Einleitung Herrschaftsinstabilität und „Kulturrevolution“ Der 17. Juni

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I.
Einleitung
II.
Herrschaftsinstabilität und „Kulturrevolution“
a. Der 17. Juni 1953: Arbeiteraufstand
Auf der 2. Parteikonferenz der SED am 9. Juli 1952 verkündete Walter
Ulbricht, die strukturellen Voraussetzungen für einen „planmäßigen Aufbau
des Sozialismus“1 seien geschaffen. Gemeint waren damit die oben angesprochenen Strukturen, die zur Transformation der ostdeutschen Gesellschaft und
zur Absicherung der Monopolstellung der „Partei neuen Typus“ führten.
Gleichzeitig erhöhte die SED den ideologischen Anpassungsdruck auf die
Bevölkerung. Es folgten Drangsalierungen der verbliebenen Privatbauern,
eine umfangreich geplante Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft,
sowie weitreichende Repressionen gegen politisch Andersdenkende wie
Reste eines „Sozialdemokratismus“.2 Auch die Kirchen als einzig nicht eroberte Großorganisationen gerieten in den Fokus der parteipolitischen Aufrüstung. Die SED führte offene Angriffe auf die Kirchen, um deren sozialen Rückhalt zu zerstören.3 Der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ bedeutete demnach Stärkung der Staatsmacht und war eine propagandistische Fortführung
des in Teilen bereits realisierten Gesellschaftsumbaus zum stalinistischen
Modell des Sozialismus.4
Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann deuten die zunehmenden politischen Repressionen, den erhöhten ideologischen Anpassungsdruck sowie
den eskalierenden Kulturkampf gegen die Kirchen in Verbindung mit einer
zunehmend schlechten Versorgungslage der Bevölkerung als Hauptursachen
für die rasant steigenden Flüchtlingszahlen in der DDR.5 Von Januar bis März
1953 flüchteten 120.000 Menschen aus der DDR.6
1
Quelle suchen in DDR-Dokumente
Vgl. Meuschel, S. 121 und Schroeder, S. 119.
3 Vgl. Pollack-Text bei Hedwig, S.
4 Vgl. Meuschel, S. 117.
5 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Roger Engelmann, Der „Tag X“ und die Staatssicherheit.
17. Juni 1953. Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003,
S. UNKLAR
6 Vgl. Wehler, S. 29.
2
1
Der DDR-Wirtschaft mangelte es sowohl an Lebensmitteln, als auch an Konsumgütern. Die SED-Wirtschaftsplaner reagierten auf diese Versorgungskrise
mit einem Sparprogramm und einer Forderung nach Leistungssteigerung: die
Arbeitsnormen wurden um 10% erhöht. Diese arbeitspolitische Maßnahme
führte zu großen Unruhen in den Betrieben und zu erneut stark ansteigenden
Flüchtlingszahlen. Anscheinend hatte die SED ihre Arbeiter ideologisch überschätzt.7
Die KPdSU erkannte die Brisanz der Lage in der DDR und fürchtete eine Erosion der Macht. [Noch immer Hoffnung auf Gesamtdeutschland durch Attraktivität? Suchen!] Sie forderte die SED auf, Korrekturen durchzuführen, die in
einem „Neuen Kurs“ mündeten.8
[Neuer Kurs]
Wie nahmen die Arbeiter in der DDR den „Neuen Kurs“ wahr? Fricke und Engelmann beschreiben in ihrer Studie die Mentalität der Arbeiter kurz vor dem
Beginn des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953. Demnach werteten viele
Arbeiter die Zugeständnisse der SED als Eingeständnis von Schwäche [gegenüber wem?].9 Die Maßnahmen wurden gar als „Sieg der Massen über die
Funktionäre“10 gedeutet. Allerdings blieb gemäß des „Neuen Kurses“ die
Erhöhung der Arbeitsnormen bestehen. Dies verstärkte eine wachsende
Konfliktbereitschaft der Arbeiter gegenüber einer zunehmend als schwach
wahrgenommene Regierung. Diese gefühlte Führungsschwäche der SED
ermöglichte trotz der scharfen Repressionen, die Oppositionelle erfuhren, den
Aufstand der Arbeiter.11
Die Initialzündung für den Aufstand des 17. Juni war ein Marsch von
Bauarbeitern am 16. Juni aus Berlin Friedrichshain durch die Stadt in Richtung
FDGB-Zentrale. Die Arbeiter erhofften sich durch einen geschlossenen,
offensiven Widerstand gegen die Normerhöhung ein weiteres Zurückweichen
der SED-Führung erwirken zu können.12 Bereits seit dem Morgen des 15. Juni
streikten Bauarbeiter in einzelnen Brigaden Berlins. Die Bauarbeiter einer
Großbaustelle am Krankenhaus Friedrichshain verfassten eine Resolution, um
Druck auf die SED auszuüben und andere Arbeiter zu animieren, sich dem
Streik anzuschließen. Sie forderten die SED auf, „in Anbetracht der erregten
7
Vgl. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß, Köln 1982,
S. 67.
8 EV Fußnote Schroeder
9 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 38f.
10 EBD???
11 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 38.
12 Vgl. ebd., S. 40.
2
Stimmung der gesamten Belegschaft“ die „als große Härte“ wahrgenommenen
Normerhöhungen zurückzuziehen und „unverzüglich befriedigend Stellung zu
nehmen“.13 Rasch verbreiteten sich diese Forderungen, es entwickelte sich
ein Generalstreik, der von 500.000 Streikenden aus 186 Betrieben getragen
wurde.14
Von politischer Brisanz für die SED-Spitze war, dass die zu Massenprotesten
angewachsenen Streiks zusätzlich von 418.000 Demonstrationsteilnehmern
unterstützt wurden.15 [Wirklich? Nochmal nachlesen!] In einem Gefühl von
Stärke gegenüber der schwach wahrgenommen SED-Führung forderten die
Aufständischen nicht mehr lediglich die Aufhebung der Normerhöhung,
sondern erhoben sich grundsätzlich gegen die Politik der SED. In ihren
Parolen forderten die Demonstranten sofortige Senkungen der Lebenskosten,
die Einführung freier und geheimer Wahlen, sowie ein Ende der staatlichen
Repressionen und Gewalt gegenüber Oppositionellen.16 Dabei lassen sich
nach Bahring zwei Stadien des Aufstandes voneinander unterscheiden.17 Im
ersten Stadium marschierten die Arbeiter geführt von Streikführern durch
Berlin und besetzten ohne Gewaltanwendungen das Rathaus sowie
Parteidienststellen. Im zweiten Stadium agierten die Aufständischen allerdings
ungleich autonomer, zentrale Streikführer verloren an Einfluss auf kleinere
Gruppen, die politisch motivierte Plünderungen und Überfälle durchführten.
Für die SED stellten diese Vorgänge ein ideologisches Desaster dar. Die
Ereignisse
überraschten
die
unvorbereitete
Parteiführung
und
die
Staatssicherheit, die Anzeichen für einen derart rasanten Massenprotest
unterschätzten.18 Anstatt eines durchaus erwarteten Klassenkampfes gegen
die in der Landwirtschaft oder im Mittelstand vermuteten Überreste einer
bürgerlich-kapitalistischen Tradition stand völlig unerwartet ein „Klassenkampf
von unten“19 bevor.
Ausgerechnet die Arbeiter, die im ideologisch aufgewerteten „Arbeiter- und
Bauern-Staat“ eigentlich hätten privilegiert sein sollen, wandten sich gegen die
Partei, deren gesamte Existenz mit dem Willen des Proletariats verknüpft war.
Nur wenige Jahre zuvor, auf der ersten Parteikonferenz 1949, erklärte die
13
Zitiert nach Fricke, Engelmann, S. 43.
Vgl. Wehler, S. 30.
15 Vgl. ebd.
16 Vgl. Arnulf Bahring, Der 17. Juni 1953, Köln, Berlin 1966, S. 86.
17 Vgl. ebd., S. 87ff.
18 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 46.
19 Meuschel, S. 118.
14
3
SED, „die bewußte Vorhut der Arbeiterklasse“20 zu sein, um „ständig ihr
Klassenbewußtsein [zu] erhöhen.“21 Als die Arbeiter am 17. Juni gegen die
Normerhöhungen protestieren und ihre Kritik rasch politisierten, indem sie
freie Wahlen forderten, war der Legitimationsglauben in die SED als
klassenbewusste Führerin der Arbeiterklasse nachhaltig erschüttert.22
Hinzu kam die Inkompetenz, Ohnmacht und Hilflosigkeit der Parteiführung. Ihr
wurde von den streikenden Arbeitern und Demonstranten schonungslos vor
Augen geführt, dass sie derartige Massenproteste nicht systemimmanent
verhindern oder bekämpfen konnte. Lediglich durch die Hilfe von außen, durch
die Intervention sowjetischen Militärs, konnte das Machtmonopol der SED
gesichert werden. Die sowjetischen Truppen beendeten den Aufstand
gewaltsam,
50
Menschen
starben
bei
der
Niederschlagung
der
23
Demonstrationen.
