust Margarete Steffins
ist eine mögliche Erklärung für das Erlahmen von Brechts Produktivität im amerikanischen Exil.
Der Stoff von der Hure, die, um sich selbst und anderen zu helfen, zeitweise in eine Männerrolle
schlüpft, als Zuhälter oder Händler, beschäftigte Brecht seit den späten 20er Jahren. Er entwarf ihn
unter Titeln wie "Fanny Kress" oder "Der Huren einziger Freund" oder "Die Ware Liebe". Für Brecht
war, wie schon für die Klassiker des Marxismus, die Prostitution ein Bild für die Entfremdung
menschlicher Fähigkeiten überhaupt. Die Konzeption des Stückes reicht also in eine Zeit zurück, in
der Brecht seine aus heutiger Sicht vielleicht modernsten Projekte entwickelte, die Fragment
gebliebenen Stücke "Fatzer" und "Der Brotladen".
Die noch in Deutschland entstandenen Entwürfe enthalten bereits zentrale Züge und Konstellationen
der Figuren des späteren Stückes. Die Huren um die weibliche Hauptfigur sind auch hier grass
unsolidarisch. Vor allem aber hat sich das Verhältnis Shen Te/Shui Ta - Yang Sun offenbar von den
Anfängen durchgehalten:
"Sie ist der Zigarrenhändler, der einen Gehilfen hat. Den beutet sie aus. Wenn er mit ihr schläft, beutet
er sie aus. Dann kriegt sie ein Kind und verschwindet als Mädchen. Wird er, der weiß, daß sie bei dem
Zigarrenhändler zuletzt gesehen wurde, seinen Brotgeber anzeigen? (...) Überhaupt will er ihn
erpressen. (...)"
(S.139)
Brecht hat das Drama nach eigener Auskunft Mühe gemacht wie kein anderes (Materialien, S.14f,
29.6.40). Die ausgefeilte Konstruktion zog ungewöhnlich viel Detailarbeit nach sich. Nach der
Fertigstellung des Textes konnte Brecht auf dem Apparat eines Verlegers zahlreiche Matrizenabzüge
herstellen. Er verschickte sie und machte die deprimierende Erfahrung, dass niemand sich der Mühe
einer Reaktion unterzog. (Materialien, S.19, 20.4.41)
In Amerika entwickelte er zusammen mit Kurt Weill, dem Komponisten der Dreigroschenoper und
von Mahagonny, den Plan einer Fassung als eine Art Broadway-Musical. 1943 wurde der Text
entsprechend umgearbeitet, z.B. mit einer Opiumhandlung angereichert. Zu einer Aufführung kam es
jedoch nicht.
Eine wirkliche Vollendung des Stücks schien Brecht nicht möglich, da es wie andere Exildramen nicht
auf dem Theater realisiert und dabei "getestet"werden konnte. (vgl. Materialien, S.15, 30.6.40) Das
"Couragemodell" (GBA 25), in dem Brechts erste Inszenierung nach der Rückkehr nach Deutschland
ihren Niederschlag fand, vermittelt einen Eindruck von der Intensität der Theaterarbeit Brechts. Die
heute oft beklagte Musealisierung seines Werks wäre zu seinen Lebzeiten undenkbar gewesen. Von
der Legitimation des Theaters überhaupt, über die Entscheidung für einen bestimmten Text zu einer
bestimmten Zeit, bis zum letzten Detail der Darstellung, durfte nichts ungeprüft und unschlüssig
bleiben, wenn eine Aufführung Brechts Ansprüchen gerecht werden wollte.
Ruth Berlau, Mitarbeiterin seit dem Exil in Dänemark, berichtet von Brechts Fähigkeit, als Regisseur
den eigenen Text wie einen fremden neu wahrzunehmen:
"Brecht provoziert die Haltung des Entdeckers, der etwas merkwürdig findet.
Ich könnte sagen, daß Brecht bei den Proben zuerst einmal sein eigenes Stück verfremdet. Er scheint
keinen Satz des Textes zu kennen und entdeckt ihn bei jedem Wiederlesen neu. (...) Auf jeden Fall will
er nicht darauf bestehen, was einmal geschrieben wurde, sondern er will sehen und hören, was die
Schauspieler mit dem Text zeigen können. Wenn ein Satz oder auch eine ganze Szene so auf Herz und
Nieren geprüft werden, braucht man sich nicht zu wundern, daß Brecht seine Stücke bis zur letzten
Probe immer wieder verändert."
(Brechts Lai-tu, S.239)
3.1 Wirkung
"Der gute Mensch von Sezuan" zählt zu Brechts meistgespielten Stücken. Bis 1981 wurden mehr als
250 Inszenierungen in verschiedenen Ländern gezählt (Hb, S.437). Brecht schrieb zunächst, wie viele
Vertriebene, für die Schublade.
Die Uraufführung findet am 4. Februar 1943, wie schon die von "Mutter Courage und ihre Kinder",
am Züricher Schauspielhaus statt. Die Hauptrolle spielt die damals noch unbekannte Maria Becker,
daneben wirken Therese Giehse und Ernst Ginsberg mit. Das Bühnenbild entwirft der von Brecht hoch
geschätzte Teo Otto. Die Kritiken verraten mit ihren psychoanalytischen oder religiösen
Deutungsmustern, dass Brechts Intentionen kaum umgesetzt wurden. (vgl. Materialien, S.133-140)
Die deutsche Erstaufführung erfolgt in einer Inszenierung von Harry Buckwitz unter Mitwirkung von
Brecht am 16. November 1952 an den Städtischen Bühnen Frankfurt. Das Klima des Kalten Krieges
macht sich in publizistischen Attacken gegen den Kommunisten Brecht und in politischen
Interventionen gegen die Aufführung bemerkbar. Sie wird dennoch ein großer Erfolg.
Auch an Hans Schweikarts Münchner Inszenierung an den Kammerspielen, am 30. Juni 1955, wirkt
Brecht in der Endphase mit.
In Ostdeutschland war das Interesse der maßgeblichen Kreise schwach; wenn nicht sogar von einer
feindseligen Haltung gegenüber Brecht und dem "Berliner Ensemble" gesprochen werden muss. Die
Parteilinie räumte dem "epischen Theater" als zu wenig emotional keine Zukunft ein. Anfang 1956
hatte das Stück in Rostock unter Benno Besson dann doch Premiere.
Berühmt wurden Inszenierungen Giorgio Strehlers 1958 und 1981 in Mailand und Modena. Häufig
wird die Kenntlichmachung der Tabakfabrik als KZ in der späteren Inszenierung erwähnt. Einen
Eindruck erhält man aus den im Materialienband abgedruckten Besprechungen (Materialien, S.166176 u. S.214-217).
