Universität Bielefeld Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie Abteilung Geschichtswissenschaft BA-Arbeit Thema: Kulturpolitik der SED unter besonderer Berücksichtigung des Bitterfelder Weges Veranstaltung: Politik und Gesellschaft in der DDR Erstgutachter: Herr Siemens Zweitgutachterin: Frau Richter Abgabe: März 2010 „Was sich in der Politik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst.“ Legitimation und Grenzen der Durchherrschung im Bitterfelder Weg. Verfasst von: Thomas Makowski Matrikelnummer: 1849970 BA-Geschichtswissenschaft Universitätsstraße 7 33615 Bielefeld E-Mail: [email protected] Inhaltsverzeichnis I. Einleitung 1 II. Herrschaftsinstabilität und sozialistische Kulturrevolution 5 a. Der 17. Juni 1953: Arbeiteraufstand III. 5 b. Der XX. Parteitag: Entstalinisierung und Revisionismus 12 c. Kulturpolitische Reaktion: sozialistische Kulturrevolution 18 Kulturpolitische Leitideen des Bitterfelder Weges 24 a. Der Bitterfelder Weg als Realisierung der Kulturrevolution 24 b. Das Autorenideal: sozialistische Erzieher 25 c. Das Arbeiterideal: positive Helden und sozialistische Kultureroberer d. Sozialistische Nationalliteratur und Identitätsbildung IV. Fazit V. Quellen- und Literaturverzeichnis VI. Anhang 31 36 38 I. Einleitung Anfang der 1950er Jahre festigte die SED rasch ihre politische Macht in der jungen DDR. Systemloyale Führungseliten nahmen zentrale Stellen im Verwaltungsapparat ein. Die zur „Partei neuen Typus“ aufgestiegene SED sicherte ihre Hegemonie durch die Abwertung der übrigen Parteien zu „Blockparteien“. Enteignungsprozesse entmachteten konservative Eliten des Bildungsbürgertums. Die Massenorganisationen Freie Deutsche Jugend (FDJ) und der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) betrieben neben umfangreichen Entnazifizierungsprozessen auch ideologische Aufklärungsarbeit der Massen im Sinne der Partei. Dieser von Walter Ulbricht betitelte „Aufbau des Sozialismus“ stellte nach Hans-Ulrich Wehler einen „kurze(n) Weg in die SED-Diktatur“ dar.1 Dennoch kennzeichneten die fünfziger Jahre in der DDR in politikgeschichtlicher Perspektive zwei weitreichende und existenzbedrohende Systemkrisen. Am 17. Juni 1953, als die Arbeiter der DDR streikten und ihre anfangs wirtschaftlichen Forderungen nach Entlastung rasch politisierten und freie Wahlen einforderten, konnte sich die SED-Elite lediglich durch den Einsatz sowjetischer Panzer wehren. Wenige Jahre später, im Frühjahr 1956, sah sich die SED einer weitreichenden systemimmanenten Gefahr ausgesetzt, als der Tod Stalins und die von Chruschtschows Geheimrede eingeleitete Debatte über die Verbrechen des Stalinismus in der gesamten kommunistischen Einflusssphäre zu ideologischer Orientierungslosigkeit und Aufständen führte. Auch wenn es in der DDR vergleichsweise ruhig blieb, und nur einige wenige Intellektuelle einen „Revisionismus“ einforderten, befürchtete die SED eine Gefahr von Ost und West.2 Diese beiden Systemkrisen führten zu einer Instabilität der Herrschaft und zu einem dauerhaften Machttrauma der SED. Herrscher und Beherrschte misstrauten sich nachhaltig. In kulturgeschichtlicher Perspektive markierte hingegen der 24. April 1959 ein entscheidendes Ereignis der fünfziger Jahre. Im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld feierten Schriftsteller, Arbeiter und Parteifunktionäre gemeinsam [Trennung Kopf Hand]. Das daraus resultierende Kulturprogramm, der 1 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band. Bundesrepublik und DDR 1949 – 1990, Bonn 2009, S. 23ff. 2 Vgl. Hermann Wentker, Bedroht von Ost und West. Die Entstalinisierungskrise von 1956 als Herausforderung für die DDR, in: Roger Engelmann, Thomas Großbölting, Hermann Wentker (Hrsg.), Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, Göttingen 2008, S. 149 – 166. 1 „Bitterfelder Weg“, sah weitreichende kulturelle Austauschprozesse zwischen Arbeitern und Schriftstellern vor, die Volker Gransow als „kulturrevolutionäre(n) Durchbruch“3 deutet. Kultur, und insbesondere die Literatur, waren bedeutende Legitimationsspender für die Parteiherrschaft der SED. Die SED sicherte ihre Deutung, der antifaschistische Bundesrepublik friedlich und Staat DDR demokratisch, sei im Gegensatz kulturhistorisch ab. zur Sie verkündete, einzig die DDR sei legitimer Erbe der Weimarer Klassik und damit der Staat der moralischen Erneuerung nach dem Nationalsozialismus.4 Insbesondere die Literatur hatte in den vierzig Jahren des Bestehens der DDR einen hohen Stellenwert. Die im europäischen Vergleich hohe Bücherproduktion pro Kopf5 sowie die großen Erfolge der Leipziger Buchmessen als „Veranstaltung(en) von Sehnsucht“6 mündeten in der propagandistischen Formel des „Leselandes DDR“. Das Literatursystem der DDR war von der Ideologie und Politik der SED geprägt. Die Partei erteilte den Verlagen Vorgaben, welche Stoffe und Themen gedruckt werden durften. Zudem erhob die SED den Anspruch, über das „Druckgenehmigungsverfahren“ darüber zu entscheiden, welche Bücher publiziert werden konnten.7 Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich deutete dies als Belege für eine von oben durchherrschte, totalitäre „Planungsliteratur“.8 Seiner Auffassung nach war die gesamte Literatur der DDR zweckbestimmt und in eine Kette von Institutionen eingebunden, die die geistige Autonomie der Schriftsteller überlagerten. Demzufolge sei das gesamte literarische Leben der DDR von einem staatlichen Kontrollapparat durchdrungen gewesen. Im Folgenden wird der Zusammenhang zwischen Politik und Kultur in der Phase des Aufbaus des Sozialismus der DDR untersucht. Folgende Fragestellung wird verfolgt: Welche Bedeutung hatten die Kulturrevolution und der Bitterfelder Weg hinsichtlich der Überwindung des Machttraumas der SED 3 Volker Gransow, Kulturpolitik in der DDR, Berlin 1975, S. 89. Vgl. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945 – 1989, Frankfurt a. M. 1992, S. 70ff. 5 Vgl. Simone Barck, Fragmentarisches zur Literatur, in: Hekga Schultz, Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.), Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Berlin 2007, S: 303 – 322, hier: S. 311. 6 Patricia Zeckert, „Eine Versammlung von Sehnsucht“. Die Internationale Leipziger Buchmesse und die Leser in der DDR, in: Susanne Muhle (Hrsg.), Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch, Berlin 2008, S. 179-188. 7 Vgl. Barck, S. 306ff. 8 Vgl. Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Berlin 2007, S. 48. 4 2 und der Erweckung Legitimationsglaubens? eines die Darüber Parteiherrschaft hinaus: Kann die stabilisierenden Vorstellung einer obrigkeitsstaatlichen totalen Kontrolle des Literaturbetriebs des Bitterfelder Wegs zur politischen Legitimation des Staates aufrechterhalten werden, oder gab es „Grenzen der Durchherrschung“9 im Bereich dieses Kulturprogramms? Um diese Fragen zu beantworten, werden die marxistisch-leninistischen Hintergründe sowie die kulturpolitischen Leitideen der sozialistischen Kulturrevolution und Legitimationspotentiales des Bitterfelder untersucht. Die Weges Quellen hinsichtlich dafür sind ihres die kulturpolitischen Reden und Debatten der ZK- und Politbüro-Mitglieder. Diese werden auf folgende Fragen analysiert: Was waren die kulturpolitischen Leitideen der Kulturrevolution und des Bitterfelder Wegs und inwiefern dienten diese zur Legitimation der SED-Herrschaft? Auf welche Traditionen griff die SED zurück? Welche Aufgaben und Idealrollen definierte die Partei für die Schriftsteller und die Arbeiter? Welche Paradoxien ergaben sich daraus? Darüber hinaus werden die Arbeiter und Schriftsteller als zentrale Zielgruppen des Bitterfelder Wegs fokussiert. Es wird untersucht, inwiefern die Schriftsteller die ihnen auferlegten Aufgaben annahmen. Dabei soll geklärt werden, ob die Schriftsteller Objekte einer „Planungsliteratur“ gewesen seien. Zudem wird analysiert, welche Aufgaben die Arbeiter im Bitterfelder Weg zu erfüllen hatten und welches Menschenbild konstitutiv für die Vorstellung der schreibenden Arbeiter war. Zentrale Quelle dafür ist das „Handbuch für schreibende Arbeiter“10, welches als Praxisratgeber den Arbeitern explizit vorschrieb, wie sie in den Schreibzirkeln der Brigaden vorgehen sollten. Meine These dazu lautet: Das kulturpolitische Programm Bitterfelder Weg muss im Kontext der Herrschaftsinstabilität des SED-Regimes betrachtet werden. Die kulturpolitischen Leitideen sollten dazu dienen, die Herrschaft der SED zu stabilisieren und einen neuen Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft der SED zu entwickeln, sodass Kultur als verlängerter Arm der politischen Herrschaft und Machtsicherung gedeutet werden kann. Ausgehend von zwei Ereignissen, die zur dauerhaften Herrschaftsinstabilität führten – einerseits der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953, andererseits die 9 Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.) Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547 – 553, hier: S. 552. 10 Jürgen Bonk, Dieter Faulseit, Ursula Steinhaußen (Hrsg.), Handbuch für schreibende Arbeiter, Berlin 1969. 