Was sich in der Politik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in

Werbung
Universität Bielefeld
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie
Abteilung Geschichtswissenschaft
BA-Arbeit
Thema: Kulturpolitik der SED unter besonderer Berücksichtigung des Bitterfelder Weges
Veranstaltung: Politik und Gesellschaft in der DDR
Erstgutachter: Herr Siemens
Zweitgutachterin: Frau Richter
Abgabe: März 2010
„Was sich in der Politik als richtig
erweist, ist es auch unbedingt in der
Kunst.“
Legitimation und Grenzen der
Durchherrschung im Bitterfelder Weg.
Verfasst von:
Thomas Makowski
Matrikelnummer: 1849970
BA-Geschichtswissenschaft
Universitätsstraße 7
33615 Bielefeld
E-Mail: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung
1
II.
Herrschaftsinstabilität und sozialistische Kulturrevolution
5
a. Der 17. Juni 1953: Arbeiteraufstand
III.
5
b. Der XX. Parteitag: Entstalinisierung und Revisionismus
12
c. Kulturpolitische Reaktion: sozialistische Kulturrevolution
18
Kulturpolitische Leitideen des Bitterfelder Weges
24
a. Der Bitterfelder Weg als Realisierung der Kulturrevolution
24
b. Das Autorenideal: sozialistische Erzieher
25
c. Das Arbeiterideal: positive Helden und sozialistische
Kultureroberer
d. Sozialistische Nationalliteratur und Identitätsbildung
IV.
Fazit
V.
Quellen- und Literaturverzeichnis
VI.
Anhang
31
36
38
I.
Einleitung
Anfang der 1950er Jahre festigte die SED rasch ihre politische Macht in der
jungen DDR. Systemloyale Führungseliten nahmen zentrale Stellen im
Verwaltungsapparat ein. Die zur „Partei neuen Typus“ aufgestiegene SED
sicherte ihre Hegemonie durch die Abwertung der übrigen Parteien zu
„Blockparteien“. Enteignungsprozesse entmachteten konservative Eliten des
Bildungsbürgertums. Die Massenorganisationen Freie Deutsche Jugend (FDJ)
und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) betrieben neben
umfangreichen
Entnazifizierungsprozessen
auch
ideologische
Aufklärungsarbeit der Massen im Sinne der Partei. Dieser von Walter Ulbricht
betitelte „Aufbau des Sozialismus“ stellte nach Hans-Ulrich Wehler einen
„kurze(n) Weg in die SED-Diktatur“ dar.1
Dennoch
kennzeichneten
die
fünfziger
Jahre
in
der
DDR
in
politikgeschichtlicher Perspektive zwei weitreichende und existenzbedrohende
Systemkrisen. Am 17. Juni 1953, als die Arbeiter der DDR streikten und ihre
anfangs wirtschaftlichen Forderungen nach Entlastung rasch politisierten und
freie Wahlen einforderten, konnte sich die SED-Elite lediglich durch den
Einsatz sowjetischer Panzer wehren. Wenige Jahre später, im Frühjahr 1956,
sah
sich
die
SED
einer
weitreichenden
systemimmanenten
Gefahr
ausgesetzt, als der Tod Stalins und die von Chruschtschows Geheimrede
eingeleitete Debatte über die Verbrechen des Stalinismus in der gesamten
kommunistischen Einflusssphäre zu ideologischer Orientierungslosigkeit und
Aufständen führte. Auch wenn es in der DDR vergleichsweise ruhig blieb, und
nur
einige
wenige
Intellektuelle
einen
„Revisionismus“
einforderten,
befürchtete die SED eine Gefahr von Ost und West.2 Diese beiden
Systemkrisen führten zu einer Instabilität der Herrschaft und zu einem
dauerhaften Machttrauma der SED. Herrscher und Beherrschte misstrauten
sich nachhaltig.
In kulturgeschichtlicher Perspektive markierte hingegen der 24. April 1959 ein
entscheidendes Ereignis der fünfziger Jahre. Im Elektrochemischen Kombinat
Bitterfeld feierten Schriftsteller, Arbeiter und Parteifunktionäre gemeinsam
[Trennung Kopf Hand]. Das daraus resultierende Kulturprogramm, der
1
Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band.
Bundesrepublik und DDR 1949 – 1990, Bonn 2009, S. 23ff.
2 Vgl. Hermann Wentker, Bedroht von Ost und West. Die Entstalinisierungskrise von
1956 als Herausforderung für die DDR, in: Roger Engelmann, Thomas Großbölting,
Hermann Wentker (Hrsg.), Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und
die Folgen, Göttingen 2008, S. 149 – 166.
1
„Bitterfelder Weg“, sah weitreichende kulturelle Austauschprozesse zwischen
Arbeitern
und
Schriftstellern
vor,
die
Volker
Gransow
als
„kulturrevolutionäre(n) Durchbruch“3 deutet.
Kultur,
und
insbesondere
die
Literatur,
waren
bedeutende
Legitimationsspender für die Parteiherrschaft der SED. Die SED sicherte ihre
Deutung,
der
antifaschistische
Bundesrepublik
friedlich
und
Staat
DDR
demokratisch,
sei
im
Gegensatz
kulturhistorisch
ab.
zur
Sie
verkündete, einzig die DDR sei legitimer Erbe der Weimarer Klassik und damit
der Staat der moralischen Erneuerung nach dem Nationalsozialismus.4
Insbesondere die Literatur hatte in den vierzig Jahren des Bestehens der DDR
einen
hohen
Stellenwert.
Die
im
europäischen
Vergleich
hohe
Bücherproduktion pro Kopf5 sowie die großen Erfolge der Leipziger
Buchmessen als „Veranstaltung(en) von Sehnsucht“6 mündeten in der
propagandistischen Formel des „Leselandes DDR“. Das Literatursystem der
DDR war von der Ideologie und Politik der SED geprägt. Die Partei erteilte
den Verlagen Vorgaben, welche Stoffe und Themen gedruckt werden durften.
Zudem
erhob
die
SED
den
Anspruch,
über
das
„Druckgenehmigungsverfahren“ darüber zu entscheiden, welche Bücher
publiziert werden konnten.7 Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich
deutete dies als Belege für eine von oben durchherrschte, totalitäre
„Planungsliteratur“.8 Seiner Auffassung nach war die gesamte Literatur der
DDR zweckbestimmt und in eine Kette von Institutionen eingebunden, die die
geistige Autonomie der Schriftsteller überlagerten. Demzufolge sei das
gesamte literarische Leben der DDR von einem staatlichen Kontrollapparat
durchdrungen gewesen.
Im Folgenden wird der Zusammenhang zwischen Politik und Kultur in der
Phase des Aufbaus des Sozialismus der DDR untersucht. Folgende
Fragestellung wird verfolgt: Welche Bedeutung hatten die Kulturrevolution und
der Bitterfelder Weg hinsichtlich der Überwindung des Machttraumas der SED
3
Volker Gransow, Kulturpolitik in der DDR, Berlin 1975, S. 89.
Vgl. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox
von Stabilität und Revolution in der DDR 1945 – 1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 70ff.
5 Vgl. Simone Barck, Fragmentarisches zur Literatur, in: Hekga Schultz, Hans-Jürgen
Wagener (Hrsg.), Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur,
Berlin 2007, S: 303 – 322, hier: S. 311.
6 Patricia Zeckert, „Eine Versammlung von Sehnsucht“. Die Internationale Leipziger
Buchmesse und die Leser in der DDR, in: Susanne Muhle (Hrsg.), Die DDR im Blick.
Ein zeithistorisches Lesebuch, Berlin 2008, S. 179-188.
7 Vgl. Barck, S. 306ff.
8 Vgl. Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte
Neuausgabe, Berlin 2007, S. 48.
4
2
und
der
Erweckung
Legitimationsglaubens?
eines
die
Darüber
Parteiherrschaft
hinaus:
Kann
die
stabilisierenden
Vorstellung
einer
obrigkeitsstaatlichen totalen Kontrolle des Literaturbetriebs des Bitterfelder
Wegs zur politischen Legitimation des Staates aufrechterhalten werden, oder
gab es „Grenzen der Durchherrschung“9 im Bereich dieses Kulturprogramms?
Um diese Fragen zu beantworten, werden die marxistisch-leninistischen
Hintergründe sowie die kulturpolitischen Leitideen der sozialistischen
Kulturrevolution
und
Legitimationspotentiales
des
Bitterfelder
untersucht.
Die
Weges
Quellen
hinsichtlich
dafür
sind
ihres
die
kulturpolitischen Reden und Debatten der ZK- und Politbüro-Mitglieder. Diese
werden auf folgende Fragen analysiert: Was waren die kulturpolitischen
Leitideen der Kulturrevolution und des Bitterfelder Wegs und inwiefern dienten
diese zur Legitimation der SED-Herrschaft? Auf welche Traditionen griff die
SED zurück? Welche Aufgaben und Idealrollen definierte die Partei für die
Schriftsteller und die Arbeiter? Welche Paradoxien ergaben sich daraus?
Darüber hinaus werden die Arbeiter und Schriftsteller als zentrale Zielgruppen
des Bitterfelder Wegs fokussiert. Es wird untersucht, inwiefern die
Schriftsteller die ihnen auferlegten Aufgaben annahmen. Dabei soll geklärt
werden, ob die Schriftsteller Objekte einer „Planungsliteratur“ gewesen seien.
Zudem wird analysiert, welche Aufgaben die Arbeiter im Bitterfelder Weg zu
erfüllen hatten und welches Menschenbild konstitutiv für die Vorstellung der
schreibenden Arbeiter war. Zentrale Quelle dafür ist das „Handbuch für
schreibende Arbeiter“10, welches als Praxisratgeber den Arbeitern explizit
vorschrieb, wie sie in den Schreibzirkeln der Brigaden vorgehen sollten.
Meine These dazu lautet: Das kulturpolitische Programm Bitterfelder Weg
muss im Kontext der Herrschaftsinstabilität des SED-Regimes betrachtet
werden. Die kulturpolitischen Leitideen sollten dazu dienen, die Herrschaft der
SED zu stabilisieren und einen neuen Legitimationsglauben in die
charismatische Herrschaft der SED zu entwickeln, sodass Kultur als
verlängerter Arm der politischen Herrschaft und Machtsicherung gedeutet
werden kann.
Ausgehend von zwei Ereignissen, die zur dauerhaften Herrschaftsinstabilität
führten – einerseits der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953, andererseits die
9
Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka,
Hartmut Zwahr (Hrsg.) Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547 – 553, hier:
S. 552.
10 Jürgen Bonk, Dieter Faulseit, Ursula Steinhaußen (Hrsg.), Handbuch für
schreibende Arbeiter, Berlin 1969.
3
Entstalinisierungsdebatte und der Revisionismus in Folge des XX. Parteitags
der KPdSU – werden zunächst die Mentalitäten der Arbeiter und Literaten
herausgearbeitet. Zentrale Analysekategorien sind Loyalität gegenüber der
SED, sowie Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft der SED11
als eine Partei, die moralische Erneuerung versprach. Anschließend werden
die marxistisch-leninistischen Grundlagen der sozialistischen Kulturrevolution
erläutert, die konstitutiv für den Bitterfelder Weg waren.
Die Trennung zwischen Arbeitern und Literaten in dieser Arbeit beruht auf der
Annahme, dass es sich dabei um unterschiedliche Klassen handelt, die sich
nach Hans-Ulrich Wehlers Modell durch politisierte Machtbesitzverhältnisse
unterscheiden.12
Demzufolge
können
Schriftsteller
zu
der
operativen
Dienstklasse hinzugerechnet werden, da sie als privilegierte Klasse Einfluss in
Parteiorganisationen wie dem Schriftstellerverband ausüben konnten.
Ein begriffliches Problem besteht darin, dass die Klassiker des LeninismusMarxismus keinen systematischen Kulturbegriff definierten.13 Gemäß der
materialistischen Geschichtsauffassung geht der Marxismus-Leninismus von
der Theorie zweier Kulturen aus und unterscheidet zwischen einer
bürgerlichen Kultur und einer demokratisch-sozialistischen Kultur. Erstere sei
auch in der nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung als Wertvorstellung bei
Schriftstellern vorhanden. In dieser Arbeit wird auf diese Unterscheidung
Rücksicht genommen. Primär meint der Begriff Kultur in dieser Arbeit jedoch
den engen Kulturbegriff und umschreibt die menschlichen Leistungen, die
über den alltäglichen Grundgebrauch hinausweisen.
In
der
historischen
durchleuchtetes
Forschung
Themenfeld
stellt
dar.
der
Manfred
Bitterfelder
Jäger
Weg
betont
in
ein
gut
seinem
Standardwerk zur Kulturpolitik der DDR den engen Zusammenhang zwischen
Wirtschafts- und Kulturprogramm. Für ihn stellt der Bitterfelder Weg eine von
oben
initiierte
Kampagne
zur
ideologischen
Abstützung
der
Wirtschaftsförderung dar, um die Arbeiter zu mehr Leistung zu motivieren. 14
Der Literaturwissenschaftler Günther Rüther ist der Ansicht, mit dem
Bitterfelder Weg unternahm die SED den Versuch, durch ein Kulturprogramm
von der gleichzeitig ablaufenden Entstalinisierung abzulenken, um die Köpfe
11
Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden
Soziologie. Fünfte, revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen
1972, S. 140.
12 Vgl. Wehler 2009, S. 216f.
13 Vgl. Gransow, S. 18.
14 Vgl. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß, Köln 1982,
S. 83ff.
4
der Arbeiter für die Parteiinteressen zu gewinnen.15 Ingeborg Gerlach hält den
Bitterfelder Weg hingegen für eine reguläre der Stufe der Entwicklung der
SED-Kulturpolitik und fokussiert die Kulturrevolution: Primär sei es der SED
darum gegangen, ideologisch unzuverlässige Schriftsteller durch Arbeiter zu
ersetzen.16 Diese Argumentation erscheint allerdings unter Berücksichtigung
des durch den 17. Juni 1953 ausgelösten Machttraumas wenig glaubhaft.
Dietrich Mühlberg wählt eine andere Perspektive für seine Deutung des
Bitterfelder Wegs. Der Kulturwissenschaftler argumentiert, die SED habe den
gesellschaftlichen Umbau in der DDR mit kultureller Absicht und aus
kulturellen
Ideen
durchgeführt.