Aufsehen erregte in den 90er Jahren eine Adaption durch ein Ensemble der Szetschuan-Oper aus
Chengdu, China (Hb, S.439).
3.2 Struktur
Im Vergleich zu dem um die gleiche Zeit entstehenden Kriegsstück "Mutter Courage und ihre Kinder",
das aus einer gewollt losen Aneinanderreihung weitgehend selbstständiger Einzelszenen besteht, ist
die Bauweise von "Der gute Mensch von Sezuan" eher streng. Die Szenen greifen ineinander und
präsentieren einen komplizierten Gesamtablauf, in dem das Spätere präzise auf das Vorhergehende
bezogen ist. Schon zu Beginn der Arbeit, deren Rückgrat die genaue, in wiederholten Anläufen
entwickelte Erzählung der Fabel bildet, sieht Brecht sich geradezu ingenieursmäßigen Anforderungen
gegenüber:
"interessant, wie sich bei diesen dünnen stahlkonstruktionen jeder kleinste rechenfehler rächt. da ist
keine masse, die ungenauigkeiten ausgleicht."
(Materialien, S.13)
notiert der Stückschreiber am 15. März 1939 in Dänemark. Das "Ausgerechnete" an der Konzeption
bereitet ihm bald Sorgen, er befürchtet, das Ganze könnte den Eindruck einer
"Milchmädchenrechnung" vermitteln. Die komplizierte Handlung lässt wenig Raum für
"Abschweifung und Umweg", für "Luxus". (Materialien, S.13)
Eine Übersicht über die Szenen lässt das Ebenmaß der Konstruktion erkennen. Die Szenentitel sollen
als Erinnerungsstütze dienen. Sie entstammen, soweit es sich um Brecht-Zitate handelt, den
Arbeitsplänen, nicht dem gültigen Text des Stückes:
Vorspiel - "Die Götter suchen einen guten Menschen"
1. Szene - "Gründung und Ruin eines Tabakladens"
Zwischenspiel - Wang träumt von den Göttern
2. Szene - "Der Vetter saniert"
3. Szene - Stadtpark/ Liebe
Zwischenspiel - Wang träumt von den Göttern
4. Szene - "Der Flieger soll fliegen"
Zwischenspiel - Verwandlung Shen Tes in Shui Ta vor dem Vorhang
5. Szene - "Sieg der Liebe"
Zwischenspiel - Shen Te auf dem Weg zur Hochzeit vor dem Vorhang ans Publikum
6. Szene - "Die Hochzeit"
Zwischenspiel - Wang träumt von den Göttern ("Leiden der Brauchbarkeit")
7. Szene - "Mutterfreuden"
Zwischenspiel - Wang träumt von den Göttern ("Der Ballen der Vorschriften")
8. Szene - "Eine Tabakfabrik für Shen Tes Sohn"
9. Szene - "Das Gerücht"
Zwischenspiel - Wang träumt von den Göttern (Minimalismus der Götter)
10. Szene - "Der Prozeß"
Epilog - Der Schluss wird ans Publikum delegiert
Jan Knopf legt im neuen Brecht-Handbuch dar, dass man in der Szenenfolge eine achsensymmetrische
Anlage erkennen kann (Hb, S.423f). Eine deutliche Markierung ist das Fehlen der sonst durchgängig
eingeschalteten Zwischenspiele beim Übergang von Szene 2 zu 3 und von Szene 8 zu 9. Die genaue
Mitte des Ganzen bildet das Zwischenspiel zwischen den Szenen 5 und 6. Shen Te tritt darin vor den
Vorhang. Sie ist auf dem Weg zur Hochzeit und zeigt sich entschlossen, den beiden Alten ihr Geld
zurückzuzahlen. Sie vertraut darauf, dass Sun sie liebt und ihre Entscheidung für das Gute akzeptiert,
auch wenn das den Verzicht auf die Fliegerstelle bedeuten sollte. Dieses Vertrauen wird in der
Folgeszene mit der geplatzten Hochzeit enttäuscht. Shen Te wendet sich danach von der Güte ab, um
mit aller Härte gegen andere die Zukunft ihres Kindes zu sichern.
An dem Zwischenspiel zwischen 5. und 6. Szene spiegeln sich nun die Szenen 1 und 10 (Erfindung
des Shui Ta und Aufdeckung der Maskerade), 2 und 9 (freie Verfügung über die Rolle Gefangenschaft in der Rolle), 3 und 8 (Shen Te als Liebende - und als mitleidlose Ausbeuterin) 4 und
7 (Kontrast zwischen Liebe zum Flieger Sun und der Mutterliebe zum kommenden Flieger, die eine
Absage an alle anderen bedeutet). Besonders deutlich ist die Beziehung zwischen den Szenen 5 und 6.
In der einen entscheidet sich Shen Te für den Geliebten, ohne Rücksicht auf die Kosten, in der anderen
entscheidet sich Sun gegen seine Braut, weil sie ihm das erhoffte Geld vorenthält.
Neben den sieben Zwischenspielen enthält das Stück sieben Lieder und zahlreiche, sich meist direkt
ans Publikum wendende Versreden Shen Tes. Diese Elemente bedeuten Unterbrechungen der
Handlung, die wesentlich zu dem von Brecht intendierten "nicht-aristotelischen", auf die Erzeugung
von Einfühlung verzichtenden Drama gehören. Dem "nicht-aristotelischen" Dramenbau entspricht auf
der Ebene der Aufführung die Technik des "epischen Theaters". "Episch" bedeutet erzählend,
abgesetzt von "dramatisch", eine Handlung direkt präsentierend. Als den Adressaten einer Erzählung
mit den Mitteln des Theaters wird den Zuschauern eine andere, distanziertere Haltung nahe gelegt als
im Theater als Kraftwerk der Gefühle. Die Zuschauer sollen nicht in den Bann einer Einfühlung in die
Bühnenfiguren geschlagen werden, sondern wache Beobachter eines gesellschaftlichen Experiments
sein, die ihre eigenen Schlüsse ziehen.
3.3 Parabelstück
An "Der gute Mensch von Sezuan" fällt auf, dass einige "nicht-aristotelische" Elemente fehlen, die für
andere Stücke charakteristisch sind. So gibt es, anders als in "Leben des Galilei" oder "Mutter Courage
und ihre Kinder", keine Szenentitel, die dort dazu dienen, der Einfühlung entgegenzuwirken und die
Aufmerksamkeit der Zuschauer vom Was auf das Wie des Geschehens zu lenken. Brecht erlaubt sich
hier durchaus, Spannung auf die Fortsetzung des Geschehens aufzubauen. Erst nach dem Auftreten
des Shui Ta wird offensichtlich, dass er von der maskierten Shen Te gespielt wird, und man erfährt
nicht schon vor Beginn der Hochzeitsszene von ihrem Ausgang usf.