3 Entstalinisierungsdebatte und der Revisionismus in Folge des XX. Parteitags der KPdSU – werden zunächst die Mentalitäten der Arbeiter und Literaten herausgearbeitet. Zentrale Analysekategorien sind Loyalität gegenüber der SED, sowie Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft der SED11 als eine Partei, die moralische Erneuerung versprach. Anschließend werden die marxistisch-leninistischen Grundlagen der sozialistischen Kulturrevolution erläutert, die konstitutiv für den Bitterfelder Weg waren. Die Trennung zwischen Arbeitern und Literaten in dieser Arbeit beruht auf der Annahme, dass es sich dabei um unterschiedliche Klassen handelt, die sich nach Hans-Ulrich Wehlers Modell durch politisierte Machtbesitzverhältnisse unterscheiden.12 Demzufolge können Schriftsteller zu der operativen Dienstklasse hinzugerechnet werden, da sie als privilegierte Klasse Einfluss in Parteiorganisationen wie dem Schriftstellerverband ausüben konnten. Ein begriffliches Problem besteht darin, dass die Klassiker des LeninismusMarxismus keinen systematischen Kulturbegriff definierten.13 Gemäß der materialistischen Geschichtsauffassung geht der Marxismus-Leninismus von der Theorie zweier Kulturen aus und unterscheidet zwischen einer bürgerlichen Kultur und einer demokratisch-sozialistischen Kultur. Erstere sei auch in der nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung als Wertvorstellung bei Schriftstellern vorhanden. In dieser Arbeit wird auf diese Unterscheidung Rücksicht genommen. Primär meint der Begriff Kultur in dieser Arbeit jedoch den engen Kulturbegriff und umschreibt die menschlichen Leistungen, die über den alltäglichen Grundgebrauch hinausweisen. In der historischen durchleuchtetes Forschung Themenfeld stellt dar. der Manfred Bitterfelder Jäger Weg betont in ein gut seinem Standardwerk zur Kulturpolitik der DDR den engen Zusammenhang zwischen Wirtschafts- und Kulturprogramm. Für ihn stellt der Bitterfelder Weg eine von oben initiierte Kampagne zur ideologischen Abstützung der Wirtschaftsförderung dar, um die Arbeiter zu mehr Leistung zu motivieren. 14 Der Literaturwissenschaftler Günther Rüther ist der Ansicht, mit dem Bitterfelder Weg unternahm die SED den Versuch, durch ein Kulturprogramm von der gleichzeitig ablaufenden Entstalinisierung abzulenken, um die Köpfe 11 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Fünfte, revidierte Auflage, besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1972, S. 140. 12 Vgl. Wehler 2009, S. 216f. 13 Vgl. Gransow, S. 18. 14 Vgl. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß, Köln 1982, S. 83ff. 4 der Arbeiter für die Parteiinteressen zu gewinnen.15 Ingeborg Gerlach hält den Bitterfelder Weg hingegen für eine reguläre der Stufe der Entwicklung der SED-Kulturpolitik und fokussiert die Kulturrevolution: Primär sei es der SED darum gegangen, ideologisch unzuverlässige Schriftsteller durch Arbeiter zu ersetzen.16 Diese Argumentation erscheint allerdings unter Berücksichtigung des durch den 17. Juni 1953 ausgelösten Machttraumas wenig glaubhaft. Dietrich Mühlberg wählt eine andere Perspektive für seine Deutung des Bitterfelder Wegs. Der Kulturwissenschaftler argumentiert, die SED habe den gesellschaftlichen Umbau in der DDR mit kultureller Absicht und aus kulturellen Ideen durchgeführt. Unter Anwendung von Modernisierungstheorien geht Mühlberg davon aus, diese „Kulturgesellschaft DDR“ sollte Widersprüche und negative Trends einer Modernisierung der Gesellschaft aufheben und vermeiden.17 Allerdings überbetont Mühlberg die Kultur als Antriebskraft des Gesellschaftsumbaus in Ostdeutschland. Er vernachlässigt die Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der politischen Herrschaft, da Politik und Kultur, verstanden als Dimensionen einer Gesellschaft, in einem sich gegenseitig bedingenden und beeinflussenden Wechselverhältnis zueinanderstehen.18 Dieses Wechselverhältnis zu berücksichtigen, ermöglicht es, Problematiken des Gesellschaftsumbaus wie Legitimationsdefizite oder Instabilität und kulturpolitische Initiativen wie den Bitterfelder Weg in Beziehung zu setzen. Damit werden erste Ergebnisse der Arbeit angesprochen. II. Herrschaftsinstabilität und sozialistische Kulturrevolution a. Der 17. Juni 1953: Arbeiteraufstand Auf der 2. Parteikonferenz der SED am 9. Juli 1952 verkündete Walter Ulbricht, die strukturellen Voraussetzungen für einen planmäßigen Aufbau des Sozialismus seien geschaffen. Gemeint waren damit die oben angesproVgl. Günther Rüther, „Greif zur Feder, Kumpel“. Schriftsteller, Literatur und Politik in der DDR 1949 – 1990, Düsseldorf 1991, S. 86ff. 16 Vgl. Ingeborg Gerlach, Arbeiterliteratur und Literatur der Arbeitswelt in der DDR, Kronberg Taunus 1974, S. 26ff. 17 Vgl. Dietrich Mühlberg, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der DDR, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 62 – 94, hier: S. 68ff. 18 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, München 1987, S. 7f. 15 5 chenen Strukturen, die zur Transformation der ostdeutschen Gesellschaft und zur Absicherung der Monopolstellung der „Partei neuen Typus“ führten. Gleichzeitig erhöhte die SED den ideologischen Anpassungsdruck auf die Bevölkerung. Es folgten Drangsalierungen der verbliebenen Privatbauern, eine umfangreich geplante Kollektivierung der ostdeutschen Landwirtschaft, sowie weitreichende Repressionen gegen politisch Andersdenkende wie Reste eines „Sozialdemokratismus“.19 Auch die Kirchen als einzig nicht eroberte Großorganisationen gerieten in den Fokus der parteipolitischen Aufrüstung. Die SED führte offene Angriffe auf die Kirchen, um deren sozialen Rückhalt zu zerstören.20 Der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ bedeutete demnach Stärkung der Staatsmacht und war eine propagandistische Fortführung des in Teilen bereits realisierten Gesellschaftsumbaus zum stalinistischen Modell des Sozialismus.21 Karl Wilhelm Fricke und Roger Engelmann deuten die zunehmenden politischen Repressionen, den erhöhten ideologischen Anpassungsdruck sowie den eskalierenden Kulturkampf gegen die Kirchen in Verbindung mit einer zunehmend schlechten Versorgungslage der Bevölkerung als Hauptursachen für die rasant steigenden Flüchtlingszahlen in der DDR.22 Von Januar bis März 1953 flüchteten 120.000 Menschen aus der DDR.23 Der DDR-Wirtschaft mangelte es sowohl an Lebensmitteln, als auch an Konsumgütern. Die SED-Wirtschaftsplaner reagierten auf diese Versorgungskrise mit einem Sparprogramm und einer Forderung nach Leistungssteigerung: die Arbeitsnormen wurden um 10% erhöht. Diese arbeitspolitischen Maßnahmen führten zu großen Unruhen in den Betrieben und zu erneut stark ansteigenden Flüchtlingszahlen. Manfred Jäger wertet dies als Beleg dafür, dass die SED ihre Arbeiter ideologisch überschätzt habe.24 Die KPdSU erkannte die Brisanz der Lage in der DDR und fürchtete eine Erosion der Macht der kommunistischen Bewegung. Sie forderte die SED auf, Korrekturen durchzuführen, die in einem „Neuen Kurs“ mündeten. Dieser sah einen Stopp der Kollektivierung der Landwirtschaft, sowie Zugeständnisse an 19 Vgl. Meuschel, S. 121. Vgl. Detlef Pollack, Von der Mehrheits- zur Minderheitskriche. Das Schicksal der evangelischen Krichen, in: Helga Schultz, Hans-Jürgen Wagener (Hrsg.) Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kulttur, Berlin 1995, S. 49 - 78, hier: S.58. 21 Vgl. Meuschel, S. 117. 22 Vgl. Karl Wilhelm Fricke, Roger Engelmann, Der „Tag X“ und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953. Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat, Bremen 2003, S. 34. 23 Vgl. Wehler 2009, S. 29. 24 Vgl. Jäger, S. 67. 20 6 Bauern, Handwerker und Geschäftsleute vor.25 Zudem nahm die SED umstrittene Preiserhöhungen für Lebensmittel zurück und unterbrach den aggressiven Kirchenkampf.26 Fricke und Engelmann beschreiben in ihrer Studie die Mentalität der DDRBürger kurz vor dem Beginn des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953. Demnach werteten viele Bürger die Zugeständnisse der SED als Eingeständnis von Schwäche.27 Die Maßnahmen wurden gar als „Sieg der Massen über die Funktionäre“28 gedeutet. Allerdings blieben die Erhöhungen der Arbeitsnormen bestehen. Dies verstärkte eine wachsende Konfliktbereitschaft der Arbeiter, die als gesellschaftliche Gruppe von der SED im neuen Kurs nicht begünstigt wurden, gegenüber einer zunehmend als schwach wahrgenommene Regierung. Diese gefühlte Führungsschwäche der SED ermutigte die Arbeiter, trotz der scharfen Repressionen, die Oppositionellen in den fünfziger Jahren drohten, einen Aufstand zu initiieren.29 Die Initialzündung für den Aufstand des 17. Juni war ein Marsch von Bauarbeitern am 16. Juni aus Berlin Friedrichshain durch die Stadt in Richtung FDGB-Zentrale. Die Arbeiter erhofften sich durch einen geschlossenen, offensiven Widerstand gegen die Normerhöhung ein weiteres Zurückweichen der SED-Führung erwirken zu können.30 Bereits seit dem Morgen des 15. Juni streikten Bauarbeiter in einzelnen Brigaden Berlins. Die Bauarbeiter einer Großbaustelle am Krankenhaus Friedrichshain verfassten eine Resolution, um Druck auf die SED auszuüben und andere Arbeiter zu animieren, sich dem Streik anzuschließen. Sie forderten die SED auf, „in Anbetracht der erregten Stimmung der gesamten Belegschaft“ die „als große Härte“ wahrgenommenen Normerhöhungen zurückzuziehen und „unverzüglich befriedigend Stellung zu nehmen“.31 Rasch verbreiteten sich diese Forderungen, es entwickelte sich ein Generalstreik, der von 500.000 Streikenden aus 186 Betrieben getragen wurde.32 Von politischer Brisanz für die SED-Spitze war, dass die zu Massenprotesten angewachsenen Streiks zusätzlich von 418.000 Demonstrationsteilnehmern Vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949 – 1990, München 1998, S. 121. 26 Vgl. Hermann Weber, Geschichte der DDR. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, München 1999, S. 162. 27 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 38f. 28 Ebd. 29 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 38. 30 Vgl. ebd., S. 40. 31 Zitiert nach Fricke, Engelmann, S. 43. 32 Vgl. Wehler 2009, S. 30. 