Unter
Anwendung
von
Modernisierungstheorien geht Mühlberg davon aus, diese „Kulturgesellschaft
DDR“ sollte Widersprüche und negative Trends einer Modernisierung der
Gesellschaft aufheben und vermeiden.17 Allerdings überbetont Mühlberg die
Kultur als Antriebskraft des Gesellschaftsumbaus in Ostdeutschland. Er
vernachlässigt die Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der
politischen Herrschaft, da Politik und Kultur, verstanden als Dimensionen einer
Gesellschaft, in einem sich gegenseitig bedingenden und beeinflussenden
Wechselverhältnis
zueinanderstehen.18
Dieses
Wechselverhältnis
zu
berücksichtigen, ermöglicht es, Problematiken des Gesellschaftsumbaus wie
Legitimationsdefizite oder Instabilität und kulturpolitische Initiativen wie den
Bitterfelder Weg in Beziehung zu setzen. Damit werden erste Ergebnisse der
Arbeit angesprochen.
II.
Herrschaftsinstabilität und sozialistische Kulturrevolution
a. Der 17. Juni 1953: Arbeiteraufstand
Auf der 2. Parteikonferenz der SED am 9. Juli 1952 verkündete Walter
Ulbricht, die strukturellen Voraussetzungen für einen planmäßigen Aufbau des
Sozialismus seien geschaffen. Gemeint waren damit die oben angesproVgl. Günther Rüther, „Greif zur Feder, Kumpel“. Schriftsteller, Literatur und Politik in
der DDR 1949 – 1990, Düsseldorf 1991, S. 86ff.
16 Vgl. Ingeborg Gerlach, Arbeiterliteratur und Literatur der Arbeitswelt in der DDR,
Kronberg Taunus 1974, S. 26ff.
17 Vgl. Dietrich Mühlberg, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der DDR, in:
Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR,
Stuttgart 1994, S. 62 – 94, hier: S. 68ff.
18 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band. Vom
Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära,
München 1987, S. 7f.
15
5
chenen Strukturen, die zur Transformation der ostdeutschen Gesellschaft und
zur Absicherung der Monopolstellung der „Partei neuen Typus“ führten.
Gleichzeitig erhöhte die SED den ideologischen Anpassungsdruck auf die
Bevölkerung. Es folgten Drangsalierungen der verbliebenen Privatbauern,
eine umfangreich geplante Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft,
sowie weitreichende Repressionen gegen politisch Andersdenkende wie
Reste eines „Sozialdemokratismus“.19 Auch die Kirchen als einzig nicht eroberte Großorganisationen gerieten in den Fokus der parteipolitischen Aufrüstung. Die SED führte offene Angriffe auf die Kirchen, um deren sozialen Rückhalt zu zerstören.20 Der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ bedeutete demnach Stärkung der Staatsmacht und war eine propagandistische Fortführung
des in Teilen bereits realisierten Gesellschaftsumbaus zum stalinistischen
Modell des Sozialismus.21
Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann deuten die zunehmenden politischen Repressionen, den erhöhten ideologischen Anpassungsdruck sowie
den eskalierenden Kulturkampf gegen die Kirchen in Verbindung mit einer
zunehmend schlechten Versorgungslage der Bevölkerung als Hauptursachen
für die rasant steigenden Flüchtlingszahlen in der DDR.22 Von Januar bis März
1953 flüchteten 120.000 Menschen aus der DDR.23
Der DDR-Wirtschaft mangelte es sowohl an Lebensmitteln, als auch an Konsumgütern. Die SED-Wirtschaftsplaner reagierten auf diese Versorgungskrise
mit einem Sparprogramm und einer Forderung nach Leistungssteigerung: die
Arbeitsnormen wurden um 10% erhöht. Diese arbeitspolitischen Maßnahmen
führten zu großen Unruhen in den Betrieben und zu erneut stark ansteigenden
Flüchtlingszahlen. Manfred Jäger wertet dies als Beleg dafür, dass die SED
ihre Arbeiter ideologisch überschätzt habe.24
Die KPdSU erkannte die Brisanz der Lage in der DDR und fürchtete eine Erosion der Macht der kommunistischen Bewegung. Sie forderte die SED auf,
Korrekturen durchzuführen, die in einem „Neuen Kurs“ mündeten. Dieser sah
einen Stopp der Kollektivierung der Landwirtschaft, sowie Zugeständnisse an
19
Vgl. Meuschel, S. 121.
Vgl. Detlef Pollack, Von der Mehrheits- zur Minderheitskriche. Das Schicksal der
evangelischen Krichen, in: Helga Schultz, Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.) Die DDR im
Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kulttur, Berlin 1995, S. 49 - 78, hier: S.58.
21 Vgl. Meuschel, S. 117.
22 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Roger Engelmann, Der „Tag X“ und die Staatssicherheit.
17. Juni 1953. Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003,
S. 34.
23 Vgl. Wehler 2009, S. 29.
24 Vgl. Jäger, S. 67.
20
6
Bauern, Handwerker und Geschäftsleute vor.25 Zudem nahm die SED
umstrittene Preiserhöhungen für Lebensmittel zurück und unterbrach den
aggressiven Kirchenkampf.26
Fricke und Engelmann beschreiben in ihrer Studie die Mentalität der DDRBürger kurz vor dem Beginn des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953.
Demnach
werteten
viele
Bürger
die
Zugeständnisse
der
SED
als
Eingeständnis von Schwäche.27 Die Maßnahmen wurden gar als „Sieg der
Massen über die Funktionäre“28 gedeutet. Allerdings blieben die Erhöhungen
der
Arbeitsnormen
bestehen.
Dies
verstärkte
eine
wachsende
Konfliktbereitschaft der Arbeiter, die als gesellschaftliche Gruppe von der SED
im neuen Kurs nicht begünstigt wurden, gegenüber einer zunehmend als
schwach wahrgenommene Regierung. Diese gefühlte Führungsschwäche der
SED
ermutigte
die
Arbeiter,
trotz
der
scharfen
Repressionen,
die
Oppositionellen in den fünfziger Jahren drohten, einen Aufstand zu initiieren.29
Die Initialzündung für den Aufstand des 17. Juni war ein Marsch von
Bauarbeitern am 16. Juni aus Berlin Friedrichshain durch die Stadt in Richtung
FDGB-Zentrale. Die Arbeiter erhofften sich durch einen geschlossenen,
offensiven Widerstand gegen die Normerhöhung ein weiteres Zurückweichen
der SED-Führung erwirken zu können.30 Bereits seit dem Morgen des 15. Juni
streikten Bauarbeiter in einzelnen Brigaden Berlins. Die Bauarbeiter einer
Großbaustelle am Krankenhaus Friedrichshain verfassten eine Resolution, um
Druck auf die SED auszuüben und andere Arbeiter zu animieren, sich dem
Streik anzuschließen. Sie forderten die SED auf, „in Anbetracht der erregten
Stimmung der gesamten Belegschaft“ die „als große Härte“ wahrgenommenen
Normerhöhungen zurückzuziehen und „unverzüglich befriedigend Stellung zu
nehmen“.31 Rasch verbreiteten sich diese Forderungen, es entwickelte sich
ein Generalstreik, der von 500.000 Streikenden aus 186 Betrieben getragen
wurde.32
Von politischer Brisanz für die SED-Spitze war, dass die zu Massenprotesten
angewachsenen Streiks zusätzlich von 418.000 Demonstrationsteilnehmern
Vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949 – 1990,
München 1998, S. 121.
26 Vgl. Hermann Weber, Geschichte der DDR. Aktualisierte und erweiterte
Neuausgabe, München 1999, S. 162.
27 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 38f.
28 Ebd.
29 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 38.
30 Vgl. ebd., S. 40.
31 Zitiert nach Fricke, Engelmann, S. 43.
32 Vgl. Wehler 2009, S. 30.
25
7
unterstützt wurden.33 In einem Gefühl von Stärke gegenüber der als schwach
wahrgenommen SED-Führung forderten die Aufständischen nicht mehr
lediglich
die
Aufhebung
der
Normerhöhung,
sondern
erhoben
sich
grundsätzlich gegen die Politik der SED. In ihren Parolen forderten die
Demonstranten sofortige Senkungen der Lebenskosten, die Einführung freier
und geheimer Wahlen, sowie ein Ende der staatlichen Repressionen und
Gewalt gegenüber Oppositionellen.34 Dabei lassen sich nach Bahring zwei
Stadien des Aufstandes voneinander unterscheiden.35 Im ersten Stadium
marschierten die Arbeiter geführt von Streikführern durch Berlin und besetzten
ohne Gewaltanwendungen das Rathaus sowie Parteidienststellen. Im zweiten
Stadium agierten die Aufständischen allerdings ungleich autonomer. Zentrale
Streikführer verloren an Einfluss auf kleinere Gruppen, die politisch motivierte
Plünderungen und Überfälle durchführten.
Für die SED stellten diese Vorgänge ein ideologisches Desaster dar. Die
Ereignisse
überraschten
die
unvorbereitete
Parteiführung
und
die
Staatssicherheit, die Anzeichen für einen derart rasanten Massenprotest
unterschätzten.36 Anstatt eines durchaus erwarteten Klassenkampfes gegen
die in der Landwirtschaft oder im Mittelstand vermuteten Überreste einer
bürgerlich-kapitalistischen Tradition stand völlig unerwartet ein „Klassenkampf
von unten“37 bevor.
Ausgerechnet die Arbeiter, die im ideologisch aufgewerteten „Arbeiter- und
Bauern-Staat“ eigentlich hätten privilegiert sein sollen, wandten sich gegen die
Partei, deren gesamte Existenz mit dem Willen des Proletariats verknüpft war.
Nur wenige Jahre zuvor, auf der ersten Parteikonferenz 1949, erklärte die
SED, „die bewußte Vorhut der Arbeiterklasse“38 zu sein, und „ständig ihr
Klassenbewußtsein (zu) erhöhen.“39 Als die Arbeiter am 17. Juni gegen die
Normerhöhungen protestieren und ihre Kritik rasch politisierten, indem sie
freie Wahlen forderten, war der Legitimationsglauben in die SED als
klassenbewusste Führerin der Arbeiterklasse nachhaltig erschüttert.40
33
Vgl. ebd.
Vgl. Arnulf Bahring, Der 17. Juni 1953, Köln, Berlin 1966, S. 86.
35 Vgl. ebd., S. 87ff.
36 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 46.
37 Meuschel, S. 118.
38 P3: Avantgardeanspruch und innerparteiliche Diktatur. Januar 1949 in: Matthias
Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne
Materialien und Alltagszeugnisse, Bonn 1998, S. 46.
39 Ebd.
40 Vgl. Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990, München 2006, S. 43.
34
8
Hinzu kam die Inkompetenz, Ohnmacht und Hilflosigkeit der Parteiführung. Ihr
wurde von den streikenden Arbeitern und Demonstranten schonungslos vor
Augen geführt, dass sie derartige Massenproteste nicht systemimmanent
verhindern oder bekämpfen konnte. Lediglich durch die Hilfe von außen, durch
die Intervention sowjetischen Militärs, konnte das Machtmonopol der SED
gesichert werden. Die sowjetischen Truppen beendeten den Aufstand
gewaltsam,
50
Menschen
starben
bei
der
Niederschlagung
der
Demonstrationen.41
Die Sowjets demütigten Ulbricht und die weiteren Spitzenfunktionäre der SED
schwer, indem sie eigenmächtig den Ausnahmezustand in der DDR
verhängten und den Militäreinsatz gegen die streikenden Arbeiter im
Alleingang und ohne Absprache mit den ostdeutschen Machtinhabern
durchführten.
Dies
kam
einem
demonstrativen
Entzug
einer
Scheinsouveränität des SED-Staates gleich.42
Um die Führungsschwäche und Instabilität der von der Sowjetunion
abhängigen SED-Herrschaft sowie die Erosion des Legitimationsglaubens in
den DDR-Gründungsmythos des „Arbeiter- und Bauern-Staates“ offiziell nicht
eingestehen zu müssen, konstruierte das ZK der SED die Legende vom „Tag
X“.43 Demnach sei der Arbeiteraufstand lediglich ein „Werk von Provokateuren
und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus
deutschen kapitalistischen Metropolen“44 gewesen. Getragen wurde diese
propagandistische Verklärungsformel der
Ereignisse sowohl
von
den
Politikern der SED und der Blockparteien, als auch von ostdeutschen
Historikern und der DDR-Justiz. Die Formel des „Tag X“ ging zurück auf eine
Rede des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, der
einen
Tag
für
die
Wiederherstellung
der
nationalstaatlichen
Einheit
Deutschlands in Aussicht stellte.45 Diese Aussage deutete Otto Grotewohl als
die Ankündigung eines „Tag X“. Der SED-Propaganda zufolge konnte der
Arbeiteraufstand damit als von Westdeutschland inszenierter Versuch einer
konterrevolutionären Zerstörung der DDR gedeutet werden.
41
Vgl. ebd., S. 42.
Vgl. Manfred Hagen, „Der Volksaufstand am 17. Juni 1953“, Podiumsdiskussion am
16. Juni 1993, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission
„Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12.
Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Baden-Baden 1995, S. 777.
43 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 19ff.
44 Z. n. ebd., S. 19.
45 Vgl. ebd., S. 20.
42
9
Diesem
Ablenkungsmanöver
von
innenpolitischen
Ursachen
des
Arbeiteraufstandes gingen wirtschaftliche Zugeständnisse der SED-Führung
an die Demonstranten voraus. Noch während des 17. Juni nahm die Partei die
Erhöhung der Arbeitsnormen zurück. Die Demonstranten, die einen
politischen Wandel forderten, wurden hingegen enttäuscht.46 Zusätzlich
bekräftigte die SED ihre Deutung vom 17. Juni als faschistischen
Putschversuch mit einer Verhaftungswelle.47 Durch Aufrufe in den Brigaden
wurden Arbeiter aufgefordert, Kollegen anzuzeigen, die angeblich als
faschistische Provokateure aufgetreten wären.
Zusammenfassend lässt sich sagen, die Reaktion der SED-Führung auf den
Arbeiteraufstand vom 17. Juni bestand aus wirtschaftlichen Zugeständnissen
und neuen Repressionswellen, die in einseitigen Schuldzuweisungen
mündeten. Dies führte bei der DDR-Bevölkerung zu einem weitreichenden
und nachhaltigen Akzeptanzeinbruch für die SED. Stefan Wolle, der die
Mentalität der aufständischen Arbeiter untersuchte, kam zu dem Ergebnis,
dass es für viele der streikenden Arbeiter eine Genugtuung gewesen sei, „die
herrschende Clique in Angst und Schrecken versetzt“48 zu haben.
Allerdings markierte der 17. Juni 1953 eine Zäsur für Oppositionelle in der
DDR. Die eindrucksvollste Erfahrung des Arbeiteraufstandes bestand nach
Andreas Malycha in der desillusionierenden Erfahrung, dass ein Versuch, die
politische Monopolstellung der SED aufzubrechen, solange erfolg- und
wirkungslos bleiben musste, wie Ulbricht und seine Genossen den Rückhalt
der Sowjetunion hatten.