Es scheint, als habe Brecht die gewohnte Vorsicht hier nicht walten lassen, weil er sich in der Parabel
auf einem sicheren Terrain des epischen Theaters wusste. Atmosphäre und schon die ersten
Handlungselemente, der Auftritt von Göttern, stellen den Gleichnischarakter des Bühnengeschehens
unmissverständlich aus. Man wähnt sich in einem Zauberspiel, in einer ironischen Adaption des
barocken Welttheaters oder im Musiktheater, wenn in der Schlussszene die Götter, ein Terzett
singend, im Bühnenhimmel verschwinden.
Diese Öffnung seiner Arbeit für verschiedenste Formelemente war Brecht ein Bedürfnis, nachdem er
sich mit anderen Arbeiten deutliche Beschränkungen auferlegt hatte:
"LEBEN DES GALILEI ist technisch ein großer rückschritt, wie FRAU CARRARS GEWEHRE allzu
opportunistisch. man müßte das stück völlig neu schreiben (...) es wäre zuerst das FATZERfragment
und das BROTLADENfragment zu studieren. diese beiden fragmente sind der höchste standard
technisch."
(AJ, S.32)
Dies schrieb Brecht unter dem 25. Februar 1939 in sein Arbeitsjournal. Am 15. März, etwa einen
Monat vor der Flucht aus Dänemark nach Schweden, heißt es über die Arbeit am Sezuan-Stück.
"es ist scharadenarbeit, schon der umkleide- und umschminkakte wegen. ich kann aber dabei die
epische technik entwickeln und so endlich wieder auf den standard kommen. für die schublade braucht
man keine konzessionen."
(Materialien, S.13)
Für "Galilei" hatte Brecht sich technische Beschränkungen auferlegt, weil er biographisch vorging,
sich also vom historischen Material leiten ließ. "Die Gewehre der Frau Carrar" waren ein Rückgriff
auf herkömmliche Einfühlungsdramaturgie, weil es hier um die Agitation für die Kämpfer des
spanischen Bürgerkriegs ging.
Mit der in China angesiedelten Parabel vom guten Menschen, der böse werden muss, dachte Brecht
also an seine kühnsten Entwürfe der 20er Jahre anzuknüpfen.
"'Technischer Standard' hieß für Brecht: ein rhythmisch kalkulierter Wechsel der Spiel- und StilLagen, zwischen dialogischen Passagen und polyphonen Chören, gewiss auch ein Wechsel zwischen
gesungenem und gesprochenem Text."
(Hb, S.241)
So Burckhardt Lindner im neuen Brecht-Handbuch. Für einen linken Exilautor, der die Sowjetunion
zumindest noch als Durchreiseland für die Passage nach Amerika brauchte, waren als formalistisch
verschrieene Kühnheiten unter Umständen lebensgefährlich. Die Schriftsteller hatten sich an einen
sozialistischen Realismus zu halten, der "volksnahe" Formen und Geschichtsoptimismus zur Pflicht
erhob.
Die Parabelform eröffnete ästhetisch ein weites Feld, weil sie sich dem Zugriff eines unreflektierten
Realismus-Begriffs entzog.
Brechts Interesse war aber kein rein artistisches. Alle eingesetzten Elemente sollten zu Erkenntnissen
führen, indem sie die Welt "praktikabel", also zum Besseren veränderbar zeigten. Brecht setzte einen
für seine Zeit sehr avancierten Begriff von Realität voraus, aus dem die Notwendigkeit einer
Verwendung der Parabelform geradezu abgeleitet werden kann. Der Zugriff auf die moderne Realität
durch die einfache Wiedergabe von Wahrnehmung schien Brecht unmöglich:
"Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache 'Wiedergabe der Realität'
etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe
nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die
Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr
heraus. Es ist also tatsächlich 'etwas aufzubauen', etwas 'Künstliches', 'Gestelltes'. Es ist also ebenso
tatsächlich Kunst nötig. Aber der alte Begriff der Kunst, vom Erlebnis her, fällt eben aus. Denn auch
wer von der Realität nur das von ihr Erlebbare gibt, gibt sie selbst nicht wieder. Sie ist längst nicht
mehr im Totalen erlebbar."
(aus Dreigroschenprozeß, GW 18, S.161f, nach Müller Parabel, S.321)
"Paraballein" ist das griechische Wort für "nebeneinander stellen". Indem er Gleichnisse wie das von
der Hure Shen Te gleichsam neben die Realität der Zuschauer stellte, an die konkreten Mittel der
Bühne gebunden, hoffte Brecht, "das Komplizierte zu entwirren". Noch kurz vor seinem Tod äußerte
er, die Parabel stelle "für den Dramatiker das Ei des Kolumbus dar, weil sie in der Abstraktion konkret
ist, indem sie das Wesentliche augenfällig macht". (Müller Parabel, S.316)
Brechts Kunst verbindet einen realistischen Anspruch mit größtmöglicher formaler Offenheit und
Experimentierfreudigkeit. Nur so glaubte er den Kräften auf der Spur zu bleiben, die das Leben der
Menschen bestimmen und sich immer mehr der Alltagswahrnehmung entziehen.
Eine weitere Erklärung für Brechts Nähe zur Form der Parabel ist deren Herkunft aus der Rhetorik, ihr
lehrhafter Grundzug. Ihre weiteste Verbreitung hatte sie in der deutschen Literatur zur Zeit der
Aufklärung. In der öffentlichen Rede muss das Ziel der Parabel sein, Handlungen, Entscheidungen des
Publikums zu beeinflussen. Die Parabel mündet in die Realität des Adressaten, in einer Art
Handlungsanweisung. So ist der berühmte offene Schluss des Stücks, die Aufforderung ans Publikum,
es solle sich einen Schluss selbst ausdenken, der formgerechte Abschluss einer Parabel.
3.4 China
Das historische China ist im Stück natürlich nicht gemeint. Es bot sich an als Name, als ferne,
unerwünschte Identifikationen hemmende Szenerie. Brecht hatte allerdings eine ausgeprägte Affinität
zur chinesischen Kultur. Davon zeugen viele Texte, das berühmte Gedicht über die Flucht des Lao Tse
ins Exil oder die Sammlung Me-Ti, aber auch private Bezugnahmen, wie die Benennung der Geliebten
Ruth Berlau als Lai Tu.
Die chinesische Tradition ist in starkem Maß von parabolischem Denken geprägt. Im Stück verwendet
Brecht das Gleichnis vom "Leiden der Brauchbarkeit", das er im Dschuang Dsi, einem der
Hauptwerke der taoistischen Philosophie fand (S.87f).