25 7 unterstützt wurden.33 In einem Gefühl von Stärke gegenüber der als schwach wahrgenommen SED-Führung forderten die Aufständischen nicht mehr lediglich die Aufhebung der Normerhöhung, sondern erhoben sich grundsätzlich gegen die Politik der SED. In ihren Parolen forderten die Demonstranten sofortige Senkungen der Lebenskosten, die Einführung freier und geheimer Wahlen, sowie ein Ende der staatlichen Repressionen und Gewalt gegenüber Oppositionellen.34 Dabei lassen sich nach Bahring zwei Stadien des Aufstandes voneinander unterscheiden.35 Im ersten Stadium marschierten die Arbeiter geführt von Streikführern durch Berlin und besetzten ohne Gewaltanwendungen das Rathaus sowie Parteidienststellen. Im zweiten Stadium agierten die Aufständischen allerdings ungleich autonomer. Zentrale Streikführer verloren an Einfluss auf kleinere Gruppen, die politisch motivierte Plünderungen und Überfälle durchführten. Für die SED stellten diese Vorgänge ein ideologisches Desaster dar. Die Ereignisse überraschten die unvorbereitete Parteiführung und die Staatssicherheit, die Anzeichen für einen derart rasanten Massenprotest unterschätzten.36 Anstatt eines durchaus erwarteten Klassenkampfes gegen die in der Landwirtschaft oder im Mittelstand vermuteten Überreste einer bürgerlich-kapitalistischen Tradition stand völlig unerwartet ein „Klassenkampf von unten“37 bevor. Ausgerechnet die Arbeiter, die im ideologisch aufgewerteten „Arbeiter- und Bauern-Staat“ eigentlich hätten privilegiert sein sollen, wandten sich gegen die Partei, deren gesamte Existenz mit dem Willen des Proletariats verknüpft war. Nur wenige Jahre zuvor, auf der ersten Parteikonferenz 1949, erklärte die SED, „die bewußte Vorhut der Arbeiterklasse“38 zu sein, und „ständig ihr Klassenbewußtsein (zu) erhöhen.“39 Als die Arbeiter am 17. Juni gegen die Normerhöhungen protestieren und ihre Kritik rasch politisierten, indem sie freie Wahlen forderten, war der Legitimationsglauben in die SED als klassenbewusste Führerin der Arbeiterklasse nachhaltig erschüttert.40 33 Vgl. ebd. Vgl. Arnulf Bahring, Der 17. Juni 1953, Köln, Berlin 1966, S. 86. 35 Vgl. ebd., S. 87ff. 36 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 46. 37 Meuschel, S. 118. 38 P3: Avantgardeanspruch und innerparteiliche Diktatur. Januar 1949 in: Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Bonn 1998, S. 46. 39 Ebd. 40 Vgl. Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990, München 2006, S. 43. 34 8 Hinzu kam die Inkompetenz, Ohnmacht und Hilflosigkeit der Parteiführung. Ihr wurde von den streikenden Arbeitern und Demonstranten schonungslos vor Augen geführt, dass sie derartige Massenproteste nicht systemimmanent verhindern oder bekämpfen konnte. Lediglich durch die Hilfe von außen, durch die Intervention sowjetischen Militärs, konnte das Machtmonopol der SED gesichert werden. Die sowjetischen Truppen beendeten den Aufstand gewaltsam, 50 Menschen starben bei der Niederschlagung der Demonstrationen.41 Die Sowjets demütigten Ulbricht und die weiteren Spitzenfunktionäre der SED schwer, indem sie eigenmächtig den Ausnahmezustand in der DDR verhängten und den Militäreinsatz gegen die streikenden Arbeiter im Alleingang und ohne Absprache mit den ostdeutschen Machtinhabern durchführten. Dies kam einem demonstrativen Entzug einer Scheinsouveränität des SED-Staates gleich.42 Um die Führungsschwäche und Instabilität der von der Sowjetunion abhängigen SED-Herrschaft sowie die Erosion des Legitimationsglaubens in den DDR-Gründungsmythos des „Arbeiter- und Bauern-Staates“ offiziell nicht eingestehen zu müssen, konstruierte das ZK der SED die Legende vom „Tag X“.43 Demnach sei der Arbeiteraufstand lediglich ein „Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Metropolen“44 gewesen. Getragen wurde diese propagandistische Verklärungsformel der Ereignisse sowohl von den Politikern der SED und der Blockparteien, als auch von ostdeutschen Historikern und der DDR-Justiz. Die Formel des „Tag X“ ging zurück auf eine Rede des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, der einen Tag für die Wiederherstellung der nationalstaatlichen Einheit Deutschlands in Aussicht stellte.45 Diese Aussage deutete Otto Grotewohl als die Ankündigung eines „Tag X“. Der SED-Propaganda zufolge konnte der Arbeiteraufstand damit als von Westdeutschland inszenierter Versuch einer konterrevolutionären Zerstörung der DDR gedeutet werden. 41 Vgl. ebd., S. 42. Vgl. Manfred Hagen, „Der Volksaufstand am 17. Juni 1953“, Podiumsdiskussion am 16. Juni 1993, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Baden-Baden 1995, S. 777. 43 Vgl. Fricke, Engelmann, S. 19ff. 44 Z. n. ebd., S. 19. 45 Vgl. ebd., S. 20. 42 9 Diesem Ablenkungsmanöver von innenpolitischen Ursachen des Arbeiteraufstandes gingen wirtschaftliche Zugeständnisse der SED-Führung an die Demonstranten voraus. Noch während des 17. Juni nahm die Partei die Erhöhung der Arbeitsnormen zurück. Die Demonstranten, die einen politischen Wandel forderten, wurden hingegen enttäuscht.46 Zusätzlich bekräftigte die SED ihre Deutung vom 17. Juni als faschistischen Putschversuch mit einer Verhaftungswelle.47 Durch Aufrufe in den Brigaden wurden Arbeiter aufgefordert, Kollegen anzuzeigen, die angeblich als faschistische Provokateure aufgetreten wären. Zusammenfassend lässt sich sagen, die Reaktion der SED-Führung auf den Arbeiteraufstand vom 17. Juni bestand aus wirtschaftlichen Zugeständnissen und neuen Repressionswellen, die in einseitigen Schuldzuweisungen mündeten. Dies führte bei der DDR-Bevölkerung zu einem weitreichenden und nachhaltigen Akzeptanzeinbruch für die SED. Stefan Wolle, der die Mentalität der aufständischen Arbeiter untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass es für viele der streikenden Arbeiter eine Genugtuung gewesen sei, „die herrschende Clique in Angst und Schrecken versetzt“48 zu haben. Allerdings markierte der 17. Juni 1953 eine Zäsur für Oppositionelle in der DDR. Die eindrucksvollste Erfahrung des Arbeiteraufstandes bestand nach Andreas Malycha in der desillusionierenden Erfahrung, dass ein Versuch, die politische Monopolstellung der SED aufzubrechen, solange erfolg- und wirkungslos bleiben musste, wie Ulbricht und seine Genossen den Rückhalt der Sowjetunion hatten. Bernd Eisenfeld erkennt darin ein „doppeltes Trauma“49. Einerseits befürchteten die SED-Machthaber seit dem 17. Juni 1953 eine permanente Herrschaftskrise und wähnten sich „auf einem kochenden Vulkan“50, wie Stefan Wolle in seiner Untersuchung feststellt. Ihm zufolge fühlte sich die 46 Vgl. Andreas Malycha, Die SED unter Ulbricht: Durchsetzung und Grenzen des Machtanspruchs der Führungskader um Ulbricht in den Jahren von 1945 bis 1971, in: Torsten Diedrich, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft in der DDR, Berlin 2005, S. 87 – 118, hier: S. 99f. 47 Vgl. ebd., S. 101. 48 Stefan Wolle, „Lage stabil, vereinzelte Vorkommnisse“. Die Stimmung der DDRBevölkerung nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 und nach dem Mauerbau am 13. August 1961, in: Torsten Diedrich, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft in der DDR, Berlin 2005, S. 225 – 252, hier: S. 237. 49 Eisenfeld, S. 349. 50 Wolle, S. 234. 10 SED-Machtspitze seit dem Arbeiteraufstand insbesondere an Jahrestagen des 17. Juni einer Bedrohung ausgesetzt und fürchtete permanent um die Erosion ihrer Macht.51 Andererseits verschwanden Oppositionelle dauerhaft aus der politischen Öffentlichkeit. Die Arbeiter passten sich den als unveränderlich erscheinenden Begebenheiten an und waren zur Loyalität gezwungen.52 Nach Max Webers Typologie der Herrschaftsformen bedeutet ein solches zweckrationales Hinnehmen der Parteiherrschaft Labilität des Systems.53 Weber argumentiert, jede Herrschaft suche zur dauerhaften Stabilisierung einen Legitimationsglauben „zu erwecken und zu pflegen“54. Bezogen auf die Situation in der DDR unmittelbar nach dem Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 bedeutet dies, dass die SED-Machthaber für eine Stabilisierung nach den traumatischen Erfahrungen des Aufstandes neue Legitimationsfelder erobern mussten, um die labile Herrschaft der Arbeiterpartei langfristig zu stabilisieren. Auf die Schriftsteller traf dies jedoch nur bedingt zu. Es gab keine öffentliche Solidarisierung vom Schriftstellerverband mit den aufständischen Arbeitern. Der Grund dafür war ein stabiler Legitimationsglauben der Schriftsteller in die charismatische Herrschaft der SED. Der Antifaschismus als Staatsdoktrin wirkte verpflichtend. So waren viele Schriftsteller skeptisch gegenüber den Massen, die sich ihrer Ansicht nach bereits im NS vom Faschismus verführen ließen.55 Im Oktober 1953 kam es zu einer Aussprache zwischen Otto Grotewohl und einigen Schriftstellern, bei der die Schriftsteller ihre innere Verbundenheit mit dem Staat und der Partei bekundeten. So erklärte Stefan Zweig: „(…) denn wenn wir nicht mit Haut und Haaren der DDR verschrieben wären, dann säßen wir gar nicht hier…“56 Weiter forderte er die anderen Künstler dazu auf, ihre „Dankbarkeit gegenüber der Regierung“57 auszudrücken. Auch Stefan Heym war sich sicher, „daß wir die Wahrheit und die Zukunft auf unserer Seite haben…“58 Anna Seghers bekundete gar, „mit 51 Vgl. Wolle, S. 231f. Vgl. Malycha, S. 101. 53 Vgl. Weber 1972, S. 122. 54 Ebd. 55 Vgl. Jäger, S. 67. 56 Dokument 97. Fragen der Kultur und Kunst im neuen Kurs. Aussprache zwischen Otto Grotewohl und „führenden Kunst- und Kulturschaffenden der DDR“, 19. Oktober 1953, Auszug, in: Elimar Schubbe (Hrsg.) Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED, Stuttgart 1972, S. 313 – 315, hier: S. 314. 57 Ebd. 58 Ebd. 52 11 ganzer Kraft und ganzem Herzen für diesen Staat (zu) kämpfen und für diesen Staat (zu) leben.“59 b. Der XX. Parteitag: Entstalinisierung und Revisionismus Nur kurze Zeit nachdem die sowjetischen Panzer die Macht der SED sicherstellten, kam es in der DDR zu einer zweiten „akuten Bedrohung der Führungsspitze.“60 Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 rechnete der Parteichef Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede mit Stalin ab. In dieser Rede verurteilte Chruschtschow Stalin als größenwahnsinnigen Diktator. Im Original heißt es: „(…) er zwang anderen seine Ansichten auf und verlangte absolute Unterwerfung unter seine Meinung. Wer sich seiner Konzeption widersetzte oder einen eigenen Standpunkt zu vertreten, die Korrektheit der eigenen Position zu beweisen suchte, wurde unweigerlich aus dem Führungskollektiv ausgestoßen und anschließend sowohl moralisch als auch physisch vernichtet.