Bernd
Eisenfeld
erkennt
darin
ein
„doppeltes
Trauma“49.
Einerseits
befürchteten die SED-Machthaber seit dem 17. Juni 1953 eine permanente
Herrschaftskrise und wähnten sich „auf einem kochenden Vulkan“50, wie
Stefan Wolle in seiner Untersuchung feststellt. Ihm zufolge fühlte sich die
46
Vgl. Andreas Malycha, Die SED unter Ulbricht: Durchsetzung und Grenzen des
Machtanspruchs der Führungskader um Ulbricht in den Jahren von 1945 bis 1971, in:
Torsten Diedrich, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Staatsgründung auf Raten? Zu den
Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär
und Gesellschaft in der DDR, Berlin 2005, S. 87 – 118, hier: S. 99f.
47 Vgl. ebd., S. 101.
48 Stefan Wolle, „Lage stabil, vereinzelte Vorkommnisse“. Die Stimmung der DDRBevölkerung nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 und nach dem Mauerbau am
13. August 1961, in: Torsten Diedrich, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.),
Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des
Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft in der DDR, Berlin 2005, S. 225 –
252, hier: S. 237.
49 Eisenfeld, S. 349.
50 Wolle, S. 234.
10
SED-Machtspitze seit dem Arbeiteraufstand insbesondere an Jahrestagen des
17. Juni einer Bedrohung ausgesetzt und fürchtete permanent um die Erosion
ihrer Macht.51 Andererseits verschwanden Oppositionelle dauerhaft aus der
politischen Öffentlichkeit. Die Arbeiter passten sich den als unveränderlich
erscheinenden Begebenheiten an und waren zur Loyalität gezwungen.52
Nach Max Webers Typologie der Herrschaftsformen bedeutet ein solches
zweckrationales Hinnehmen der Parteiherrschaft Labilität des Systems.53
Weber argumentiert, jede Herrschaft suche zur dauerhaften Stabilisierung
einen Legitimationsglauben „zu erwecken und zu pflegen“54. Bezogen auf die
Situation in der DDR unmittelbar nach dem Arbeiteraufstand des 17. Juni
1953 bedeutet dies, dass die SED-Machthaber für eine Stabilisierung nach
den traumatischen Erfahrungen des Aufstandes neue Legitimationsfelder
erobern mussten, um die labile Herrschaft der Arbeiterpartei langfristig zu
stabilisieren.
Auf die Schriftsteller traf dies jedoch nur bedingt zu. Es gab keine öffentliche
Solidarisierung vom Schriftstellerverband mit den aufständischen Arbeitern.
Der Grund dafür war ein stabiler Legitimationsglauben der Schriftsteller in die
charismatische Herrschaft der SED. Der Antifaschismus als Staatsdoktrin
wirkte verpflichtend. So waren viele Schriftsteller skeptisch gegenüber den
Massen, die sich ihrer Ansicht nach bereits im NS vom Faschismus verführen
ließen.55 Im Oktober 1953 kam es zu einer Aussprache zwischen Otto
Grotewohl und einigen Schriftstellern, bei der die Schriftsteller ihre innere
Verbundenheit mit dem Staat und der Partei bekundeten. So erklärte Stefan
Zweig: „(…) denn wenn wir nicht mit Haut und Haaren der DDR verschrieben
wären, dann säßen wir gar nicht hier…“56 Weiter forderte er die anderen
Künstler
dazu
auf,
ihre
„Dankbarkeit
gegenüber
der
Regierung“57
auszudrücken. Auch Stefan Heym war sich sicher, „daß wir die Wahrheit und
die Zukunft auf unserer Seite haben…“58 Anna Seghers bekundete gar, „mit
51
Vgl. Wolle, S. 231f.
Vgl. Malycha, S. 101.
53 Vgl. Weber 1972, S. 122.
54 Ebd.
55 Vgl. Jäger, S. 67.
56 Dokument 97. Fragen der Kultur und Kunst im neuen Kurs. Aussprache zwischen
Otto Grotewohl und „führenden Kunst- und Kulturschaffenden der DDR“, 19. Oktober
1953, Auszug, in: Elimar Schubbe (Hrsg.) Dokumente zur Kunst-, Literatur- und
Kulturpolitik der SED, Stuttgart 1972, S. 313 – 315, hier: S. 314.
57 Ebd.
58 Ebd.
52
11
ganzer Kraft und ganzem Herzen für diesen Staat (zu) kämpfen und für diesen
Staat (zu) leben.“59
b. Der XX. Parteitag: Entstalinisierung und Revisionismus
Nur kurze Zeit nachdem die sowjetischen Panzer die Macht der SED
sicherstellten, kam es in der DDR zu einer zweiten „akuten Bedrohung der
Führungsspitze.“60 Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956
rechnete der Parteichef Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede mit Stalin
ab. In dieser Rede verurteilte Chruschtschow Stalin als größenwahnsinnigen
Diktator. Im Original heißt es:
„(…) er zwang anderen seine Ansichten auf und verlangte absolute
Unterwerfung unter seine Meinung. Wer sich seiner Konzeption
widersetzte oder einen eigenen Standpunkt zu vertreten, die
Korrektheit der eigenen Position zu beweisen suchte, wurde
unweigerlich
aus
dem
Führungskollektiv
ausgestoßen
und
anschließend sowohl moralisch als auch physisch vernichtet.“61
Damit machte Chruschtschow Stalin allein verantwortlich für den „roten
Terror“62.
Zugleich
Herrschafts-
und
verdeckte
Chruschtschow
Gewaltapparates
des
die
Mechanismen
Stalinismus,
sowie
des
die
gesellschaftlichen Strukturen, welche den Terror und die Massenverhaftungen
begünstigten.63 Dies war nötig, um den Legitimationsglauben in die
Parteiherrschaft als überpersönliche Autorität sowohl in der Sowjetunion, als
auch in den Satellitenstaaten sicherzustellen, nachdem Stalins Tod in vielen
sozialistischen Staaten Unruhen auslöste.
Ulbricht und seine Genossen im ZK der SED befürchteten, dass ein
Übergreifen der Diskussionen um den Terror Stalins auf die DDR erneut die
Legitimation der Parteiherrschaft der SED gefährden musste, da die SED ihre
führende Machtposition Stalin verdankte. Zudem gefährdete die Möglichkeit,
die politischen Verbrechen und Morde Stalins mit denen Hitlers aufzurechnen,
die Antifaschismus-Doktrin, die nach dem 17. Juni 1953 einen stabilen
59
Ebd.
Schroeder, S. 132.
61 Z. n. Schroeder, S. 133.
62 Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, Bonn 2007.
63 Vgl. Schroeder, S. 133.
60
12
Legitimationsglauben insbesondere bei Intellektuellen und Schriftstellern
sicherstellte.
Aus diesen Gründen blieb das ZK der SED zurückhaltender in der StalinKritik. Ulbricht mahnte, die Lehren des XX. Parteitages lediglich soweit auf die
DDR zu übertragen, wie diese „auf unsere Verhältnisse anwendbar sind“64 und
beließ es bei der Feststellung: „Zu den Klassikern des Marxismus kann man
Stalin nicht zählen.“65 Dies wirkte scheinheilig und revisionistisch. Zum Tode
Stalins verkündete Ulbricht noch, „der größte Mensch unserer Epoche“66 sei
gestorben.
Der Inhalt der Geheimrede blieb in der DDR verschwiegen. Es kursierten
lediglich informell und mündlich ausgetauschte Gerüchte über den Inhalt, die
unter Intellektuellen rasch Auslöser für leidenschaftliche Diskussionen über
den stalinistischen Terror wurden.67 In seinem zeitnah verfassten Tagebuch
beschreibt Gustav Just, der stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift
„Sonntag“ und 1954/55 Generalsekretär des Schriftstellerverbandes war, die
Ratlosigkeit und Neugier der Schriftsteller, die mehr über den Inhalt der
desillusionierenden Geheimrede erfahren wollten.68 Viele erhofften sich auf
der 3. Parteikonferenz der SED Aufklärung. Allerdings vermied es die
Parteiführung um Ulbricht, auf der Konferenz die Chruschtschow-Rede zu
thematisieren und stellte wirtschaftliche Beratungen bezüglich des zweiten
Fünfjahresplanes in den Mittelpunkt der Diskussion.69
Dies wirkte unbefriedigend auf die Intellektuellen.70 Als die ChruschtschowRede in der Westpresse veröffentlicht wurde, waren die Diskussionen um die
Kritik am Stalinismus von der SED nicht mehr kontrollierbar. Just wertete den
Inhalt der Rede als „Schlag auf den Kopf.“71 Mit seinen Vertrauten Walter
Janka und Wolfgang Harich – der eine Leiter des Aufbauverlages, der andere
dessen Cheflektor – diskutierte Just Chancen einer „wahre(n) Renaissance
der sozialistischen Bewegung.“72 Nötig sei jedoch eine öffentlich debattierte
Revision des Stalinismus sowie der Floskel des „Personenkultes“. Letzteres
sei eine idealistische Verschleierung der überpersönlichen Strukturen der
64
Z. n. Schroeder, S. 134.
Z. n. ebd.
66 Z. n. Weber 1999, S. 161.
67 Vgl. Gustav Just, Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre in der DDR, Frankfurt
a.M. 1990, S. 51f.
68 Vgl. ebd., S. 52.
69 Vgl. Weber 1999, S. 190.
70 Vgl. Just, S. 51.
71 Ebd.
72 Ebd., S. 55.
65
13
Massenverfolgungen unter Stalin gewesen.73 Neidvoll blickte Just seinen
Erzählungen zufolge auf Polen und Ungarn, da in beiden Ländern eine
wesentlich liberalere Presse über die Vorgänge und Inhalte des XX.
Parteitages berichtete.74 Sowohl in Polen als auch in Ungarn waren die
Zeitschriften
Sprachrohre
einer
gesamtgesellschaftlichen
Kritik
am
Stalinismus.75 Schichtenübergreifend wirkte in beiden Ländern ein stark
antirussischer Nationalismus identifikationsbildend.76
In der DDR verhinderte das ZK der SED kritische Diskussionen bezüglich des
Stalinismus
in
der
Öffentlichkeit
und
unterband
damit
eine
gesamtgesellschaftliche Opposition. Ulbricht diktierte kompromisslos, dass es
in der DDR keine Massenrepressalien gegeben habe und deswegen keine
„rückwärtsgewandte Fehlerdiskussion“77 geduldet werde.
Diesen Zustand akzeptierte die Gruppe um Just und Harich nicht. Ihrer
Auffassung nach bot der XX. Parteitag „große(…) Möglichkeiten und
Perspektiven
der
Regeneration
gesellschaftlichen Vorgänge“.
78
des
geistigen
Lebens
und
aller
Um in der DDR-Öffentlichkeit erstmals
Stellung zu beziehen, veröffentlichte die Intellektuellenzeitschrift „Sonntag“ am
17.6.1956 ein Gedicht des polnischen Schriftstellers Adam Wazyk. Das
polemische Gedicht kritisiert die Überwachung und starre Hierarchie des
Stalinismus:
„Was unten weilt, irrt sich,
das Haupt ist unfehlbar.
Es leuchtet in Bronze,
vom Weihrauch umnebelt.“79
Die
Veröffentlichung
dieses
Textes
an
einem
Jahrestag
des
Arbeiteraufstandes war politisch brisant, zumal das Gedicht Volk und
Parteiführung in binärer Opposition zueinander deutet. Damit verschärften die
Herausgeber des Sonntags den Druck auf die SED.
Harich und Just verstanden sich als legitime Reformer des Sozialismus und
waren sich sicher, die „einzig richtigen Schlüsse aus dem XX. Parteitag“ 80
gezogen zu haben. Die Entblößungen über Stalins Terror, von denen sie
73
Vgl. ebd., S. 51.
Vgl. ebd., S. 53.
75 Vgl. Meuschel, S. 153.
76 Vgl. David Priestland, Weltgeschichte des Kommunismus, Bonn 2010, S. 403.
77 Z. n. Schroeder, S. 134.
78 Just, S. 71.
79 Z. n. Just, S. 59.
80 Ebd., S. 137.
74
14
primär aus der polnischen Presse und Literatur erfuhren, bestätigten sie in
ihrem politischen Engagement für einen demokratischeren Sozialismus.81
Ihrem Selbstverständnis nach agierten sie als Antreiber einer natürlichen
Entwicklung des Sozialismus. In ihren Publikationen im „Sonntag“ forderten
sie mehr Demokratie, mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der
DDR-Bürger sowie gleichzeitig einen Bürokratieabbau, insbesondere des
nach
stalinistischen
Methoden
operierenden
Ministeriums
für
Staatssicherheit.82 Harich präzisierte diese Forderungen nach einem Umbau
des politischen Systems, an dessen Spitze weiterhin die reformierte SED
stehen sollte. Allerdings verlangte er das Aufbrechen des Machtmonopols der
Partei, um den Bürgern Eigenverantwortung und Partizipation zuzugestehen.83
Damit stellte Harich die Frage nach der Legitimationsgrundlage der
Parteiherrschaft.84
Auf die Schriftsteller wirkten diese Forderungen weniger attraktiv, als von Just
und Harich erwartet. Just beklagte sich in seinem Tagebuch über das
„sterile(…)
Schweigen“85
vieler
etablierter
Schriftsteller
zu
den
Reformversuchen. Auch der Journalist Wolfgang Joho beklagte in seinem
Artikel „Schriftsteller und res publica“ im Sonntag am 28.10.1956 die
Neutralität der Schriftsteller. Joho wertete die steigende Kritikbereitschaft der
Intellektuellen um Just und Harich als deutlich positiv: „Die Geister sind in
Bewegung geraten, wie anderorts, so auch bei uns. Man überprüft, revidiert,
kritisiert, denkt nach, sichtet, zieht Bilanz, stellt sich neue Ziele.“ 86 Allerdings
forderte Joho zugleich in einer scharfen Polemik die Schriftsteller auf, das
„Schweigen (…) im Blätterwalde“87 zu beenden. Vielmehr seien die
Schriftsteller, die wegen ihres öffentlichen Ansehens eine gesellschaftliche
Vorbildfunktion ausüben könnten, dazu befähigt, als „Gewissen seiner
Epoche“88 aufzutreten und die Diskussion um die Entstalinisierung zu lenken.
Allerdings nahmen sich die Schriftsteller dieser res publica nicht an.
81
Vgl. ebd.
Vgl. Just, S. 140f.
83 Vgl. Schroeder, S. 138.
84 Vgl. Kerstin Thöns, Einleitung zum Protokoll der Parteigruppentagung des
Präsidialrates am 9. September 1957 und zum Protokoll der Präsidialratssitzung am
13. September 1957, in: Magdalena Heider, Kerstin Thöns (Hrsg.), SED und
Intellektuelle in der DDR der fünfziger Jahre. Kulturbund-Protokolle, Köln 1990, S. 61
– 66, hier: S. 62.