Brechts im Stück durchgeführte Kritik an einer Ethik der Vorschriften hat eine Parallele in der
chinesischen Philosophie. Während die christliche Tradition von einer sündigen Natur des Menschen
ausgeht, halten chinesische Ethiker, etwa der von Brecht eingehend studierte Me Ti (auch Mo Ti, um
480-400 vor Christus) die Natur des Menschen für gut und führen deren Korruption auf zu
verbessernde gesellschaftliche Zustände zurück. Die Idee einer Läuterung durch Leiden erschiene
ihnen abwegig:
"In China läutert das Leid nicht, es deformiert nur."
(Tatlow, S.45)
Die chinesische Philosophiegeschichte kennt außerdem die Kritik einer von Praxis losgelösten Moral,
personifiziert in Konfuzius. Bei Brecht nimmt diese Moralkritik die Gestalt der drei immer weiter
herunterkommenden Götter an.
In einem engagierten, fesselnd geschriebenen 500-Seiten-Buch ist D. Stephan Bock der Frage
nachgegangen, wie weit bei Brecht und vor allem bei seiner sprachbegabten Mitarbeiterin Steffin von
einer Kenntnis und Verwendung des Chinesischen ausgegangen werden kann. Die assoziativ
vorgetragenen Ideen Bocks sind ohne entsprechende Sprachkenntnisse schwer zu überprüfen.
Jedenfalls findet er allenthalben, besonders in den offenbar sorgsam konstruierten Personennamen,
mögliche Subtexte und kann plausibel machen, dass Brechts Produktivität wenig berücksichtigte
gelehrte und sprachspielerische Seiten hatte.
Sehr interessant sind Überlegungen, ob es sich bei Brechts Sprachanleihen auch um eine
"Kassibertechnik", um das Verstecken gefährlicher Botschaften handeln könnte. Bock macht auf
verschlungenen Pfaden etwa eine Kritik an Stalin aus (Bock, S.265f). Man erinnere sich der
Epilogverse:
"Vielleicht fiel uns aus lauter Furcht nichts ein.
Das kam schon vor. Was könnt die Lösung sein?"
(S.134)
Starkes Interesse fand bei Brecht die aus europäischer Sicht antinaturalistische, hoch stilisierte
chinesische Schauspielkunst. Sie kennt die Darstellung von Frauenrollen durch Männer und somit das
zitierende, nicht auf Einfühlung beruhende Spiel.
3.5 Episches Theater mit chinesischen Anleihen
Chinesische Schauspielkunst erschien Brecht als ein Inbegriff jener artistischen Lässigkeit, die er sich
für sein "episches Theater" so sehr wünschte.
Bei seiner Moskaureise 1935 machte er eine Erfahrung, die sein Denken über episches, auf die
Erzeugung von Einfühlung verzichtendes Theater erneut in Bewegung brachte. Gemeinsam mit
Margarete Steffin, mit der er vier Jahre später die Arbeit an "Der gute Mensch von Sezuan"
aufnehmen sollte, besuchte er Veranstaltungen des Schauspielers Mei Lan-fang, dem unvergleichliche
Virtuosität nachgerühmt wurde (Tretjakow, S.382). Brechts intensive Beobachtungen lieferten den
Stoff zu dem bedeutenden Essay "Verfremdungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst", der
1936 geschrieben und im selben Jahr in einer englischen Übersetzung gedruckt wurde. Hier hat Brecht
zum ersten Mal in einem datierbaren Text den für ihn zentralen Begriff des "Verfremdungs-", kurz "VEffekts" benutzt (vgl. Kommentar in GBA 22,2, S.959). Gemeint sind Möglichkeiten des Theaters,
Distanz statt Einfühlung beim Zuschauer zu erzeugen und damit andere Arten des Kunstgenusses zu
kultivieren.
Jenseits der analytischen Ergiebigkeit musste es Brecht willkommen sein, wesentliche Elemente der
von ihm erstrebten Erneuerung der westlichen Schauspielkunst in "volkstümlichen" Theatertraditionen
nachweisen zu können. Er hatte sich bereits im Exil, wie später in Ostberlin, von kommunistischer
Seite mit dem Vorwurf des "Formalismus" und der Volksferne auseinander zu setzen. Die öffentliche
Debatte, der sich Brecht weitgehend entzog, ist als Expressionismusstreit dokumentiert worden.
Wortführer einer konservativen linken Ästhetik und damit ein Hauptgegner Brechts war der
ungarische Philosoph Georg Lukacs.
Brecht versuchte den Begriff des Realismus vor der Einengung zu bewahren, die eine Orientierung an
der Literatur des 19. Jahrhunderts bedeutete. Für ihn war eine adäquate Darstellung der
gesellschaftlichen Wirklichkeit ohne einen experimentellen Umgang mit formalen Möglichkeiten nicht
denkbar.
So wenig brauchbar das dem jahrhundertealten chinesischen Theater zugrunde liegende
Gesellschaftsmodell und die offensichtlich magischen Elemente waren - die Technik des führenden
Schauspielers Mei Lan-fang bot Brecht genügend Anknüpfungspunkte, um seine Idee eines modernen,
der Umgestaltung der Gesellschaft dienenden Theaters in großen Zügen zu entwickeln.
Die durch die Herrschaft der Nazis abgebrochene Entwicklung der deutschen Theatermoderne hatte
für Brecht vor allem ein Ziel gehabt: ein nicht-aristotelisches Drama, das die Zuschauerreaktionen von
der Ebene der Gefühle auf die der Vernunft verlagern, das zu einer Umgestaltung der in eine
weltgeschichtliche Katastrophe mündenden gesellschaftlichen Situation aktivieren wollte. Wie die
Wissenschaft seit Bacon und Galilei die Menschen in die Lage versetzt hatte, die Natur gezielt zu
beeinflussen, sollte die Kunst Modelle liefern, die helfen könnten, die Verhältnisse der Menschen
untereinander verständlich und formbar zu machen.
"Nicht-aristotelisch" war für Brecht eine Dramenproduktion, die auf "Einfühlung", auf Identifikation
der Zuschauer mit bestimmten Bühnenfiguren verzichtete. Diese Einfühlung sah Brecht in der Poetik
des Aristoteles vorausgesetzt, da als Zweck der Tragödie die "Katharsis", die Reinigung des
Zuschauers von den dargestellten Affekten galt (GBA 22,1, S.171f).