“61 Damit machte Chruschtschow Stalin allein verantwortlich für den „roten Terror“62. Zugleich Herrschafts- und verdeckte Chruschtschow Gewaltapparates des die Mechanismen Stalinismus, sowie des die gesellschaftlichen Strukturen, welche den Terror und die Massenverhaftungen begünstigten.63 Dies war nötig, um den Legitimationsglauben in die Parteiherrschaft als überpersönliche Autorität sowohl in der Sowjetunion, als auch in den Satellitenstaaten sicherzustellen, nachdem Stalins Tod in vielen sozialistischen Staaten Unruhen auslöste. Ulbricht und seine Genossen im ZK der SED befürchteten, dass ein Übergreifen der Diskussionen um den Terror Stalins auf die DDR erneut die Legitimation der Parteiherrschaft der SED gefährden musste, da die SED ihre führende Machtposition Stalin verdankte. Zudem gefährdete die Möglichkeit, die politischen Verbrechen und Morde Stalins mit denen Hitlers aufzurechnen, die Antifaschismus-Doktrin, die nach dem 17. Juni 1953 einen stabilen 59 Ebd. Schroeder, S. 132. 61 Z. n. Schroeder, S. 133. 62 Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, Bonn 2007. 63 Vgl. Schroeder, S. 133. 60 12 Legitimationsglauben insbesondere bei Intellektuellen und Schriftstellern sicherstellte. Aus diesen Gründen blieb das ZK der SED zurückhaltender in der StalinKritik. Ulbricht mahnte, die Lehren des XX. Parteitages lediglich soweit auf die DDR zu übertragen, wie diese „auf unsere Verhältnisse anwendbar sind“64 und beließ es bei der Feststellung: „Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht zählen.“65 Dies wirkte scheinheilig und revisionistisch. Zum Tode Stalins verkündete Ulbricht noch, „der größte Mensch unserer Epoche“66 sei gestorben. Der Inhalt der Geheimrede blieb in der DDR verschwiegen. Es kursierten lediglich informell und mündlich ausgetauschte Gerüchte über den Inhalt, die unter Intellektuellen rasch Auslöser für leidenschaftliche Diskussionen über den stalinistischen Terror wurden.67 In seinem zeitnah verfassten Tagebuch beschreibt Gustav Just, der stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift „Sonntag“ und 1954/55 Generalsekretär des Schriftstellerverbandes war, die Ratlosigkeit und Neugier der Schriftsteller, die mehr über den Inhalt der desillusionierenden Geheimrede erfahren wollten.68 Viele erhofften sich auf der 3. Parteikonferenz der SED Aufklärung. Allerdings vermied es die Parteiführung um Ulbricht, auf der Konferenz die Chruschtschow-Rede zu thematisieren und stellte wirtschaftliche Beratungen bezüglich des zweiten Fünfjahresplanes in den Mittelpunkt der Diskussion.69 Dies wirkte unbefriedigend auf die Intellektuellen.70 Als die ChruschtschowRede in der Westpresse veröffentlicht wurde, waren die Diskussionen um die Kritik am Stalinismus von der SED nicht mehr kontrollierbar. Just wertete den Inhalt der Rede als „Schlag auf den Kopf.“71 Mit seinen Vertrauten Walter Janka und Wolfgang Harich – der eine Leiter des Aufbauverlages, der andere dessen Cheflektor – diskutierte Just Chancen einer „wahre(n) Renaissance der sozialistischen Bewegung.“72 Nötig sei jedoch eine öffentlich debattierte Revision des Stalinismus sowie der Floskel des „Personenkultes“. Letzteres sei eine idealistische Verschleierung der überpersönlichen Strukturen der 64 Z. n. Schroeder, S. 134. Z. n. ebd. 66 Z. n. Weber 1999, S. 161. 67 Vgl. Gustav Just, Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre in der DDR, Frankfurt a.M. 1990, S. 51f. 68 Vgl. ebd., S. 52. 69 Vgl. Weber 1999, S. 190. 70 Vgl. Just, S. 51. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 55. 65 13 Massenverfolgungen unter Stalin gewesen.73 Neidvoll blickte Just seinen Erzählungen zufolge auf Polen und Ungarn, da in beiden Ländern eine wesentlich liberalere Presse über die Vorgänge und Inhalte des XX. Parteitages berichtete.74 Sowohl in Polen als auch in Ungarn waren die Zeitschriften Sprachrohre einer gesamtgesellschaftlichen Kritik am Stalinismus.75 Schichtenübergreifend wirkte in beiden Ländern ein stark antirussischer Nationalismus identifikationsbildend.76 In der DDR verhinderte das ZK der SED kritische Diskussionen bezüglich des Stalinismus in der Öffentlichkeit und unterband damit eine gesamtgesellschaftliche Opposition. Ulbricht diktierte kompromisslos, dass es in der DDR keine Massenrepressalien gegeben habe und deswegen keine „rückwärtsgewandte Fehlerdiskussion“77 geduldet werde. Diesen Zustand akzeptierte die Gruppe um Just und Harich nicht. Ihrer Auffassung nach bot der XX. Parteitag „große(…) Möglichkeiten und Perspektiven der Regeneration gesellschaftlichen Vorgänge“. 78 des geistigen Lebens und aller Um in der DDR-Öffentlichkeit erstmals Stellung zu beziehen, veröffentlichte die Intellektuellenzeitschrift „Sonntag“ am 17.6.1956 ein Gedicht des polnischen Schriftstellers Adam Wazyk. Das polemische Gedicht kritisiert die Überwachung und starre Hierarchie des Stalinismus: „Was unten weilt, irrt sich, das Haupt ist unfehlbar. Es leuchtet in Bronze, vom Weihrauch umnebelt.“79 Die Veröffentlichung dieses Textes an einem Jahrestag des Arbeiteraufstandes war politisch brisant, zumal das Gedicht Volk und Parteiführung in binärer Opposition zueinander deutet. Damit verschärften die Herausgeber des Sonntags den Druck auf die SED. Harich und Just verstanden sich als legitime Reformer des Sozialismus und waren sich sicher, die „einzig richtigen Schlüsse aus dem XX. Parteitag“ 80 gezogen zu haben. Die Entblößungen über Stalins Terror, von denen sie 73 Vgl. ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 53. 75 Vgl. Meuschel, S. 153. 76 Vgl. David Priestland, Weltgeschichte des Kommunismus, Bonn 2010, S. 403. 77 Z. n. Schroeder, S. 134. 78 Just, S. 71. 79 Z. n. Just, S. 59. 80 Ebd., S. 137. 74 14 primär aus der polnischen Presse und Literatur erfuhren, bestätigten sie in ihrem politischen Engagement für einen demokratischeren Sozialismus.81 Ihrem Selbstverständnis nach agierten sie als Antreiber einer natürlichen Entwicklung des Sozialismus. In ihren Publikationen im „Sonntag“ forderten sie mehr Demokratie, mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung der DDR-Bürger sowie gleichzeitig einen Bürokratieabbau, insbesondere des nach stalinistischen Methoden operierenden Ministeriums für Staatssicherheit.82 Harich präzisierte diese Forderungen nach einem Umbau des politischen Systems, an dessen Spitze weiterhin die reformierte SED stehen sollte. Allerdings verlangte er das Aufbrechen des Machtmonopols der Partei, um den Bürgern Eigenverantwortung und Partizipation zuzugestehen.83 Damit stellte Harich die Frage nach der Legitimationsgrundlage der Parteiherrschaft.84 Auf die Schriftsteller wirkten diese Forderungen weniger attraktiv, als von Just und Harich erwartet. Just beklagte sich in seinem Tagebuch über das „sterile(…) Schweigen“85 vieler etablierter Schriftsteller zu den Reformversuchen. Auch der Journalist Wolfgang Joho beklagte in seinem Artikel „Schriftsteller und res publica“ im Sonntag am 28.10.1956 die Neutralität der Schriftsteller. Joho wertete die steigende Kritikbereitschaft der Intellektuellen um Just und Harich als deutlich positiv: „Die Geister sind in Bewegung geraten, wie anderorts, so auch bei uns. Man überprüft, revidiert, kritisiert, denkt nach, sichtet, zieht Bilanz, stellt sich neue Ziele.“ 86 Allerdings forderte Joho zugleich in einer scharfen Polemik die Schriftsteller auf, das „Schweigen (…) im Blätterwalde“87 zu beenden. Vielmehr seien die Schriftsteller, die wegen ihres öffentlichen Ansehens eine gesellschaftliche Vorbildfunktion ausüben könnten, dazu befähigt, als „Gewissen seiner Epoche“88 aufzutreten und die Diskussion um die Entstalinisierung zu lenken. Allerdings nahmen sich die Schriftsteller dieser res publica nicht an. 81 Vgl. ebd. Vgl. Just, S. 140f. 83 Vgl. Schroeder, S. 138. 84 Vgl. Kerstin Thöns, Einleitung zum Protokoll der Parteigruppentagung des Präsidialrates am 9. September 1957 und zum Protokoll der Präsidialratssitzung am 13. September 1957, in: Magdalena Heider, Kerstin Thöns (Hrsg.), SED und Intellektuelle in der DDR der fünfziger Jahre. Kulturbund-Protokolle, Köln 1990, S. 61 – 66, hier: S. 62. 85 Just, S. 76. 86 Z. n. Just, S. 90. 87 Ebd., S. 91. 88 Ebd., S. 92. 82 15 Es waren hauptsächlich junge, eher unbekannte Schriftsteller wie Gerhard Zwerenz oder Heinz Kahlau, die auf dem II. Kongress Junger Künstler öffentlich bezüglich der Entstalinisierung und des Revisionismus Stellung bezogen. Der Lyriker Heinz Kahlau vertrat die Ansicht, der XX. Parteitag habe kommunikative Stalinismus Möglichkeiten öffentlich zu eröffnet, diskutieren. die Damit „Lebensprobleme“89 versuchte Kahlau des die Entstalinisierungsdebatte über die Kunst hinauszuführen und seine Kollegen anzuregen, eine Grundsatzdiskussion über die ideologischen Fehler des Stalinismus zu führen. Gerhard Zwerenz kritisierte in seiner Rede den stalinistischen Personenkult als Zersetzungselement für die gesamte sozialistische Lyrik. Seiner Auffassung nach seien die Dichter durch die stalinistischen Repressionen „zum Schweigen oder zur Lüge“90 gezwungen worden. Dies waren progressive und provokante Thesen, die etablierte Lyriker der DDR erregen sollten. Obwohl die publizistischen Arbeiten von Just und Harich sowie die Diskussionsanregungen auf dem II. Kongress Junger Künstler zu einer Steigerung der Konfliktbereitschaft unter Intellektuellen und Schriftstellern beitrugen,91 entwickelte sich daraus kein gemeinsames politisches Engagement für einen umfassenden Revisionismus in der publizistischen Öffentlichkeit der DDR. Das lag zum einen daran, dass es sich bei der Gruppe um Just und Harich nicht um einen konfrontativen Widerstand handelte. Ihrem Selbstverständnis nach agierten sie als „erhabene(…) Genosse(n)“92, die eine systemimmanente Diskussion anregen wollten – dies war eine der Lehren, die Oppositionelle aus dem 17. Juni 1953 zogen. Zum anderen fehlten dieser Opposition weitere Oppositionelle, die die Reformbereitschaft öffentlich trugen und zu einer schichtenübergreifenden, gesellschaftumfassenden Opposition anregten. Die etablierten Schriftsteller der DDR, die dazu in der Lage gewesen wären, zögerten allerdings verstört und ließen die Chance des Revisionismus ungenutzt.93 89 Dokument 132. Diskussionsbeitrag Heinz Kahlaus auf dem II. Kongreß Junger Künstler. 