Die Sowjets demütigten Ulbricht und die weiteren Spitzenfunktionäre der SED
schwer, indem sie eigenmächtig den Ausnahmezustand in der DDR
verhängten und den Militäreinsatz gegen die streikenden Arbeiter im
Alleingang und ohne Absprache mit den ostdeutschen Machtinhabern
durchführten.
Dies
kam
einem
demonstrativen
Entzug
einer
Scheinsouveränität des SED-Staates gleich.24
[Die
Erschütterung
Legitimationsglaubens
der
Herrschaftsstabilität
bewirkten
ein
und
kollektives
und
Erosion
des
nachhaltiges
Angsttrauma der SED-Elite. Nach Stefan Wolle fühlte sich die SED seit dem
Ende des Arbeiteraufstandes einer permanenten Bedrohung ausgesetzt und
fürchtete dauerhaft eine Erosion ihrer Macht.25 Besonders zu den Jahrestagen
des 17. Juni erhöhte die Staatssicherheit die Alarmbereitschaft, da mit
weiteren
Aufständen
gerechnet
wurde.
Demnach
wähnte
sich
die
Parteiführung „auf einem kochenden Vulkan“26
+ Schroeder: Fremde im eigenen Land]
Um die Führungsschwäche und Instabilität der von der Sowjetunion
abhängigen SED-Herrschaft sowie die Erosion des Legitimationsglaubens in
den DDR-Gründungsmythos des „Arbeiter- und Bauern-Staates“ offiziell nicht
20
Avantgardeanspruch und innerparteiliche Diktatur. Januar 1949 in: Dokumente S.
46.
21 Ebd.
22 Vgl. Weber 2006 aus’m Reader, S. 43.
23 Vgl. ebd., S. 42.
24 Vgl. Hagen, S. 777.
25 Vgl. Stefan Wolle, Lage stabil Artikel, S. 231f.
26 Ebd., S. 234.
4
eingestehen zu müssen, konstruierte das ZK der SED die Legende vom „Tag
X“.27 Demnach sei der Arbeiteraufstand lediglich ein „Werk von Provokateuren
und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus
deutschen kapitalistischen Metropolen“28 gewesen. Getragen wurde diese
propagandistische Verklärungsformel der
Ereignisse sowohl
von
den
Politikern der SED und der Blockparteien, als auch von ostdeutschen
Historikern und der DDR-Justiz. Die Formel des „Tag X“ ging zurück auf eine
Rede des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, der
einen
Tag
für
die
Wiederherstellung
der
nationalstaatlichen
Einheit
Deutschlands in Aussicht stellte.29 Diese Aussage deutete Otto Grotewohl als
die Ankündigung eines „Tag X“. Nach der SED-Propaganda konnte der
Arbeiteraufstand
damit
als
faschistischer
Putschversuch
und
von
Westdeutschland inszenierter Versuch einer konterrevolutionären Zerstörung
der DDR gedeutet werden.
Diesem
Ablenkungsmanöver
von
innenpolitischen
Ursachen
des
Arbeiteraufstandes gingen wirtschaftliche Zugeständnisse der SED-Führung
an die Demonstranten voraus. Noch während des 17. Juni nahm die Partei die
Erhöhung der Arbeitsnormen zurück. Die Demonstranten, die einen
politischen Wandel forderten, wurden enttäuscht.30 Zusätzlich bekräftigte die
SED ihre Deutung vom 17. Juni als faschistischen Putschversuch mit einer
Verhaftungswelle.31
aufgefordert,
Durch Aufrufe in den Brigaden wurden Arbeiter
Kollegen
anzuzeigen,
die
angeblich
als
faschistische
Provokateure aufgetreten wären.
Zusammenfassend lässt sich sagen, die Reaktion der SED-Führung auf den
Arbeiteraufstand vom 17. Juni bestand aus wirtschaftlichen Zugeständnissen
und neuen Repressionswellen, die in einseitigen Schuldzuweisungen
mündeten. Dies führte bei der DDR-Bevölkerung zu einem weitreichenden
und
nachhaltigen
Akzeptanzeinbruch
für
die
SED.
[Verlust
des
Legitimationsglaubens. Dies muss höchstwahrscheinlich besser gegliedert
werden, ich habe den Eindruck, mich zu wiederholen] Stefan Wolle, der die
Mentalität der aufständischen Arbeiter untersuchte, kam zu dem Ergebnis,
27
Vgl. F/E, S. 19ff.
Z. n. F/E, S. 19 (nochmal ansehen)
29 Vgl. F/E, S. 20.
30 Vgl. Malycha, S. 99f.
31 Vgl. ebd., S. 101.
28
5
dass es für viele der streikenden Arbeiter eine Genugtuung gewesen sei, „die
herrschende Clique in Angst und Schrecken versetzt“32 zu haben.
Allerdings markierte der 17. Juni 1953 eine Zäsur für Oppositionelle in der
DDR. Die eindrucksvollste Erfahrung des Arbeiteraufstandes bestand nach
(Vorname) Malycha in der desillusionierenden Erfahrung, dass selbst ein
Aufstand, der die Machthaber an den Rand des Abgrundes führte, solange
erfolg- und wirkungslos bleiben musste, wie Ulbricht und seine Genossen den
Rückhalt der Sowjetunion hatten.
Bernd
Eisenfeld
erkennt
darin
ein
„doppeltes
Trauma“33.
Einerseits
befürchteten die SED-Machthaber seit dem 17. Juni 1953 eine permanente
Herrschaftskrise und wähnten sich „auf einem kochenden Vulkan“34, wie
Stefan Wolle in seiner Untersuchung feststellt. [+Angst an Jahrestagen
+Schroeder: Fremde] Andererseits verschwanden Oppositionelle dauerhaft
aus der politischen Öffentlichkeit. Die Arbeiter passten sich den als
unveränderlich erscheinenden Begebenheiten an und waren zur Loyalität
gezwungen.35
Nach Max Webers Typologie der Herrschaftsformen bedeutet ein solches
zweckrationales Hinnehmen der Parteiherrschaft Labilität des Systems.36
Weber argumentiert, jede Herrschaft suche zur dauerhaften Stabilisierung
einen Legitimationsglauben „zu erwecken und zu pflegen“37. Bezogen auf die
Situation in der DDR unmittelbar nach dem Arbeiteraufstand des 17. Juni
1953 bedeutet dies, dass die SED-Machthaber für eine Stabilisierung nach
den traumatischen Erfahrungen des Aufstandes neue Legitimationsfelder
erobern mussten, um die labile Herrschaft der Arbeiterpartei langfristig zu
stabilisieren. [Diesen Abschnitt feiner formulieren und eventuell mit weiteren
Überlegungen und Anmerkungen zu Weber ergänzen]
[+ ev. Schriftsteller: Aussprache]
b. Der XX. Parteitag: Entstalinisierung und Revisionismus
32
237
Eisenfeld, S. 349.
34 Wolle, S. 234.
35 Vgl. Malycha, S. 101 – aber nochmal nachschlagen
36 Vgl. Weber, S. 122.
37 Ebd.
33
6
Nur kurze Zeit nachdem die sowjetischen Panzer die Macht der SED
sicherstellten, kam es in der DDR zu einer zweiten „akuten Bedrohung der
Führungsspitze.“38 Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956
rechnete der Parteichef Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede mit Stalin
ab. In dieser Rede verurteilte Chruschtschow Stalin als größenwahnsinnigen
Diktator. Im Original heißt es:
„(…) er zwang anderen seine Ansichten auf und verlangte absolute
Unterwerfung unter seine Meinung. Wer sich seiner Konzeption
widersetzte oder einen eigenen Standpunkt zu vertreten, die
Korrektheit der eigenen Position zu beweisen suchte, wurde
unweigerlich
aus
dem
Führungskollektiv
ausgestoßen
und
anschließend sowohl moralisch als auch physisch vernichtet.“39
Damit machte Chruschtschow Stalin allein verantwortlich für den „Roten
Terror“, der in der Sowjetunion Schätzungen zufolge X Menschen das Leben
kostete.40
Zugleich
Herrschafts-
und
verdeckte
Chruschtschow
Gewaltapparates
des
die
Mechanismen
Stalinismus,
sowie
des
die
gesellschaftlichen Strukturen, welche den Terror und die Massenverhaftungen
begünstigten.41 Dies war nötig, um den Legitimationsglauben in die
Parteiherrschaft als überpersönliche Autorität sowohl in der Sowjetunion, als
auch in den Satellitenstaaten sicherzustellen, nachdem Stalins Tod in vielen
sozialistischen Staaten Unruhen auslöste.42
Ulbricht und seine Genossen im ZK der SED befürchteten, dass ein
Übergreifen der Diskussionen um den Terror Stalins auf die DDR erneut die
Legitimation der Parteiherrschaft der SED gefährden musste, da die SED ihre
führende Machtposition Stalin verdankte. Zudem gefährdete die Möglichkeit,
die politischen Verbrechen und Morde Stalins mit denen Hitlers aufzurechnen
die Antifaschismus-Doktrin, die nach dem 17. Juni 1953 einen stabilen
Legitimationsglauben insbesondere bei Intellektuellen und Schriftstellern
sicherstellte.