Dem Hängenbleiben auf der Ebene gesteuerter Emotionen, der "Vergewaltigung" (GBA 22,1, S.203)
des Zuschauers durch ihm quasi hypnotisch aufgezwungene Identifikationen gilt Brechts Kritik an den
vorgefundenen Stücken und Aufführungen des westlichen Theaters:
"Der westliche Schauspieler tut alles, um seinen Zuschauer an die darzustellenden Vorgänge und die
darzustellende Figur so nahe wie möglich heranzuführen. Zu diesem Zweck bringt er ihn dazu, sich in
ihn, den Schauspieler, einzufühlen, und verwendet alle seine Kraft darauf, sich selbst in einen andern
Typus, den der darzustellenden Person, möglichst restlos zu verwandeln. Ist die restlose Verwandlung
gelungen, hat sich seine Kunst so ziemlich verausgabt. Ist er einmal der darzustellende Bankkassierer,
Arzt oder Feldherr, so hat er ebensowenig Kunst nötig, wie der Bankkassierer, Arzt oder Feldherr, 'im
Leben' sie nötig hat."
(GBA 22,1, S.203)
Brecht verkannte nicht, dass die Einfühlung im Theater eine wichtige Funktion bei der Emanzipation
des Bürgertums gehabt hatte, die mit der Idee der "Einzelpersönlichkeit" verbunden war. Im Zeitalter
der "großen Kollektive" (GBA 22,1, S.175) sah er die Einfühlung "abfaulen" (GBA 22,1, S.172) wie
die Religiosität, von der sie eine Form sei.
An diesem Ausgangspunkt, der Analyse und Kritik einer vorgefundenen dramatischen Literatur und
eines Theater- und Kulturbetriebes, von dem der unsrige sich womöglich nicht fundamental
unterscheidet, ist Brechts Theorie zugänglich. Hier zeigen sich ihre lebendig gebliebenen Energien.
Spätestens seit dem Abtreten der 68er-Protestgeneration gehört es zu den Standards des Feuilletons,
Brecht, zumindest den der "klassischen", späten Dramen, totzusagen. Das sei alles viel zu einfach
gedacht. Wenn man sich nicht an die zu Unterrichtszwecken verbreiteten Schematisierungen hält,
sondern Brecht im Original liest, als den großen, neugierigen Essayisten, der er auch war, entgeht
einem kaum die Schlüssigkeit seines Nachdenkens über politisches Theater. Dass Brecht selbst seine
Exildramen unter heutigen Bedingungen einer Konsumgesellschaft zumindest nicht unverändert
inszeniert hätte, versteht sich von selbst. Zeitgenössische Vertreter eines politischen Dramas fragen
eher, wie heute, unter veränderten Voraussetzungen, zu erreichen wäre, was Brecht in den frühen 50er
Jahren gelungen ist.
Seine Kritik an der Dramatik und Schauspielkunst hat Brecht in dialogischer Form im so genannten
"Messingkauf" festgehalten. Es handelt sich dabei um von den "Discorsi" Galileis inspirierte Dialoge
zwischen Theaterleuten und einem Philosophen, die Brechts Ansatz in einer Kritik des vorgefundenen
Theaters entwickeln. Den Plänen zu dem nicht abgeschlossenen Werk ist zu entnehmen, dass auch der
Aufsatz über die chinesische Schauspielkunst darin aufgehen sollte (GBA 22,2, S.1112). Der Hauptteil
des "Messingkaufs" wurde in den Jahren 1939 bis 1941 geschrieben, also zur Entstehungszeit von
"Der gute Mensch von Sezuan".
Folgendes Zitat ist zum Verständnis des Titels "Messingkauf" unerlässlich:
"DER PHILOSOPH: (...)"Was ich mich frage, ist nur, wie eure Gefühle und besonders die Bemühung,
besondere Gefühle zu erregen, den Nachahmungen bekommen. Denn ich muß leider dabei bleiben,
daß es die Vorfälle aus dem wirklichen Leben sind, die mich besonders interessieren. Ich möchte also
noch einmal betonen, daß ich mich als Eindringling und Außenseiter hier fühle in diesem Haus voll
von tüchtigen und unheimlichen Apparaten (...) Ich fühle diese Besonderheit meines Interesses so
stark, daß ich mir wie ein Mensch vorkomme, der, sagen wir, als Messinghändler zu einer
Musikkapelle kommt und nicht etwa eine Trompete, sondern bloß Messing kaufen möchte. (...) So
aber suche ich hier nach meinen Vorfällen unter Menschen, welche ihr hier irgendwie nachahmt, wenn
eure Nachahmungen freilich einen ganz anderen Zweck haben als den, mich zu befriedigen."
(GBA 22,1, S.778)
Das Studium von Beispielen der Schauspielkunst als Menschendarstellung außerhalb der Traditionen
des bürgerlichen Theaters hat Brecht intensiv betrieben. Chaplin und Valentin als Clowns und eben
der chinesische Virtuose der Darstellung von Frauen, Mei Lan-fang, lassen nach Brechts Analyse dem
Zuschauer fremd erscheinen, was sie darstellen. Überdies entbehrt ihr Auftreten des quasi religiösen,
weihevollen Rahmens, den das bürgerliche Theater bietet.
Brecht interessieren an der chinesischen Darstellungstechnik vor allem zwei Züge: Einmal verzichtet
der chinesische Artist nach Brechts Analyse auf die Illusion der "vierten Wand" zum Zuschauer, die
Illusion des Unbeobachtetseins. Er kann in eine Art Dialog mit den Zuschauern treten, selbst mit
Unterbrechungen der Darstellung kommt er zurecht.
Hinzu kommt eine demonstrative Selbstbeobachtung des Spielers, die der Darstellung einer Person
oder eines Vorgangs auf der Bühne ein für das epische Theater wesentliches, reflexives Moment
hinzufügt. Der Spieler lässt durch den Ausdruck erstaunten Betrachtens das von ihm selbst
Präsentierte als fremd und bemerkenswert erscheinen:
"Der Artist sieht sich selber zu. Etwa eine Wolke darstellend, ihr unvermutetes Auftauchen, ihre
weiche und starke Entwicklung, schnelle und doch allmähliche Veränderung vorführend, sieht er
mitunter nach dem Zuschauer, als wolle er sagen: Ist es nicht genau so? Aber er sieht auch auf seine
eigenen Arme und Beine, sie anführend, überprüfend, am Ende vielleicht lobend. Ein deutlicher Blick
auf den Boden, ein Abmessen des ihm für seine Produktion zur Verfügung stehenden Raumes scheint
ihm nichts, was die Illusion stören könnte. Der Artist trennt so die Mimik (Darstellung des
Betrachtens) von der Gestik (Darstellung der Wolke), aber die letztere verliert nichts dadurch, denn
die Haltung des Körpers wirkt auf das Antlitz zurück, verleiht ihm ganz seinen Ausdruck. Jetzt hat es
den Ausdruck gelungener Zurückhaltung, jetzt den vollen Triumphes! Der Artist hat sein Gesicht als
jenes leere Blatt verwendet, das durch den Gestus des Körpers beschrieben werden kann. Der Artist
wünscht, dem Zuschauer fremd, ja befremdlich zu erscheinen. Er erreicht das dadurch, daß er sich
selbst und seine Darbietungen mit Fremdheit betrachtet. So bekommen die Dinge, die er vorführt,
etwas Erstaunliches. Alltägliche Dinge werden durch diese Kunst aus dem Bereich des
Selbstverständlichen gehoben."
(GBA 22,1, S.201f)
Die Wirkung auf den Zuschauer besteht für Brecht in einer Distanzierung. Der Zuschauer erliegt
keiner "Hypnose"; er bleibt bei sich, bei seinen Gefühlen und seinen Interessen:
"Das Sich-selber-Zusehen des Artisten, ein künstlicher und kunstvoller Akt der Selbstentfremdung,
verhindert die vollständige, d.h. die bis zur Selbstaufgabe gehende Einfühlung des Zuschauers und
schafft eine großartige Distanz zu den Vorgängen."
(GBA 22,1, S.202)
Mit der beschriebenen Art des Verfremdens durch demonstrative Selbstbeobachtung bietet das
chinesische Theater den in Deutschland begonnenen Bestrebungen um ein fortschrittliches, "episches
Theater" einen Verfremdungseffekt als "transportables Technikum" (GBA 22,1, S.206). Der "VEffekt" lässt sich von anderen, nicht verwendbaren Elementen des traditionellen fernöstlichen Theaters
ablösen.
Als Anwendungsmöglichkeit der an Mei Lan-fang beobachteten Technik der Selbstbetrachtung
beschreibt Brecht den Fall einer nicht bewältigten Szene:
"Der Effekt ist nur nach langem Studium hervorzubringen. Im Jiddischen Theater in New York, einem
sehr fortschrittlichen Theater, sah ich ein Stück von S. Ornitz, das den Aufstieg eines Eastside-Jungen
zum großen korrupten Anwalt zeigt. Das Theater konnte das Stück nicht spielen. Und doch waren da
Szenen wie die: der junge Anwalt gibt, auf der Straße, vor seinem Haus sitzend, Rechtsauskünfte, die
sehr billig sind. Eine junge Frau kommt mit einer Beschwerde, ihr Bein ist im Verkehr beschädigt
worden. Aber der Fall wurde verschlampt, ihre Schadensersatzforderung ist noch nicht eingereicht.
Verzweifelt schreit sie, auf ihr Bein zeigend: es heilt schon! Das Theater, arbeitend ohne den V-Effekt,
vermochte die Greuel einer blutigen Zeit an dieser außerordentlichen Szene nicht aufzuzeigen. Wenige
Leute im Zuschauerraum bemerkten sie, kaum einer, der dies liest, würde sich dieses Ausrufs erinnern.
Die Schauspielerin sprach den Ausruf wie eine Selbstverständlichkeit. Aber gerade dies, daß eine
solche Klage diesem armen Menschen selbstverständlich erscheint, hätte sie als entsetzter Bote,
rückkehrend aus der untersten der Höllen, dem Publikum berichten müssen."
(GBA 22,1,S.209f)
Die geschilderte Szene dürfte ein Vorbild gewesen sein für das juristische Nachspiel der Verletzung
des Wasserverkäufers Wang durch den reichen Shu Fu im Sezuan-Stück (S.57-59). Eine Aufführung,
die Brechts Ansprüchen genügen sollte, hätte mittels Verfremdung zu zeigen, welche untragbaren
gesellschaftlichen Verhältnisse dahin führen, dass ein Mensch seine Heilung, ein Geschenk der Natur,
als ein Unglück empfinden muss, das ihn seinen Lebensunterhalt kostet.
Nachdem Shen Te ihm angeboten hat, als Zeugin gegen Shu Fu aufzutreten, obwohl sie den Vorfall
nicht beobachtet hat, wird Wangs bestürzende Besorgnis sprachlich und gestisch herausgearbeitet. Er
hütet die schwere Verletzung quasi wie seinen Augapfel:
"WANG Ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann. Aber vielleicht muß ich es annehmen. Auf seine
Hand blickend, besorgt. Meint ihr, sie ist auch dick genug? Es kommt mir vor, als sei sie schon wieder
abgeschwollen?
DER ARBEITSLOSE beruhigt ihn: Nein, sie ist bestimmt nicht abgeschwollen.
WANG Wirklich nicht? Ja, ich glaube auch, sie schwillt sogar ein wenig mehr an. Vielleicht ist doch
das Gelenk gebrochen! Ich laufe besser gleich zum Richter. Seine Hand sorgsam haltend, den Blick
immer darauf gerichtet, läuft er weg."
(S.58)
Mit Blick auf unser Stück ist zu beachten, dass Mei Lan-fang auf die Darstellung von Frauenrollen
spezialisiert war. Sergej Tretjakow, der den Moskauaufenthalt der chinesischen Theaterleute
organisierte und Brecht und Margarete Steffin Zugang zu ihren Vorführungen verschaffte,
charakterisiert ihn folgendermaßen:
"Nach chinesischem Geschmack gibt es (...) keine vollkommenere Figur auf dem Theater als die, die
Mei Lanfang zu schaffen versteht. Er läßt den Inhalt der Stücke völlig unangetastet. Ihn interessieren
nur die Ausdrucksmittel. Er vereint zwei früher getrennte Haltungen - die der tugendhaften Heldin und
die der Verführerin, die Frau wird in seiner Darstellung psychologisch differenzierter als es das
Ikonenbild des klassischen Theaters vorgibt."
(Tretjakow, S.383)
Das Spielen einer Männerrolle durch die weibliche Hauptfigur, die Prostituierte, war bereits in den
Entwürfen aus der Weimarer Zeit enthalten. An Mei Lan-fangs Spiel dürften die verfremdenden
Wirkungen der Darstellung einer Figur durch einen Vertreter oder eine Vertreterin des anderen
Geschlechts besonders deutlich geworden sein. Brecht schreibt Helene Weigel begeistert davon.
(Chronik, S.438)
Im "Messingkauf" wird der besondere Wert der Darstellung eines Mannes durch die an den
Gesprächen teilnehmende Schauspielerin erörtert: Der für das herkömmliche Theater typische
Anstrich des "Allgemeinmenschlichen" verschwindet, dafür tritt die jeweilige gesellschaftliche
Ausprägung von "Männlichkeit" in der Verfremdung zu Tage. (GBA 22,2, S.740f) Die
Beobachtungen sollen auch für Darstellungen von Figuren des eigenen Geschlechts genutzt werden:
"Wo es sich also um geschlechtliche Dinge handelt, muß der Schauspieler, ist er ein Mann, etwas von
dem bringen, was eine Frau dem Mann mitgeben würde (...)"