27. Juni 1956, Auszug, in Schubbe 1972, S. 438 – 439, hier: S. 438. 90 Dokument 133. Gerhard Zwerenz‘ Verteidigung von Heinz Kahlau gegen die Kritik aus Kreisen des Schriftstellerverbandes und der SED wegen dessen Rede auf dem II. Kongreß Junger Künstler in Chemnitz. Juli 1956, Auszug, in Schubbe 1972, S. 439 – 440, hier: S. 440. 91 Vgl. Meuschel, S. 157. 92 Just, S. 155. 93 Vgl. Meuschel, S. 152ff. 16 Unmittelbar nach dessen Tod trauerten viele Schriftsteller öffentlich um Stalin. In der Zeitschrift „Sinn und Form“ gelobten unter anderem Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Willi Bredel, Anna Seghers, und Anold Zweig „die Lehren Stalins zu verwirklichen und ihm, dem Genius des Friedens, die Treue zu halten“94. Bertolt Brecht, im Nationalsozialismus noch einer der schärfsten Kritiker des „Führerkultes“,95 verehrte Stalin als Hoffnungsträger der „Unterdrückten von fünf Erdteilen“96. Die Chruschtschow-Rede sowie die öffentlichen Debatten der Revisionisten bezüglich der Verbrechen Stalins erschütterten dieses Stalin-Bild nachhaltig. Dies löste unter den Schriftstellern Verwirrungen und Resignation aus. So gab Willi Bredel zu, an den „bekannt gewordenen Tatsachen schwer zu tragen“97 gehabt zu haben, die „tragischen Fehler des Genossen Stalin“98 seien ihm „schwer zu Herzen gegangen.“99 Dennoch schlossen sich die Schriftsteller der Revisionismuskampagne nicht an. Insbesondere der DDR-Gründungsmythos des Antifaschismus wirkte auf viele Schriftsteller als ein Wahrheitsmonopol der Partei. So äußerte sich Armin Müller: „Ich kam blind aus der Vergangenheit, erlebte voller Hoffnung die Veränderungen, erlebte sie aktiv. (…) Ich machte mit und war der festen Überzeugung, dem Neuen durch meine Verse zu dienen.“100 Die Aussicht, nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus in einem Staat der politischen und moralischen Erneuerung zu leben, der zudem im Gegensatz zur Bundesrepublik versprach, „Lehren aus der Geschichte zu ziehen“101 um den Faschismus zu überwinden, verpflichtete viele Schriftsteller weiterhin zur Kooperation mit der SED. Der Romancier Victor Klemperer war bereits 1945 davon überzeugt, die KPD „allein drängt wirklich auf radikale Ausschaltung der Nazis.“102 Obwohl Klemperer sich nie einer bestimmten Partei verpflichtet fühlte, hielt er die Zeit für gekommen, „um wohl Farbe (zu) bekennen.“103 Der Antifaschismus wirkte als Legitimationsspender derart überzeugend auf den 94 Z. n. Rüther, S. 73. Erinnert sei an das Gedicht „Der Kälbermarsch“ in: Bertolt Brecht, Gesammelte Gedichte, Band 4. Frankfurt 1978, S. 1219f. 96 Z. n. Jäger, S. 66. 97 Dietrich Staritz, Geschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1985, S. 147. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Z. n. Jäger, S. 78. 101 Z. n. Meuschel, S. 31. 102 Victor Klemperer, Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember 1945, Berlin 1996, S. 186f. 103 Ebd. 95 17 Schriftsteller, dass für ihn ein Parteilosbleiben einer „Feigheit“104 gleichkäme. Ähnlich begründete Christa Wolf ihren Beitritt in die FDJ. Die Schriftstellerin wünschte sich Teilhabe an Veränderungsprozessen nach den desillusionierenden Erfahrungen des Nationalsozialismus. Der Antifaschismus der SED bot ihr dafür Möglichkeiten. Die Partei war ihrer Auffassung nach „genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland geschehen war. Und ich wollte genau das Gegenteil.“105 Das legitimatorische Potential des Antifaschismus wirkte derart überzeugend auf Wolf, dass sie überzeugt war, „ein für alle Mal im Mitbesitz der einzig richtigen, einzig funktionierenden Wahrheit zu sein.“106 Die Enthüllungen über Stalin bildeten für die Schriftsteller dennoch eine Zäsur zentraler Ideologiefragen, die desillusionierende Demontage des „Genius des Friedens“ schien die teleologische Erfolgsgeschichte des Kommunismus zumindest zu unterbrechen. Dies führte zu einer ideologischen Glaubenskrise.107 Auf diese antwortete die SED-Führung mit dem Ausruf der „sozialistischen Kulturrevolution.“ c. Kulturpolitische Reaktion: sozialistische Kulturrevolution Konstitutiv für den Aufbau des Sozialismus war, neben einem stabilen Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft der SED, die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins der Bevölkerung. Nach der marxistisch-leninistischen Theorie umschreibt der Begriff sozialistisches Bewusstsein eine „soziale Erscheinung“108 und zielt auf die praktische Mobilisierung und ideologische Ausrichtung einer gesamten Klasse auf den Sozialismus ab. Weiterhin umschreibt der Begriff die Selbstwahrnehmung aller Mitglieder einer sozialistischen Gesellschaft als Teilnehmer der progressiven Entwicklungsgeschichte des Sozialismus.109 Grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins ist das Vorhandensein 104 Ebd. Jörg Magenau, Christa Wolf. Eine Biographie, Berlin 2002, S. 43. 106 Ebd., S. 44. 107 Vgl. Erhart Neubert, Systemgegnerschaft und systemimmanente Opposition – ein Paradigmenwechsel 1956? In: Thomas Großbölting und Hermann Wentker (Hrsg.) Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, S. 347 – 361, hier: S. 352. 108 Alfons Kahsnitz, Gesellschaftliche Perspektive – Sozialistisches Bewußtsein. Zur Leitung ideologischer Prozesse, Berlin 1971, S. 13. 109 Vgl. ebd., S. 10. 105 18 sozialistischer Produktionsverhältnisse. Das Aufbrechen der Klassenstrukturen des Kapitalismus ermögliche es den Werktätigen, sich gleichzeitig als Produzenten und gesellschaftliche Eigentümer zu verstehen. Das sozialistische Bewusstsein kann demnach als ideelles Konzept zur kollektiven Disziplinierung der Arbeiterklasse verstanden werden. Der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 war demzufolge nicht nur ein Beleg für fehlenden Legitimationsglauben der Arbeiter in die charismatische Parteiherrschaft. Gleichzeitig wurde der SED klar, dass sie die Ausbildung des sozialistischen Bewusstseins in der Arbeiterklasse überschätzte. Der Glauben der Schriftsteller in die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem kapitalistischen Gesellschaftssystem stand hingegen trotz der Entstalinisierungsdebatten nicht zur Disposition. Wie oben erläutert, hielten sich viele Schriftsteller in den Debatten um eine Revision des Stalinismus zurück. Diese Zurückhaltung rühmte ZK-Mitglied Kurt Hager, der die Schriftsteller weiterhin als „aktive Erbauer(…) des Sozialismus“110, die „unverbrüchlich mit (…) dem Arbeiter- und Bauern-Staat verbunden sind“111 feierte. Die Bindungskräfte der Schriftsteller an den Sozialismus wirkten auch nach den Debatten um die Verbrechen Stalins.112 Insbesondere die theoretischen Alternativen des sozialistischen Staates – Antifaschismus als Gründungsmythos, die Lehre des Sozialismus als gesetzmäßige Höherentwicklung der Klassengesellschaft des Kapitalismus, der Glaube an eine gerechte und konfliktfreie klassenlose Gesellschaft – wirkten als „Bonus“113 für einen Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft der SED. Dennoch befürchtete die Partei „ideologische Schwankungen“114 der Schriftsteller, wie der stellvertretende Kulturminister Alexander Abusch auf der Kulturkonferenz der SED im Oktober 1957 erklärte. Das doppelte Machttrauma ließ die Partei an der inneren Verbundenheit der Schriftsteller 110 Dokument 153. Sozialistische Orientierung im Kulturbund. Rede Kurt Hagers auf dem 32. Plenum des ZK der SED, 10. Bis 12. Juli 1957, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 478 – 483, hier: S. 478. 111 Ebd. 112 Vgl. Guntolf Herzberg, Nachbesserung des Sozialismus oder Wie der Status quo gefestigt wurde, in: Roger Engelmann, Thomas Großbölting, Hermann Wentker (Hrsg.), Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, Göttingen 2008, S. 363-371, hier: S. 366. 113 Herzberg, S. 366. 114 Dokument 159. Im ideologischen Kampf für eine sozialistische Kultur – Die Entwicklung der sozialistischen Kultur in der Zeit des zweiten Fünfjahresplanes. Rede Alexander Abuschs auf der Kulturkonferenz der SED, 23. Oktober 1957, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 489 – 495, hier: S. 489. 19 mit der SED zweifeln. Abusch diagnostizierte eine wachsende innere Distanz zwischen SED-Führung und Schriftstellern.115 Ähnlich argumentierte Paul Fröhlich, der den Schriftstellern vorwarf, ihre „Windstille“116 hätte zu „bürgerlichen Ausrichtungen in der Literatur“117 geführt. Die SED-Führung reagierte auf diese „ideologischen Schwankungen“ der Schriftsteller in der Folge mit einer Mischung aus propagandistischer Betonung der Bindungskräfte und aggressiver Einschüchterungsrhetorik. Abusch forderte die Schriftsteller auf, sich ihrer „ideoloische(n) Klarheit“118 Bewusst zu werden und warf den Schriftstellern „Schützenhilfe für die westlichen Imperialisten“119 vor. Damit bezichtigte er die Schriftsteller, eine angebliche Konterrevolution nicht entschieden verhindern zu wollen. Gemäß der sozialistischen Kulturtheorie hatten die Schriftsteller offiziell die Aufgabe, „der Marschrichtung des politischen Kampfes zu folgen“120, wie Otto Grotewohl erklärte. Es galt dessen Lehrsatz: „Was sich in der Politik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst.“121 Kultur hatte in dieser Phase der DDR nach Vorstellung der SED-Führung eine Wegbereiter-Funktion und sollte „Impulse und Energien“122 zur sozialistischen Erziehung beitragen. Schriftsteller galten seit Stalin als „Ingenieure der Seele“, die in ihren Werken zur Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der Arbeiter beitragen sollten. Allerdings erklärte Stalin, das sozialistische Bewusstsein bliebe, solange es als Idee keine Verbreitung im Proletariat fände, als Phrase wirkungslos.123 Nötig sei vielmehr eine gemeinsame Entwicklung, eine Verschmelzung zwischen Intellektuellen und Proletariat – dies war der Grund für die SED, Schriftsteller in die Betriebe zu schicken. Um diese Aufgaben im Sinne der Parteiführung erfüllen zu können, war ein stabiler Legitimationsglauben der Schriftsteller in die Parteiherrschaft Voraussetzung. Da die Partei jedoch „ideologische Schwankungen“ befürchtete, erhob sie den 115 Vgl. Ebd. Dokument 154. Kühner und mutiger im ideologischen Kampf. Diskussionsbeitrag Paul Fröhlichs auf dem 32. Plenum des ZK der SED vom 10. Bis 12. Juli 1957, in: Schubbe 1972, S. 483 – 484, hier: S. 483. 117 Ebd. 118 Dokument 159, S. 490. 119 Ebd. 120 Z. n. Jäger, S. 31f. 121 Z. n. Rüther, S. 39. 122 Dokument 115. Zehn Jahre Befreiung – zehn Jahre kultureller Aufstieg. Rede Otto Grotewohls auf der „Dresdner Kundgebung der Kulturschaffenden“, 24. Juni 1955, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 371 – 380, hier: S. 379. 123 Vgl. Iosif V. Stalin, Antwort an den „Sozialdemokrat“, in: Ders. (Hrsg.), Werke, Band 1, 1901 – 1907, Berlin 1953, S. 138 – 149, hier: S. 140. 116 20 Anspruch, Literatur ebenso planen und steuern zu können, wie die Ökonomie. Das Gesetz über den zweiten Fünfjahresplan aus dem Jahr 1958 erhielt unter Paragraph 15 die Forderung, die Bücherproduktion „den wachsenden kulturellen Bedürfnissen der Arbeiter, Werktätigen, Bauern und Angehörigen der Intelligenz“124 anzupassen. Nach dem Selbstverständnis der Avantgarde der Partei steuerte diese die „sozialistische Umgestaltung aller Gebiete des Lebens“125 und übte somit zwangsläufig eine „führende Rolle auf dem Gebiete der Kultur“126 aus. Zu Anfang des Jahres 1955 unternahmen die SED-Machtinhaber den Versuch, den Schriftstellern vorzuschreiben, welche Stoffe und Themen in ihren Werken verarbeitet werden sollten. Allerdings taten sie dies zu diesem Zeitpunkt codiert, in einem Dokument von geplanter Authentizität, dem „Offene(n) Brief“ der Werktätigen des VEB Braunkohlewerk Nachterstedt.127 Günther Rüther wertet dieses Dokument als Äußerungen der SED-Führung, welche diese „sich selbst noch nicht wieder zu fordern getraute.“128 Wolfgang Emmerich interpretiert den Nachterstedter Brief gar als von der Partei inszenierte „dringliche Aufforderung an die Berufsschriftsteller.“129 In dem Brief forderten die Unterzeichner die Schriftsteller auf, sich „ihrer großen Verantwortung bewußt“130 zu werden. Die Autoren verlangten mehr Literatur, die sich mit den praktischen Problemen und Erfolgen des sozialistischen Aufbaus in den Produktionsstätten befasste. Der Brief vereinte kulturpolitische Ideen und Forderungen der „Aufbau-Literatur“131 mit progressiven Appellen an die Schriftsteller, ihre Schreibstuben zu verlassen, um den betrieblichen Alltag kennenzulernen und um zum Aufbau des sozialistischen Bewusstseins der Arbeiter beizutragen: „(…) kommen Sie in unsere volkseigenen Betriebe, dort finden Sie (…) die vielseitigsten Typen und Konflikte, dort zeigt sich, wie interessant und reich das Leben der arbeitenden Menschen geworden ist.“132 In diesen Formulierungen klang zudem der Vorwurf mit, die Schriftsteller hätten sich dem gesellschaftlichen Leben der Werktätigen enthoben. Damit 124 Dokument 166. Gesetz über den zweiten Fünfjahresplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik für die Jahre 1956 bis 1960. 9. Januar 1958, Auszug, in: Schubbe192, S. 516 – 517, hier: S. 516. 125Dokument 161, in: Schubbe 1972, S. 496. 126 Ebd. 127 Dokument 109. Offener Brief an unsere Schriftsteller. „Nachterstedter Brief“, 27. Januar 1955, in: Schubbe 1972, S. 350 – 352. 128 Rüther, S. 74. 129 Emmerich, S. 128. 130 Dokument 109, in: Schubbe 1972, S. 351. 131 Vgl. Emmerich, S. 113ff. 132 Dokument 109, in: Schubbe 1972, S. 351. 21 kann der Nachterstedter Brief als Prolog des V. Parteitages der SED gedeutet werden und stellte die Weichen für die dort ausgerufene „sozialistische Kulturrevolution“. Mit dem Nachterstedter Brief warf die SED-Führung den Schriftstellern vor, in ihrer ideologischen Entwicklung zu stagnieren und den Anforderungen der sozialistischen Revolution nicht genügen zu können. Auf dem V. Parteitag rief die Parteiführung die „Kulturrevolution“ aus, um „die noch vorhandene Trennung von Kunst und Leben, die Entfremdung zwischen Künstler und Volk zu überwinden“.133 Auf diesem Parteitag forderte das ZK die Schriftsteller erneut auf, Partei zu ergreifen und ihr „Schaffen in den Dienst des sozialistischen Aufbaus“134 zu stellen. Damit erhöhte die Partei den öffentlichen Druck auf die Schriftsteller, legitimationsfördernde Literatur zu verfassen. Nach marxistisch-leninistischer Theorie ist die Kulturrevolution integraler Bestandteil der sozialistischen Revolution. Lenin ging davon aus, dass die sozialistische Revolution – verstanden als Umsturz der politischen und gesellschaftlichen Ordnung des kapitalistischen Systems – von einer kulturellen Revolution begleitet und ermöglicht würde.135 Als die SED-Führung auf dem V. Parteitag die Kulturrevolution ausrief, musste sie dennoch ideologische Leerstellen der marxistisch-leninistischen Theorie auffüllen. Marx vermied es, konkrete Ausführungen betreffend des Verhältnisses von Kultur und Revolution zu formulieren.136 Allerdings definierten Marx und Engels Stufen der kulturellen Entwicklung der nachkapitalistischen Gesellschaft. Diese theoretischen Ausführungen umschrieben die semantischen Veränderungen des Begriffs Arbeit, welche durch den Übergang zum Kommunismus zu romantisch verklärter Selbstverwirklichung mutierte. Marx nahm an, dass im Zuge der Kulturrevolution die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit aufgehoben würde.137 Auch die in der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren durchgeführte Kulturrevolution gab den SED-Kulturplanern lediglich Ansatzpunkte dafür, wie ein kultureller Umsturz in der DDR auszusehen habe. Die kulturellen 133 Dokument 180. Beschluß des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 10. Bis 16. Juli 1958, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 538 – 539, hier: S. 539. 134 Dokument 161. Für eine sozialistische Kultur – Die Entwicklung der sozialistischen Kultur in der Zeit des zweiten Fünfjahresplanes. Thesen der Kulturkonferenz der SED, 23. Und 24. Oktober 1957, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 496 – 507, hier: S. 497. 135 Vgl. Gransow, S. 31. 136 Vgl. ebd. 137 Vgl. Gransow, S. 32. 22 Voraussetzungen waren zu verschieden, um die kulturrevolutionären Methoden und Pläne der Bolschewiki unverändert auf Ostdeutschland übertragen zu können. Den Bolschewiki ging es in ihrer Kulturrevolution darum, Sprache, Bräuche, Feste und Rituale zu standardisieren, um die Menschen an die neue sozialistische Ordnung zu binden.138 Insbesondere die ethnische und religiöse Vielfalt der Sowjetunion behinderte eine staatlich geprägte Organisation des Alltags der Menschen. Die unterschiedlich ausgeprägten religiösen Bräuche der in der Sowjetunion lebenden Schiiten, Juden und orthodoxen Christen schlossen den sozialistischen Staat aus. Zudem war die sowjetische Alphabetisierungskampagne, um die Kulturrevolution „erfundenen primär Traditionen“139 eine des Sozialismus zu verbreiten. Die SED verengte diesen sehr weiten Kulturbegriff der sowjetischen Kulturrevolution und richtete ihren Modus der Kulturrevolution stark auf die Literatur aus. Als auf die Situation der DDR Ende der fünfziger Jahre übertragbar erwies sich hingegen die Vorstellung, Menschen durch „Aufklärung und Beseelung“140 zu klassen- und sozialismusbewussten Proletariern weiterzuentwickeln. Dies war bereits die zentrale Idee des Nachterstedter Briefs. Lenin hielt es für möglich, dass es zu Austauschprozessen zwischen Schriftstellern und Arbeitern während des Erziehungsprozesses käme. So deutete Lenin die Mitarbeit der Werktätigen in den Sowjets als Möglichkeit dafür, die gemäß der Theorie der zwei Kulturen weiterhin durch bürgerliche Kultur- und Wertvorstellungen geprägten Schriftsteller ebenso „ummodeln, umwandeln, umerziehen“141 zu können, wie die Arbeiterklasse. Lenin deutete Kulturrevolution demnach in zwei Richtungen. Dies mündete in einem Appell an die Arbeiter: „Wir müssen von der gesamten Kultur Besitz ergreifen, die der Kapitalismus hinterlassen hat (…).“142 Dieses Konzept schien Walter Ulbricht derart attraktiv zu sein, dass er in nahezu unverändertem Wortlaut, aber angereichert mit militaristischer Klassenkampfrhetorik, auf dem V. Parteitag forderte: „In Staat und Wirtschaft ist die Arbeiterklasse der DDR bereits der 138 Vgl. Baberowski, S. 100. Vgl. Eric Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen, in: Christoph Conrad, Martina Kessel (Hrsg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, S. 97-118. 140 Baberowski, S. 96. 141 Vladimir I. Lenin, Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Berlin 1970, S. 103. 142 Gransow 32. 139 23 Herr. Jetzt muß sie auch die Höhen der Kultur erstürmen und von ihnen Besitz ergreifen.