85 Just, S. 76.
86 Z. n. Just, S. 90.
87 Ebd., S. 91.
88 Ebd., S. 92.
82
15
Es waren hauptsächlich junge, eher unbekannte Schriftsteller wie Gerhard
Zwerenz oder Heinz Kahlau, die auf dem II. Kongress Junger Künstler
öffentlich bezüglich der Entstalinisierung und des Revisionismus Stellung
bezogen. Der Lyriker Heinz Kahlau vertrat die Ansicht, der XX. Parteitag habe
kommunikative
Stalinismus
Möglichkeiten
öffentlich
zu
eröffnet,
diskutieren.
die
Damit
„Lebensprobleme“89
versuchte
Kahlau
des
die
Entstalinisierungsdebatte über die Kunst hinauszuführen und seine Kollegen
anzuregen, eine Grundsatzdiskussion über die ideologischen Fehler des
Stalinismus zu führen.
Gerhard Zwerenz kritisierte in seiner Rede den stalinistischen Personenkult
als Zersetzungselement für die gesamte sozialistische Lyrik. Seiner
Auffassung nach seien die Dichter durch die stalinistischen Repressionen
„zum Schweigen oder zur Lüge“90 gezwungen worden. Dies waren
progressive und provokante Thesen, die etablierte Lyriker der DDR erregen
sollten.
Obwohl die publizistischen Arbeiten von Just und Harich sowie die
Diskussionsanregungen auf dem II. Kongress Junger Künstler zu einer
Steigerung der Konfliktbereitschaft unter Intellektuellen und Schriftstellern
beitrugen,91
entwickelte
sich
daraus
kein
gemeinsames
politisches
Engagement für einen umfassenden Revisionismus in der publizistischen
Öffentlichkeit der DDR. Das lag zum einen daran, dass es sich bei der Gruppe
um Just und Harich nicht um einen konfrontativen Widerstand handelte. Ihrem
Selbstverständnis nach agierten sie als „erhabene(…) Genosse(n)“92, die eine
systemimmanente Diskussion anregen wollten – dies war eine der Lehren, die
Oppositionelle aus dem 17. Juni 1953 zogen. Zum anderen fehlten dieser
Opposition weitere Oppositionelle, die die Reformbereitschaft öffentlich trugen
und zu einer schichtenübergreifenden, gesellschaftumfassenden Opposition
anregten. Die etablierten Schriftsteller der DDR, die dazu in der Lage
gewesen wären, zögerten allerdings verstört und ließen die Chance des
Revisionismus ungenutzt.93
89
Dokument 132. Diskussionsbeitrag Heinz Kahlaus auf dem II. Kongreß Junger
Künstler. 27. Juni 1956, Auszug, in Schubbe 1972, S. 438 – 439, hier: S. 438.
90 Dokument 133. Gerhard Zwerenz‘ Verteidigung von Heinz Kahlau gegen die Kritik
aus Kreisen des Schriftstellerverbandes und der SED wegen dessen Rede auf dem II.
Kongreß Junger Künstler in Chemnitz. Juli 1956, Auszug, in Schubbe 1972, S. 439 –
440, hier: S. 440.
91 Vgl. Meuschel, S. 157.
92 Just, S. 155.
93 Vgl. Meuschel, S. 152ff.
16
Unmittelbar nach dessen Tod trauerten viele Schriftsteller öffentlich um Stalin.
In der Zeitschrift „Sinn und Form“ gelobten unter anderem Johannes R.
Becher, Bertolt Brecht, Willi Bredel, Anna Seghers, und Anold Zweig „die
Lehren Stalins zu verwirklichen und ihm, dem Genius des Friedens, die Treue
zu halten“94. Bertolt Brecht, im Nationalsozialismus noch einer der schärfsten
Kritiker des „Führerkultes“,95 verehrte Stalin als Hoffnungsträger der
„Unterdrückten von fünf Erdteilen“96. Die Chruschtschow-Rede sowie die
öffentlichen Debatten der Revisionisten bezüglich der Verbrechen Stalins
erschütterten dieses Stalin-Bild nachhaltig. Dies löste unter den Schriftstellern
Verwirrungen und Resignation aus. So gab Willi Bredel zu, an den „bekannt
gewordenen Tatsachen schwer zu tragen“97 gehabt zu haben, die „tragischen
Fehler des Genossen Stalin“98 seien ihm „schwer zu Herzen gegangen.“99
Dennoch schlossen sich die Schriftsteller der Revisionismuskampagne nicht
an. Insbesondere der DDR-Gründungsmythos des Antifaschismus wirkte auf
viele Schriftsteller als ein Wahrheitsmonopol der Partei. So äußerte sich Armin
Müller: „Ich kam blind aus der Vergangenheit, erlebte voller Hoffnung die
Veränderungen, erlebte sie aktiv. (…) Ich machte mit und war der festen
Überzeugung, dem Neuen durch meine Verse zu dienen.“100 Die Aussicht,
nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus in einem Staat der politischen
und moralischen Erneuerung zu leben, der zudem im Gegensatz zur
Bundesrepublik versprach, „Lehren aus der Geschichte zu ziehen“101 um den
Faschismus zu überwinden, verpflichtete viele Schriftsteller weiterhin zur
Kooperation mit der SED. Der Romancier Victor Klemperer war bereits 1945
davon überzeugt, die KPD „allein drängt wirklich auf radikale Ausschaltung
der Nazis.“102 Obwohl Klemperer sich nie einer bestimmten Partei verpflichtet
fühlte, hielt er die Zeit für gekommen, „um wohl Farbe (zu) bekennen.“103 Der
Antifaschismus wirkte als Legitimationsspender derart überzeugend auf den
94
Z. n. Rüther, S. 73.
Erinnert sei an das Gedicht „Der Kälbermarsch“ in: Bertolt Brecht, Gesammelte
Gedichte, Band 4. Frankfurt 1978, S. 1219f.
96 Z. n. Jäger, S. 66.
97 Dietrich Staritz, Geschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1985,
S. 147.
98 Ebd.
99 Ebd.
100 Z. n. Jäger, S. 78.
101 Z. n. Meuschel, S. 31.
102 Victor Klemperer, Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember
1945, Berlin 1996, S. 186f.
103 Ebd.
95
17
Schriftsteller, dass für ihn ein Parteilosbleiben einer „Feigheit“104 gleichkäme.
Ähnlich begründete Christa Wolf ihren Beitritt in die FDJ. Die Schriftstellerin
wünschte
sich
Teilhabe
an
Veränderungsprozessen
nach
den
desillusionierenden Erfahrungen des Nationalsozialismus. Der Antifaschismus
der SED bot ihr dafür Möglichkeiten. Die Partei war ihrer Auffassung nach
„genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland
geschehen war. Und ich wollte genau das Gegenteil.“105 Das legitimatorische
Potential des Antifaschismus wirkte derart überzeugend auf Wolf, dass sie
überzeugt war, „ein für alle Mal im Mitbesitz der einzig richtigen, einzig
funktionierenden Wahrheit zu sein.“106
Die Enthüllungen über Stalin bildeten für die Schriftsteller dennoch eine Zäsur
zentraler Ideologiefragen, die desillusionierende Demontage des „Genius des
Friedens“ schien die teleologische Erfolgsgeschichte des Kommunismus
zumindest
zu
unterbrechen.
Dies
führte
zu
einer
ideologischen
Glaubenskrise.107 Auf diese antwortete die SED-Führung mit dem Ausruf der
„sozialistischen Kulturrevolution.“
c. Kulturpolitische Reaktion: sozialistische Kulturrevolution
Konstitutiv für den Aufbau des Sozialismus war, neben einem stabilen
Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft der SED, die
Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins der Bevölkerung. Nach der
marxistisch-leninistischen Theorie umschreibt der Begriff sozialistisches
Bewusstsein eine „soziale Erscheinung“108 und zielt auf die praktische
Mobilisierung und ideologische Ausrichtung einer gesamten Klasse auf den
Sozialismus ab. Weiterhin umschreibt der Begriff die Selbstwahrnehmung aller
Mitglieder einer sozialistischen Gesellschaft als Teilnehmer der progressiven
Entwicklungsgeschichte des Sozialismus.109 Grundlegende Voraussetzung für
die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins ist das Vorhandensein
104
Ebd.
Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie, Berlin 2002, S. 43.
106 Ebd., S. 44.
107 Vgl. Erhart Neubert, Systemgegnerschaft und systemimmanente Opposition – ein
Paradigmenwechsel 1956? In: Thomas Großbölting und Hermann Wentker (Hrsg.)
Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, S. 347 – 361,
hier: S. 352.
108 Alfons Kahsnitz, Gesellschaftliche Perspektive – Sozialistisches Bewußtsein. Zur
Leitung ideologischer Prozesse, Berlin 1971, S. 13.
109 Vgl. ebd., S. 10.
105
18
sozialistischer
Produktionsverhältnisse.
Das
Aufbrechen
der
Klassenstrukturen des Kapitalismus ermögliche es den Werktätigen, sich
gleichzeitig als Produzenten und gesellschaftliche Eigentümer zu verstehen.
Das sozialistische Bewusstsein kann demnach als ideelles Konzept zur
kollektiven Disziplinierung der Arbeiterklasse verstanden werden. Der
Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 war demzufolge nicht nur ein Beleg für
fehlenden
Legitimationsglauben
der
Arbeiter
in
die
charismatische
Parteiherrschaft. Gleichzeitig wurde der SED klar, dass sie die Ausbildung des
sozialistischen Bewusstseins in der Arbeiterklasse überschätzte.
Der Glauben der Schriftsteller in die Überlegenheit des Sozialismus
gegenüber dem kapitalistischen Gesellschaftssystem stand hingegen trotz der
Entstalinisierungsdebatten nicht zur Disposition. Wie oben erläutert, hielten
sich viele Schriftsteller in den Debatten um eine Revision des Stalinismus
zurück. Diese Zurückhaltung rühmte ZK-Mitglied Kurt Hager, der die
Schriftsteller weiterhin als „aktive Erbauer(…) des Sozialismus“110, die
„unverbrüchlich mit (…) dem Arbeiter- und Bauern-Staat verbunden sind“111
feierte. Die Bindungskräfte der Schriftsteller an den Sozialismus wirkten auch
nach den Debatten um die Verbrechen Stalins.112 Insbesondere die
theoretischen Alternativen des sozialistischen Staates – Antifaschismus als
Gründungsmythos,
die
Lehre
des
Sozialismus
als
gesetzmäßige
Höherentwicklung der Klassengesellschaft des Kapitalismus, der Glaube an
eine gerechte und konfliktfreie klassenlose Gesellschaft – wirkten als
„Bonus“113 für einen Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft der
SED.
Dennoch
befürchtete
die
Partei
„ideologische
Schwankungen“114
der
Schriftsteller, wie der stellvertretende Kulturminister Alexander Abusch auf der
Kulturkonferenz
der
SED
im
Oktober
1957
erklärte.
Das
doppelte
Machttrauma ließ die Partei an der inneren Verbundenheit der Schriftsteller
110
Dokument 153. Sozialistische Orientierung im Kulturbund. Rede Kurt Hagers auf
dem 32. Plenum des ZK der SED, 10. Bis 12. Juli 1957, Auszug, in: Schubbe 1972, S.
478 – 483, hier: S. 478.
111 Ebd.
112 Vgl. Guntolf Herzberg, Nachbesserung des Sozialismus oder Wie der Status quo
gefestigt wurde, in: Roger Engelmann, Thomas Großbölting, Hermann Wentker
(Hrsg.), Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen,
Göttingen 2008, S. 363-371, hier: S. 366.
113 Herzberg, S. 366.
114 Dokument 159. Im ideologischen Kampf für eine sozialistische Kultur – Die
Entwicklung der sozialistischen Kultur in der Zeit des zweiten Fünfjahresplanes. Rede
Alexander Abuschs auf der Kulturkonferenz der SED, 23. Oktober 1957, Auszug, in:
Schubbe 1972, S. 489 – 495, hier: S. 489.
19
mit der SED zweifeln. Abusch diagnostizierte eine wachsende innere Distanz
zwischen SED-Führung und Schriftstellern.115 Ähnlich argumentierte Paul
Fröhlich, der den Schriftstellern vorwarf, ihre „Windstille“116 hätte zu
„bürgerlichen Ausrichtungen in der Literatur“117 geführt.
Die SED-Führung reagierte auf diese „ideologischen Schwankungen“ der
Schriftsteller in der Folge mit einer Mischung aus propagandistischer
Betonung der Bindungskräfte und aggressiver Einschüchterungsrhetorik.
Abusch forderte die Schriftsteller auf, sich ihrer „ideoloische(n) Klarheit“118
Bewusst zu werden und warf den Schriftstellern „Schützenhilfe für die
westlichen Imperialisten“119 vor. Damit bezichtigte er die Schriftsteller, eine
angebliche Konterrevolution nicht entschieden verhindern zu wollen.
Gemäß der sozialistischen Kulturtheorie hatten die Schriftsteller offiziell die
Aufgabe, „der Marschrichtung des politischen Kampfes zu folgen“120, wie Otto
Grotewohl erklärte. Es galt dessen Lehrsatz: „Was sich in der Politik als richtig
erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst.“121 Kultur hatte in dieser Phase der
DDR nach Vorstellung der SED-Führung eine Wegbereiter-Funktion und sollte
„Impulse
und
Energien“122
zur
sozialistischen
Erziehung
beitragen.
Schriftsteller galten seit Stalin als „Ingenieure der Seele“, die in ihren Werken
zur Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der Arbeiter beitragen
sollten. Allerdings erklärte Stalin, das sozialistische Bewusstsein bliebe,
solange es als Idee keine Verbreitung im Proletariat fände, als Phrase
wirkungslos.123 Nötig sei vielmehr eine gemeinsame Entwicklung, eine
Verschmelzung zwischen Intellektuellen und Proletariat – dies war der Grund
für die SED, Schriftsteller in die Betriebe zu schicken. Um diese Aufgaben im
Sinne
der
Parteiführung
erfüllen
zu
können,
war
ein
stabiler
Legitimationsglauben der Schriftsteller in die Parteiherrschaft Voraussetzung.
Da die Partei jedoch „ideologische Schwankungen“ befürchtete, erhob sie den
115
Vgl. Ebd.
Dokument 154. Kühner und mutiger im ideologischen Kampf. Diskussionsbeitrag
Paul Fröhlichs auf dem 32. Plenum des ZK der SED vom 10. Bis 12. Juli 1957, in:
Schubbe 1972, S. 483 – 484, hier: S. 483.