(GBA 22,2, S.741)
und umgekehrt.
3.6 Interpretationen
"Dies sind Fragen, die gestellt werden müssen, aber es müssen noch mehr Fragen gestellt werden. Und
es kommt darauf an, daß der Fragende keine Furcht vor einander widersprechenden Antworten hat,
denn ein Stück wird lebendig durch seine Widersprüche. Zugleich aber muß er diese Widersprüche
klarstellen und darf nicht etwa dumpf und vage verfahren, in dem bequemen Gefühl, die Rechnung
gehe ja doch nicht auf."
(Brecht zur Wuppertaler Aufführung 1955, Materialien, S.155)
Die Qualität einer Parabel bemisst sich nicht zuletzt an ihrer Fruchtbarkeit: an der Zahl der Versuche,
sie auf die Wirklichkeit anzuwenden oder auch sie zu kritisieren und umzubauen. "Der gute Mensch
von Sezuan" gehört zu den Stücken Brechts, die sehr kontrovers diskutiert werden.
Zur Deutung fordern vor allem die "Spaltung" der weiblichen Hauptfigur und die drei Götter heraus.
Deren Funktion hat Brecht selbst klar bestimmt als: "die tödlich gewordenen moralvorschriften
vertretend" (Materialien, S.22). "Gesellschaftlich komisch" wirken die Götter, weil sie die
Lebensferne ihrer Forderungen selbst zu spüren bekommen und durch ihr unaufhaltsames
Herunterkommen und schließlich ihre Flucht als umgekehrte dei ex machina sichtbar machen.
Im "Messingkauf" wird eine Ethik wie die der Götter als "bürgerlich" von der auf Praxis zielenden
Kritik des Messingkäufers abgesetzt. Der "bürgerliche" Vorwurf des Mangels an Gefühl wird gegen
das "epische Theater" bis heute erhoben:
"Seine Kritik war etwas Praktisches und damit unmittelbar auch Gefühlsmäßiges, während das, was
sie als Kritik kannten, ins Ethische ging, anstatt ins Praktische, das heißt im Gefühlsmäßigen
verblieb."
(GW 16, S.618)
Das Stück des einst als Kommunisten Verfemten steht seit langem auf den Lehrplänen. In Verbindung
mit der zu Lehrzwecken schematisierten Theorie lässt es sich gut zu Prüfungs- und Aufsatzzwecken
einsetzen. So liest man es in einem Alter, in dem man einer Brechts Intention zuwiderlaufenden
Identifikation mit der guten Außenseiterin Shen Te schwerlich entgeht. Für ein produktives
Verständnis ist es aber unerlässlich an die Stelle einer Einfühlung genaue Beobachtung und Befragung
zu setzen, um die Figur so befremdend wahrzunehmen, wie sie gedacht ist.
Mit Ausnahme der Shen Te und ihrer Freunde, Wangs und des alten Teppichhändlerpaares, handelt es
sich beim Personal des Parabelstückes um Typen, die sich gemäß ihrer Klassenzugehörigkeit
verhalten: Shu Fu und Mi Tzü, als Reiche, der Polizist und Sun vermöge ihrer Bildung als Stützen des
Systems und schließlich die bezeichnenderweise in großer Zahl auftretenden, von der Not
korrumpierten Proletarier.
Die Spaltung der Hauptfigur in die gute Shen Te und den "bösen" Shui Ta ist nicht mit
psychologischen Kategorien zu erfassen. Wie auch in anderen Stücken derselben Phase zeigen
derartige Spaltungen, dass das Verhalten von Menschen nicht Ausdruck ihrer "Persönlichkeit",
sondern durch das gesellschaftliche Kräftefeld induziert ist, in dem sie sich befinden. Mutter Courage
kann nicht Mutter sein, weil sie Händlerin bleibt. Herr Puntila ist abwechselnd Mensch oder
Gutsbesitzer, je nachdem ob er gerade betrunken oder nüchtern ist (Hb, S.445). Shen Te wird
"zerrissen" durch das göttliche Experiment, mit den unvereinbaren Forderungen gut zu den anderen,
aber auch zu sich selbst zu sein. (vgl. Materialien, S.14, 20.6.40)
Derartig realistische Figuren müssen sich, so die Überlegungen im "Messingkauf", gegen die
Einfühlung sperren.
"DER PHILOSOPH Die Figur, welche für die Einfühlung bereitgestellt wird (der Held), kann nicht
realistisch geschildert werden, ohne für die Einfühlung des Zuschauers verdorben zu werden.
Realistisch geschildert, muß sie sich mit den Geschehnissen ändern, was sie für die Einfühlung zu
unstet macht, und sie muß mit begrenzter Blickweite ausgestattet sein, was zur Folge haben muß, daß
ihr Standpunkt auch dem Zuschauer zuwenig Rundblick gewährt."
(Messingkauf nach GW 16, S.520)
Die Spaltung der Hauptfigur in "Der gute Mensch von Sezuan" ist ein Extremfall für das "Unstet"Werden einer Figur in realistischer Darstellung. Brecht spricht in seinem Arbeitsjournal von dem
"ständigen Zerfall" (Materialien, S.14, 20.6.40) der zwischen den Polen der Hauptfigur, Shen Te und
Shui Ta, stattfinde.
Übergroße Güte und spektakuläre Untaten deuten weniger auf die Individualität von Helden als auf die
Gewalt und Unbewohnbarkeit der Gesellschaften, in denen sie sich zeigen. (vgl. Ueding, S.187)
Die negativen Bewertungen des Stücks erheben meist den Vorwurf, Brecht arbeite mit schematischen
Entgegensetzungen von männlich - weiblich und gut - böse.
Wenn man will, findet man im Text dagegen nicht wenige Einwände. So ist es lohnend zu fragen, wie
es mit Shen Tes Gut-Sein genau aussieht. Warum lässt Brecht sie ausgerechnet einen Tabakladen
eröffnen? Immerhin singen die Verzweifelten in der ersten Szene das nihilistische, suchtkranke "Lied
vom Rauch", das wenig Zweifel über eine bestimmte soziale Funktion des Tabakgenusses lässt.
Verquast und realitätsblind wirkt der "Engel der Vorstädte" zum Beispiel bei der Begegnung mit dem
Arbeitslosen:
DER ARBEITSLOSE (...) Haben Sie eine Zigarette übrig (...) Brot ist teuer. Ein paar Züge aus einer
Zigarette, und ich bin ein neuer Mensch. Ich bin so kaputt.
SHEN TE gibt ihm Zigaretten: Das ist wichtig, ein neuer Mensch zu sein. Ich will meinen Laden mit
Ihnen eröffnen, Sie werden mir Glück bringen."