Aus diesen Gründen blieb das ZK der SED zurückhaltender in der StalinKritik. Ulbricht mahnte, die Lehren des XX. Parteitages lediglich soweit auf die
DDR zu übertragen, wie diese „auf unsere Verhältnisse anwendbar sind“43 und
38
Schroeder, S. 132.
Zitiert nach Schroeder, S. 133. Nochmal abgleichen
40 Absichern mit Jahreszahlen und Fußnote
41 Vgl. Schroeder, S. 133 und Baberowski?
42 absichern
43 Zitiert nach Schroeder, S. 134.
39
7
beließ es bei der Feststellung: „Zu den Klassikern des Marxismus kann man
Stalin nicht zählen.“44 [+Personenkult]
Folgerichtig blieb der Inhalt der Geheimrede in der DDR verschwiegen. Es
kursierten lediglich informell und mündlich ausgetauschte Gerüchte über den
Inhalt,
die
unter
Intellektuellen
rasch
Auslöser
für
leidenschaftliche
Diskussionen über den stalinistischen Terror wurden.45 In seinem zeitnah
verfassten
Tagebuch
beschreibt
Gustav
Just,
der
stellvertretender
Chefredakteur der Zeitschrift „Sonntag“ und 1954/55 Generalsekretär des
Schriftstellerverbandes war, die Ratlosigkeit und Neugier der Schriftsteller, die
mehr über den Inhalt der desillusionierenden Geheimrede erfahren wollten.46
Viele erhofften sich auf der 3. Parteikonferenz der SED Aufklärung. Allerdings
vermied es die Parteiführung
um
Ulbricht,
auf
der
Konferenz die
Chruschtschow-Rede zu thematisieren und stellte wirtschaftliche Beratungen
bezüglich des zweiten Fünfjahresplanes in den Mittelpunkt der Diskussion.47
-
Grußwort Präsidialausschuss
Dies wirkte unbefriedigend auf die Intellektuellen.48 Als die ChruschtschowRede in der Westpresse veröffentlicht wurde, waren die Diskussionen um die
Kritik am Stalinismus von der SED nicht mehr kontrollierbar. Just wertete den
Inhalt der Rede als „Schlag auf den Kopf.“49 Mit seinen Vertrauten Walter
Janka und Wolfgang Harich – der eine Leiter des Aufbauverlages, der andere
dessen Cheflektor – diskutierte Just Chancen einer „wahre(n) Renaissance
der sozialistischen Bewegung.“50 Nötig sei jedoch eine öffentlich debattierte
Revision des Stalinismus sowie der Floskel des „Personenkultes“. Letzteres
sei eine idealistische Verschleierung der überpersönlichen Strukturen der
Massenverfolgungen unter Stalin gewesen.51 Neidvoll blickte Just seinen
Erzählungen zufolge auf Polen und Ungarn, da in beiden Ländern eine
wesentlich liberalere Presse über die Vorgänge und Inhalte des XX.
Parteitages berichtete.52 Sowohl in Polen als auch in Ungarn waren die
Zeitschriften
Sprachrohre
einer
gesamtgesellschaftlichen
44
Kritik
am
Zitiert nach Schroeder, S. 134. Andere Quelle?
Vgl. Gustav Just, Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre in der DDR, Frankfurt
a.M. 1990, S. 51f.
46 Vgl. Just, S. 52.
47 Vgl. Weber-Buch, S. 190.
48 Vgl. Just, S. 51.
49 Ebd.
50 Ebd., S. 55.
51 Vgl. ebd., S. 51.
52 Vgl. Just, S. 53.
45
8
Stalinismus.53 Schichtenübergreifend wirkte in beiden Ländern ein stark
antirussischer Nationalismus identifikationsbildend.54
Polen
Ungarn
In der DDR verhinderte das ZK der SED eine derartige kritische Diskussion
bezüglich des Stalinismus in der Öffentlichkeit und verhinderte damit die
Formation einer gesamtgesellschaftlichen Opposition. Ulbricht diktierte
kompromisslos, dass es in der DDR keine Massenrepressalien gegeben habe
und deswegen auch keine „rückwärtsgewandte Fehlerdiskussion“55 geduldet
werde.
Diesen Zustand akzeptierte die Gruppe um Just und Harich nicht. Ihrer
Auffassung nach bot der XX. Parteitag „große(…) Möglichkeiten und
Perspektiven
der
Regeneration
des
geistigen
Lebens
und
aller
gesellschaftlichen Vorgänge“.56 Um in der DDR-Öffentlichkeit erstmals
Stellung zu beziehen, veröffentlichte die Intellektuellenzeitschrift „Sonntag“ am
X ein Gedicht des polnischen Schriftstellers Adam Wazyk. Das polemische
Gedicht kritisiert die Überwachung und starre Hierarchie des Stalinismus:
„Was unten weilt, irrt sich,
das Haupt ist unfehlbar.
Es leuchtet in Bronze,
vom Weihrauch umnebelt.“57
Harich und Just verstanden sich als legitime Reformer des Sozialismus und
waren sich sicher, die „einzig richtigen Schlüsse aus dem XX. Parteitag“ 58
gezogen zu haben. Die Entblößungen über Stalins Terror, von denen sie
primär aus der polnischen Presse und Literatur erfuhren, bestätigten sie in
ihrem politischen Engagement für einen demokratischeren Sozialismus.59
Ihrem Selbstverständnis nach agierten sie als Antreiber einer natürlichen
Entwicklung des Sozialismus. In ihren Publikationen im „Sonntag“ forderten
sie mehr Demokratie, mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der
DDR-Bürger sowie gleichzeitig einen Bürokratieabbau, insbesondere des
nach
stalinistischen
Methoden
operierenden
53
Ministeriums
für
Vgl. Meuschel, S. 153.
Vgl. David Priestland, Weltgeschichte des Kommunismus, Bonn 2009 oder 2010, S.
403.
55 Zitiert nach Schroeder, S. 134.
56 Just, S. 71.
57 Zitiert nach Just, S. 59.
58 Ebd., S. 137.
59 Vgl. ebd., S. 137.
54
9
Staatssicherheit.60 Harich präzisierte diese Forderungen nach einem Umbau
des politischen Systems, an dessen Spitze weiterhin die reformierte SED
stehen sollte. Allerdings verlangte er das Aufbrechen des Machtmonopols der
Partei, um den Bürgern Eigenverantwortung und Partizipation zuzugestehen.61
Damit stellte Harich die Frage nach der Legitimationsgrundlage der
Parteiherrschaft.62
Auf die Schriftsteller wirkten diese Forderungen weniger attraktiv, als von Just
und Harich erwartet. Just beklagte sich in seinem Tagebuch über das
„sterile(…)
Schweigen“63
vieler
etablierter
Schriftsteller
zu
den
Reformversuchen. Auch der Journalist Wolfgang Joho beklagte in seinem
Artikel „Schriftsteller und res publica“ im Sonntag am X. die Neutralität der
Schriftsteller. Joho wertete die steigende Kritikbereitschaft der Intellektuellen
um Just und Harich als deutlich positiv: „Die Geister sind in Bewegung
geraten, wie anderorts, so auch bei uns. Man überprüft, revidiert, kritisiert,
denkt nach, sichtet, zieht Bilanz, stellt sich neue Ziele.“64 Allerdings forderte
Joho zugleich in einer scharfen Polemik die Schriftsteller auf, das „Schweigen
im Blätterwalde“65 zu beenden. Vielmehr seien gerade die Schriftsteller, die
wegen ihres öffentlichen Ansehens eine gesellschaftliche Vorbildfunktion
ausüben könnten, seien dazu befähigt, als „Gewissen seiner Epoche“66
aufzutreten und die Diskussion um die Entstalinisierung zu lenken. Allerdings
nahmen sich die Schriftsteller dieser res publica nicht an.