117 Ebd.
118 Dokument 159, S. 490.
119 Ebd.
120 Z. n. Jäger, S. 31f.
121 Z. n. Rüther, S. 39.
122 Dokument 115. Zehn Jahre Befreiung – zehn Jahre kultureller Aufstieg. Rede Otto
Grotewohls auf der „Dresdner Kundgebung der Kulturschaffenden“, 24. Juni 1955,
Auszug, in: Schubbe 1972, S. 371 – 380, hier: S. 379.
123 Vgl. Iosif V. Stalin, Antwort an den „Sozialdemokrat“, in: Ders. (Hrsg.), Werke,
Band 1, 1901 – 1907, Berlin 1953, S. 138 – 149, hier: S. 140.
116
20
Anspruch, Literatur ebenso planen und steuern zu können, wie die Ökonomie.
Das Gesetz über den zweiten Fünfjahresplan aus dem Jahr 1958 erhielt unter
Paragraph 15 die Forderung, die Bücherproduktion „den wachsenden
kulturellen Bedürfnissen der Arbeiter, Werktätigen, Bauern und Angehörigen
der Intelligenz“124 anzupassen. Nach dem Selbstverständnis der Avantgarde
der Partei steuerte diese die „sozialistische Umgestaltung aller Gebiete des
Lebens“125 und übte somit zwangsläufig eine „führende Rolle auf dem Gebiete
der Kultur“126 aus.
Zu Anfang des Jahres 1955 unternahmen die SED-Machtinhaber den
Versuch, den Schriftstellern vorzuschreiben, welche Stoffe und Themen in
ihren Werken verarbeitet werden sollten. Allerdings taten sie dies zu diesem
Zeitpunkt codiert, in einem Dokument von geplanter Authentizität, dem
„Offene(n) Brief“ der Werktätigen des VEB Braunkohlewerk Nachterstedt.127
Günther Rüther wertet dieses Dokument als Äußerungen der SED-Führung,
welche diese „sich selbst noch nicht wieder zu fordern getraute.“128 Wolfgang
Emmerich interpretiert den Nachterstedter Brief gar als von der Partei
inszenierte „dringliche Aufforderung an die Berufsschriftsteller.“129 In dem Brief
forderten die Unterzeichner die Schriftsteller auf, sich „ihrer großen
Verantwortung bewußt“130 zu werden. Die Autoren verlangten mehr Literatur,
die sich mit den praktischen Problemen und Erfolgen des sozialistischen
Aufbaus in den Produktionsstätten befasste. Der Brief vereinte kulturpolitische
Ideen und Forderungen der „Aufbau-Literatur“131 mit progressiven Appellen an
die Schriftsteller, ihre Schreibstuben zu verlassen, um den betrieblichen Alltag
kennenzulernen und um zum Aufbau des sozialistischen Bewusstseins der
Arbeiter beizutragen: „(…) kommen Sie in unsere volkseigenen Betriebe, dort
finden Sie (…) die vielseitigsten Typen und Konflikte, dort zeigt sich, wie
interessant und reich das Leben der arbeitenden Menschen geworden ist.“132
In diesen Formulierungen klang zudem der Vorwurf mit, die Schriftsteller
hätten sich dem gesellschaftlichen Leben der Werktätigen enthoben. Damit
124
Dokument 166. Gesetz über den zweiten Fünfjahresplan zur Entwicklung der
Volkswirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik für die Jahre 1956 bis
1960. 9. Januar 1958, Auszug, in: Schubbe192, S. 516 – 517, hier: S. 516.
125Dokument 161, in: Schubbe 1972, S. 496.
126 Ebd.
127 Dokument 109. Offener Brief an unsere Schriftsteller. „Nachterstedter Brief“, 27.
Januar 1955, in: Schubbe 1972, S. 350 – 352.
128 Rüther, S. 74.
129 Emmerich, S. 128.
130 Dokument 109, in: Schubbe 1972, S. 351.
131 Vgl. Emmerich, S. 113ff.
132 Dokument 109, in: Schubbe 1972, S. 351.
21
kann der Nachterstedter Brief als Prolog des V. Parteitages der SED gedeutet
werden und stellte die Weichen für die dort ausgerufene „sozialistische
Kulturrevolution“. Mit dem Nachterstedter Brief warf die SED-Führung den
Schriftstellern vor, in ihrer ideologischen Entwicklung zu stagnieren und den
Anforderungen der sozialistischen Revolution nicht genügen zu können.
Auf dem V. Parteitag rief die Parteiführung die „Kulturrevolution“ aus, um „die
noch vorhandene Trennung von Kunst und Leben, die Entfremdung zwischen
Künstler und Volk zu überwinden“.133 Auf diesem Parteitag forderte das ZK die
Schriftsteller erneut auf, Partei zu ergreifen und ihr „Schaffen in den Dienst
des sozialistischen Aufbaus“134 zu stellen. Damit erhöhte die Partei den
öffentlichen Druck auf die Schriftsteller, legitimationsfördernde Literatur zu
verfassen.
Nach marxistisch-leninistischer Theorie ist die Kulturrevolution integraler
Bestandteil der sozialistischen Revolution. Lenin ging davon aus, dass die
sozialistische Revolution – verstanden als Umsturz der politischen und
gesellschaftlichen Ordnung des kapitalistischen Systems – von einer
kulturellen Revolution begleitet und ermöglicht würde.135 Als die SED-Führung
auf dem V. Parteitag die Kulturrevolution ausrief, musste sie dennoch
ideologische Leerstellen der marxistisch-leninistischen Theorie auffüllen. Marx
vermied es, konkrete Ausführungen betreffend des Verhältnisses von Kultur
und Revolution zu formulieren.136 Allerdings definierten Marx und Engels
Stufen der kulturellen Entwicklung der nachkapitalistischen Gesellschaft.
Diese
theoretischen
Ausführungen
umschrieben
die
semantischen
Veränderungen des Begriffs Arbeit, welche durch den Übergang zum
Kommunismus zu romantisch verklärter Selbstverwirklichung mutierte. Marx
nahm an, dass im Zuge der Kulturrevolution die Trennung von körperlicher
und geistiger Arbeit aufgehoben würde.137
Auch die in der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren durchgeführte
Kulturrevolution gab den SED-Kulturplanern lediglich Ansatzpunkte dafür, wie
ein kultureller Umsturz in der DDR auszusehen habe. Die kulturellen
133
Dokument 180. Beschluß des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands. 10. Bis 16. Juli 1958, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 538 – 539, hier: S.
539.
134 Dokument 161. Für eine sozialistische Kultur – Die Entwicklung der sozialistischen
Kultur in der Zeit des zweiten Fünfjahresplanes. Thesen der Kulturkonferenz der SED,
23. Und 24. Oktober 1957, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 496 – 507, hier: S. 497.
135 Vgl. Gransow, S. 31.
136 Vgl. ebd.
137 Vgl. Gransow, S. 32.
22
Voraussetzungen waren zu
verschieden,
um
die kulturrevolutionären
Methoden und Pläne der Bolschewiki unverändert auf Ostdeutschland
übertragen zu können. Den Bolschewiki ging es in ihrer Kulturrevolution
darum, Sprache, Bräuche, Feste und Rituale zu standardisieren, um die
Menschen an die neue sozialistische Ordnung zu binden.138 Insbesondere die
ethnische und religiöse Vielfalt der Sowjetunion behinderte eine staatlich
geprägte Organisation des Alltags der Menschen. Die unterschiedlich
ausgeprägten religiösen Bräuche der in der Sowjetunion lebenden Schiiten,
Juden und orthodoxen Christen schlossen den sozialistischen Staat aus.
Zudem
war
die
sowjetische
Alphabetisierungskampagne,
um
die
Kulturrevolution
„erfundenen
primär
Traditionen“139
eine
des
Sozialismus zu verbreiten.
Die SED verengte diesen sehr weiten Kulturbegriff der sowjetischen
Kulturrevolution und richtete ihren Modus der Kulturrevolution stark auf die
Literatur aus. Als auf die Situation der DDR Ende der fünfziger Jahre
übertragbar
erwies
sich
hingegen
die
Vorstellung,
Menschen
durch
„Aufklärung und Beseelung“140 zu klassen- und sozialismusbewussten
Proletariern weiterzuentwickeln. Dies war bereits die zentrale Idee des
Nachterstedter Briefs.
Lenin hielt es für möglich, dass es zu Austauschprozessen zwischen
Schriftstellern und Arbeitern während des Erziehungsprozesses käme. So
deutete Lenin die Mitarbeit der Werktätigen in den Sowjets als Möglichkeit
dafür, die gemäß der Theorie der zwei Kulturen weiterhin durch bürgerliche
Kultur- und Wertvorstellungen geprägten Schriftsteller ebenso „ummodeln,
umwandeln, umerziehen“141 zu können, wie die Arbeiterklasse. Lenin deutete
Kulturrevolution demnach in zwei Richtungen. Dies mündete in einem Appell
an die Arbeiter: „Wir müssen von der gesamten Kultur Besitz ergreifen, die der
Kapitalismus hinterlassen hat (…).“142 Dieses Konzept schien Walter Ulbricht
derart attraktiv zu sein, dass er in nahezu unverändertem Wortlaut, aber
angereichert mit militaristischer Klassenkampfrhetorik, auf dem V. Parteitag
forderte: „In Staat und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits der
138
Vgl. Baberowski, S. 100.
Vgl. Eric Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen, in: Christoph Conrad, Martina
Kessel (Hrsg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart
1998, S. 97-118.
140 Baberowski, S. 96.
141 Vladimir I. Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus,
Berlin 1970, S. 103.
142 Gransow 32.
139
23
Herr. Jetzt muß sie auch die Höhen der Kultur erstürmen und von ihnen Besitz
ergreifen.“143
Aus diesen Versatzstücken kreierte die SED den Modus ihrer Kulturrevolution,
bei der es weniger um einen Umsturz der ästhetischen Perspektive der
sozialistischen Kunst, „als vielmehr um die Klärung ideologischer Fragen“144
ging, wie der Leiter der Kulturkommission des ZK der SED, Alfred Kurella, in
seinem Diskussionsbeitrag zugab. Die Kulturrevolution war von oben initiiert
und von der Parteiführung in Modus, Methode und Zielsetzung durchgeplant.
Sie ging auf in einem praktischen Umsetzungsversuch, dem „Bitterfelder
Weg“.
III.
Kulturpolitische Leitideen des Bitterfelder Weges
a. Der Bitterfelder Weg als Realisierung der sozialistischen
Kulturrevolution
Am 24. April 1959 tagte in Bitterfeld eine erweiterte Autorenkonferenz des
Mitteldeutschen Verlags. An der Konferenz nahmen neben Schriftstellern auch
Brigademitglieder der ersten sozialistischen Brigade, der Nikolai Mamai des
Elektrochemischen
Kombinats
Bitterfeld,
sowie
führende
Partei-
und
Gewerkschaftsmitglieder teil. Der Tagungsort Bitterfeld war nicht zufällig
gewählt, sondern symbolisierte als eine der technisch modernsten Anlagen
der DDR den Anspruch, in naher Zukunft die Bundesrepublik überholen, ohne
sie ein-holen zu wollen.
Mit dem Kulturprogramm Bitterfelder Weg erhob die SED den Anspruch,
gemäß
der
marxistischen
Theorie
der
Kulturentwicklung
einer
nachkapitalistischen Gesellschaft die Trennung von Kopf- und Handarbeit
aufzuheben und die letzten aus der kapitalistischen Ordnung übernommenen
bürgerlichen Wertvorstellungen der Kunstschaffenden zu revidieren. Der
Slogan „Greif zur Feder Kumpel, die sozialistische Nationalliteratur braucht
Dokument 178. Einige Probleme der Kulturrevolution. Referat Walter Ulbrichts „Der
Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt
Deutschlands als friedliebender demokratischer Staat“ auf dem V. Parteitag der SED,
10. Bis 16. Juli 1958, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 534 – 536, hier: S. 536.
144 Dokument 179. Diskussionsrede Alfred Kurellas auf dem V. Parteitag der SED. 10.
Bis 16. Juli 1958, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 536 – 538, hier: S. 537.
143
24
dich!“145 sollte Arbeiter nicht nur dazu animieren, in den Schreibzirkeln der
Brigaden als Kunstproduzenten selbst tätig zu werden. Gleichzeitig vermittelte
die SED das Gefühl von Gleichberechtigung von Berufs- und Laienkunst. Dies
entwertete einerseits die Tätigkeit der Berufs-Schriftseller und hob gleichzeitig
die
Arbeiter
kulturell
empor.
Eines
der
bedeutenden
Ziele
aller
kommunistischen Parteien, die Klassenlose Gesellschaft, schien damit
zumindest auf der Ebene der Kultur greifbar nahe. Diese Vermittlung einer
egalitären Kulturgesellschaft war konstitutiv für den Bitterfelder Weg. Zudem
waren die damit transportierten Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen
nach Sigrid Meuschel systemspezifische Werte für die Entwicklung von
Loyalität und Legitimationsglauben.146
Das
Ziel
dieser
offiziell
„Literaturgesellschaft“
147
von
Johannes
R.
Becher
getauften
bestand darin, eine sozialistische Nationalliteratur
von „Weltniveau“148 zu konstruieren, um „auf allen Gebieten der Kultur die
absolute Überlegenheit gegenüber Westdeutschland unter Beweis [zu]
stellen.“149 Diese sozialistische Nationalliteratur war der gezielte Versuch einer
„organischen Verbindung“ zwischen Arbeitern und Literaten, und sollte aus
einer
kulturellen
Einheitsfront
entwachsen,
um
den
Siegeszug
des
Sozialismus einzuleiten. Um dieses Ziel zu erreichen, definierten die SEDKulturplaner Rollenideale für Literaten und Arbeiter für die Übergangsphase
der sozialistischen Kulturrevolution.
b. Das Autorenideal: Sozialistische Erzieher
Im Kulturprogramm Bitterfelder Weg hatten die Schriftsteller nach Ansicht der
SED-Kulturplaner die Funktion des Mittlers zwischen Parteiinteresse und
145
Z. n. Rüther, S. 86.
Vgl. Meuschel, S. 23.
147 Dokument 121. Von der Größe unserer Literatur. Rede Johannes R. Bechers zur
Eröffnung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses, 9. Januar 1956, Wortlaut des
im „Neuen Deutschland“ veröffentlichten Auszugs, in: Schubbe 1972, S. 395 - 408,
hier: S. 403.
148 Dokument 184. Wege zur sozialistischen Volkskultur. Referat Alfred Kurellas auf
der Tagung der Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED über die
Auswertung des 4. Plenums des ZK, 5. Februar 1959, Auszug, in: Schubbe 1972, S.
544 – 547, hier: S. 545.
149 Dokument 188. Fragen der Entwicklung der sozialistischen Literatur und Kultur.
Rede Walter Ulbrichts vor Schriftstellern, Brigaden der sozialistischen Arbeit und
Kulturschaffenden in Bitterfeld, 24. April 1959, Wortlaut des im „Neuen Deutschland“
veröffentlichten Auszugs, in: Schubbe 1972, S. 552 – 562, hier: S. 555.
146
25
bewusstseinsbildender Erziehung der Arbeiter einzunehmen.150 Alfred Kurella
verstand Literaten als Funktionäre der Arbeiterklasse, die als Einheit in einem
großen
mechanischen
Revolutionsprozess
Hilfestellungen
vermitteln
sollten.151 Nötig sei dafür der Abbau des individuellen Ehrgeizes der
Schriftsteller. Diese Interpretation der Rolle des Schriftstellers ging zurück auf
Lenins Maxime, die literarische Tätigkeit sei ein „Rädchen und Schräubchen“
des Aufbaus des Sozialismus.152 Dies waren Angriffe auf die Autonomie der
Schriftsteller, die sich nicht mehr gemäß bürgerlicher Wertvorstellungen als
Wegweiser zur Emanzipation verstehen sollten,153 sondern erneut dazu
aufgefordert wurden, für die SED Partei zu ergreifen. Ulbricht forderte in
seiner Rede auf der Bitterfelder Konferenz die Schriftsteller auf, als aktive
Begeisterer für den Sozialismus zu wirken.154 Damit unternahm die SED den
gezielten Versuch, ein Idealbild des sozialistischen Schriftstellers zu
entwerfen. Dieses basierte auf der Konzentration auf Themen und Stoffe aus
der Welt der Arbeiter, der Verbreitung sozialistischer Moralvorstellungen zur
Bewusstseinsbildung, der Hinwendung zur Gegenwart des Aufbaus des
Sozialismus sowie der Verpflichtung auf die Methode des „sozialistischen
Realismus“. Nur Autoren, die diesem Ideal entsprächen, könnten die
„Abstandstheorie“ überwinden, der zufolge die Schriftsteller der Lebenswelt
und dem Alltag der sozialistischen Arbeiter enthoben seien, erklärte der
Schriftsteller Erwin Strittmatter.155 Nach Ansicht Strittmatters, der mit „Ole
Bienkopp“ einen der erfolgreichsten Romane des Bitterfelder Wegs verfasste,
behinderten bürgerliche Wertvorstellungen viele seiner Kollegen darin, das
Denken und Fühlen der Arbeiterklasse in ihren Werken angemessen
einzuarbeiten.156 Es sei nun die Aufgabe der Schriftsteller, in die Betriebe zu
gehen, um „selbst an den Brennpunkten der Entwicklung des neuen
150
Vgl. Gabriele Czech, Oliver Müller, Sozialistischer Realismus und DDRLiteraturwissenschaft: Von der Instrumentalisierung bis zum allmählichen Verfall eines
Leitbegriffs, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Das war die DDR. DDR-Forschung im
Fadenkreuz von Herrschaft, Außenbeziehungen, Kultur und Souveränität, Münster
2004, S. 592-609, hier: S. 592.
151 Vgl. Dokument 187. Die Kulturpolitik ist kein „Fachproblem“. Diskussionsbeitrag
Alfred Kurellas auf der 3. Pressekonferenz des ZK der SED in Leipzig, 17. Und 18.
April 1959, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 549 – 552, hier: S. 549.
152 Vgl. Emmerich, S. 43.
153 Vgl. Gerlach, S. 39.
154 Vgl. Dokument 188, in: Schubbe 1972, S. 553.
155
Vgl. Dokument 189. An die Basis – gegen die Selbstzufriedenheit.
Diskussionsbeitrag Erwin Strittmatters auf der Bitterfelder Konferenz, 24. April 1959,
Auszug, in: Schubbe 1972, S. 562 – 564, hier: S. 562.
156 Vgl. ebd, S. 563.
26
Lebens“157 zu arbeiten, wie es Ulbricht formulierte. Die Literaten sollten in die
Kollektive der Brigaden eintauchen, um eine „Verschmelzung“ zwischen den
Lebenswelten zu erzeugen.158
Viele Schriftsteller folgten diesem Aufruf und gingen in die Betriebe, um das
Leben der Arbeiter zu studieren und in ihre Werke einzubinden. Franz
Fühmann verschrieb einen Großteil seines Lebens der Sinnsuche in der
sozialistischen Brigade, um den Zusammenhang zwischen der Arbeit des
Schriftstellers und der industriellen Arbeit zu erforschen.159 Insbesondere die
Suche nach dem Sinn der Tätigkeit des Schriftstellers im Sozialismus
beschäftigte Fühmann mehrere Jahre in einem Bergwerk. Diese Tätigkeit
Fühmanns kann als prototypische Realisierung der Forderung, Schriftsteller
sollten mit der Lebenswelt der Arbeiterklasse verschmelzen, gedeutet werden,
zumal daraus breit angelegte Reportagen des Alltags der Bergmänner
entstanden.160
Allerdings ergaben sich aus der aktiven Begegnung zwischen Schriftstellern
und Arbeitern auch Probleme, welche bei der Planung seitens der SED nicht
bedacht worden waren. Bei Christa Wolf löste die Arbeit in der Brigade
Verwirrung aus. Einerseits vermutete sie, in der Lebenswelt der Arbeiter das
Zentrum des Sozialismus und „die Wirklichkeit des täglichen Lebens“ 161
entdeckt zu haben, wie sie erklärte. Andererseits stellte sie ernüchtert fest,
dass dieser Arbeitsalltag von den romantischen Verklärungen der SEDPropaganda
abwich
und
von
Versorgungskrisen
und
Mängeln
des
Wirtschaftsplans geprägt war. Auch wurde ihr im Betrieb deutlich, dass sie,
obwohl sie „mit vielen neuen Menschen Bekanntschaft, mit manchen
Freundschaft“162 schloss, stets Gast in der Brigade blieb und von den
Arbeitern
auch
stets
als
Schriftstellerin
wahrgenommen
wurde.
Die
propagierte egalitäre Kulturgesellschaft zwischen Arbeitern und Künstlern
spiegelte sich in Wolfs Erfahrungen nicht wider.
Andere Schriftsteller widersetzten sich den Aufforderungen des Bitterfelder
Programms. Anna Seghers erklärte aus Loyalität zwar, die Idee, das Leben
der Arbeiter in den Brigaden zu studieren, sei attraktiv – allerdings beteiligte
157
Dokument 188, in: Schubbe 1972, S. 553.
Vgl. Dokument 191. Das Leben des Volkes – Quelle der sozialistischen Literatur.
Aufsatz von Otto Gotsche, Auszug 1959, in: Schubbe 1972, S. 567 – 576, hier: S.
570.
159 Vgl. Barck, S. 315f.
160 Vgl. Franz Fühmann, Kabelkran und blauer Peter, Rostock 1960.
161 Z.n. Magenau, S. 126.
162 Ebd. S. 124.
158
27
sie sich nicht an der Bitterfelder Konferenz. Zwar interessierte sich Seghers
für die praktische Umsetzung der sozialistischen Planwirtschaft. Dennoch
weigerte sie sich, einen Roman im Stil des Bitterfelder Wegs zu verfassen. Ihr
fehlte die „unbekümmerte Leidenschaftlichkeit“163 für dieses Programm, wie
sie gestand.
Im Arbeiterkollektiv hatten die von Ulbricht getauften „Schriftsteller der neuen
Zeit“164 die Aufgabe, das sozialistische Bewusstsein der Arbeiter auszuprägen
und sozialistische Moralvorstellungen zu verbreiten. Auf dem V. Parteitag der
SED im Juli 1958 formulierte Walter Ulbricht in Konkurrenz zu den christlichen
Geboten einen sozialistischen Moralkodex, um Individualismus und Eigensinn
zu diskreditierten und ein „säkularisiertes Glaubenssystem“165 zu installieren.
Damit unternahm die SED den Versuch, den Legitimationsglauben der
Schriftsteller auf moralisch-pseudoreligiöser Ebene zu stabilisieren. Die
Moralgebote, die Werte wie Achtung der sozialistischen Gesellschaft und
Vaterlandsliebe ebenso einforderten wie Solidarität mit der Arbeiterklasse und
erhöhte
Leistungsbereitschaft,
waren
ein
gezielter
Versuch,
die
Bindungskräfte an die Partei zu stärken. Insbesondere das vierte Gebot, „du
sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt
zu einem besseren Leben (…)“166 sollte durch Betonung der Überlegenheit
des Sozialismus zu größerer Systemtreue animieren. Der sozialistische
Moralkatalog, der in alle individuellen und gesellschaftlichen Bereiche
eingriff,167 definierte zugleich ein Verhaltensideal, das Protest gegen die
sozialistische Ordnung wie am 17. Juni 1953 als individualistischen und
unmoralischen Verstoß gegen verpflichtende Glaubensgrundsätze geißelte.
Die SED nutzte die sozialistischen Moralgebote ebenso wie die Entwicklung
eines
sozialistischen
Bewusstseins
aus
ideellen
Motiven,
um
die
Transformationspolitik zu beschleunigen. Der Sozialismus geriet damit in der
offiziellen Parteipropaganda in greifbare Nähe, was den Legitimationsglauben
der Schriftsteller stärkte.168 Nach Ansicht Alexander Abuschs sei es die
Aufgabe der Schriftsteller, die moralischen Gebote des Sozialismus in ihre
Z. n. Christiane Zehl Romero, Anna Seghers. Eine Biographie 1947 – 1983, Berlin
2003, S. 190.
164 Dokument 188, in: Schubbe 1972, S. 555.
165 Meuschel, S. 178.
166 P 12: „Du sollst… - Die zehn Gebote der sozialistischen Moral. Juli 1958, in:
Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne
Materialien und Alltagszeugnisse, Bonn 1998, S. 54.
167 Vgl. Meuschel, S. 79.
168 Vgl. ebd., S. 169.
163
28
Texte einzuweben und zu verbreiten.169 Damit definierte Abusch die Tätigkeit
der Schriftsteller als Vermittler einer legitimationsfördernden Ethik und die
Literatur zu einem Medium zur Machtsicherung der Herrschaftssicherung der
SED.
Die Anforderung an die Schriftsteller, in ihren Texten zur Verbreitung
sozialistischer Moralvorstellungen beizutragen, korrespondierte mit der
stalinistischen Vorstellung vom Autor als „Ingenieur der menschlichen Seele“.
Für den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft und den Aufbau des
Sozialismus war das Menschenbild des durch moralische und ideologische
Erziehung formbaren Arbeiters konstitutiv.170 So sollten die Schriftsteller nicht
nur in die Betriebe gehen, um in die Lebenswelt der Arbeiter einzudringen,
sondern auch, um diese durch sozialistische Erziehung und politische
Massenarbeit zu gestalten. Darunter verstanden die SED-Machthaber nach
Parteiideologie
geplante
Kulturveranstaltungen
in
den
Brigaden
zur
sozialistischen Erwachsenenbildung. Konkret waren damit die Organisation
von Tanzabenden, die Gründung von Laienspielgruppen und Werk-Chören,
sowie die Einrichtung von Betriebsbibliotheken umschrieben.171
Die von der SED-Führung stets geforderten Betriebsromane boten die
Möglichkeit, die Arbeiterklasse und ihren Alltag als das „Subjekt der
Geschichte“ in den Mittelpunkt der bürgerlichen Hochkultur in Tradition des
Humanismus zu setzen. Dennoch erscheint es paradox, dass die SEDFührung die Schriftsteller als moralische Erzieher in die Brigaden schickte,
obwohl hohe Kulturfunktionäre wie Alexander Abusch ihnen nur wenige Jahre
zuvor noch „ideologische Schwankungen“ vorwarfen.
Annette Schuhmann, die in ihrer Studie den FDGB als Verantwortungsträger
der betrieblichen Kulturarbeit der DDR interpretiert, erklärt dieses Paradox als
Folge einer dauerhaften Überforderung des FDGB mit der Organisation der
Kulturarbeit in den Brigaden. Schuhmann stützt diese Deutung auf Aussagen
des Sekretärs und Präsidiumsmitglieds des FDGB, Egon Rentzsch, der 1956
die „Vernachlässigung der Kulturarbeit der Betriebe in der Zeitschrift „Tribüne“
kritisierte.172
Seiner
Auffassung
nach
169
zeichnete
sich
die
kulturelle
Vgl. Dokument 152. Es gibt nur eine Kulturpolitik. Rede Alexander Abuschs auf
dem 32. Plenum des ZK der SED, 10. Bis 12. Juli 1957, in: Schubbe 1972, S. 473 –
478, hier: S. 476.
170 Vgl. Mühlberg 1994, S. 69.
171
Vgl. Annette Schuhmann, Kulturarbeit im sozialistischen Betrieb.
Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/DDR 1946 bis 1970, Köln 2006, S.
13.
172 Vgl. ebd., S. 89.
29
Massenarbeit
durch
Aufgabenstellung
und
einen
„untragbaren
Verwirklichung,
Widerspruch
zwischen
den
zwischen
vorhandenen
Möglichkeiten und ihrer Ausnutzung, zwischen den bereitstehenden Mitteln
und ihrer Verwendung“173 aus. Neben Organisationsmängeln und materiellen
Problemen sah sich Rentzsch in seiner Arbeit einer mangelnden Akzeptanz
seitens der Arbeiter ausgeliefert. Zudem kritisierte er Probleme der
inhaltlichen Durchführung der an den FDGB gestellten Ansprüche zur
politischen Massenarbeit.174 Demzufolge erhofften sich die SED-Funktionäre
durch den Einsatz von Schriftstellern als Leiter der Zirkel der schreibenden
Arbeiter die Attraktivität der kulturellen Massenarbeit in den Brigaden zu
steigern und mehr Arbeiter an diese „Vergesellschaftungskerne“ zu binden.