Der Arbeitslose zündet sich schnell eine Zigarette an, inhaliert und geht hustend ab."
(S.21)
Shen Te bleibt in ihrer Güte, bis sie sich in Shui Ta verwandelt, hilflos bis zur Groteske. Jan Knopf
legt überdies dar, dass das Wortfeld "gut" im Text durch fortwährend floskelhaften Gebrauch
entwertet wird. (Hb, S.435f) Shen Te steht jenem Bereich des "gesellschaftlich Komischen" (Hb,
S.434) nicht immer fern, in dem die drei Götter hausen. In solcher Komik kommt das Überlebte, der
Wirklichkeit nicht Adäquate einer Institution, aber auch von Shen Tes naiver Wohltätigkeit zum
Ausdruck.
Bevor man aber auf Grund vieler derartiger komischer Momente das ganze Stück zur Komödie erklärt,
muss man sich Rechenschaft über die Tragik des Stücks ablegen. Brecht hat sie selbst bezeichnet
(Materialien, S.27) an der Schwäche des Widerstands der Arbeiter, die "Das Lied vom achten
Elefanten" (S.108-110) singen. Tragisch kann auch das Schicksal der Güte genannt werden, die
entweder in ihr Gegenteil getrieben oder dazu missbraucht wird, die schlechte Welt so weit zu
verklären, dass die rettende Veränderung nicht nötig erscheint: Wird auch nur ein guter Mensch
gefunden, so ist alles in Ordnung und es kann bleiben, wie es ist.
Das Argument gegen manche kritische Interpretationen ist, dass sie Shui Ta nicht als ein gefährliches
Spiel der Shen Te, sondern als einen starren Gegensatz zum "guten Menschen" deuten. Es ist aber
unabweisbar, dass es sich bei Shui Ta um ein Rollenspiel handelt. Ein Aspekt dieses Spiels ist es, dass
es für Shen Te zu einer sie selbst bedrohenden "Sozialisation" in eine brutale Männerrolle entgleist.
Gegen eine schematische Entgegensetzung von aggressiver männlicher und guter weiblicher "Natur"
durch das Stück spricht, dass das extrem "männliche" Verhalten ausgerechnet aus der Mutterschaft
entsteht (S.97).
Eine besonders spannende Lektüre bietet Peter Thompson aus der Perspektive eines westlich
geprägten Marxismus. Er untersucht die Beziehung des Stücks zur politischen Situation, die zur Zeit
seiner Entstehung bestand. Dabei erscheint Shen Te nicht als schematisch gut, sondern als Opfer von
männlicher Herrschaft und Klassenherrschaft, daneben auch als Bild eines utopischen Sozialismus, der
eine natürliche Güte der Menschen voraussetzt. Widersprochen wird der Behauptung, die Shen
Te/Shui Ta-Spaltung sei eine bloße Neuauflage patriarchalischer Muster. Für Thompson ist das
Doppelspiel mit extremen männlich/weiblichen Klischees keine blinde Wiederholung vorgegebener
Diskurse, sondern eine Demonstration dieser Klischees, die zur Überwindung ihrer die Menschen
reduzierenden Macht Anstoß geben soll. Brecht sei keineswegs blind gewesen für symbolische
Herrschaft zwischen den Geschlechtern, für die Macht von Frauenbildern. Als Materialist habe er sie
aber als funktional für die Klassenherrschaft angesehen.
Thompson erinnert daran, dass schon für den marxistischen Klassiker Friedrich Engels die erste
Klassenunterdrückung mit der des weiblichen durch das männliche Geschlecht zusammenfiel. Die
berühmte Aufforderung des Epilogs, "Such dir selbst den Schluß!" richte sich an Arbeiter und Frauen
mit der Aufforderung sich der Unterdrückung durch das andere Geschlecht bzw. die herrschende
Klasse zu erwehren.
Weiter deutet Thompson Shui Ta als wesentliches Korrektiv zu Shen Tes Idealismus (Thompson,
S.240f Anm.4). Shen Tes Annahme der Shui-Ta-Rolle reflektiert danach strategische Überlegungen
eines radikalen Kommunisten. Die Partei hatte hart zu sein, um ihr Überleben zu sichern. Das
erwartete Kind symbolisiert die bessere Zukunft; die künftige kommunistische Gesellschaft
rechtfertigt die brutale Überlebensstrategie. Shen Te erkennt die Grenzen ihrer "sozialdemokratischen"
Wohltätigkeit, die die Unterdrückten abhängig und unpolitisch werden lässt, ihnen keine Perspektive
gibt, ihr Los selbst in die Hand zu nehmen.
Danach kann Shen Te als "böser" Mensch gesehen werden, weil sie die Entwicklung des für die
Befreiung unabdingbaren Klassenbewusstseins hemmt, während Shui Ta Gutes tut, indem er mit
seiner Brutalität eine revolutionäre Entwicklung beschleunigt. Überdies entspreche Shui Tas Handeln
Brechts in der Kriegsfibel ausgesprochener Überzeugung: "Der Sozialismus ist keine Frage der
Verteilung, sondern der Produktion von Gütern." (nach Thompson, S.228) Philanthropie, wie Shen Te
sie praktiziert, erscheint als lediglich kurzfristig wirksames, ohnmächtiges Herumkurieren an
Symptomen. Güter werden nur umverteilt. Insofern maskiert Shen Te als sie selbst die Wirklichkeit,
indem sie sie mit ihrer Wohltätigkeit wattiert, während sie in der Maske des Shui Ta die soziale
Wirklichkeit demaskiert und durch die radikale Steigerung der Produktion auf eine Umgestaltung
zutreibt.
Eine Pointe in Thompsons Interpretation ist die Identifikation der drei Götter mit den "Klassikern"
Marx, Engels und Lenin, die den "Ballen der Vorschriften" geschnürt haben. Schließlich sind es die
Götter selbst, die ihre Ohnmacht und Nichtigkeit am klarsten erkennen, sie üben materialistische
Kritik an sich selbst.
Eine dritte These Thompsons betrifft einen problematischen Aspekt der Shui-Ta-Figur und der
politischen Position Brechts. Shui Ta lässt sich auch interpretieren als einer von mehreren Versuchen
Brechts, die Verbrechen zu rechtfertigen, die der Stalinismus im Namen des Kommunismus begangen
hat. Um in ferner Zukunft die Menschenfreundlichkeit des Kommunismus realisieren zu können,
schien es Brecht und anderen zunächst nötig, der faschistischen Vernichtungsdrohung mit den brutalen
Mitteln der stalinistischen Bürokratie entgegenzutreten. Im Sinne von Brechts Bekenntnisgedicht "An
die Nachgeborenen":
"Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit /
Konnten selber nicht freundlich sein."
(nach Thompson, S.236)
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