Es waren hauptsächlich junge, eher unbekannte Schriftsteller wie Gerhard
Zwerenz oder Heinz Kahlau, die auf dem II. Kongress Junger Künstler
öffentlich Stellung
bezogen bezüglich der
Entstalinisierung
und des
Revisionismus. Der Lyriker Heinz Kahlau vertrat die Ansicht, der XX. Parteitag
habe kommunikative Möglichkeiten eröffnet, die „Lebensprobleme“67 des
Stalinismus
öffentlich
zu
diskutieren.
Damit
versuchte
Kahlau
die
Entstalinisierungdebatte über die Kunst hinauszuführen und seine Kollegen
anzuregen, eine Grundsatzdiskussion über die ideologischen Fehler des
Stalinismus zu führen.
60
Vgl. Artikel Demokratisierung im Sonntag vom 11.11.56, zitiert nach Just, S. 140f.
Vgl. Harich, …
62 Vgl. Thöns, S. 62.
63 Just, S. 76.
64 Zitiert nach Just, S. 90ff  Nachschlagen, abgleichen!
65 Ebd., S. 91.
66 Ebd., S. 92.
67 Dokument 132 in Schubbe, S. 438.
61
10
Gerhard Zwerenz kritisierte in seiner Rede den stalinistischen Personenkult
als Zersetzungselement für die gesamte sozialistische Lyrik. Seiner
Auffassung nach seien die Dichter durch die stalinistischen Repressionen
„zum Schweigen oder zur Lüge“68 gezwungen worden. Dies waren
progressive und provokante Thesen, die etablierte Lyriker der DDR erregen
sollten.
Obwohl die publizistischen Arbeiten von Just und Harich sowie die
Diskussionsanregungen auf dem II. Kongress Junger Künstler zu einer
Steigerung der Konfliktbereitschaft unter Intellektuellen und Schriftstellern
beitrugen,69
entwickelte
sich
daraus
kein
gemeinsames
politisches
Engagement für einen umfassenden Revisionismus in der publizistischen
Öffentlichkeit der DDR. Das lag zum einen daran, dass es sich bei der Gruppe
um Just und Harich nicht um einen konfrontativen Widerstand handelte. Ihrem
Selbstverständnis nach agierten sie als „erhabene(…) Genosse(n)“70, die eine
systemimmanente Diskussion anregen wollten – dies war eine der Lehren, die
Oppositionelle aus dem 17. Juni 1953 zogen. Zum anderen fehlten dieser
Opposition weitere Oppositionelle, die die Reformbereitschaft öffentlich trugen
und zu einer schichtenübergreifende, gesellschaftumfassende Opposition
anregten. Die etablierten Schriftsteller der DDR, die dazu in der Lage
gewesen wären, zögerten allerdings verstört und ließen die Chance auf einen
Revisionismus ungenutzt.71
[+Harich-Prozess?]
Viele Schriftsteller trauerten um Stalin. In der Zeitschrift „Sinn und Form“
gelobten unter anderem Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Willi Bredel,
Anna Seghers, und Anold Zweig „die Lehren Stalins zu verwirklichen und ihm,
dem Genius des Friedens, die Treue zu halten“72. Bertolt Brecht, im
Nationalsozialismus noch einer der schärfsten Kritiker des „Führerkultes“,73
verehrte Stalin als „Verkörperung der Hoffnung von 5 Erdteilen“74. Die
Chruschtschow-Rede sowie die öffentlichen Debatten der Revisionisten
bezüglich der Verbrechen Stalins erschütterten dieses Stalin-Bild nachhaltig.
Dies löste unter den Schriftstellern Verwirrungen und Resignation aus. So gab
68
Dokument 132 in Schubbe, S. 440.
Vgl. Meuschel, S. 157.
70 Just, S. 155.
71 Vgl. Meuschel, S.
72 Z.n. Rühter, . 73.
73 Erinnert sei an das Gedicht der Kälbermarsch
74 Z.n. Jäger, S. 66.
69
11
Willi Bredel zu, an den „bekannt gewordenen Tatsachen schwer zu tragen“ 75
gehabt zu haben, die „tragischen Fehler des Genossen Stalin“76 seien ihm
„schwer zu Herzen gegangen.“77 [+weitere Kommentare, die die Verwirrung
demonstrieren]
Dennoch schlossen sich die Schriftsteller der Revisionismuskampagne nicht
an. Dies kann nach dem Modell von Max Weber mit einem stabilen
Legitimationsglauben der Schriftsteller in die charismatische Herrschaft der
SED gedeutet werden. [anders formulieren] Insbesondere der DDRGründungsmythos des Antifaschismus wirkte auf viele Schriftsteller als ein
Wahrheitsmonopol der Partei. So äußerte sich Armin Müller: „Ich kam blind
aus der Vergangenheit, erlebte voller Hoffnung die Veränderungen, erlebte sie
aktiv. (…) Ich machte mit und war der festen Überzeugung, dem Neuen durch
meine Verse zu dienen.“78 Die Aussicht, nach den Erfahrungen des
Nationalsozialismus in einem Staat der politischen und moralischen
Erneuerung zu leben, der zudem im Gegensatz zur Bundesrepublik
versprach, „Lehren aus der Geschichte zu ziehen“79 um den Faschismus zu
überwinden, verpflichtete viele Schriftsteller zu Kooperation mit der SED. Der
Romancier Victor Klemperer war bereits 1945 (nochmal nachsehen!) davon
überzeugt, die KPD
Nazis.“
80
„allein drängt wirklich auf radikale Ausschaltung der
Obwohl Klemperer sich nie einer bestimmten Partei verpflichtet
fühlte, hielt er die Zeit für gekommen, „um wohl Farbe (zu) bekennen.“81 Der
Antifaschismus wirkte als Legitimationskonzept derart überzeugend auf den
Schriftsteller, dass für ihn ein Parteilosbleiben einer „Feigheit“82 gleichkäme.
Ähnlich begründete Christa Wolf ihren Beitritt in die FDJ. Die Schriftstellerin
wünschte
sich
Teilhabe
an
Veränderungsprozessen
nach
den
desillusionierenden Erfahrungen des Nationalsozialismus. Der Antifaschismus
der SED bot ihr dafür die Möglichkeiten. Die Partei war ihrer Auffassung nach
„genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland
geschehen war. Und ich wollte genau das Gegenteil.“83 Das legitimatorische
Potential des Antifaschismus wirkte derart überzeugend Wolf, dass sie
75
Staritz, 147
Ebd.
77 Ebd.
78 Z.n. Jäger, S. 78.
79 Meuschel
80 Victor Klemperer, Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember
1945, Berlin 1996, S. 186f.
81 Ebd.
82 Ebd.
83 Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie, Berlin 2002, S. 43.
76
12
überzeugt war, „ein für alle Mal im Mitbesitz der einzig richtigen, einzig
funktionierenden Wahrheit zu sein.“84
[weitere Stimmen]
Die Enthüllungen über Stalin bedeutete für diese Schriftsteller eine Zäsur
zentraler Ideologiefragen, die desillusionierende Demontage des „Genius des
Friedens“ schien die teleologische Erfolgsgeschichte des Kommunismus
abrupt zu beenden. [ev. Zu scharf] Dies führte zu einer ideologischen
Glaubenskrise.85 Auf diese antwortete die SED-Führung mit dem Ausruf der
„sozialistischen Kulturrevolution.“
c. Kulturpolitische Reaktion: „Kulturrevolution“
X Bewusstsein X
Die Ereignisse vom 17. Juni… Die Partei überschätzte das sozialistische
Bewusstsein der Arbeiter.
Der Glauben der Schriftsteller in die Überlegenheit des Sozialismus stand
hingegen nicht zur Disposition. Wie oben erläutert, allerdings hielten sich viele
Schriftsteller in den Debatten um eine Revision des Stalinismus zurück. Diese
Zurückhaltung rühmte ZK-Mitglied Kurt Hager, der die Schriftsteller weiterhin
als „aktive Erbauer(…) des Sozialismus“86, die „unverbrüchlich mit (…) dem
Arbeiter- und Bauern-Staat verbunden sind“87 feierte. Die Bindungskräfte der
Schriftsteller an den Sozialismus wirkten auch nach den Debatten um die
Verbrechen Stalins.88 Insbesondere die theoretischen Alternativen des
sozialistischen Staates – Antifaschismus als Gründungsmythos, die Lehre des
Sozialismus als gesetzmäßige Höherentwicklung der Klassengesellschaft des
Kapitalismus, der Glaube an eine gerechte und konfliktfreie klassenlose
Gesellschaft – wirkten als „Bonus“89 für einen Legitimationsglauben in die
charismatische Herrschaft der SED.
84
Ebd., S. 44.
Vgl. Neubert, S. 352.
86 Schubbe, S. 478
87 Ebd.
88 Vgl. Guntolf Herzberg, Nachbesserung des Sozialismus oder Wie der Status quo
gefestigt wurde, in: Roger Engelmann, Thomas Großbölting, Hermann Wentker
(Hrsg.), Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen,
Göttingen 2008, S. 363-371, hier: S. 366.
89 Ebd.
85
13
Dennoch
befürchtete
die
Partei
„ideologische
Schwankungen“90
der
Schriftsteller, wie der stellvertretende Kulturminister Alexander Abusch auf der
Kulturkonferenz
der
SED
im
Oktober
1957
erklärte.
Das
doppelte
Machttrauma ließ die Partei an der inneren Verbundenheit der Schriftsteller
mit der SED zweifeln. Abusch diagnostizierte eine wachsende innere Distanz
zwischen SED-Führung und Schriftstellern.91 Ähnlich argumentierte Paul
Fröhlich, der den Schriftstellern vorwarf, ihre „Windstille“92 hätte zu
„bürgerlichen Ausrichtungen in der Literatur“93 geführt.
Die SED-Führung reagierte auf diese „ideologischen Schwankungen“ der
Schriftsteller in der Folge mit einer Mischung aus propagandistischer
Betonung der Bindungskräfte und aggressiver Einschüchterungsrhetorik.
Abusch forderte die Schriftsteller auf, sich ihrer „ideoloische(n) Klarheit“ 94
Bewusst zu werden und warf den Schriftstellern „Schützenhilfe für die
westlichen Imperialisten“95 vor. Damit bezichtigte er die Schriftsteller, eine
angebliche Konterrevolution nicht entschieden verhindern zu wollen. [Das
muss noch abgesichert werden!]
Gemäß der sozialistischen Kulturtheorie hatten die Schriftsteller offiziell die
Aufgabe, „der Marschrichtung des politischen Kampfes zu folgen“96, da nach
Grotewohl der Lehrsatz galt: „Was sich in der Poltitik als richtig erweist, ist es
auch unbedingt in der Kunst.“97 Kultur hatte in dieser Phase der DDR nach
Vorstellung der SED-Führung eine Wegbereiter-Funktion und sollte „Impulse
und Energien“98 zur sozialistischen Erziehung beitragen. Schriftsteller galten
seit Stalin als „Architekten der Seele“, die in ihren Werken zur Entwicklung des
sozialistischen Bewusstseins der Arbeiter beitrugen. [An dieser Stelle: Stalins
Möglichkeit Bewusstsein von außen]. Um diese Aufgaben im Sinne der
Parteiführung erfüllen zu können, war ein stabiler Legitimationsglauben der
Schriftsteller in die Parteiherrschaft Voraussetzung. Da die Partei jedoch
„ideologische Schwankungen“ befürchtete, erhob sie den Anspruch, Literatur
ebenso planen und steuern zu können, wie die Ökonomie. Das Gesetz über
den zweiten Fünfjahresplan aus dem Jahr 1958 erhielt unter Paragraph 15 die
90
Schubbe, S. 489
Vgl. Ebd.
92 Schubbe, S. 483
93 Ebd.
94 Schubbe, S. 490.
95 Ebd.
96 Grotewohl, nach Jäger, S. 31f
97 Grotewohl in Rüther, S. 38 ungefähr
98 Nachschlagen in Schubbe, S. 379
91
14
Forderung, die Bücherproduktion „den wachsenden kulturellen Bedürfnissen
der Arbeiter, Werktätigen, Bauern und Angehörigen der Intelligenz“ 99
anzupassen. Nach dem Selbstverständnis der Avantgarde der Partei steuerte
diese die „sozialistische Umgestaltung aller Gebiete des Lebens“100 und übte
somit zwangsläufig eine „führende Rolle auf dem Gebiete der Kultur“101 aus.
Zu Anfang des Jahres 1955 unternahmen die SED-Machtinhaber den
Versuch, den Schriftstellern vorzuschreiben, welche Stoffe und Themen in
ihren Werken verarbeitet werden sollten. Allerdings taten sie dies zu diesem
Zeitpunkt codiert, in einem Dokument von geplanter Authentizität, dem
„Offene(n) Brief“102 der Werktätigen des VEB Braunkohlewerk Nachterstedt.
Der Politikwissenschaftler Günther Rüther wertet dieses Dokument als
Äußerungen der SED-Führung, welche diese „sich selbst noch nicht wieder zu
fordern getraute.“103 Der Germanist Wolfgang Emmerich interpretiert den
Nachterstedter Brief gar als von der Partei inszenierte „dringliche Aufforderung
an die Berufsschriftsteller.“104 In dem Brief forderten die Unterzeichner die
Schriftsteller auf, sich „ihrer großen Verantwortung bewußt“105 zu werden. Die
Autoren verlangten mehr Literatur, die sich mit den praktischen Problemen
und Erfolgen des sozialistischen Aufbaus in den Produktionsstätten befasste.
Der Brief vereint kulturpolitische Ideen und Forderungen der „AufbauLiteratur“106 mit progressiven Appellen an die Schriftsteller, ihre Schreibstuben
zu verlassen, um den betrieblichen Alltag kennenzulernen und um zum
Aufbau des sozialistischen Bewusstseins der Arbeiter beizutragen: „(…)
kommen Sie in unsere volkseigenen Betriebe, dort finden Sie (…) die
vielseitigsten Typen und Konflikte, dort zeigt sich, wie interessant und reich
das
Leben
der
arbeitenden
Menschen
geworden
ist.“107
In
diesen
Formulierungen klang zudem der Vorwurf mit, die Schriftsteller hätten sich
dem gesellschaftlichen Leben der Werktätigen enthoben. Damit kann der
Nachterstedter Brief als Prolog des V. Parteitages der SED gedeutet werden
und
stellte
die
Weichen
für
die
dort
ausgerufene
„sozialistische
Kulturrevolution“. Mit dem Nachterstedter Brief warf die SED-Führung den
99
Schubbe, S. 516
Wo
101 Wo
102 Vgl. Schubbe 350ff
103 Rüther, S. 74.
104 Emmerich, S. 128.
105 Schubbe, S. 351
106 In Jäger suchen!
107 Schubbe, S. 351
100
15
Schriftstellern vor, in ihrer ideologischen Entwicklung zu stagnieren und den
Anforderungen der sozialistischen Revolution nicht genügen zu können.
Auf dem V. Parteitag rief die Parteiführung die „Kulturrevolution“ aus, um „die
noch vorhandene Trennung von Kunst und Leben, die Entfremdung zwischen
Künstler und Volk zu überwinden“.108 [Satz zu: Anwendung des ökonomischen
Terminus Entfremdung]
Auf diesem Parteitag forderte das ZK die Schriftsteller auf, Partei zu ergreifen
und ihr „Schaffen in den Dienst des sozialistischen Aufbaus“109 zu stellen.
Damit erhöhte die Partei den öffentlichen Druck auf die Schriftsteller,
legitimationsfördernde Literatur zu verfassen [EV anders].
Nach marxistisch-leninistischer Theorie ist die Kulturrevolution integraler
Bestandteil der sozialistischen Revolution. Lenin ging davon aus, dass die
sozialistische Revolution – verstanden als Umsturz der politischen und
gesellschaftlichen Ordnung des kapitalistischen Systems – von einer
kulturellen Revolution begleitet und ermöglicht wird.110 Als die SED-Führung
auf dem V. Parteitag die Kulturrevolution ausrief, musste sie dennoch
ideologische Leerstellen der marxistisch-leninistischen Theorie auffüllen. Marx
vermied es, konkrete Ausführungen betreffend des Verhältnisses von Kultur
und Revolution zu formulieren.111 Allerdings definierten Marx und Engels
Stufen der kulturellen Entwicklung der nachkapitalistischen Gesellschaft.
Diese
theoretischen
Ausführungen
definieren
die
semantischen
Veränderungen des Begriffs Arbeit, welche durch den Übergang zum
Kommunismus zu romantisch verklärter Selbstverwirklichung mutiert.112 [+
Aufhebung des Unterschieds von Kopf und Hand-Arbeit]
Auch die in der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren durchgeführte
Kulturrevolution gab den SED-Kulturplanern lediglich Ansatzpunkte dafür, wie
ein kultureller Umsturz in der DDR auszusehen habe. Die kulturellen
Voraussetzungen waren zu
verschieden,
um
die kulturrevolutionären
Methoden und Pläne der Bolschewiki unverändert auf Ostdeutschland
übertragen zu können. Den Bolschewiki ging es in ihrer Kulturrevolution
darum, Sprache, Bräuche, Feste und Rituale zu standardisieren, um die
108
Schubbe, S. 539.
Schubbe, S. 497
110 Vgl. Gransow, S. 31.
111 Vgl. Gransow, S. 31.
112 Zu aggressiv formuliert. Zudem: nachschlagen in Priesterland
109
16
Menschen an die neue sozialistische Ordnung zu binden.113 Insbesondere die
ethnische und religiöse Vielfalt der Sowjetunion behinderten eine staatlich
geprägte Organisation des Alltags der Menschen. Die unterschiedlich
ausgeprägten religiösen Bräche der in der Sowjetunion lebenden Schiiten,
Juden und orthodoxen Christen schlossen den sozialistischen Staat aus.
Zudem
war
die
sowjetische
Alphabetisierungskampagne,
um
die
Kulturrevolution
„erfundenen
primär
Traditionen“114
eine
des
Sozialismus zu verbreiten.
Die SED verengte diesen sehr weiten Kulturbegriff der sowjetischen
Kulturrevolution und richtete ihren Modus der Kulturrevolution stark auf die
Literatur aus. Als auf die Situation der DDR Ende der 50er Jahre übertragbar
erwies sich hingegen die Vorstellung, Menschen durch „Aufklärung und
Beseelung“115
zu
klassen-
und
sozialismusbewussten
Proletariern
weiterzuentwickeln. Dies war bereits die zentrale Idee des Nachterstedter
Briefs.
Lenin hielt es für möglich, dass es zu Austauschprozessen zwischen
Schriftstellern und Arbeitern während dieser Erziehung käme. So deutete
Lenin die Mitarbeit der Werktätigen [in den Sowjets] als Möglichkeit dafür, die
gemäß der Theorie der zwei Kulturen weiterhin durch bürgerliche Kultur- und
Wertvorstellungen geprägten Schriftsteller ebenso „ummodeln, umwandeln,
umerziehen“116 zu können. Lenin deutete Kulturrevolution demnach in zwei
Richtungen. Einerseits könne Literatur das Proletariat beseelen, andererseits
forciere die Mitarbeit der Arbeiterklasse an kultureller Produktion den
Übergang zum Kommunismus, da bürgerliche Wertvorstellungen verloren
gingen. [Anders!] Dies mündete in einem Appell an die Arbeiter: „Wir müssen
von der gesamten Kultur Besitz ergreifen, die der Kapitalismus hinterlassen
hat (…).“117 Dieses Konzept schien Walter Ulbricht derart attraktiv zu sein,
dass
er
in
nahezu
unverändertem Wortlaut,
aber
angereichert
mit
militaristischer Klassenkampfrhetorik, auf dem V. Parteitag forderte: „In Staat
und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits der Herr. Jetzt muß sie
auch die Höhen der Kultur erstürmen und von ihnen Besitz ergreifen.“118
113
Vgl. Baberowski, S. 100.
Vgl. Eric Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen, in: Christoph Conrad, Martina
Kessel (Hrsg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart
1998, S. 97-118.
115 Baberowski, S. 96.
116 Lenin, Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheiten, S. 103  Nachsehen
117 Lenin, Erfolge und Schwierigkeiten der Sowjetmacht, S. 55 oder Gransow 32
118 Schubbe, S. 536.
114
17
Aus diesen Versatzstücken kreierte die SED den Modus ihrer Kulturrevolution,
bei der es weniger um einen Umsturz der ästhetischen Perspektive der
sozialistischen Kunst, „als vielmehr um die Klärung ideologischer Fragen“ 119
ging, wie der Leiter der Kulturkommission des ZK der SED, Alfred Kurella, in
seinem Diskussionsbeitrag zugab.
Fazit zum Kulturrevolutions-Unterkapitel
III.
Kulturpolitische Leitideen des „Bitterfelder Weges“
a. Überleitung?
b. Schriftsteller
Im Bitterfelder Weg hatten die Schriftsteller nach Ansicht der SEDKulturplaner die Funktion des Mittlers zwischen Parteiinteresse und
bewusstseinsbildender Erziehung der Arbeiter einzunehmen.120 Alfred Kurella
verstand Literaten als Funktionäre der Arbeiterklasse, die als Einheit in einem
großen
mechanischen
Revolutionsprozess
Hilfestellungen
vermitteln
sollten.121 Diese Interpretation der Rolle des Schriftstellers ging zurück auf
Lenins Maxime, die literarische Tätigkeit sei ein „Rädchen und Schräubchen“
119
Schubbe, S. 537
Vgl. Gabriele Czech, Oliver Müller, Sozialistischer Realismus und DDRLiteraturwissenschaft: Von der Instrumentalisierung bis zum allmählichen Verfall eines
Leitbegriffs, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Das war die DDR. DDR-Forschung im
Fadenkreuz von Herrschaft, Außenbeziehungen, Kultur und Souveränität, Münster
2004, S. 592-609, hier: S. 592.
121 Vgl. Schubbe, Dok. 187
120
18
des Aufbaus des Sozialismus.122 Nötig sei dafür der Abbau des individuellen
Ehrgeizes der Schriftsteller. Dies waren Angriffe auf die Autonomie der
Schriftsteller, die sich nicht mehr gemäß bürgerlicher Wertvorstellungen als
Wegweiser zur Emanzipation verstehen,123 sondern dazu aufgefordert
wurden, für die SED Partei zu ergreifen. Ulbricht forderte in seiner Rede auf
der Bitterfelder Konferenz die Schriftsteller auf, „als aktive Begeisterer für den
Sozialismus zu wirken“.124 Damit unternahm die SED den gezielten Versuch,
ein Idealbild des sozialistischen Schriftstellers zu entwerfen. Dieses basierte
auf der Konzentration auf Themen und Stoffe aus der Welt der Arbeiter, der
Verbreitung sozialistischer Moralvorstellungen zur Bewusstseinsbildung, der
Hinwendung zur Gegenwart des Aufbaus des Sozialismus sowie der
Verpflichtung auf die Methode des „sozialistischen Realismus“. Nur Autoren,
die diesem Ideal entsprächen, könnten die „Abstandstheorie“ überwinden, der
zufolge die Schriftsteller der Lebenswelt und dem Alltag der sozialistischen
Arbeiter enthoben seien.125 Nach Ansicht des Schriftstellers Erwin Strittmatter,
[Ole Bienkopp], behinderten bürgerliche Vorstellungen viele seiner Kollegen
daran, das Denken und Fühlen der Arbeiterklasse in ihren Werken
angemessen einzuarbeiten.126 Es sei nun die Aufgabe der Schriftsteller, in die
Betriebe zu gehen, um „selbst an den Brennpunkten der Entwicklung des
neuen Lebens“127 zu arbeiten, wie es Ulbricht formulierte. Die Literaten sollten
in die Kollektive der Brigaden eintauchen, um eine „Verschmelzung“ zwischen
den Lebenswelten zu erzeugen.128
[+Ansicht Schriftsteller (Seghers, Wolf, Heym?)]
[Folgten die Schriftsteller? Fühmann  Sinnsuche]
Die „Schriftsteller der neuen Zeit“129 hatten nach Ansicht der SED im
Arbeiterkollektiv die Aufgabe, das sozialistische Bewusstsein der Arbeiter
auszuprägen und sozialistische Moralvorstellungen zu verbreiten. [+Gerlach
dazu] Auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 formulierte Walter Ulbricht in
Konkurrenz zu den christlichen Geboten einen sozialistischen Moralkodex, um
Individualismus und Eigensinn zu diskreditierten und ein „säkularisiertes
122
Vgl. Emmerich, S. 43.
Vgl. Gerlach, S. [zwischen 34 und 42, Anfang III]
124 Ulbricht in Schubbe, S. 553 oder 554
125 Vgl. Strittmatter in Schubbe, S. 562
126 Vgl. ebd, S. 563
127 Schubbe, S. 553
128 Vgl. Gotsche, S. 570 in Schubbe
129 Ulbricht, S. 555
123
19
Glaubenssystem“130 zu installieren. Die Moralgebote, die Werte wie Achtung
der sozialistischen Gesellschaft und Vaterlandsliebe ebenso einforderten wie
Solidarität mit der Arbeiterklasse und erhöhte Leistungsbereitschaft waren ein
gezielter Versuch, die Bindungskräfte an die Partei zu stärken. Insbesondere
das vierte Gebot, „Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn
der Sozialismus führt zu einem besseren Leben (…)“131 sollte zu Systemtreue
führen, indem die Verbesserung des Lebensstandards in Aussicht gestellt
wurde.
[event.
Besser
formulieren,
vllt.
Schärfer]
Der
sozialistische
Moralkatalog, der in alle individuellen und gesellschaftlichen Bereiche
eingriff,132 definierte damit ein Verhaltensideal, das Protest gegen die
sozialistische Ordnung wie am 17. Juni 1953 folglich als individualistischen
und unmoralischen Verstoß gegen verpflichtende Glaubensgrundsätze
geißelte. Nach Ansicht Alexander Abuschs sei es die Aufgabe der
Schriftsteller, die moralischen Gebote des Sozialismus in ihre Texte
einzuweben und zu verbreiten.133 Damit definierte Abusch die Tätigkeit der
Schriftsteller als Vermittler einer legitimationsfördernden Ethik. Demzufolge
war die Literatur des Bitterfelder Wegs ein Medium zur Machtsicherung der
Herrschaftssicherung der SED.134 [DAS VERSTEH ICH NICHT] Dieser
Forderung kam Christa Wolf in ihrer Erzählung „Der Geteilte Himmel“ nach. In
dem Text erzählt Wolf die Geschichte zwischen
Die Anforderung an die Schriftsteller, in ihren Texten zur Verbreitung
sozialistischer Moralvorstellungen beizutragen, korrespondierte mit der
stalinistischen Vorstellung vom Autor als „Ingenieur der menschlichen Seele“,
welcher in seinen Werken zur sozialistischen Erziehung der Massen betragen
könnte.135 Für den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft und den Aufbau
des Sozialismus war das Menschenbild des durch moralische und
ideologische Erziehung formbaren Arbeiters konstitutiv.136 So sollten die
Schriftsteller nicht nur in die Betriebe gehen, um in die Lebenswelt der
Arbeiter
einzudringen,
sondern
auch
um
diese
zu
gestalten durch
sozialistische Erziehung und „politischer Massenarbeit“. Darunter verstanden
die SED-Machthaber nach Parteiideologie geplante Kulturveranstaltungen in
den Brigaden zur sozialistischen Erwachsenenbildung. Konkret waren damit
130
Meuschel, S. 178.
Dokumente klein, S. 54
132 Vgl. Meuschel, S. 79.
133 Vgl. Schubbe, S. 476
134 Vgl. Herzberg, S. 167 oder so
135 Vgl. Jäger, S. 35.
136 Vgl. Mühlberg in Sozialgeschichte, S. 69.
131
20
die Organisation von Tanzabenden, Laienspiel- und Volkstanzgruppen, WerkChören und die Einrichtung von Betriebsbibliotheken umschrieben.137
Das Medium Literatur hatte eine Sonderrolle
Die von der SED-Führung stets geforderten Betriebsromane boten die
Möglichkeit, die Arbeiterklasse und ihren Alltag als das „Subjekt der
Geschichte“ in den Mittelpunkt der bürgerlichen Hochkultur in Tradition des
Humanismus zu setzen. Dennoch erscheint es paradox, dass die SEDFührung die Schriftsteller als moralische Erzieher in die Brigaden schickte,
obwohl hohe Kulturfunktionäre wie Alexander Abusch ihnen nur wenige Jahre
zuvor noch „ideologische Schwankungen“ vorwarfen.
[Paradox]
Annette Schuhmann, die in ihrer Studie den FDGB als Verantwortungsträger
der betrieblichen Kulturarbeit der DDR interpretiert, erklärt dieses Paradox als
Folge einer dauerhaften Überforderung des FDGB mit der Organisation der
Kulturarbeit in den Brigaden. Schuhmann stützt diese Deutung auf Aussagen
des Sekretärs und Präsidiumsmitglieds des FDGB Egon Rentzsch, der
[Datum!] die „Vernachlässigung der Kulturarbeit der Betriebe in der Zeitschrift
„Tribüne“ kritisierte.138 Seiner Auffassung nach zeichnete sich die kulturelle
Massenarbeit
durch
Aufgabenstellung
und
einen
„untragbaren
Verwirklichung,
Widerspruch
zwischen
den
zwischen
vorhandenen
Möglichkeiten und ihrer Ausnutzung, zwischen den bereitstehenden Mitteln
und ihrer Verwendung“139 aus. Neben Organisationsmängeln und materiellen
Problemen sah sich Rentzsch in seiner Arbeit einer mangelnden Akzeptanz
seitens der Arbeiter ausgeliefert. Zudem kritisierte er Probleme der
inhaltlichen Durchführung der an den FDGB gestellten Ansprüche zur
politischen Massenarbeit.140 Demzufolge erhofften sich die SED-Funktionäre
durch den Einsatz von Schriftstellern als Leiter der Zirkel der schreibenden
Arbeiter die Attraktivität der kulturellen Massenarbeit in den Brigaden zu
steigern und mehr Arbeiter an diese „Vergesellschaftungskerne“141 zu binden.
Dennoch erhöhte die SED den ideologischen Druck auf die Schriftsteller, um
sicherzustellen, dass diese ihre Erziehungsarbeit im Sinne der Partei
ausführten. In einem Bericht an den V. Parteitag forderte das ZK bereits 1958
137
Vgl. Annette Schuhmann, Kulturarbeit im sozialistischen Betrieb.
Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/DDR 1946 bis 1970, Köln 2006, S.
13.
138 Vgl. Schuhmann, S. 89.
139 Schuhmann, S. 89f.
140 Vgl. Schuhmann, S. 90.
141 Zahr, S.
21
eine verstärkte ideologische Offensive, um bei allen Kulturschaffenden
„Klarheit (…) zu schaffen“.142
c. Arbeiter
Mit dem Bitterfelder Weg unternahm die SED den Versuch, die Arbeiter auf
kulturellem Gebiet zu aktivieren. Neben der sozialistischen Erziehung trugen
die Kulturangebote in den Brigaden zur Sozialisation der Arbeiter bei. In den
Brigaden, die nach Kohli „Vergesellschaftungskerne“ der Arbeiter waren,143
ging es neben der sozialistischen Arbeit nach Vorgabe des Wirtschaftsplanes
auch darum, sozialistisch zu arbeiten und zu leben.144 Das sozialistische
Leben in der Brigade umfasste nach Roesler drei Dimensionen.145 Zunächst
übte das Kollektiv in den Brigaden, in denen die Arbeiter einen großen Teil
ihres Lebens verbrachten, einen großen Einfluss auf die Arbeitsmoral
Einzelner aus. Gerade in Verbindung mit den sozialistischen Moralgeboten
übte das Kollektiv, zu dem auch Schriftsteller als Brigadepaten gehören
konnten, einen großen Einfluss auf die Bewusstseinsbildung aus. Die
[seelsorgerische Funktionen]
Zweitens verschwand in den Betrieben die Trennung zwischen Wohn- und
Arbeitsort, sodass nach Annette Schuhmann von einer „betriebszentrierten
Organisation“ der Freizeit gesprochen werden kann.146 Die Betriebe
integrierten
bei
ihren
Freizeitangeboten
–
Tanzabende,
Ausflüge,
Familienfeste – stets neben den Arbeitern deren Partner, Familien und
Freunde. Zudem waren die Betriebe Quellen für die Vergabe von Wohnraum
und Urlaubsplätzen, öffneten Zugänge für soziale Dienstleistungen und
wiesen Aufstiegschancen oder materielle Privilegien zu. [Legitimation?]
142
Schubbe, S. 533
Vgl. Kohli in Sozialgeschichte, S. 38
144 Vgl. Roesler, S. 145
145 Vgl. ebd., S. 152.
146 Vgl. Schuhmann, S. 11.
143
22
Drittens bemühten sich die Brigaden der sozialistischen Arbeit um die
Vermittlung von Kulturgütern. Bereits der Nachterstedter Brief implizierte eine
rege literarische Rezeption in den Brigaden, da angeblich 48% der Kumpel
aus
dem
Braunkohlewerk
Betriebsbibliothek“
147
„ständige
Leser
der
Bücher
unserer
gewesen seien. Diese Kulturarbeit in den Brigaden sollte
durch den Bitterfelder Weg intensiviert werden, da nach Ulbricht die
Hauptaufgabe der Schriftsteller, „die wachsenden kulturellen Bedürfnisse des
Volkes auf einem künstlerisch möglichst hohen Niveau“148 noch nicht erreicht
gewesen sei. Konkret fehlte Ulbricht ein großer Betriebsroman, der die in den
Brigaden ablaufende Entwicklung der Arbeiter „zu den fortschrittlichsten
Menschen, zum Typ des sozialistischen Arbeiters“149 in Tradition des Agitprop
der
Weimarer
Republik
unterstützen
sollte.
[+Legitimation]
Da
die
Berufsschriftsteller diese Leistung bisher versäumt hätten, sollten die Arbeiter
in den Schreibzirkeln nun diese Aufgabe übernehmen, und die „Höhen der
Kultur erstürmen“150.
[Betriebsroman? Ausgestorben?]
[+Inhalt, Helden, Arbeiter waren damit Obj, Subj.]
Ein Teil der Handlung in Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ spielt
zwar in einem Waggonbauwerk, allerdings konnte die Erzählung nur
unzureichend
als
Betriebsroman
gelesen
werden.
Obwohl
sich
die
Protagonistin Rita in der Erzählung rasch mit ihrer Tätigkeit im Werk
identifiziert, ist sie als angehende Lehrerin lediglich eine Arbeiterin auf Zeit,
um ihr Studium aufnehmen zu können.
[+Ole]
[+Kritik Ulbricht?]
Im „Handbuch für schreibende Arbeiter“151, ein in dritter Person Plural
verfasster Ratgeber, der „Anregungen zur schöpferischen Arbeit und
literarisches Rüstzeug“152 vermitteln sollte, setzten die Herausgeber die
schreibenden Arbeiter der Brigaden in die Tradition der frühen proletarischen
Volksdichtung des 19. Jahrhunderts und der Proletkult-Bewegung der
Weimarer Republik. Damit formulierten die Autoren eine progressive,
teleologische Entwicklungsgeschichte der Bewegung schreibender Arbeiter,
147
Schubbe, S. 350
Schubbe, S. 534 ungefähr
149 Schubbe, S. 552
150 Schubbe
151 Jürgen Bonk, Dieter Faulseit, Ursula Steinhaußen (Hrsg.), Handbuch für
schreibende Arbeiter, Berlin 1969.
152 Ebd., S.
148
23
welche mit dem Bitterfelder Weg in der DDR „nach einem Jahrhundert der
Unterdrückung, der Ausbeutung und des Kamfes“153 einen Höhepunkt fand.
Damit eröffnete die Bitterfelder Konferenz nach Ansicht der Autoren des
Handbuchs „eine neue Etappe in der Aneignung und Bereicherung der
Schätze der Kultur durch die Arbeiterklasse“.154 Wegweisende und zitierte
Vorbilder waren das Volkslied „Das Blutgericht“ der schlesischen Weber aus
dem Jahr 1844 und die proletarische, revolutionäre Literatur der KPD, samt
Roter Revuen [das habe ich irgendwo gelesen…] Daraus ergibt sich ein
weiteres Paradox des Bitterfelder Wegs: Einerseits sollte sich die Literatur der
schreibenden Arbeiter inhaltlich an gegenwärtige Probleme und Erfolge des
sozialistischen Aufbaus sowie an die verheißungsvolle Zukunft des „Sieges
des Sozialismus“ orientieren. Andererseits sollten sich die Arbeiter dabei an
tradierte Formen halten und an Klassiker der proletarischen Literatur
anknüpfen. Zudem erscheinen die ausgewählten Beispiele der Autoren des
Handbuchs problematisch. Das Anknüpfen an Texte, die den proletarischen
Kampf gegen Hunger und Armut in der Weltwirtschaftskrise der Weimarer
Republik thematisierte, erschien in einer Gesellschaft, die sich rühmte, die
Klassengegensätze des Kapitalismus überwunden zu haben antagonistisch.
Zudem mussten diese Texte Erinnerungen an die Versorgungskrise in den
fünfziger Jahren, sowie den Arbeiteraufstand vom 17. Juni wecken. [warum?]
Das schlesische Volkslied „Das Blutsgericht“, welches die Autoren des
Handbuchs in Ausschnitten zitierten, deuteten jene als Beleg für ein
historisches Klassenbewusstsein des Proletariats. In dem Gedicht beklagen
die Weber die Zerstörung ihres traditionellen Handwerks durch unmoralisch
und profitgierig handelnde Unternehmer, welche eine Mechanisierung des
Webens zur Steigerung der Produktivität und des Umsatzes durchführten.
Dabei verschwiegen die Autoren des Handbuchs konsequent, dass die Weber
sich in dem Text als Vollstrecker einer göttlichen Gerechtigkeit wähnten, die
den Unternehmern keinen proletarischen Klassenkampf androhten, sondern
sie davor warnten, für diese Sünden im Jenseits Buße leisten zu müssen.
Tradition und Religion bilden in dem Text den zentralen Gegensatz zu
Industrialisierung und Atheismus. So unterließen es die Autoren, die Strophen
des Gedichtes abzudrucken, die in der Phase des offensiven Kirchenkampfes
der SED Aktualität besaßen:155
153
Ebd., S. 21.
Ebd., S. 13.
155 Vgl. Pollack, Säkularisierung
154
24
„Doch ha! Sie glauben an keinen Gott,
Noch weder an Höll‘ und Himmel,
Religion ist nur ihr Spott,
Hält sich ans Weltgetümmel.“156
Das Anknüpfen an diese konstruierte Traditionslinie sollte den Arbeitern
verdeutlichen, dass sie Teilnehmer und Mitgestalter eines historischen
Prozesses und vollberechtigte Mitglieder der sozialistischen Kulturgesellschaft
seien. Insofern übte der Bitterfelder Weg eine „kompensatorische Funktion“ 157
aus. Die Zirkel bildeten die Arbeiter darin aus, die Geschichte der
proletarischen Literatur fortzuschreiben. Insofern versuchte die SED das
Konzept der Kulturgesellschaft durch Partizipation der Arbeiterklasse zu
legitimieren.
An diesen Anforderungen an die Arbeiter scheiterte der Bitterfelder Weg.
Nachdem die Parteispitze einsehen musste, dass die Arbeiter überfordert
waren,
die
romantische
Vorstellung
eines
im
Betrieb
entstandenen
gesellschaftlichen Betriebsromans zu erfüllen, fokussierte Ulbricht auf der
zweiten Bitterfelder Konferenz im April 1964 die [kleineren Formen,
Brigadetagebuch + Funktion + Wirtschaft + Nähe zu NÖS]
Das 1969 erschienene „Handbuch für schreibende Arbeiter“ sparte Hinweise
zum Verfassen von Romanen aus – dies „hätte den Charakter dieses
Handbuchs überfordert“158 räumten die Autoren ein.
Die SED musste feststellen, dass trotz der staatlichen Förderung und
öffentlichen Aufmerksamkeit keine hochwertige Arbeiterkultur erzwungen
werden konnte.159 Est. V. R. stellte in ihrer Untersuchung der kulturellen
Massenarbeit in den Betrieben fest, dass das Interesse der Arbeiter, nach
Feierabend in den betrieblichen Schreibzirkeln an sozialistischer Hochkultur
zu arbeiten, gering gewesen sei.160 Die Zahlen der aktiven schreibenden
Arbeiter sanken demnach stetig, da viele Arbeiter sich eher nach
entspannenden Tätigkeiten in den Brigaden sehnten. Beliebt waren nach
Richthofen gesellige Kartenabende oder gemeinsame Plauderrunden mit
Kaffee und Kuchen, um die Anstrengungen der Planerfüllung auszugleichen.
Zudem fehlte es an Schriftstellern, die willens waren, die Arbeiter auszubilden.
156
Vgl. Das Blutgericht
Gerlach, S. 11.
158 Handbuch, S. 9
159 Vgl. Richthofen, S. 578.
160 Vgl. ebd., S. 578f.
157
25
Nach Honeckers „Kahlschlag-Forum“161, in dessen Folge die „Einheit von
Wirtschafts- und Sozialpolitik als neuer zentraler Legitimationsspender für die
Parteiherrschaft formuliert wurde,162 verlor der Bitterfelder Weg an Bedeutung.
d. Sozialistische Nationalliteratur
161
162
IV.
Fazit
V.
Literaturverzeichnis
Vgl. Schroeder
Vgl. Wehler, S.
26
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