Dennoch erhöhte die SED den ideologischen Druck auf die Schriftsteller, um
sicherzustellen, dass diese ihre Erziehungsarbeit im Sinne der Partei
ausführten. In einem Bericht an den V. Parteitag forderte das ZK bereits 1958
eine verstärkte ideologische Offensive, um bei allen Kulturschaffenden
„Klarheit (…) zu schaffen“.175 Nachdem Just und Harich 1956 den Versuch
unternahmen, in der Zeitschrift Sonntag die in Polen und Ungarn öffentlich
geführte Entstalinisierungsdebatte auf die DDR zu übertragen, forderte die
SED die Schriftsteller auf, solche rückwärtigen Fehlerdiskussionen zu
unterlassen. Ulbricht erinnerte die Schriftsteller bereits im Januar 1957 daran,
den Fokus auf die Realisierung der Utopie des Sozialismus zu setzen, da dies
das einzig legitime Arbeitsfeld für Literaten sei.176 Die SED-Führung schreckte
die Schriftsteller zudem mit öffentlichen Schauprozessen ab, in denen Just
und Harich zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden.177 So erklärte
Alexander Abusch auf der Sitzung des Präsidialrates des Kulturbundes, „das
Positive in der Entwicklung seit dem Sommer 1956“178 bestünde darin, die
Schriftsteller auf die Probleme und Erfolge des Aufbaus des Sozialismus zu
verpflichten. Dies galt in besonderem Maße für die Literatur des Bitterfelder
173
Schuhmann, S. 89f.
Vgl. ebd., S. 90.
175 Dokument 177. Bericht des
Zentralkomitees an den V. Parteitag der
Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 10. Bis 16. Juli 1958, Auszug, in:
Schubbe 1972, S. 533.
176 Vgl. Dokument 142. Zum Kampf zwischen dem Marxismus-Leninismus und der
Ideologie der Bourgeoisie. Referat Walter Ulbrichts auf dem 30. Plenum des ZK der
SED, 30. Januar 1957, Auszug, in: Schubbe1972, S. 452.
177 Vgl. Schroeder, S. 137.
178 Dokument 144. Demokratisierung der Kultur. Rede Alexander Abuschs auf der
Sitzung des Präsidialrates des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung
Deutschlands am 22. Februar 1957, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 455 – 460, hier: S.
455.
174
30
Wegs, die der Zukunft zugewandt sein sollte und wenigstens in der politischen
Vermittlung
eine
egalitäre
Klassenlose
Gesellschaft
vorwegzunehmen
versprach.
Ein weiteres kulturpolitisches Mittel zur Erhöhung des Anpassungsdrucks auf
die Schriftsteller bestand in der Forderung nach einer konsequenten
Umsetzung der verpflichtenden Methode des sozialistischen Realismus.179
Der Terminus sozialistischer Realismus wurde 1934 von Stalin geprägt und
umschrieb die komplette ideologische Ausrichtung der Kunst auf eine von
oben verordnete Methode.180 Nach Stalin ging es bei der Einführung des
sozialistischen
Realismus
um
die
Etablierung
einer
zentralisierten,
bürokratisierten und funktionalisierten Literatur. Stalin legte damit sowohl den
Inhalt der Literatur (sozialistisch) als auch die äußere Form (realistisch) fest.
Die Verpflichtung auf den sozialistischen Realismus schloss künstlerische
Spontaneität, Individualismus und Kreativität aus und sollte Literaten zur
Uniformität zwingen. Jede Abweichung geißelte die Partei als dekadenten
Formalismus. Diese Kunst nach Bauprinzip verurteilten in der DDR sowohl
Literaten als auch Literaturwissenschaftler. Stefan Heym verurteilte den
sozialistischen Realismus als Ursache für eine hölzerne Primitivität der
Gegenwartsliteratur der DDR.181 Der Germanistikprofessor Hans Mayer
erklärte die Verpflichtung auf den sozialistischen Realismus gar als „Theorie
vom möglichen Nutzen schlechter Literatur.“182
c. Das Arbeiterideal: positive Helden und sozialistische
Kultureroberer
Mit dem Bitterfelder Weg unternahm die SED den Versuch, die Arbeiter auf
kulturellem Gebiet zu aktivieren. Neben der sozialistischen Erziehung trugen
die Kulturangebote in den Brigaden zur Sozialisation der Arbeiter bei. In
diesen „Vergesellschaftungskerne(n)“183 ging es neben der sozialistischen
179
Vgl. Dokument 177, in: Schubbe 1972, S. 533.
Vgl. Jäger, S. 35f.
181 Vgl. Rüther, S. 76.
182
Dokument 131. Rede Prof. Hans Meyers auf der Konferenz der
Literaturwissenschaftler in Berlin. 31. Mai 1956, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 437 438, hier: S. 438.
183 Vgl. Martin Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale
Differenzierung, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.),
Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 31 – 61, hier: S. 38.
180
31
Arbeit nach Vorgabe des Wirtschaftsplanes auch darum, sozialistisch zu
arbeiten und zu leben.184 Das sozialistische Leben in der Brigade umfasste
nach Roesler drei Dimensionen.185 Erstens übte das Kollektiv, zu dem auch
Schriftsteller als Brigadepaten gehören konnten, in Verbindung mit den
sozialistischen
Moralgeboten
einen
großen
Einfluss
auf
die
Bewusstseinsbildung und die Arbeitsmoral der Arbeiter aus. Zudem übten die
Brigadekumpel durch gegenseitige moralische Unterstützung in Lebenskrisen
eine seelsorgerische Funktion aus, die zu starken Bindungskräften an die
Brigade führte.
Zweitens verschwand in den Betrieben die Trennung zwischen Wohn- und
Arbeitsort, sodass nach Annette Schuhmann von einer „betriebszentrierten
Organisation“ der Freizeit gesprochen werden kann.186 Die Betriebe
integrierten
bei
ihren
Freizeitangeboten
–
Tanzabende,
Ausflüge,
Familienfeste – stets neben den Arbeitern deren Partner, Familien und
Freunde. Zudem waren die Betriebe Quellen für die Vergabe von Wohnraum
und Urlaubsplätzen, öffneten Zugänge für soziale Dienstleistungen und
wiesen Aufstiegschancen oder materielle Privilegien zu. Diese Korrumpierung
in den Brigaden war ein zentraler Legitimationsspender für die Arbeiter.
Drittens bemühten sich die Brigaden der sozialistischen Arbeit um die
Vermittlung von Kulturgütern. Bereits der Nachterstedter Brief implizierte eine
rege literarische Rezeption in den Betrieben, da angeblich 48% der Kumpel
aus
dem
Braunkohlewerk
„ständige
Leser
der
Bücher
unserer
Betriebsbibliothek“187 gewesen seien. Diese betriebliche Kulturarbeit sollte
durch den Bitterfelder Weg intensiviert werden, da nach Ulbricht die
Hauptaufgabe der Schriftsteller, „die wachsenden kulturellen Bedürfnisse des
Volkes auf einem künstlerisch möglichst hohen Niveau“188 zu befriedigen,
noch nicht erreicht worden sei. Konkret fehlte Ulbricht ein großer
Betriebsroman, der die in den Brigaden der sozialistischen ablaufende
Entwicklung der Arbeiter „zu den fortschrittlichsten Menschen, zum Typ des
sozialistischen Arbeiters“189 in Tradition des Agitprop der Weimarer Republik
unterstützen sollte. Da die Berufsschriftsteller diese Leistung bisher versäumt
184
Vgl. Jörg Roesler, Die Produktionsbrigaden in der Industrie der DDR. Zentrum der
Arbeitswelt? In:
Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.),
Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 144 – 170, hier: S. 145.
185 Vgl. Roesler., S. 152.
186 Vgl. Schuhmann, S. 11.
187 Dokument 109, in: Schubbe 1972, S. 350.
188 Dokument 178, In: Schubbe 1972, S. 535.
189 Dokument 188, in: Schubbe 1972, S. 552.
32
hätten, sollten die Arbeiter in den Schreibzirkeln nun diese Aufgabe
übernehmen, und die „Höhen der Kultur erstürmen“190.
In den Betriebsromanen sollten die Arbeiter als Helden des Sozialismus
gefeiert werden. Im Sinne der Definition des neuen Menschen als einen
universell ausgebildeten und körperlich gestählten Herrscher über Maschine
und Geist sollte damit der betriebliche Alltag, in dem oft Mangelwirtschaft
herrschte, aufgewertet werden. Die Arbeiter waren in dieser Vorstellung
gleichzeitig Subjekt und Objekt der Literatur des Bitterfelder Weges. Diesen
Anforderungen entsprach Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ nur bedingt. Ein
Teil der Handlung spielt zwar in einem Waggonbauwerk, allerdings konnte die
Erzählung nur unzureichend als Betriebsroman gelesen werden. Obwohl sich
die Protagonistin Rita in der Erzählung rasch mit ihrer Tätigkeit im Werk
identifiziert, ist sie als angehende Lehrerin erstens eine Frau und zweitens
lediglich eine Arbeiterin auf Zeit, um ihr Studium aufnehmen zu können.
Auch Erwin Strittmatters „Ole Bienkopp“ kann nicht als Betriebsroman gelesen
werden, sondern thematisierte die LPG-Problematik. Dennoch hielt sich
Strittmatter an die Vorgaben eines positiven Helden – ohne dies jedoch
vordergründig zu betonen. So erscheint der Protagonist Ole Bienkopp zu
Beginn des Romans als eigensinnig, ungeduldig und übermütig. Hinter dieser
Fassade konstruierte Strittmatter jedoch einen energiegeladenen und
selbstbewussten Helden, der gegen alle Widerstände traditioneller und
konservativer Bauern eine Bauerngenossenschaft gründet.191
Im „Handbuch für schreibende Arbeiter“192, ein in dritter Person Plural
verfasster Ratgeber, der „Anregungen zur schöpferischen Arbeit und
literarisches Rüstzeug“193 vermitteln sollte, setzten die Herausgeber die
Bewegung der schreibenden Arbeiter in Tradition zum Proletkult der Weimarer
Republik und zu den frühen proletarischen Volksdichtungen des 19.
Jahrhunderts. Die Autoren formulierten damit eine progressive, teleologische
Entwicklungsgeschichte der Bewegung schreibender Arbeiter, welche mit dem
Bitterfelder Weg in der DDR „nach einem Jahrhundert der Unterdrückung, der
Ausbeutung und des Kampfes“194 einen Höhepunkt fand. Die Bitterfelder
Konferenz eröffnete nach Ansicht der Autoren des Handbuchs „eine neue
190
Dokument 178, in: Schubbe 1972, S. 536.
Vgl. Bernhard Mayer-Burger, Entwicklung und Funktion der Literaturpolitik der DDR
(1945 – 1978), München 1984, S. 186ff.
192 Jürgen Bonk, Dieter Faulseit, Ursula Steinhaußen (Hrsg.), Handbuch für
schreibende Arbeiter, Berlin 1969.
193 Ebd., S. 9.
194 Ebd., S. 21.
191
33
Etappe in der Aneignung und Bereicherung der Schätze der Kultur durch die
Arbeiterklasse“.195 Wegweisende Vorbilder seien demnach einerseits die
proletarische, revolutionäre Literatur der KPD, samt Roter Revuen und
klassischer Stücke der Weimarer Arbeitertheater sowie andererseits das
Volkslied „Das Blutgericht“ der schlesischen Weber aus dem Jahr 1844
gewesen. Daraus ergibt sich ein weiteres Paradox des Bitterfelder Wegs:
Einerseits sollte sich die Literatur der schreibenden Arbeiter inhaltlich an
gegenwärtige Probleme und Erfolge des sozialistischen Aufbaus sowie an die
verheißungsvolle
Zukunft
des
„Sieges
des
Sozialismus“
orientieren.
Andererseits sollten sich die Arbeiter dabei an tradierte Formen halten und an
Klassiker der proletarischen Kampfliteratur der Zwischenkriegszeit anknüpfen.
Zudem erscheinen die ausgewählten Beispiele, die eine Orientierung für die
ersten Schreibversuche der Arbeiter boten, problematisch. Das Anknüpfen an
Texte, die den proletarischen Kampf gegen Hunger und Armut in der
Weltwirtschaftskrise der Weimarer Republik thematisierten,196 erschien in
einer Gesellschaft, die sich rühmte, die Klassengegensätze des Kapitalismus
überwunden zu haben, antagonistisch. Zudem mussten diese Texte
Erinnerungen an die Versorgungskrise in den fünfziger Jahren, sowie den
Arbeiteraufstand vom 17. Juni wecken.
Das schlesische Volkslied „Das Blutsgericht“, welches die Autoren des
Handbuchs um entscheidende Stellen gekürzt zitierten, deuteten jene als
Beleg für ein historisch gewachsenes Klassenbewusstsein des Proletariats. In
dem Gedicht beklagen die Weber die Zerstörung ihres traditionellen
Handwerks durch unmoralisch und profitgierig dargestellte Unternehmer,
welche eine Mechanisierung des Webens zur Steigerung der Produktivität und
des Umsatzes durchführten. Dabei verschwiegen die Autoren des Handbuchs
konsequent, dass die Weber sich in dem Text als Vollstrecker einer göttlichen
Gerechtigkeit
wähnten,
die
den
Unternehmern
keinen
proletarischen
Klassenkampf androhten, sondern sie nach christlichen Glaubensgrundsätzen
verurteilten, für ihre Sünden im Jenseits Buße leisten zu müssen. Tradition,
Askese und Religion der Weber bilden in dem Text den zentralen Gegensatz
zu Industrialisierung, Gier und Atheismus der Unternehmer. So unterließen es
die Autoren, die Strophen des Gedichtes abzudrucken, die in der Phase des
offensiven Kirchenkampfes der SED Aktualität besaßen:
„Doch ha! Sie glauben an keinen Gott,
195
196
Ebd., S. 13.
Vgl. ebd., S. 19.
34
Noch weder an Höll‘ und Himmel,
Religion ist nur ihr Spott,
Hält sich ans Weltgetümmel.“197
Dieses Aussparen der christlichen Dimension des Textes war jedoch insofern
konsequent, als Kultur den Wertvorstellungen und der Ideologie der Partei
folgen sollte. Das Anknüpfen an diese konstruierte Traditionslinie sollte den
Arbeitern verdeutlichen, dass sie Teilnehmer und Gestalter eines historischen
Prozesses und vollberechtigte Mitglieder der sozialistischen Kulturgesellschaft
seien. Insofern übte der Bitterfelder Weg eine „kompensatorische Funktion“ 198
aus. Die Zirkel bildeten die Arbeiter darin aus, eine teleologische Geschichte
der proletarischen Literatur fortzuschreiben. Insofern versuchte die SED das
Konzept der Kulturgesellschaft durch Partizipation der Arbeiterklasse zu
legitimieren.
An diesen Anforderungen an die Arbeiter scheiterte der Bitterfelder Weg.
Nachdem die Parteispitze einsehen musste, dass die Arbeiter überfordert
waren,
die
romantische
Vorstellung
eines
im
Betrieb
entstandenen
gesellschaftlichen Betriebsromans zu erfüllen, fokussierte Ulbricht auf der
zweiten Bitterfelder Konferenz im April 1964 kleinere Formen. Auch das 1969
erschienene „Handbuch für schreibende Arbeiter“ sparte Hinweise zum
Verfassen von Romanen aus – dies „hätte den Charakter dieses Handbuchs
überfordert“199 räumten die Autoren ein. Große Bedeutung maß die Partei dem
Brigadetagebuch bei, in das die Arbeiter alles eintragen sollten, was in der
Brigade geschah. Dahinter standen pädagogische Motive.200 Die Arbeiter
sollten im schreibenden Kollektiv erkennen, welche Maßnahmen ergriffen
werden können, um die Produktivität zu steigern. Das Brigadetagebuch kann
damit als ein kulturpolitisches Element des Neuen Ökonomischen Systems
gedeutet
werden.
Den
Arbeitern
wurde
in
Aussicht
gestellt,
durch
ununterbrochenes Wachstum den Lebensstandard Westdeutschlands in
naher Zukunft zu überholen.201
Die SED musste feststellen, dass trotz der staatlichen Förderung und
öffentlichen Aufmerksamkeit keine hochwertige Arbeiterkultur erzwungen
197
Vgl. Das Blutgericht
Gerlach, S. 11.
199 Handbuch, S. 9.
200 Vgl. Gerlach, S. 59.
201 Vgl. Manfred G. Schmidt, Der Wohlfahrts- und Arbeitsstaat – die Sozialpolitik, in:
André Steiner (Hrsg.), Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote
der deutschen Geschichte?, S. 127 – 144, hier: S. 137.
198
35
werden konnte.202 Ester von Richthofen stellt in ihrer Untersuchung der
kulturellen Massenarbeit in den Betrieben fest, dass das Interesse der
Arbeiter,
nach
Feierabend
in
den
betrieblichen
Schreibzirkeln
an
sozialistischer Hochkultur zu arbeiten, gering gewesen sei. 203 Die Zahlen der
aktiven schreibenden Arbeiter sanken demnach stetig, da sich viele Arbeiter
eher nach entspannenden Tätigkeiten in den Brigaden sehnten. Beliebt waren
nach Richthofen gesellige Kartenabende oder gemeinsame Plauderrunden mit
Kaffee und Kuchen, um die Anstrengungen der Planerfüllung auszugleichen.
Zudem fehlte es an Schriftstellern, die willens waren, die Arbeiter auszubilden.
Nach Honeckers kulturpolitischem Kahlschlag auf dem 11. Plenum des ZK,
sowie der Fokussierung auf die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ als
neuer zentraler Legitimationsspender für die Parteiherrschaft,204 verlor der
Bitterfelder Weg an Bedeutung.
d. Sozialistische Nationalliteratur und Identitätsbildung
Walter Ulbricht zufolge war der Bitterfelder Weg „die Entwicklung der
deutschen sozialistischen Nationalkultur über einen längeren Zeitraum.“205
Seit dem I. Deutschen Schriftstellerkongress im Oktober 1947 galt in der SBZ
und anschließend in der DDR die Prämisse, kulturell an die Zeit vor 1933
anzuknüpfen.206 Insbesondere die Weimarer Klassik und der Humanismus
boten als „Kulturerbe“ Anknüpfungspunkte für einen kulturellen Neuanfang
und ein „kulturvolles Leben“207 im Sozialismus. Dieses Kulturerbe bildete die
Grundlage für Ulbrichts Auffassung der Kulturnation DDR. Ulbricht vertrat die
Interpretation zweier Linien der deutschen Nation. Demzufolge war die
deutsche Nation staatenübergreifend in zwei Klassenpositionen getrennt,
202
Vgl. Esther von Richthofen, Normalisierung der Herrschaft? Staat und Gesellschaft
in der DDR
1961-1979.
Kulturelle Massenarbeit in
Betrieben
und
Massenorganisationen im Bezirk Potsdam, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Das war
die DDR. DDR-Forschung im Fadenkreuz von Herrschaft, Außenbeziehungen, Kultur
und Souveränität, Münster 2004, 573 – 591, hier: S. 578.
203 Vgl. ebd., S. 578f.
204 Vgl. Wehler 2009, S. 95ff.
205 Dokument 283. Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen
Nationalkultur. Rede Walter Ulbrichts auf der II. Bitterfelder Konferenz, 24. Und 25.
April 1964, in: Schubbe 1972, S, 956 – 991, hier: S. 957.
206 Vgl. Jäger, S. 15.
207 Z.n. Meuschel, S. 71.
36
wobei westdeutsche Arbeiter kultursoziologisch zur DDR gehörten.208
Konstitutiv für diese Theorie war die Annahme, dass Nation nicht mit
Nationalität
gleichzusetzen
sei,
sondern
der
Klassencharakter
das
entscheidende Kriterium der Nationenbildung darstelle.209 Um die DDR
eindeutig von der Bundesrepublik abzugrenzen, war die SED-Führung stets
darum
bemüht,
ihre
Selbständigkeit
zu betonen.
Das Konzept
der
„Kulturnation“ DDR bot dafür die Möglichkeit.
Nach Friedrich Meineckes Typologie der Nationen sind „Kulturnation“ und
„Staatsnation“ Unterkategorien des semantisch weiten Begriffs Nation.210 Als
Staatsnation fasst Meinecke solche Nationen, die ihre Selbständigkeit auf
Traditionen der Politik- und Verfassungsgeschichte begründen.
Im Gegensatz zur Staatsnation ist die Kulturnation nach Meinecke durch eine
sprachlich-kulturelle Einheit gekennzeichnet. Als „Kulturgüter“, die als
Begründungsmuster für nationale Identität taugen, formuliert Meinecke die
unvollständige Liste Sprache, Religion und Literatur.211 Die Sprache bot der
SED unzureichende Möglichkeiten, eine die Bundesrepublik ausgrenzende
nationale Identität der DDR zu konstruieren. Auf religiöser Ebene versuchte
die SED die Attraktivität ihrer Ersatzreligion Sozialismus zu steigern. Die
sozialistischen Moralgebote oder die Einführung der Jugendweihe können als
Versuche gedeutet werden, eine pseudoreligiöse Identität zu erzeugen. Die
Literatur hingegen bot ungleich bessere Perspektiven, eine eigenständige
Kulturnation DDR zu definieren, die sich auf das kulturelle Erbe der Weimarer
Klassik berief. Die Klassik galt der SED als Orientierungsrahmen der
gesamten DDR-Kultur. Das Ministerium für Kultur der DDR erklärte die Pflege
des
Erbes
der Weimarer
Kulturpolitik.212
Gewinnung
Diese
der
Klassik
Erbpflege
bürgerlichen
war
als
die
Hauptaufgabe
besonders für
Intellektuellen
und
die
staatlicher
ideologische
Schriftsteller
in
der
unmittelbaren Nachkriegszeit attraktiv. Analog zur Antifaschismus-Doktrin
konnte die SED die moralische Erneuerung auf kulturell hohem Niveau
208
Vgl. Manfred Ackermann, Phasen und Zäsuren des Erbeverständnisses der DDR,
in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung
von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des
Deutschen Bundestages). Band III/2. Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer
Faktoren und disziplinierender Praktiken n Staat und Gesellschaft der DDR, BadenBaden 1995, S. 768 – 795, hier: S. 788.
209 Vgl. ebd., S. 789.
210 Vgl. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Herausgegeben und
eingeleitet von Hans Herzfeld, München 1963, S. 10.
211 Vgl. ebd.
212 Vgl. Ackermann, S. 776.
37
propagieren. Zudem wies die SED mit der Pflege der Weimarer Klassik die
Vorwürfe
zurück,
die
kommunistische
Partei
sei
geschichts-
und
traditionslos.213
Auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress im Januar 1956 rühmte
Johannes R. Becher die „Größe unserer214 Literatur, die mit dazu beigetragen
hat, unser ruhmreiches deutsches Kulturerbe zunächst vor der Vergessenheit
und der Fälschung, und alsdann vor der Vernichtung zu retten.“215 Becher
vereinnahmte die Weimarer Klassik als Wegweiser für die hohe künstlerische
Qualität der neuen in der DDR entstandenen Literatur, um der Bundesrepublik
die Klassik „weg (…) zu interpretieren“216 wie Manfred Ackermann feststellt.
Becher leitete die klassischen Kunstideale samt goetheschem Geniekult ab
und wandte sie auf die sozialistische Kulturrevolution an, indem er Literatur als
Kollektivwesen
definierte,
„Literaturgesellschaft“217
Macht
in
der
eine
überindividualisierte
und
Geist
in
Gemeinschaftswerk
ein
transformierte. Diese Identität zum Anfassen, die DDR gehörte zu den Staaten
mit der höchsten Bücherproduktion pro Kopf,218 sollte seit der Bitterfelder
Konferenz aus dem Volk selbst erwachsen. Die SED erhoffte sich, daraus
eine nationale Identität der schreibenden Arbeiter zu konstruieren.
IV.
Fazit
Die Kulturrevolution und der Bitterfelder Weg waren kulturpolitische Initiativen,
mit denen die SED auf die Herrschaftsinstabilität in Folge der Ereignisse des
17. Juni 1953 und des XX. Parteitags der KPdSU reagierte. Der Bitterfelder
Weg kann insofern totalitär-stalinistisch gedeutet werden, als die Partei
umfassende Planungs-, Gestaltungs- und Entscheidungshoheit einforderte
und ein Wahrheitsmonopol in ideologischer und künstlerisch-methodischer
Hinsicht auszuüben versuchte. Die verpflichtende Methode des sozialistischen
Realismus steht prototypisch für diesen Anspruch. Die SED definierte darüber
hinaus
festgesetzte
Rollenideale,
um
von
ihrer
kulturellen
Planung
abweichendes Verhalten von vornherein auszuschließen. Damit wird deutlich,
213
Vgl. Ackermann, S. 774.
Hervorhebung im Original.
215 Dokument 121, in: Schubbe 1972, S. 395.
216 Ackermann, S. 776.
217 Dokument 121, in: Schubbe 1972, S. 403.
218 Vgl. Barck, S. 311.
214
38
dass die Entstalinisierung in der DDR ein langer Prozess war. Stalinistische
Vorstellungsideale prägten die Kulturpolitik bis weit in die sechziger Jahre.
Während in anderen kommunistischen Staaten wie Polen oder Ungarn die
Entstalinisierung wesentlich dynamischer und gewaltsamer ablief, blieben in
der DDR weitere Aufstände oder gar Putschversuche wie in Ungarn aus.
Diese relative Stabilität kann mit einem stabilen Legitimationsglauben in die
charismatische Herrschaft gedeutet werden. Die SED verstand es, mit den
kulturpolitischen Initiativen Ende der fünfziger Jahre die ideologische
Glaubenskrise der Schriftsteller auszugleichen, indem sie die Schriftsteller in
einer Kombination aus Betonung der Bindungskräfte und obrigkeitsstaatlichen
Repressionen einband und einschüchterte. Damit konnte die SED ihr
politbürokratisches Sozialismusmodell auf kultureller Ebene manifestieren.
Die Kampagne Bitterfelder Weg bot die Chance, eine egalitäre Gesellschaft in
den Brigaden der sozialistischen Arbeit zu kreieren, die die Arbeiter kulturell
emporhob und ihnen neue Sinnhorizonte in den Zirkeln der schreibenden
Arbeiter anbot. Dieser Aspekt des Bitterfelder Weges lässt sich mit Dietrich
Mühlbergs
Vorschlag,
Kulturgesellschaft
berücksichtigt
zu
die
DDR-Geschichte
schreiben,
werden,
dass
gut
die
als
fassen.
SED
Geschichte
Allerdings
den
einer
muss
Bitterfelder
dabei
Weg
aus
machtpolitischem Kalkül plante und das Konzept an systemspezifische
Legitimationsspender
wie
gleichberechtigte
Teilhabe,
sozialistische
Moralgebote und egalitäre Gerechtigkeitsvorstellungen ausrichtete. Darüber
hinaus bot das auf dem Bitterfelder Weg begangene Gemeinschaftsprojekt
der sozialistischen Nationalliteratur Möglichkeiten, eine die Bundesrepublik
ausgrenzende nationale Kulturidentität zu konstruieren, um die DDR als Staat
zu konsolidieren. Daraus resultierte zumindest in der Parteiplanung eine dem
Kapitalismus
Westdeutschlands
Gesellschaft“
gegenüberstehende
„kulturelle
Gegen-
219
. Insofern war die Kultur ein verlängerter Arm der Politik und
Machtsicherung der Partei.
Dennoch
gibt
es
Argumente
gegen
die
Annahmen
einer
totalen
Durchherrschung und Planungsliteratur. Aus der Analyse der Mentalität der
Schriftsteller ging hervor, dass diese durchaus Möglichkeiten zu Protest und
Widerstand hatten. Die Verpflichtung auf den sozialistischen Realismus und
die Forderung nach positiven Helden aus der Arbeitswelt konnten die
219
Dietrich Mühlberg, Die DDR als Gegenstand kulturhistorischer Forschung, in:
Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 33, Berlin 1993, S. 7-35,
hier: S. 37.
39
Schriftsteller zudem in ihren Werken künstlerisch umgehen. So bot die
Literatur auch stets eine Ersatzöffentlichkeit. Verweigerungshaltungen wie am
Beispiel von Anna Seghers, und konfrontativer Widerstand gegen ästhetische
Primitivität wie im Falle Heyms verdeutlichen, dass es durchaus Grenzen der
Durchherrschung der Kultur gab. Zudem hatten die von der SED eingesetzten
Mittel zur machtpolitischen Einflussnahme der Schriftsteller andere als die
intendierten Folgen:220 So machte Christa Wolf desillusionierende Erfahrungen
im Bitterfelder Weg und löste sich daraufhin von der Aufgabe als Erzieherin.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass zwischen einem totalen Anspruch
des Staates und der Umsetzung in der historischen Realität unterschieden
werden muss.
V.
Quellen- und Literaturverzeichnis
a. Quellen
b. Literatur
VI.
Anhang
Erklärung:
Der Unterzeichnende versichert, dass er die vorliegende schriftliche Arbeit
selbstständig verfasst und keine anderen als die von ihm angegebenen
Hilfsmittel benutzt hat. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem
Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, wurden in jedem Fall unter
Angabe der Quellen kenntlich gemacht. Dies gilt auch für beigegebene
Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen und dergleichen.
220
Vgl. Mühlberg 1994, S. 68.
40
Dem Unterzeichnenden ist bewusst, dass jedes Zuwiderhandeln (Einreichen
einer Arbeit, die wörtlich oder nahezu wörtlich, ganz oder zu Teilen aus einer
Arbeit oder mehreren Arbeiten [publiziert im Internet, in Zeitschriften,
Monographien etc.] anderer übernommen ist) als Täuschungsversuch (siehe §
18 BPO) gelten kann, der die Bewertung der Arbeit mit „nicht ausreichend “
zur Folge hat.
________________________
________________________
Datum, Ort
Unterschrift
41
Herunterladen