“143 Aus diesen Versatzstücken kreierte die SED den Modus ihrer Kulturrevolution, bei der es weniger um einen Umsturz der ästhetischen Perspektive der sozialistischen Kunst, „als vielmehr um die Klärung ideologischer Fragen“144 ging, wie der Leiter der Kulturkommission des ZK der SED, Alfred Kurella, in seinem Diskussionsbeitrag zugab. Die Kulturrevolution war von oben initiiert und von der Parteiführung in Modus, Methode und Zielsetzung durchgeplant. Sie ging auf in einem praktischen Umsetzungsversuch, dem „Bitterfelder Weg“. III. Kulturpolitische Leitideen des Bitterfelder Weges a. Der Bitterfelder Weg als Realisierung der sozialistischen Kulturrevolution Am 24. April 1959 tagte in Bitterfeld eine erweiterte Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlags. An der Konferenz nahmen neben Schriftstellern auch Brigademitglieder der ersten sozialistischen Brigade, der Nikolai Mamai des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld, sowie führende Partei- und Gewerkschaftsmitglieder teil. Der Tagungsort Bitterfeld war nicht zufällig gewählt, sondern symbolisierte als eine der technisch modernsten Anlagen der DDR den Anspruch, in naher Zukunft die Bundesrepublik überholen, ohne sie ein-holen zu wollen. Mit dem Kulturprogramm Bitterfelder Weg erhob die SED den Anspruch, gemäß der marxistischen Theorie der Kulturentwicklung einer nachkapitalistischen Gesellschaft die Trennung von Kopf- und Handarbeit aufzuheben und die letzten aus der kapitalistischen Ordnung übernommenen bürgerlichen Wertvorstellungen der Kunstschaffenden zu revidieren. Der Slogan „Greif zur Feder Kumpel, die sozialistische Nationalliteratur braucht Dokument 178. Einige Probleme der Kulturrevolution. Referat Walter Ulbrichts „Der Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender demokratischer Staat“ auf dem V. Parteitag der SED, 10. Bis 16. Juli 1958, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 534 – 536, hier: S. 536. 144 Dokument 179. Diskussionsrede Alfred Kurellas auf dem V. Parteitag der SED. 10. Bis 16. Juli 1958, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 536 – 538, hier: S. 537. 143 24 dich!“145 sollte Arbeiter nicht nur dazu animieren, in den Schreibzirkeln der Brigaden als Kunstproduzenten selbst tätig zu werden. Gleichzeitig vermittelte die SED das Gefühl von Gleichberechtigung von Berufs- und Laienkunst. Dies entwertete einerseits die Tätigkeit der Berufs-Schriftseller und hob gleichzeitig die Arbeiter kulturell empor. Eines der bedeutenden Ziele aller kommunistischen Parteien, die Klassenlose Gesellschaft, schien damit zumindest auf der Ebene der Kultur greifbar nahe. Diese Vermittlung einer egalitären Kulturgesellschaft war konstitutiv für den Bitterfelder Weg. Zudem waren die damit transportierten Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen nach Sigrid Meuschel systemspezifische Werte für die Entwicklung von Loyalität und Legitimationsglauben.146 Das Ziel dieser offiziell „Literaturgesellschaft“ 147 von Johannes R. Becher getauften bestand darin, eine sozialistische Nationalliteratur von „Weltniveau“148 zu konstruieren, um „auf allen Gebieten der Kultur die absolute Überlegenheit gegenüber Westdeutschland unter Beweis [zu] stellen.“149 Diese sozialistische Nationalliteratur war der gezielte Versuch einer „organischen Verbindung“ zwischen Arbeitern und Literaten, und sollte aus einer kulturellen Einheitsfront entwachsen, um den Siegeszug des Sozialismus einzuleiten. Um dieses Ziel zu erreichen, definierten die SEDKulturplaner Rollenideale für Literaten und Arbeiter für die Übergangsphase der sozialistischen Kulturrevolution. b. Das Autorenideal: Sozialistische Erzieher Im Kulturprogramm Bitterfelder Weg hatten die Schriftsteller nach Ansicht der SED-Kulturplaner die Funktion des Mittlers zwischen Parteiinteresse und 145 Z. n. Rüther, S. 86. Vgl. Meuschel, S. 23. 147 Dokument 121. Von der Größe unserer Literatur. Rede Johannes R. Bechers zur Eröffnung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses, 9. Januar 1956, Wortlaut des im „Neuen Deutschland“ veröffentlichten Auszugs, in: Schubbe 1972, S. 395 - 408, hier: S. 403. 148 Dokument 184. Wege zur sozialistischen Volkskultur. Referat Alfred Kurellas auf der Tagung der Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED über die Auswertung des 4. Plenums des ZK, 5. Februar 1959, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 544 – 547, hier: S. 545. 149 Dokument 188. Fragen der Entwicklung der sozialistischen Literatur und Kultur. Rede Walter Ulbrichts vor Schriftstellern, Brigaden der sozialistischen Arbeit und Kulturschaffenden in Bitterfeld, 24. April 1959, Wortlaut des im „Neuen Deutschland“ veröffentlichten Auszugs, in: Schubbe 1972, S. 552 – 562, hier: S. 555. 146 25 bewusstseinsbildender Erziehung der Arbeiter einzunehmen.150 Alfred Kurella verstand Literaten als Funktionäre der Arbeiterklasse, die als Einheit in einem großen mechanischen Revolutionsprozess Hilfestellungen vermitteln sollten.151 Nötig sei dafür der Abbau des individuellen Ehrgeizes der Schriftsteller. Diese Interpretation der Rolle des Schriftstellers ging zurück auf Lenins Maxime, die literarische Tätigkeit sei ein „Rädchen und Schräubchen“ des Aufbaus des Sozialismus.152 Dies waren Angriffe auf die Autonomie der Schriftsteller, die sich nicht mehr gemäß bürgerlicher Wertvorstellungen als Wegweiser zur Emanzipation verstehen sollten,153 sondern erneut dazu aufgefordert wurden, für die SED Partei zu ergreifen. Ulbricht forderte in seiner Rede auf der Bitterfelder Konferenz die Schriftsteller auf, als aktive Begeisterer für den Sozialismus zu wirken.154 Damit unternahm die SED den gezielten Versuch, ein Idealbild des sozialistischen Schriftstellers zu entwerfen. Dieses basierte auf der Konzentration auf Themen und Stoffe aus der Welt der Arbeiter, der Verbreitung sozialistischer Moralvorstellungen zur Bewusstseinsbildung, der Hinwendung zur Gegenwart des Aufbaus des Sozialismus sowie der Verpflichtung auf die Methode des „sozialistischen Realismus“. Nur Autoren, die diesem Ideal entsprächen, könnten die „Abstandstheorie“ überwinden, der zufolge die Schriftsteller der Lebenswelt und dem Alltag der sozialistischen Arbeiter enthoben seien, erklärte der Schriftsteller Erwin Strittmatter.155 Nach Ansicht Strittmatters, der mit „Ole Bienkopp“ einen der erfolgreichsten Romane des Bitterfelder Wegs verfasste, behinderten bürgerliche Wertvorstellungen viele seiner Kollegen darin, das Denken und Fühlen der Arbeiterklasse in ihren Werken angemessen einzuarbeiten.156 Es sei nun die Aufgabe der Schriftsteller, in die Betriebe zu gehen, um „selbst an den Brennpunkten der Entwicklung des neuen 150 Vgl. Gabriele Czech, Oliver Müller, Sozialistischer Realismus und DDRLiteraturwissenschaft: Von der Instrumentalisierung bis zum allmählichen Verfall eines Leitbegriffs, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Das war die DDR. DDR-Forschung im Fadenkreuz von Herrschaft, Außenbeziehungen, Kultur und Souveränität, Münster 2004, S. 592-609, hier: S. 592. 151 Vgl. Dokument 187. Die Kulturpolitik ist kein „Fachproblem“. Diskussionsbeitrag Alfred Kurellas auf der 3. Pressekonferenz des ZK der SED in Leipzig, 17. Und 18. April 1959, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 549 – 552, hier: S. 549. 152 Vgl. Emmerich, S. 43. 153 Vgl. Gerlach, S. 39. 154 Vgl. Dokument 188, in: Schubbe 1972, S. 553. 155 Vgl. Dokument 189. An die Basis – gegen die Selbstzufriedenheit. Diskussionsbeitrag Erwin Strittmatters auf der Bitterfelder Konferenz, 24. April 1959, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 562 – 564, hier: S. 562. 156 Vgl. ebd, S. 563. 26 Lebens“157 zu arbeiten, wie es Ulbricht formulierte. Die Literaten sollten in die Kollektive der Brigaden eintauchen, um eine „Verschmelzung“ zwischen den Lebenswelten zu erzeugen.158 Viele Schriftsteller folgten diesem Aufruf und gingen in die Betriebe, um das Leben der Arbeiter zu studieren und in ihre Werke einzubinden. Franz Fühmann verschrieb einen Großteil seines Lebens der Sinnsuche in der sozialistischen Brigade, um den Zusammenhang zwischen der Arbeit des Schriftstellers und der industriellen Arbeit zu erforschen.159 Insbesondere die Suche nach dem Sinn der Tätigkeit des Schriftstellers im Sozialismus beschäftigte Fühmann mehrere Jahre in einem Bergwerk. Diese Tätigkeit Fühmanns kann als prototypische Realisierung der Forderung, Schriftsteller sollten mit der Lebenswelt der Arbeiterklasse verschmelzen, gedeutet werden, zumal daraus breit angelegte Reportagen des Alltags der Bergmänner entstanden.160 Allerdings ergaben sich aus der aktiven Begegnung zwischen Schriftstellern und Arbeitern auch Probleme, welche bei der Planung seitens der SED nicht bedacht worden waren. Bei Christa Wolf löste die Arbeit in der Brigade Verwirrung aus. Einerseits vermutete sie, in der Lebenswelt der Arbeiter das Zentrum des Sozialismus und „die Wirklichkeit des täglichen Lebens“ 161 entdeckt zu haben, wie sie erklärte. Andererseits stellte sie ernüchtert fest, dass dieser Arbeitsalltag von den romantischen Verklärungen der SEDPropaganda abwich und von Versorgungskrisen und Mängeln des Wirtschaftsplans geprägt war. Auch wurde ihr im Betrieb deutlich, dass sie, obwohl sie „mit vielen neuen Menschen Bekanntschaft, mit manchen Freundschaft“162 schloss, stets Gast in der Brigade blieb und von den Arbeitern auch stets als Schriftstellerin wahrgenommen wurde. Die propagierte egalitäre Kulturgesellschaft zwischen Arbeitern und Künstlern spiegelte sich in Wolfs Erfahrungen nicht wider. Andere Schriftsteller widersetzten sich den Aufforderungen des Bitterfelder Programms. Anna Seghers erklärte aus Loyalität zwar, die Idee, das Leben der Arbeiter in den Brigaden zu studieren, sei attraktiv – allerdings beteiligte 157 Dokument 188, in: Schubbe 1972, S. 553. Vgl. Dokument 191. Das Leben des Volkes – Quelle der sozialistischen Literatur. Aufsatz von Otto Gotsche, Auszug 1959, in: Schubbe 1972, S. 567 – 576, hier: S. 570. 159 Vgl. Barck, S. 315f. 160 Vgl. Franz Fühmann, Kabelkran und blauer Peter, Rostock 1960. 161 Z.n. Magenau, S. 126. 162 Ebd. S. 124. 158 27 sie sich nicht an der Bitterfelder Konferenz. Zwar interessierte sich Seghers für die praktische Umsetzung der sozialistischen Planwirtschaft. Dennoch weigerte sie sich, einen Roman im Stil des Bitterfelder Wegs zu verfassen. Ihr fehlte die „unbekümmerte Leidenschaftlichkeit“163 für dieses Programm, wie sie gestand. Im Arbeiterkollektiv hatten die von Ulbricht getauften „Schriftsteller der neuen Zeit“164 die Aufgabe, das sozialistische Bewusstsein der Arbeiter auszuprägen und sozialistische Moralvorstellungen zu verbreiten. Auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 formulierte Walter Ulbricht in Konkurrenz zu den christlichen Geboten einen sozialistischen Moralkodex, um Individualismus und Eigensinn zu diskreditierten und ein „säkularisiertes Glaubenssystem“165 zu installieren. Damit unternahm die SED den Versuch, den Legitimationsglauben der Schriftsteller auf moralisch-pseudoreligiöser Ebene zu stabilisieren. Die Moralgebote, die Werte wie Achtung der sozialistischen Gesellschaft und Vaterlandsliebe ebenso einforderten wie Solidarität mit der Arbeiterklasse und erhöhte Leistungsbereitschaft, waren ein gezielter Versuch, die Bindungskräfte an die Partei zu stärken. Insbesondere das vierte Gebot, „du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben (…)“166 sollte durch Betonung der Überlegenheit des Sozialismus zu größerer Systemtreue animieren. Der sozialistische Moralkatalog, der in alle individuellen und gesellschaftlichen Bereiche eingriff,167 definierte zugleich ein Verhaltensideal, das Protest gegen die sozialistische Ordnung wie am 17. Juni 1953 als individualistischen und unmoralischen Verstoß gegen verpflichtende Glaubensgrundsätze geißelte. Die SED nutzte die sozialistischen Moralgebote ebenso wie die Entwicklung eines sozialistischen Bewusstseins aus ideellen Motiven, um die Transformationspolitik zu beschleunigen. Der Sozialismus geriet damit in der offiziellen Parteipropaganda in greifbare Nähe, was den Legitimationsglauben der Schriftsteller stärkte.168 Nach Ansicht Alexander Abuschs sei es die Aufgabe der Schriftsteller, die moralischen Gebote des Sozialismus in ihre Z. n. Christiane Zehl Romero, Anna Seghers. Eine Biographie 1947 – 1983, Berlin 2003, S. 190. 164 Dokument 188, in: Schubbe 1972, S. 555. 165 Meuschel, S. 178. 166 P 12: „Du sollst… - Die zehn Gebote der sozialistischen Moral. Juli 1958, in: Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Bonn 1998, S. 54. 167 Vgl. Meuschel, S. 79. 168 Vgl. ebd., S. 169. 163 28 Texte einzuweben und zu verbreiten.169 Damit definierte Abusch die Tätigkeit der Schriftsteller als Vermittler einer legitimationsfördernden Ethik und die Literatur zu einem Medium zur Machtsicherung der Herrschaftssicherung der SED. Die Anforderung an die Schriftsteller, in ihren Texten zur Verbreitung sozialistischer Moralvorstellungen beizutragen, korrespondierte mit der stalinistischen Vorstellung vom Autor als „Ingenieur der menschlichen Seele“. Für den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaft und den Aufbau des Sozialismus war das Menschenbild des durch moralische und ideologische Erziehung formbaren Arbeiters konstitutiv.170 So sollten die Schriftsteller nicht nur in die Betriebe gehen, um in die Lebenswelt der Arbeiter einzudringen, sondern auch, um diese durch sozialistische Erziehung und politische Massenarbeit zu gestalten. Darunter verstanden die SED-Machthaber nach Parteiideologie geplante Kulturveranstaltungen in den Brigaden zur sozialistischen Erwachsenenbildung. Konkret waren damit die Organisation von Tanzabenden, die Gründung von Laienspielgruppen und Werk-Chören, sowie die Einrichtung von Betriebsbibliotheken umschrieben.171 Die von der SED-Führung stets geforderten Betriebsromane boten die Möglichkeit, die Arbeiterklasse und ihren Alltag als das „Subjekt der Geschichte“ in den Mittelpunkt der bürgerlichen Hochkultur in Tradition des Humanismus zu setzen. Dennoch erscheint es paradox, dass die SEDFührung die Schriftsteller als moralische Erzieher in die Brigaden schickte, obwohl hohe Kulturfunktionäre wie Alexander Abusch ihnen nur wenige Jahre zuvor noch „ideologische Schwankungen“ vorwarfen. Annette Schuhmann, die in ihrer Studie den FDGB als Verantwortungsträger der betrieblichen Kulturarbeit der DDR interpretiert, erklärt dieses Paradox als Folge einer dauerhaften Überforderung des FDGB mit der Organisation der Kulturarbeit in den Brigaden. Schuhmann stützt diese Deutung auf Aussagen des Sekretärs und Präsidiumsmitglieds des FDGB, Egon Rentzsch, der 1956 die „Vernachlässigung der Kulturarbeit der Betriebe in der Zeitschrift „Tribüne“ kritisierte.172 Seiner Auffassung nach 169 zeichnete sich die kulturelle Vgl. Dokument 152. Es gibt nur eine Kulturpolitik. Rede Alexander Abuschs auf dem 32. Plenum des ZK der SED, 10. Bis 12. Juli 1957, in: Schubbe 1972, S. 473 – 478, hier: S. 476. 170 Vgl. Mühlberg 1994, S. 69. 171 Vgl. Annette Schuhmann, Kulturarbeit im sozialistischen Betrieb. Gewerkschaftliche Erziehungspraxis in der SBZ/DDR 1946 bis 1970, Köln 2006, S. 13. 172 Vgl. ebd., S. 89. 29 Massenarbeit durch Aufgabenstellung und einen „untragbaren Verwirklichung, Widerspruch zwischen den zwischen vorhandenen Möglichkeiten und ihrer Ausnutzung, zwischen den bereitstehenden Mitteln und ihrer Verwendung“173 aus. Neben Organisationsmängeln und materiellen Problemen sah sich Rentzsch in seiner Arbeit einer mangelnden Akzeptanz seitens der Arbeiter ausgeliefert. Zudem kritisierte er Probleme der inhaltlichen Durchführung der an den FDGB gestellten Ansprüche zur politischen Massenarbeit.174 Demzufolge erhofften sich die SED-Funktionäre durch den Einsatz von Schriftstellern als Leiter der Zirkel der schreibenden Arbeiter die Attraktivität der kulturellen Massenarbeit in den Brigaden zu steigern und mehr Arbeiter an diese „Vergesellschaftungskerne“ zu binden. Dennoch erhöhte die SED den ideologischen Druck auf die Schriftsteller, um sicherzustellen, dass diese ihre Erziehungsarbeit im Sinne der Partei ausführten. In einem Bericht an den V. Parteitag forderte das ZK bereits 1958 eine verstärkte ideologische Offensive, um bei allen Kulturschaffenden „Klarheit (…) zu schaffen“.175 Nachdem Just und Harich 1956 den Versuch unternahmen, in der Zeitschrift Sonntag die in Polen und Ungarn öffentlich geführte Entstalinisierungsdebatte auf die DDR zu übertragen, forderte die SED die Schriftsteller auf, solche rückwärtigen Fehlerdiskussionen zu unterlassen. Ulbricht erinnerte die Schriftsteller bereits im Januar 1957 daran, den Fokus auf die Realisierung der Utopie des Sozialismus zu setzen, da dies das einzig legitime Arbeitsfeld für Literaten sei.176 Die SED-Führung schreckte die Schriftsteller zudem mit öffentlichen Schauprozessen ab, in denen Just und Harich zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden.177 So erklärte Alexander Abusch auf der Sitzung des Präsidialrates des Kulturbundes, „das Positive in der Entwicklung seit dem Sommer 1956“178 bestünde darin, die Schriftsteller auf die Probleme und Erfolge des Aufbaus des Sozialismus zu verpflichten. Dies galt in besonderem Maße für die Literatur des Bitterfelder 173 Schuhmann, S. 89f. Vgl. ebd., S. 90. 175 Dokument 177. Bericht des Zentralkomitees an den V. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 10. Bis 16. Juli 1958, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 533. 176 Vgl. Dokument 142. Zum Kampf zwischen dem Marxismus-Leninismus und der Ideologie der Bourgeoisie. Referat Walter Ulbrichts auf dem 30. Plenum des ZK der SED, 30. Januar 1957, Auszug, in: Schubbe1972, S. 452. 177 Vgl. Schroeder, S. 137. 178 Dokument 144. Demokratisierung der Kultur. Rede Alexander Abuschs auf der Sitzung des Präsidialrates des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands am 22. Februar 1957, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 455 – 460, hier: S. 455. 174 30 Wegs, die der Zukunft zugewandt sein sollte und wenigstens in der politischen Vermittlung eine egalitäre Klassenlose Gesellschaft vorwegzunehmen versprach. Ein weiteres kulturpolitisches Mittel zur Erhöhung des Anpassungsdrucks auf die Schriftsteller bestand in der Forderung nach einer konsequenten Umsetzung der verpflichtenden Methode des sozialistischen Realismus.179 Der Terminus sozialistischer Realismus wurde 1934 von Stalin geprägt und umschrieb die komplette ideologische Ausrichtung der Kunst auf eine von oben verordnete Methode.180 Nach Stalin ging es bei der Einführung des sozialistischen Realismus um die Etablierung einer zentralisierten, bürokratisierten und funktionalisierten Literatur. Stalin legte damit sowohl den Inhalt der Literatur (sozialistisch) als auch die äußere Form (realistisch) fest. Die Verpflichtung auf den sozialistischen Realismus schloss künstlerische Spontaneität, Individualismus und Kreativität aus und sollte Literaten zur Uniformität zwingen. Jede Abweichung geißelte die Partei als dekadenten Formalismus. Diese Kunst nach Bauprinzip verurteilten in der DDR sowohl Literaten als auch Literaturwissenschaftler. Stefan Heym verurteilte den sozialistischen Realismus als Ursache für eine hölzerne Primitivität der Gegenwartsliteratur der DDR.181 Der Germanistikprofessor Hans Mayer erklärte die Verpflichtung auf den sozialistischen Realismus gar als „Theorie vom möglichen Nutzen schlechter Literatur.“182 c. Das Arbeiterideal: positive Helden und sozialistische Kultureroberer Mit dem Bitterfelder Weg unternahm die SED den Versuch, die Arbeiter auf kulturellem Gebiet zu aktivieren. Neben der sozialistischen Erziehung trugen die Kulturangebote in den Brigaden zur Sozialisation der Arbeiter bei. In diesen „Vergesellschaftungskerne(n)“183 ging es neben der sozialistischen 179 Vgl. Dokument 177, in: Schubbe 1972, S. 533. Vgl. Jäger, S. 35f. 181 Vgl. Rüther, S. 76. 182 Dokument 131. Rede Prof. