I. Einleitung II. Herrschaftsinstabilität und „Kulturrevolution“ a. Der 17. Juni 1953: Arbeiteraufstand Auf der 2. Parteikonferenz der SED am 9. Juli 1952 verkündete Walter Ulbricht, die strukturellen Voraussetzungen für einen „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“1 seien geschaffen. Gemeint waren damit die oben angesprochenen Strukturen, die zur Transformation der ostdeutschen Gesellschaft und zur Absicherung der Monopolstellung der „Partei neuen Typus“ führten. Gleichzeitig erhöhte die SED den ideologischen Anpassungsdruck auf die Bevölkerung. Es folgten Drangsalierungen der verbliebenen Privatbauern, eine umfangreich geplante Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft, sowie weitreichende Repressionen gegen politisch Andersdenkende wie Reste eines „Sozialdemokratismus“.2 Auch die Kirchen als einzig nicht eroberte Großorganisationen gerieten in den Fokus der parteipolitischen Aufrüstung. Die SED führte offene Angriffe auf die Kirchen, um deren sozialen Rückhalt zu zerstören.3 Der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ bedeutete demnach Stärkung der Staatsmacht und war eine propagandistische Fortführung des in Teilen bereits realisierten Gesellschaftsumbaus zum stalinistischen Modell des Sozialismus.4 Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann deuten die zunehmenden politischen Repressionen, den erhöhten ideologischen Anpassungsdruck sowie den eskalierenden Kulturkampf gegen die Kirchen in Verbindung mit einer zunehmend schlechten Versorgungslage der Bevölkerung als Hauptursachen für die rasant steigenden Flüchtlingszahlen in der DDR.5 Von Januar bis März 1953 flüchteten 120.000 Menschen aus der DDR.6 1 Quelle suchen in DDR-Dokumente Vgl. Meuschel, S. 121 und Schroeder, S. 119. 3 Vgl. Pollack-Text bei Hedwig, S. 4 Vgl. Meuschel, S. 117. 5 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Roger Engelmann, Der „Tag X“ und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953. Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003, S. UNKLAR 6 Vgl. Wehler, S. 29. 2 1 Der DDR-Wirtschaft mangelte es sowohl an Lebensmitteln, als auch an Konsumgütern. Die SED-Wirtschaftsplaner reagierten auf diese Versorgungskrise mit einem Sparprogramm und einer Forderung nach Leistungssteigerung: die Arbeitsnormen wurden um 10% erhöht. Diese arbeitspolitische Maßnahme führte zu großen Unruhen in den Betrieben und zu erneut stark ansteigenden Flüchtlingszahlen. Anscheinend hatte die SED ihre Arbeiter ideologisch überschätzt.7 Die KPdSU erkannte die Brisanz der Lage in der DDR und fürchtete eine Erosion der Macht. [Noch immer Hoffnung auf Gesamtdeutschland durch Attraktivität? Suchen!] Sie forderte die SED auf, Korrekturen durchzuführen, die in einem „Neuen Kurs“ mündeten.8 [Neuer Kurs] Wie nahmen die Arbeiter in der DDR den „Neuen Kurs“ wahr? Fricke und Engelmann beschreiben in ihrer Studie die Mentalität der Arbeiter kurz vor dem Beginn des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953. Demnach werteten viele Arbeiter die Zugeständnisse der SED als Eingeständnis von Schwäche [gegenüber wem?].9 Die Maßnahmen wurden gar als „Sieg der Massen über die Funktionäre“10 gedeutet. Allerdings blieb gemäß des „Neuen Kurses“ die Erhöhung der Arbeitsnormen bestehen. Dies verstärkte eine wachsende Konfliktbereitschaft der Arbeiter gegenüber einer zunehmend als schwach wahrgenommene Regierung. Diese gefühlte Führungsschwäche der SED ermöglichte trotz der scharfen Repressionen, die Oppositionelle erfuhren, den Aufstand der Arbeiter.11 Die Initialzündung für den Aufstand des 17. Juni war ein Marsch von Bauarbeitern am 16. Juni aus Berlin Friedrichshain durch die Stadt in Richtung FDGB-Zentrale. Die Arbeiter erhofften sich durch einen geschlossenen, offensiven Widerstand gegen die Normerhöhung ein weiteres Zurückweichen der SED-Führung erwirken zu können.12 Bereits seit dem Morgen des 15. Juni streikten Bauarbeiter in einzelnen Brigaden Berlins. Die Bauarbeiter einer Großbaustelle am Krankenhaus Friedrichshain verfassten eine Resolution, um Druck auf die SED auszuüben und andere Arbeiter zu animieren, sich dem Streik anzuschließen. Sie forderten die SED auf, „in Anbetracht der erregten 7 Vgl. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß, Köln 1982, S. 67. 8 EV Fußnote Schroeder 9 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 38f. 10 EBD??? 11 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 38. 12 Vgl. ebd., S. 40. 2 Stimmung der gesamten Belegschaft“ die „als große Härte“ wahrgenommenen Normerhöhungen zurückzuziehen und „unverzüglich befriedigend Stellung zu nehmen“.13 Rasch verbreiteten sich diese Forderungen, es entwickelte sich ein Generalstreik, der von 500.000 Streikenden aus 186 Betrieben getragen wurde.14 Von politischer Brisanz für die SED-Spitze war, dass die zu Massenprotesten angewachsenen Streiks zusätzlich von 418.000 Demonstrationsteilnehmern unterstützt wurden.15 [Wirklich? Nochmal nachlesen!] In einem Gefühl von Stärke gegenüber der schwach wahrgenommen SED-Führung forderten die Aufständischen nicht mehr lediglich die Aufhebung der Normerhöhung, sondern erhoben sich grundsätzlich gegen die Politik der SED. In ihren Parolen forderten die Demonstranten sofortige Senkungen der Lebenskosten, die Einführung freier und geheimer Wahlen, sowie ein Ende der staatlichen Repressionen und Gewalt gegenüber Oppositionellen.16 Dabei lassen sich nach Bahring zwei Stadien des Aufstandes voneinander unterscheiden.17 Im ersten Stadium marschierten die Arbeiter geführt von Streikführern durch Berlin und besetzten ohne Gewaltanwendungen das Rathaus sowie Parteidienststellen. Im zweiten Stadium agierten die Aufständischen allerdings ungleich autonomer, zentrale Streikführer verloren an Einfluss auf kleinere Gruppen, die politisch motivierte Plünderungen und Überfälle durchführten. Für die SED stellten diese Vorgänge ein ideologisches Desaster dar. Die Ereignisse überraschten die unvorbereitete Parteiführung und die Staatssicherheit, die Anzeichen für einen derart rasanten Massenprotest unterschätzten.18 Anstatt eines durchaus erwarteten Klassenkampfes gegen die in der Landwirtschaft oder im Mittelstand vermuteten Überreste einer bürgerlich-kapitalistischen Tradition stand völlig unerwartet ein „Klassenkampf von unten“19 bevor. Ausgerechnet die Arbeiter, die im ideologisch aufgewerteten „Arbeiter- und Bauern-Staat“ eigentlich hätten privilegiert sein sollen, wandten sich gegen die Partei, deren gesamte Existenz mit dem Willen des Proletariats verknüpft war. Nur wenige Jahre zuvor, auf der ersten Parteikonferenz 1949, erklärte die 13 Zitiert nach Fricke, Engelmann, S. 43. Vgl. Wehler, S. 30. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Arnulf Bahring, Der 17. Juni 1953, Köln, Berlin 1966, S. 86. 17 Vgl. ebd., S. 87ff. 18 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 46. 19 Meuschel, S. 118. 14 3 SED, „die bewußte Vorhut der Arbeiterklasse“20 zu sein, um „ständig ihr Klassenbewußtsein [zu] erhöhen.“21 Als die Arbeiter am 17. Juni gegen die Normerhöhungen protestieren und ihre Kritik rasch politisierten, indem sie freie Wahlen forderten, war der Legitimationsglauben in die SED als klassenbewusste Führerin der Arbeiterklasse nachhaltig erschüttert.22 Hinzu kam die Inkompetenz, Ohnmacht und Hilflosigkeit der Parteiführung. Ihr wurde von den streikenden Arbeitern und Demonstranten schonungslos vor Augen geführt, dass sie derartige Massenproteste nicht systemimmanent verhindern oder bekämpfen konnte. Lediglich durch die Hilfe von außen, durch die Intervention sowjetischen Militärs, konnte das Machtmonopol der SED gesichert werden. Die sowjetischen Truppen beendeten den Aufstand gewaltsam, 50 Menschen starben bei der Niederschlagung der 23 Demonstrationen. Die Sowjets demütigten Ulbricht und die weiteren Spitzenfunktionäre der SED schwer, indem sie eigenmächtig den Ausnahmezustand in der DDR verhängten und den Militäreinsatz gegen die streikenden Arbeiter im Alleingang und ohne Absprache mit den ostdeutschen Machtinhabern durchführten. Dies kam einem demonstrativen Entzug einer Scheinsouveränität des SED-Staates gleich.24 [Die Erschütterung Legitimationsglaubens der Herrschaftsstabilität bewirkten ein und kollektives und Erosion des nachhaltiges Angsttrauma der SED-Elite. Nach Stefan Wolle fühlte sich die SED seit dem Ende des Arbeiteraufstandes einer permanenten Bedrohung ausgesetzt und fürchtete dauerhaft eine Erosion ihrer Macht.25 Besonders zu den Jahrestagen des 17. Juni erhöhte die Staatssicherheit die Alarmbereitschaft, da mit weiteren Aufständen gerechnet wurde. Demnach wähnte sich die Parteiführung „auf einem kochenden Vulkan“26 + Schroeder: Fremde im eigenen Land] Um die Führungsschwäche und Instabilität der von der Sowjetunion abhängigen SED-Herrschaft sowie die Erosion des Legitimationsglaubens in den DDR-Gründungsmythos des „Arbeiter- und Bauern-Staates“ offiziell nicht 20 Avantgardeanspruch und innerparteiliche Diktatur. Januar 1949 in: Dokumente S. 46. 21 Ebd. 22 Vgl. Weber 2006 aus’m Reader, S. 43. 23 Vgl. ebd., S. 42. 24 Vgl. Hagen, S. 777. 25 Vgl. Stefan Wolle, Lage stabil Artikel, S. 231f. 26 Ebd., S. 234. 4 eingestehen zu müssen, konstruierte das ZK der SED die Legende vom „Tag X“.27 Demnach sei der Arbeiteraufstand lediglich ein „Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Metropolen“28 gewesen. Getragen wurde diese propagandistische Verklärungsformel der Ereignisse sowohl von den Politikern der SED und der Blockparteien, als auch von ostdeutschen Historikern und der DDR-Justiz. Die Formel des „Tag X“ ging zurück auf eine Rede des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, der einen Tag für die Wiederherstellung der nationalstaatlichen Einheit Deutschlands in Aussicht stellte.29 Diese Aussage deutete Otto Grotewohl als die Ankündigung eines „Tag X“. Nach der SED-Propaganda konnte der Arbeiteraufstand damit als faschistischer Putschversuch und von Westdeutschland inszenierter Versuch einer konterrevolutionären Zerstörung der DDR gedeutet werden. Diesem Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Ursachen des Arbeiteraufstandes gingen wirtschaftliche Zugeständnisse der SED-Führung an die Demonstranten voraus. Noch während des 17. Juni nahm die Partei die Erhöhung der Arbeitsnormen zurück. Die Demonstranten, die einen politischen Wandel forderten, wurden enttäuscht.30 Zusätzlich bekräftigte die SED ihre Deutung vom 17. Juni als faschistischen Putschversuch mit einer Verhaftungswelle.31 aufgefordert, Durch Aufrufe in den Brigaden wurden Arbeiter Kollegen anzuzeigen, die angeblich als faschistische Provokateure aufgetreten wären. Zusammenfassend lässt sich sagen, die Reaktion der SED-Führung auf den Arbeiteraufstand vom 17. Juni bestand aus wirtschaftlichen Zugeständnissen und neuen Repressionswellen, die in einseitigen Schuldzuweisungen mündeten. Dies führte bei der DDR-Bevölkerung zu einem weitreichenden und nachhaltigen Akzeptanzeinbruch für die SED. [Verlust des Legitimationsglaubens. Dies muss höchstwahrscheinlich besser gegliedert werden, ich habe den Eindruck, mich zu wiederholen] Stefan Wolle, der die Mentalität der aufständischen Arbeiter untersuchte, kam zu dem Ergebnis, 27 Vgl. F/E, S. 19ff. Z. n. F/E, S. 19 (nochmal ansehen) 29 Vgl. F/E, S. 20. 30 Vgl. Malycha, S. 99f. 31 Vgl. ebd., S. 101. 28 5 dass es für viele der streikenden Arbeiter eine Genugtuung gewesen sei, „die herrschende Clique in Angst und Schrecken versetzt“32 zu haben. Allerdings markierte der 17. Juni 1953 eine Zäsur für Oppositionelle in der DDR. Die eindrucksvollste Erfahrung des Arbeiteraufstandes bestand nach (Vorname) Malycha in der desillusionierenden Erfahrung, dass selbst ein Aufstand, der die Machthaber an den Rand des Abgrundes führte, solange erfolg- und wirkungslos bleiben musste, wie Ulbricht und seine Genossen den Rückhalt der Sowjetunion hatten. Bernd Eisenfeld erkennt darin ein „doppeltes Trauma“33. Einerseits befürchteten die SED-Machthaber seit dem 17. Juni 1953 eine permanente Herrschaftskrise und wähnten sich „auf einem kochenden Vulkan“34, wie Stefan Wolle in seiner Untersuchung feststellt. [+Angst an Jahrestagen +Schroeder: Fremde] Andererseits verschwanden Oppositionelle dauerhaft aus der politischen Öffentlichkeit. Die Arbeiter passten sich den als unveränderlich erscheinenden Begebenheiten an und waren zur Loyalität gezwungen.35 Nach Max Webers Typologie der Herrschaftsformen bedeutet ein solches zweckrationales Hinnehmen der Parteiherrschaft Labilität des Systems.36 Weber argumentiert, jede Herrschaft suche zur dauerhaften Stabilisierung einen Legitimationsglauben „zu erwecken und zu pflegen“37. Bezogen auf die Situation in der DDR unmittelbar nach dem Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 bedeutet dies, dass die SED-Machthaber für eine Stabilisierung nach den traumatischen Erfahrungen des Aufstandes neue Legitimationsfelder erobern mussten, um die labile Herrschaft der Arbeiterpartei langfristig zu stabilisieren. [Diesen Abschnitt feiner formulieren und eventuell mit weiteren Überlegungen und Anmerkungen zu Weber ergänzen] [+ ev. Schriftsteller: Aussprache] b. Der XX. Parteitag: Entstalinisierung und Revisionismus 32 237 Eisenfeld, S. 349. 34 Wolle, S. 234. 35 Vgl. Malycha, S. 101 – aber nochmal nachschlagen 36 Vgl. Weber, S. 122. 37 Ebd. 33 6 Nur kurze Zeit nachdem die sowjetischen Panzer die Macht der SED sicherstellten, kam es in der DDR zu einer zweiten „akuten Bedrohung der Führungsspitze.“38 Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 rechnete der Parteichef Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede mit Stalin ab. In dieser Rede verurteilte Chruschtschow Stalin als größenwahnsinnigen Diktator. Im Original heißt es: „(…) er zwang anderen seine Ansichten auf und verlangte absolute Unterwerfung unter seine Meinung. Wer sich seiner Konzeption widersetzte oder einen eigenen Standpunkt zu vertreten, die Korrektheit der eigenen Position zu beweisen suchte, wurde unweigerlich aus dem Führungskollektiv ausgestoßen und anschließend sowohl moralisch als auch physisch vernichtet.“39 Damit machte Chruschtschow Stalin allein verantwortlich für den „Roten Terror“, der in der Sowjetunion Schätzungen zufolge X Menschen das Leben kostete.40 Zugleich Herrschafts- und verdeckte Chruschtschow Gewaltapparates des die Mechanismen Stalinismus, sowie des die gesellschaftlichen Strukturen, welche den Terror und die Massenverhaftungen begünstigten.41 Dies war nötig, um den Legitimationsglauben in die Parteiherrschaft als überpersönliche Autorität sowohl in der Sowjetunion, als auch in den Satellitenstaaten sicherzustellen, nachdem Stalins Tod in vielen sozialistischen Staaten Unruhen auslöste.42 Ulbricht und seine Genossen im ZK der SED befürchteten, dass ein Übergreifen der Diskussionen um den Terror Stalins auf die DDR erneut die Legitimation der Parteiherrschaft der SED gefährden musste, da die SED ihre führende Machtposition Stalin verdankte. Zudem gefährdete die Möglichkeit, die politischen Verbrechen und Morde Stalins mit denen Hitlers aufzurechnen die Antifaschismus-Doktrin, die nach dem 17. Juni 1953 einen stabilen Legitimationsglauben insbesondere bei Intellektuellen und Schriftstellern sicherstellte. Aus diesen Gründen blieb das ZK der SED zurückhaltender in der StalinKritik. Ulbricht mahnte, die Lehren des XX. Parteitages lediglich soweit auf die DDR zu übertragen, wie diese „auf unsere Verhältnisse anwendbar sind“43 und 38 Schroeder, S. 132. Zitiert nach Schroeder, S. 133. Nochmal abgleichen 40 Absichern mit Jahreszahlen und Fußnote 41 Vgl. Schroeder, S. 133 und Baberowski? 42 absichern 43 Zitiert nach Schroeder, S. 134. 39 7 beließ es bei der Feststellung: „Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht zählen.“44 [+Personenkult] Folgerichtig blieb der Inhalt der Geheimrede in der DDR verschwiegen. Es kursierten lediglich informell und mündlich ausgetauschte Gerüchte über den Inhalt, die unter Intellektuellen rasch Auslöser für leidenschaftliche Diskussionen über den stalinistischen Terror wurden.45 In seinem zeitnah verfassten Tagebuch beschreibt Gustav Just, der stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift „Sonntag“ und 1954/55 Generalsekretär des Schriftstellerverbandes war, die Ratlosigkeit und Neugier der Schriftsteller, die mehr über den Inhalt der desillusionierenden Geheimrede erfahren wollten.46 Viele erhofften sich auf der 3. Parteikonferenz der SED Aufklärung. Allerdings vermied es die Parteiführung um Ulbricht, auf der Konferenz die Chruschtschow-Rede zu thematisieren und stellte wirtschaftliche Beratungen bezüglich des zweiten Fünfjahresplanes in den Mittelpunkt der Diskussion.47 - Grußwort Präsidialausschuss Dies wirkte unbefriedigend auf die Intellektuellen.48 Als die ChruschtschowRede in der Westpresse veröffentlicht wurde, waren die Diskussionen um die Kritik am Stalinismus von der SED nicht mehr kontrollierbar. Just wertete den Inhalt der Rede als „Schlag auf den Kopf.“49 Mit seinen Vertrauten Walter Janka und Wolfgang Harich – der eine Leiter des Aufbauverlages, der andere dessen Cheflektor – diskutierte Just Chancen einer „wahre(n) Renaissance der sozialistischen Bewegung.“50 Nötig sei jedoch eine öffentlich debattierte Revision des Stalinismus sowie der Floskel des „Personenkultes“. Letzteres sei eine idealistische Verschleierung der überpersönlichen Strukturen der Massenverfolgungen unter Stalin gewesen.51 Neidvoll blickte Just seinen Erzählungen zufolge auf Polen und Ungarn, da in beiden Ländern eine wesentlich liberalere Presse über die Vorgänge und Inhalte des XX. Parteitages berichtete.52 Sowohl in Polen als auch in Ungarn waren die Zeitschriften Sprachrohre einer gesamtgesellschaftlichen 44 Kritik am Zitiert nach Schroeder, S. 134. Andere Quelle? Vgl. Gustav Just, Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre in der DDR, Frankfurt a.M. 1990, S. 51f. 46 Vgl. Just, S. 52. 47 Vgl. Weber-Buch, S. 190. 48 Vgl. Just, S. 51. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 55. 51 Vgl. ebd., S. 51. 52 Vgl. Just, S. 53. 45 8 Stalinismus.53 Schichtenübergreifend wirkte in beiden Ländern ein stark antirussischer Nationalismus identifikationsbildend.54 Polen Ungarn In der DDR verhinderte das ZK der SED eine derartige kritische Diskussion bezüglich des Stalinismus in der Öffentlichkeit und verhinderte damit die Formation einer gesamtgesellschaftlichen Opposition. Ulbricht diktierte kompromisslos, dass es in der DDR keine Massenrepressalien gegeben habe und deswegen auch keine „rückwärtsgewandte Fehlerdiskussion“55 geduldet werde. Diesen Zustand akzeptierte die Gruppe um Just und Harich nicht. Ihrer Auffassung nach bot der XX. Parteitag „große(…) Möglichkeiten und Perspektiven der Regeneration des geistigen Lebens und aller gesellschaftlichen Vorgänge“.56 Um in der DDR-Öffentlichkeit erstmals Stellung zu beziehen, veröffentlichte die Intellektuellenzeitschrift „Sonntag“ am X ein Gedicht des polnischen Schriftstellers Adam Wazyk. Das polemische Gedicht kritisiert die Überwachung und starre Hierarchie des Stalinismus: „Was unten weilt, irrt sich, das Haupt ist unfehlbar. Es leuchtet in Bronze, vom Weihrauch umnebelt.“57 Harich und Just verstanden sich als legitime Reformer des Sozialismus und waren sich sicher, die „einzig richtigen Schlüsse aus dem XX. Parteitag“ 58 gezogen zu haben. Die Entblößungen über Stalins Terror, von denen sie primär aus der polnischen Presse und Literatur erfuhren, bestätigten sie in ihrem politischen Engagement für einen demokratischeren Sozialismus.59 Ihrem Selbstverständnis nach agierten sie als Antreiber einer natürlichen Entwicklung des Sozialismus. In ihren Publikationen im „Sonntag“ forderten sie mehr Demokratie, mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der DDR-Bürger sowie gleichzeitig einen Bürokratieabbau, insbesondere des nach stalinistischen Methoden operierenden 53 Ministeriums für Vgl. Meuschel, S. 153. Vgl. David Priestland, Weltgeschichte des Kommunismus, Bonn 2009 oder 2010, S. 403. 55 Zitiert nach Schroeder, S. 134. 56 Just, S. 71. 57 Zitiert nach Just, S. 59. 58 Ebd., S. 137. 59 Vgl. ebd., S. 137. 54 9 Staatssicherheit.60 Harich präzisierte diese Forderungen nach einem Umbau des politischen Systems, an dessen Spitze weiterhin die reformierte SED stehen sollte. Allerdings verlangte er das Aufbrechen des Machtmonopols der Partei, um den Bürgern Eigenverantwortung und Partizipation zuzugestehen.61 Damit stellte Harich die Frage nach der Legitimationsgrundlage der Parteiherrschaft.62 Auf die Schriftsteller wirkten diese Forderungen weniger attraktiv, als von Just und Harich erwartet. Just beklagte sich in seinem Tagebuch über das „sterile(…) Schweigen“63 vieler etablierter Schriftsteller zu den Reformversuchen. Auch der Journalist Wolfgang Joho beklagte in seinem Artikel „Schriftsteller und res publica“ im Sonntag am X. die Neutralität der Schriftsteller. Joho wertete die steigende Kritikbereitschaft der Intellektuellen um Just und Harich als deutlich positiv: „Die Geister sind in Bewegung geraten, wie anderorts, so auch bei uns. Man überprüft, revidiert, kritisiert, denkt nach, sichtet, zieht Bilanz, stellt sich neue Ziele.“64 Allerdings forderte Joho zugleich in einer scharfen Polemik die Schriftsteller auf, das „Schweigen im Blätterwalde“65 zu beenden. Vielmehr seien gerade die Schriftsteller, die wegen ihres öffentlichen Ansehens eine gesellschaftliche Vorbildfunktion ausüben könnten, seien dazu befähigt, als „Gewissen seiner Epoche“66 aufzutreten und die Diskussion um die Entstalinisierung zu lenken. Allerdings nahmen sich die Schriftsteller dieser res publica nicht an. Es waren hauptsächlich junge, eher unbekannte Schriftsteller wie Gerhard Zwerenz oder Heinz Kahlau, die auf dem II. Kongress Junger Künstler öffentlich Stellung bezogen bezüglich der Entstalinisierung und des Revisionismus. Der Lyriker Heinz Kahlau vertrat die Ansicht, der XX. Parteitag habe kommunikative Möglichkeiten eröffnet, die „Lebensprobleme“67 des Stalinismus öffentlich zu diskutieren. Damit versuchte Kahlau die Entstalinisierungdebatte über die Kunst hinauszuführen und seine Kollegen anzuregen, eine Grundsatzdiskussion über die ideologischen Fehler des Stalinismus zu führen. 60 Vgl. Artikel Demokratisierung im Sonntag vom 11.11.56, zitiert nach Just, S. 140f. Vgl. Harich, … 62 Vgl. Thöns, S. 62. 63 Just, S. 76. 64 Zitiert nach Just, S. 90ff Nachschlagen, abgleichen! 65 Ebd., S. 91. 66 Ebd., S. 92. 67 Dokument 132 in Schubbe, S. 438. 61 10 Gerhard Zwerenz kritisierte in seiner Rede den stalinistischen Personenkult als Zersetzungselement für die gesamte sozialistische Lyrik. Seiner Auffassung nach seien die Dichter durch die stalinistischen Repressionen „zum Schweigen oder zur Lüge“68 gezwungen worden. Dies waren progressive und provokante Thesen, die etablierte Lyriker der DDR erregen sollten. Obwohl die publizistischen Arbeiten von Just und Harich sowie die Diskussionsanregungen auf dem II. Kongress Junger Künstler zu einer Steigerung der Konfliktbereitschaft unter Intellektuellen und Schriftstellern beitrugen,69 entwickelte sich daraus kein gemeinsames politisches Engagement für einen umfassenden Revisionismus in der publizistischen Öffentlichkeit der DDR. Das lag zum einen daran, dass es sich bei der Gruppe um Just und Harich nicht um einen konfrontativen Widerstand handelte. Ihrem Selbstverständnis nach agierten sie als „erhabene(…) Genosse(n)“70, die eine systemimmanente Diskussion anregen wollten – dies war eine der Lehren, die Oppositionelle aus dem 17. Juni 1953 zogen. Zum anderen fehlten dieser Opposition weitere Oppositionelle, die die Reformbereitschaft öffentlich trugen und zu einer schichtenübergreifende, gesellschaftumfassende Opposition anregten. Die etablierten Schriftsteller der DDR, die dazu in der Lage gewesen wären, zögerten allerdings verstört und ließen die Chance auf einen Revisionismus ungenutzt.71 [+Harich-Prozess?] Viele Schriftsteller trauerten um Stalin. In der Zeitschrift „Sinn und Form“ gelobten unter anderem Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Willi Bredel, Anna Seghers, und Anold Zweig „die Lehren Stalins zu verwirklichen und ihm, dem Genius des Friedens, die Treue zu halten“72. Bertolt Brecht, im Nationalsozialismus noch einer der schärfsten Kritiker des „Führerkultes“,73 verehrte Stalin als „Verkörperung der Hoffnung von 5 Erdteilen“74. Die Chruschtschow-Rede sowie die öffentlichen Debatten der Revisionisten bezüglich der Verbrechen Stalins erschütterten dieses Stalin-Bild nachhaltig. Dies löste unter den Schriftstellern Verwirrungen und Resignation aus. So gab 68 Dokument 132 in Schubbe, S. 440. Vgl. Meuschel, S. 157. 70 Just, S. 155. 71 Vgl. Meuschel, S. 72 Z.n. Rühter, . 73. 73 Erinnert sei an das Gedicht der Kälbermarsch 74 Z.n. Jäger, S. 66. 69 11 Willi Bredel zu, an den „bekannt gewordenen Tatsachen schwer zu tragen“ 75 gehabt zu haben, die „tragischen Fehler des Genossen Stalin“76 seien ihm „schwer zu Herzen gegangen.“77 [+weitere Kommentare, die die Verwirrung demonstrieren] Dennoch schlossen sich die Schriftsteller der Revisionismuskampagne nicht an. Dies kann nach dem Modell von Max Weber mit einem stabilen Legitimationsglauben der Schriftsteller in die charismatische Herrschaft der SED gedeutet werden. [anders formulieren] Insbesondere der DDRGründungsmythos des Antifaschismus wirkte auf viele Schriftsteller als ein Wahrheitsmonopol der Partei. So äußerte sich Armin Müller: „Ich kam blind aus der Vergangenheit, erlebte voller Hoffnung die Veränderungen, erlebte sie aktiv. (…) Ich machte mit und war der festen Überzeugung, dem Neuen durch meine Verse zu dienen.“78 Die Aussicht, nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus in einem Staat der politischen und moralischen Erneuerung zu leben, der zudem im Gegensatz zur Bundesrepublik versprach, „Lehren aus der Geschichte zu ziehen“79 um den Faschismus zu überwinden, verpflichtete viele Schriftsteller zu Kooperation mit der SED. Der Romancier Victor Klemperer war bereits 1945 (nochmal nachsehen!) davon überzeugt, die KPD Nazis.“ 80 „allein drängt wirklich auf radikale Ausschaltung der Obwohl Klemperer sich nie einer bestimmten Partei verpflichtet fühlte, hielt er die Zeit für gekommen, „um wohl Farbe (zu) bekennen.“81 Der Antifaschismus wirkte als Legitimationskonzept derart überzeugend auf den Schriftsteller, dass für ihn ein Parteilosbleiben einer „Feigheit“82 gleichkäme. Ähnlich begründete Christa Wolf ihren Beitritt in die FDJ. Die Schriftstellerin wünschte sich Teilhabe an Veränderungsprozessen nach den desillusionierenden Erfahrungen des Nationalsozialismus. Der Antifaschismus der SED bot ihr dafür die Möglichkeiten. Die Partei war ihrer Auffassung nach „genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland geschehen war. Und ich wollte genau das Gegenteil.“83 Das legitimatorische Potential des Antifaschismus wirkte derart überzeugend Wolf, dass sie 75 Staritz, 147 Ebd. 77 Ebd. 78 Z.n. Jäger, S. 78. 79 Meuschel 80 Victor Klemperer, Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember 1945, Berlin 1996, S. 186f. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie, Berlin 2002, S. 43. 76 12 überzeugt war, „ein für alle Mal im Mitbesitz der einzig richtigen, einzig funktionierenden Wahrheit zu sein.“84 [weitere Stimmen] Die Enthüllungen über Stalin bedeutete für diese Schriftsteller eine Zäsur zentraler Ideologiefragen, die desillusionierende Demontage des „Genius des Friedens“ schien die teleologische Erfolgsgeschichte des Kommunismus abrupt zu beenden. [ev. Zu scharf] Dies führte zu einer ideologischen Glaubenskrise.85 Auf diese antwortete die SED-Führung mit dem Ausruf der „sozialistischen Kulturrevolution.“ c. Kulturpolitische Reaktion: „Kulturrevolution“ X Bewusstsein X Die Ereignisse vom 17. Juni… Die Partei überschätzte das sozialistische Bewusstsein der Arbeiter. Der Glauben der Schriftsteller in die Überlegenheit des Sozialismus stand hingegen nicht zur Disposition. Wie oben erläutert, allerdings hielten sich viele Schriftsteller in den Debatten um eine Revision des Stalinismus zurück. Diese Zurückhaltung rühmte ZK-Mitglied Kurt Hager, der die Schriftsteller weiterhin als „aktive Erbauer(…) des Sozialismus“86, die „unverbrüchlich mit (…) dem Arbeiter- und Bauern-Staat verbunden sind“87 feierte. Die Bindungskräfte der Schriftsteller an den Sozialismus wirkten auch nach den Debatten um die Verbrechen Stalins.88 Insbesondere die theoretischen Alternativen des sozialistischen Staates – Antifaschismus als Gründungsmythos, die Lehre des Sozialismus als gesetzmäßige Höherentwicklung der Klassengesellschaft des Kapitalismus, der Glaube an eine gerechte und konfliktfreie klassenlose Gesellschaft – wirkten als „Bonus“89 für einen Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft der SED. 84 Ebd., S. 44. Vgl. Neubert, S. 352. 86 Schubbe, S. 478 87 Ebd. 88 Vgl. Guntolf Herzberg, Nachbesserung des Sozialismus oder Wie der Status quo gefestigt wurde, in: Roger Engelmann, Thomas Großbölting, Hermann Wentker (Hrsg.), Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, Göttingen 2008, S. 363-371, hier: S. 366. 89 Ebd. 85 13 Dennoch befürchtete die Partei „ideologische Schwankungen“90 der Schriftsteller, wie der stellvertretende Kulturminister Alexander Abusch auf der Kulturkonferenz der SED im Oktober 1957 erklärte. Das doppelte Machttrauma ließ die Partei an der inneren Verbundenheit der Schriftsteller mit der SED zweifeln. Abusch diagnostizierte eine wachsende innere Distanz zwischen SED-Führung und Schriftstellern.91 Ähnlich argumentierte Paul Fröhlich, der den Schriftstellern vorwarf, ihre „Windstille“92 hätte zu „bürgerlichen Ausrichtungen in der Literatur“93 geführt. Die SED-Führung reagierte auf diese „ideologischen Schwankungen“ der Schriftsteller in der Folge mit einer Mischung aus propagandistischer Betonung der Bindungskräfte und aggressiver Einschüchterungsrhetorik. Abusch forderte die Schriftsteller auf, sich ihrer „ideoloische(n) Klarheit“ 94 Bewusst zu werden und warf den Schriftstellern „Schützenhilfe für die westlichen Imperialisten“95 vor. Damit bezichtigte er die Schriftsteller, eine angebliche Konterrevolution nicht entschieden verhindern zu wollen. [Das muss noch abgesichert werden!] Gemäß der sozialistischen Kulturtheorie hatten die Schriftsteller offiziell die Aufgabe, „der Marschrichtung des politischen Kampfes zu folgen“96, da nach Grotewohl der Lehrsatz galt: „Was sich in der Poltitik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst.“97 Kultur hatte in dieser Phase der DDR nach Vorstellung der SED-Führung eine Wegbereiter-Funktion und sollte „Impulse und Energien“98 zur sozialistischen Erziehung beitragen. Schriftsteller galten seit Stalin als „Architekten der Seele“, die in ihren Werken zur Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der Arbeiter beitrugen. [An dieser Stelle: Stalins Möglichkeit Bewusstsein von außen]. Um diese Aufgaben im Sinne der Parteiführung erfüllen zu können, war ein stabiler Legitimationsglauben der Schriftsteller in die Parteiherrschaft Voraussetzung. Da die Partei jedoch „ideologische Schwankungen“ befürchtete, erhob sie den Anspruch, Literatur ebenso planen und steuern zu können, wie die Ökonomie. Das Gesetz über den zweiten Fünfjahresplan aus dem Jahr 1958 erhielt unter Paragraph 15 die 90 Schubbe, S. 489 Vgl. Ebd. 92 Schubbe, S. 483 93 Ebd. 94 Schubbe, S. 490. 95 Ebd. 96 Grotewohl, nach Jäger, S. 31f 97 Grotewohl in Rüther, S. 38 ungefähr 98 Nachschlagen in Schubbe, S. 379 91 14 Forderung, die Bücherproduktion „den wachsenden kulturellen Bedürfnissen der Arbeiter, Werktätigen, Bauern und Angehörigen der Intelligenz“ 99 anzupassen. Nach dem Selbstverständnis der Avantgarde der Partei steuerte diese die „sozialistische Umgestaltung aller Gebiete des Lebens“100 und übte somit zwangsläufig eine „führende Rolle auf dem Gebiete der Kultur“101 aus. Zu Anfang des Jahres 1955 unternahmen die SED-Machtinhaber den Versuch, den Schriftstellern vorzuschreiben, welche Stoffe und Themen in ihren Werken verarbeitet werden sollten. Allerdings taten sie dies zu diesem Zeitpunkt codiert, in einem Dokument von geplanter Authentizität, dem „Offene(n) Brief“102 der Werktätigen des VEB Braunkohlewerk Nachterstedt. Der Politikwissenschaftler Günther Rüther wertet dieses Dokument als Äußerungen der SED-Führung, welche diese „sich selbst noch nicht wieder zu fordern getraute.“103 Der Germanist Wolfgang Emmerich interpretiert den Nachterstedter Brief gar als von der Partei inszenierte „dringliche Aufforderung an die Berufsschriftsteller.“104 In dem Brief forderten die Unterzeichner die Schriftsteller auf, sich „ihrer großen Verantwortung bewußt“105 zu werden. Die Autoren verlangten mehr Literatur, die sich mit den praktischen Problemen und Erfolgen des sozialistischen Aufbaus in den Produktionsstätten befasste. Der Brief vereint kulturpolitische Ideen und Forderungen der „AufbauLiteratur“106 mit progressiven Appellen an die Schriftsteller, ihre Schreibstuben zu verlassen, um den betrieblichen Alltag kennenzulernen und um zum Aufbau des sozialistischen Bewusstseins der Arbeiter beizutragen: „(…) kommen Sie in unsere volkseigenen Betriebe, dort finden Sie (…) die vielseitigsten Typen und Konflikte, dort zeigt sich, wie interessant und reich das Leben der arbeitenden Menschen geworden ist.“107 In diesen Formulierungen klang zudem der Vorwurf mit, die Schriftsteller hätten sich dem gesellschaftlichen Leben der Werktätigen enthoben. Damit kann der Nachterstedter Brief als Prolog des V. Parteitages der SED gedeutet werden und stellte die Weichen für die dort ausgerufene „sozialistische Kulturrevolution“. Mit dem Nachterstedter Brief warf die SED-Führung den 99 Schubbe, S. 516 Wo 101 Wo 102 Vgl. Schubbe 350ff 103 Rüther, S. 74. 104 Emmerich, S. 128. 105 Schubbe, S. 351 106 In Jäger suchen! 107 Schubbe, S. 351 100 15 Schriftstellern vor, in ihrer ideologischen Entwicklung zu stagnieren und den Anforderungen der sozialistischen Revolution nicht genügen zu können. Auf dem V. Parteitag rief die Parteiführung die „Kulturrevolution“ aus, um „die noch vorhandene Trennung von Kunst und Leben, die Entfremdung zwischen Künstler und Volk zu überwinden“.108 [Satz zu: Anwendung des ökonomischen Terminus Entfremdung] Auf diesem Parteitag forderte das ZK die Schriftsteller auf, Partei zu ergreifen und ihr „Schaffen in den Dienst des sozialistischen Aufbaus“109 zu stellen. Damit erhöhte die Partei den öffentlichen Druck auf die Schriftsteller, legitimationsfördernde Literatur zu verfassen [EV anders]. Nach marxistisch-leninistischer Theorie ist die Kulturrevolution integraler Bestandteil der sozialistischen Revolution. Lenin ging davon aus, dass die sozialistische Revolution – verstanden als Umsturz der politischen und gesellschaftlichen Ordnung des kapitalistischen Systems – von einer kulturellen Revolution begleitet und ermöglicht wird.110 Als die SED-Führung auf dem V. Parteitag die Kulturrevolution ausrief, musste sie dennoch ideologische Leerstellen der marxistisch-leninistischen Theorie auffüllen. Marx vermied es, konkrete Ausführungen betreffend des Verhältnisses von Kultur und Revolution zu formulieren.111 Allerdings definierten Marx und Engels Stufen der kulturellen Entwicklung der nachkapitalistischen Gesellschaft. Diese theoretischen Ausführungen definieren die semantischen Veränderungen des Begriffs Arbeit, welche durch den Übergang zum Kommunismus zu romantisch verklärter Selbstverwirklichung mutiert.112 [+ Aufhebung des Unterschieds von Kopf und Hand-Arbeit] Auch die in der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren durchgeführte Kulturrevolution gab den SED-Kulturplanern lediglich Ansatzpunkte dafür, wie ein kultureller Umsturz in der DDR auszusehen habe. Die kulturellen Voraussetzungen waren zu verschieden, um die kulturrevolutionären Methoden und Pläne der Bolschewiki unverändert auf Ostdeutschland übertragen zu können. Den Bolschewiki ging es in ihrer Kulturrevolution darum, Sprache, Bräuche, Feste und Rituale zu standardisieren, um die 108 Schubbe, S. 539. Schubbe, S. 497 110 Vgl. Gransow, S. 31. 111 Vgl. Gransow, S. 31. 112 Zu aggressiv formuliert. Zudem: nachschlagen in Priesterland 109 16 Menschen an die neue sozialistische Ordnung zu binden.113 Insbesondere die ethnische und religiöse Vielfalt der Sowjetunion behinderten eine staatlich geprägte Organisation des Alltags der Menschen. Die unterschiedlich ausgeprägten religiösen Bräche der in der Sowjetunion lebenden Schiiten, Juden und orthodoxen Christen schlossen den sozialistischen Staat aus. Zudem war die sowjetische Alphabetisierungskampagne, um die Kulturrevolution „erfundenen primär Traditionen“114 eine des Sozialismus zu verbreiten. Die SED verengte diesen sehr weiten Kulturbegriff der sowjetischen Kulturrevolution und richtete ihren Modus der Kulturrevolution stark auf die Literatur aus. Als auf die Situation der DDR Ende der 50er Jahre übertragbar erwies sich hingegen die Vorstellung, Menschen durch „Aufklärung und Beseelung“115 zu klassen- und sozialismusbewussten Proletariern weiterzuentwickeln. Dies war bereits die zentrale Idee des Nachterstedter Briefs. Lenin hielt es für möglich, dass es zu Austauschprozessen zwischen Schriftstellern und Arbeitern während dieser Erziehung käme. So deutete Lenin die Mitarbeit der Werktätigen [in den Sowjets] als Möglichkeit dafür, die gemäß der Theorie der zwei Kulturen weiterhin durch bürgerliche Kultur- und Wertvorstellungen geprägten Schriftsteller ebenso „ummodeln, umwandeln, umerziehen“116 zu können. Lenin deutete Kulturrevolution demnach in zwei Richtungen. Einerseits könne Literatur das Proletariat beseelen, andererseits forciere die Mitarbeit der Arbeiterklasse an kultureller Produktion den Übergang zum Kommunismus, da bürgerliche Wertvorstellungen verloren gingen. [Anders!] Dies mündete in einem Appell an die Arbeiter: „Wir müssen von der gesamten Kultur Besitz ergreifen, die der Kapitalismus hinterlassen hat (…).“117 Dieses Konzept schien Walter Ulbricht derart attraktiv zu sein, dass er in nahezu unverändertem Wortlaut, aber angereichert mit militaristischer Klassenkampfrhetorik, auf dem V. Parteitag forderte: „In Staat und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits der Herr. Jetzt muß sie auch die Höhen der Kultur erstürmen und von ihnen Besitz ergreifen.“118 113 Vgl. Baberowski, S. 100. Vgl. Eric Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen, in: Christoph Conrad, Martina Kessel (Hrsg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 97-118. 115 Baberowski, S. 96. 116 Lenin, Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheiten, S. 103 Nachsehen 117 Lenin, Erfolge und Schwierigkeiten der Sowjetmacht, S. 55 oder Gransow 32 118 Schubbe, S. 536. 114 17 Aus diesen Versatzstücken kreierte die SED den Modus ihrer Kulturrevolution, bei der es weniger um einen Umsturz der ästhetischen Perspektive der sozialistischen Kunst, „als vielmehr um die Klärung ideologischer Fragen“ 119 ging, wie der Leiter der Kulturkommission des ZK der SED, Alfred Kurella, in seinem Diskussionsbeitrag zugab. Fazit zum Kulturrevolutions-Unterkapitel III. Kulturpolitische Leitideen des „Bitterfelder Weges“ a. Überleitung? b. Schriftsteller Im Bitterfelder Weg hatten die Schriftsteller nach Ansicht der SEDKulturplaner die Funktion des Mittlers zwischen Parteiinteresse und bewusstseinsbildender Erziehung der Arbeiter einzunehmen.120 Alfred Kurella verstand Literaten als Funktionäre der Arbeiterklasse, die als Einheit in einem großen mechanischen Revolutionsprozess Hilfestellungen vermitteln sollten.121 Diese Interpretation der Rolle des Schriftstellers ging zurück auf Lenins Maxime, die literarische Tätigkeit sei ein „Rädchen und Schräubchen“ 119 Schubbe, S. 537 Vgl. Gabriele Czech, Oliver Müller, Sozialistischer Realismus und DDRLiteraturwissenschaft: Von der Instrumentalisierung bis zum allmählichen Verfall eines Leitbegriffs, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Das war die DDR. DDR-Forschung im Fadenkreuz von Herrschaft, Außenbeziehungen, Kultur und Souveränität, Münster 2004, S. 592-609, hier: S. 592. 121 Vgl. Schubbe, Dok. 187 120 18 des Aufbaus des Sozialismus.122 Nötig sei dafür der Abbau des individuellen Ehrgeizes der Schriftsteller. Dies waren Angriffe auf die Autonomie der Schriftsteller, die sich nicht mehr gemäß bürgerlicher Wertvorstellungen als Wegweiser zur Emanzipation verstehen,123 sondern dazu aufgefordert wurden, für die SED Partei zu ergreifen. Ulbricht forderte in seiner Rede auf der Bitterfelder Konferenz die Schriftsteller auf, „als aktive Begeisterer für den Sozialismus zu wirken“.124 Damit unternahm die SED den gezielten Versuch, ein Idealbild des sozialistischen Schriftstellers zu entwerfen. Dieses basierte auf der Konzentration auf Themen und Stoffe aus der Welt der Arbeiter, der Verbreitung sozialistischer Moralvorstellungen zur Bewusstseinsbildung, der Hinwendung zur Gegenwart des Aufbaus des Sozialismus sowie der Verpflichtung auf die Methode des „sozialistischen Realismus“. Nur Autoren, die diesem Ideal entsprächen, könnten die „Abstandstheorie“ überwinden, der zufolge die Schriftsteller der Lebenswelt und dem Alltag der sozialistischen Arbeiter enthoben seien.125 Nach Ansicht des Schriftstellers Erwin Strittmatter, [Ole Bienkopp], behinderten bürgerliche Vorstellungen viele seiner Kollegen daran, das Denken und Fühlen der Arbeiterklasse in ihren Werken angemessen einzuarbeiten.126 Es sei nun die Aufgabe der Schriftsteller, in die Betriebe zu gehen, um „selbst an den Brennpunkten der Entwicklung des neuen Lebens“127 zu arbeiten, wie es Ulbricht formulierte. Die Literaten sollten in die Kollektive der Brigaden eintauchen, um eine „Verschmelzung“ zwischen den Lebenswelten zu erzeugen.128 [+Ansicht Schriftsteller (Seghers, Wolf, Heym?)] [Folgten die Schriftsteller? Fühmann Sinnsuche] Die „Schriftsteller der neuen Zeit“129 hatten nach Ansicht der SED im Arbeiterkollektiv die Aufgabe, das sozialistische Bewusstsein der Arbeiter auszuprägen und sozialistische Moralvorstellungen zu verbreiten. [+Gerlach dazu] Auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 formulierte Walter Ulbricht in Konkurrenz zu den christlichen Geboten einen sozialistischen Moralkodex, um Individualismus und Eigensinn zu diskreditierten und ein „säkularisiertes 122 Vgl. Emmerich, S. 43. Vgl. Gerlach, S. [zwischen 34 und 42, Anfang III] 124 Ulbricht in Schubbe, S. 553 oder 554 125 Vgl. Strittmatter in Schubbe, S. 562 126 Vgl. ebd, S. 563 127 Schubbe, S. 553 128 Vgl. Gotsche, S. 570 in Schubbe 129 Ulbricht, S. 555 123 19 Glaubenssystem“130 zu installieren. Die Moralgebote, die Werte wie Achtung der sozialistischen Gesellschaft und Vaterlandsliebe ebenso einforderten wie Solidarität mit der Arbeiterklasse und erhöhte Leistungsbereitschaft waren ein gezielter Versuch, die Bindungskräfte an die Partei zu stärken. Insbesondere das vierte Gebot, „Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben (…)“131 sollte zu Systemtreue führen, indem die Verbesserung des Lebensstandards in Aussicht gestellt wurde. [event. Besser formulieren, vllt. Schärfer] Der sozialistische Moralkatalog, der in alle individuellen und gesellschaftlichen Bereiche eingriff,132 definierte damit ein Verhaltensideal, das Protest gegen die sozialistische Ordnung wie am 17. Juni 1953 folglich als individualistischen und unmoralischen Verstoß gegen verpflichtende Glaubensgrundsätze geißelte. Nach Ansicht Alexander Abuschs sei es die Aufgabe der Schriftsteller, die moralischen Gebote des Sozialismus in ihre Texte einzuweben und zu verbreiten.133 Damit definierte Abusch die Tätigkeit der Schriftsteller als Vermittler einer legitimationsfördernden Ethik. Demzufolge war die Literatur des Bitterfelder Wegs ein Medium zur Machtsicherung der Herrschaftssicherung der SED.134 [DAS VERSTEH ICH NICHT] Dieser Forderung kam Christa Wolf in ihrer Erzählung „Der Geteilte Himmel“ nach. In dem Text erzählt Wolf die Geschichte zwischen Die Anforderung an die Schriftsteller, in ihren Texten zur Verbreitung sozialistischer Moralvorstellungen beizutragen, korrespondierte mit der stalinistischen Vorstellung vom Autor als „Ingenieur der menschlichen Seele“, welcher in seinen Werken zur sozialistischen Erziehung der Massen betragen könnte.135 Für den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft und den Aufbau des Sozialismus war das Menschenbild des durch moralische und ideologische Erziehung formbaren Arbeiters konstitutiv.136 So sollten die Schriftsteller nicht nur in die Betriebe gehen, um in die Lebenswelt der Arbeiter einzudringen, sondern auch um diese zu gestalten durch sozialistische Erziehung und „politischer Massenarbeit“. Darunter verstanden die SED-Machthaber nach Parteiideologie geplante Kulturveranstaltungen in den Brigaden zur sozialistischen Erwachsenenbildung. Konkret waren damit 130 Meuschel, S. 178. Dokumente klein, S. 54 132 Vgl. Meuschel, S. 79. 133 Vgl. Schubbe, S. 476 134 Vgl. Herzberg, S. 167 oder so 135 Vgl. Jäger, S. 35. 136 Vgl. Mühlberg in Sozialgeschichte, S. 69. 131 20 die Organisation von Tanzabenden, Laienspiel- und Volkstanzgruppen, WerkChören und die Einrichtung von Betriebsbibliotheken umschrieben.137 Das Medium Literatur hatte eine Sonderrolle Die von der SED-Führung stets geforderten Betriebsromane boten die Möglichkeit, die Arbeiterklasse und ihren Alltag als das „Subjekt der Geschichte“ in den Mittelpunkt der bürgerlichen Hochkultur in Tradition des Humanismus zu setzen. Dennoch erscheint es paradox, dass die SEDFührung die Schriftsteller als moralische Erzieher in die Brigaden schickte, obwohl hohe Kulturfunktionäre wie Alexander Abusch ihnen nur wenige Jahre zuvor noch „ideologische Schwankungen“ vorwarfen. [Paradox] Annette Schuhmann, die in ihrer Studie den FDGB als Verantwortungsträger der betrieblichen Kulturarbeit der DDR interpretiert, erklärt dieses Paradox als Folge einer dauerhaften Überforderung des FDGB mit der Organisation der Kulturarbeit in den Brigaden. Schuhmann stützt diese Deutung auf Aussagen des Sekretärs und Präsidiumsmitglieds des FDGB Egon Rentzsch, der [Datum!] die „Vernachlässigung der Kulturarbeit der Betriebe in der Zeitschrift „Tribüne“ kritisierte.138 Seiner Auffassung nach zeichnete sich die kulturelle Massenarbeit durch Aufgabenstellung und einen „untragbaren Verwirklichung, Widerspruch zwischen den zwischen vorhandenen Möglichkeiten und ihrer Ausnutzung, zwischen den bereitstehenden Mitteln und ihrer Verwendung“139 aus. Neben Organisationsmängeln und materiellen Problemen sah sich Rentzsch in seiner Arbeit einer mangelnden Akzeptanz seitens der Arbeiter ausgeliefert. Zudem kritisierte er Probleme der inhaltlichen Durchführung der an den FDGB gestellten Ansprüche zur politischen Massenarbeit.140 Demzufolge erhofften sich die SED-Funktionäre durch den Einsatz von Schriftstellern als Leiter der Zirkel der schreibenden Arbeiter die Attraktivität der kulturellen Massenarbeit in den Brigaden zu steigern und mehr Arbeiter an diese „Vergesellschaftungskerne“141 zu binden. Dennoch erhöhte die SED den ideologischen Druck auf die Schriftsteller, um sicherzustellen, dass diese ihre Erziehungsarbeit im Sinne der Partei ausführten. In einem Bericht an den V. Parteitag forderte das ZK bereits 1958 137 Vgl. Annette Schuhmann, Kulturarbeit im sozialistischen Betrieb. Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/DDR 1946 bis 1970, Köln 2006, S. 13. 138 Vgl. Schuhmann, S. 89. 139 Schuhmann, S. 89f. 140 Vgl. Schuhmann, S. 90. 141 Zahr, S. 21 eine verstärkte ideologische Offensive, um bei allen Kulturschaffenden „Klarheit (…) zu schaffen“.142 c. Arbeiter Mit dem Bitterfelder Weg unternahm die SED den Versuch, die Arbeiter auf kulturellem Gebiet zu aktivieren. Neben der sozialistischen Erziehung trugen die Kulturangebote in den Brigaden zur Sozialisation der Arbeiter bei. In den Brigaden, die nach Kohli „Vergesellschaftungskerne“ der Arbeiter waren,143 ging es neben der sozialistischen Arbeit nach Vorgabe des Wirtschaftsplanes auch darum, sozialistisch zu arbeiten und zu leben.144 Das sozialistische Leben in der Brigade umfasste nach Roesler drei Dimensionen.145 Zunächst übte das Kollektiv in den Brigaden, in denen die Arbeiter einen großen Teil ihres Lebens verbrachten, einen großen Einfluss auf die Arbeitsmoral Einzelner aus. Gerade in Verbindung mit den sozialistischen Moralgeboten übte das Kollektiv, zu dem auch Schriftsteller als Brigadepaten gehören konnten, einen großen Einfluss auf die Bewusstseinsbildung aus. Die [seelsorgerische Funktionen] Zweitens verschwand in den Betrieben die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsort, sodass nach Annette Schuhmann von einer „betriebszentrierten Organisation“ der Freizeit gesprochen werden kann.146 Die Betriebe integrierten bei ihren Freizeitangeboten – Tanzabende, Ausflüge, Familienfeste – stets neben den Arbeitern deren Partner, Familien und Freunde. Zudem waren die Betriebe Quellen für die Vergabe von Wohnraum und Urlaubsplätzen, öffneten Zugänge für soziale Dienstleistungen und wiesen Aufstiegschancen oder materielle Privilegien zu. [Legitimation?] 142 Schubbe, S. 533 Vgl. Kohli in Sozialgeschichte, S. 38 144 Vgl. Roesler, S. 145 145 Vgl. ebd., S. 152. 146 Vgl. Schuhmann, S. 11. 143 22 Drittens bemühten sich die Brigaden der sozialistischen Arbeit um die Vermittlung von Kulturgütern. Bereits der Nachterstedter Brief implizierte eine rege literarische Rezeption in den Brigaden, da angeblich 48% der Kumpel aus dem Braunkohlewerk Betriebsbibliothek“ 147 „ständige Leser der Bücher unserer gewesen seien. Diese Kulturarbeit in den Brigaden sollte durch den Bitterfelder Weg intensiviert werden, da nach Ulbricht die Hauptaufgabe der Schriftsteller, „die wachsenden kulturellen Bedürfnisse des Volkes auf einem künstlerisch möglichst hohen Niveau“148 noch nicht erreicht gewesen sei. Konkret fehlte Ulbricht ein großer Betriebsroman, der die in den Brigaden ablaufende Entwicklung der Arbeiter „zu den fortschrittlichsten Menschen, zum Typ des sozialistischen Arbeiters“149 in Tradition des Agitprop der Weimarer Republik unterstützen sollte. [+Legitimation] Da die Berufsschriftsteller diese Leistung bisher versäumt hätten, sollten die Arbeiter in den Schreibzirkeln nun diese Aufgabe übernehmen, und die „Höhen der Kultur erstürmen“150. [Betriebsroman? Ausgestorben?] [+Inhalt, Helden, Arbeiter waren damit Obj, Subj.] Ein Teil der Handlung in Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ spielt zwar in einem Waggonbauwerk, allerdings konnte die Erzählung nur unzureichend als Betriebsroman gelesen werden. Obwohl sich die Protagonistin Rita in der Erzählung rasch mit ihrer Tätigkeit im Werk identifiziert, ist sie als angehende Lehrerin lediglich eine Arbeiterin auf Zeit, um ihr Studium aufnehmen zu können. [+Ole] [+Kritik Ulbricht?] Im „Handbuch für schreibende Arbeiter“151, ein in dritter Person Plural verfasster Ratgeber, der „Anregungen zur schöpferischen Arbeit und literarisches Rüstzeug“152 vermitteln sollte, setzten die Herausgeber die schreibenden Arbeiter der Brigaden in die Tradition der frühen proletarischen Volksdichtung des 19. Jahrhunderts und der Proletkult-Bewegung der Weimarer Republik. Damit formulierten die Autoren eine progressive, teleologische Entwicklungsgeschichte der Bewegung schreibender Arbeiter, 147 Schubbe, S. 350 Schubbe, S. 534 ungefähr 149 Schubbe, S. 552 150 Schubbe 151 Jürgen Bonk, Dieter Faulseit, Ursula Steinhaußen (Hrsg.), Handbuch für schreibende Arbeiter, Berlin 1969. 152 Ebd., S. 148 23 welche mit dem Bitterfelder Weg in der DDR „nach einem Jahrhundert der Unterdrückung, der Ausbeutung und des Kamfes“153 einen Höhepunkt fand. Damit eröffnete die Bitterfelder Konferenz nach Ansicht der Autoren des Handbuchs „eine neue Etappe in der Aneignung und Bereicherung der Schätze der Kultur durch die Arbeiterklasse“.154 Wegweisende und zitierte Vorbilder waren das Volkslied „Das Blutgericht“ der schlesischen Weber aus dem Jahr 1844 und die proletarische, revolutionäre Literatur der KPD, samt Roter Revuen [das habe ich irgendwo gelesen…] Daraus ergibt sich ein weiteres Paradox des Bitterfelder Wegs: Einerseits sollte sich die Literatur der schreibenden Arbeiter inhaltlich an gegenwärtige Probleme und Erfolge des sozialistischen Aufbaus sowie an die verheißungsvolle Zukunft des „Sieges des Sozialismus“ orientieren. Andererseits sollten sich die Arbeiter dabei an tradierte Formen halten und an Klassiker der proletarischen Literatur anknüpfen. Zudem erscheinen die ausgewählten Beispiele der Autoren des Handbuchs problematisch. Das Anknüpfen an Texte, die den proletarischen Kampf gegen Hunger und Armut in der Weltwirtschaftskrise der Weimarer Republik thematisierte, erschien in einer Gesellschaft, die sich rühmte, die Klassengegensätze des Kapitalismus überwunden zu haben antagonistisch. Zudem mussten diese Texte Erinnerungen an die Versorgungskrise in den fünfziger Jahren, sowie den Arbeiteraufstand vom 17. Juni wecken. [warum?] Das schlesische Volkslied „Das Blutsgericht“, welches die Autoren des Handbuchs in Ausschnitten zitierten, deuteten jene als Beleg für ein historisches Klassenbewusstsein des Proletariats. In dem Gedicht beklagen die Weber die Zerstörung ihres traditionellen Handwerks durch unmoralisch und profitgierig handelnde Unternehmer, welche eine Mechanisierung des Webens zur Steigerung der Produktivität und des Umsatzes durchführten. Dabei verschwiegen die Autoren des Handbuchs konsequent, dass die Weber sich in dem Text als Vollstrecker einer göttlichen Gerechtigkeit wähnten, die den Unternehmern keinen proletarischen Klassenkampf androhten, sondern sie davor warnten, für diese Sünden im Jenseits Buße leisten zu müssen. Tradition und Religion bilden in dem Text den zentralen Gegensatz zu Industrialisierung und Atheismus. So unterließen es die Autoren, die Strophen des Gedichtes abzudrucken, die in der Phase des offensiven Kirchenkampfes der SED Aktualität besaßen:155 153 Ebd., S. 21. Ebd., S. 13. 155 Vgl. Pollack, Säkularisierung 154 24 „Doch ha! Sie glauben an keinen Gott, Noch weder an Höll‘ und Himmel, Religion ist nur ihr Spott, Hält sich ans Weltgetümmel.“156 Das Anknüpfen an diese konstruierte Traditionslinie sollte den Arbeitern verdeutlichen, dass sie Teilnehmer und Mitgestalter eines historischen Prozesses und vollberechtigte Mitglieder der sozialistischen Kulturgesellschaft seien. Insofern übte der Bitterfelder Weg eine „kompensatorische Funktion“ 157 aus. Die Zirkel bildeten die Arbeiter darin aus, die Geschichte der proletarischen Literatur fortzuschreiben. Insofern versuchte die SED das Konzept der Kulturgesellschaft durch Partizipation der Arbeiterklasse zu legitimieren. An diesen Anforderungen an die Arbeiter scheiterte der Bitterfelder Weg. Nachdem die Parteispitze einsehen musste, dass die Arbeiter überfordert waren, die romantische Vorstellung eines im Betrieb entstandenen gesellschaftlichen Betriebsromans zu erfüllen, fokussierte Ulbricht auf der zweiten Bitterfelder Konferenz im April 1964 die [kleineren Formen, Brigadetagebuch + Funktion + Wirtschaft + Nähe zu NÖS] Das 1969 erschienene „Handbuch für schreibende Arbeiter“ sparte Hinweise zum Verfassen von Romanen aus – dies „hätte den Charakter dieses Handbuchs überfordert“158 räumten die Autoren ein. Die SED musste feststellen, dass trotz der staatlichen Förderung und öffentlichen Aufmerksamkeit keine hochwertige Arbeiterkultur erzwungen werden konnte.159 Est. V. R. stellte in ihrer Untersuchung der kulturellen Massenarbeit in den Betrieben fest, dass das Interesse der Arbeiter, nach Feierabend in den betrieblichen Schreibzirkeln an sozialistischer Hochkultur zu arbeiten, gering gewesen sei.160 Die Zahlen der aktiven schreibenden Arbeiter sanken demnach stetig, da viele Arbeiter sich eher nach entspannenden Tätigkeiten in den Brigaden sehnten. Beliebt waren nach Richthofen gesellige Kartenabende oder gemeinsame Plauderrunden mit Kaffee und Kuchen, um die Anstrengungen der Planerfüllung auszugleichen. Zudem fehlte es an Schriftstellern, die willens waren, die Arbeiter auszubilden. 156 Vgl. Das Blutgericht Gerlach, S. 11. 158 Handbuch, S. 9 159 Vgl. Richthofen, S. 578. 160 Vgl. ebd., S. 578f. 157 25 Nach Honeckers „Kahlschlag-Forum“161, in dessen Folge die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik als neuer zentraler Legitimationsspender für die Parteiherrschaft formuliert wurde,162 verlor der Bitterfelder Weg an Bedeutung. d. Sozialistische Nationalliteratur 161 162 IV. Fazit V. Literaturverzeichnis Vgl. Schroeder Vgl. Wehler, S. 26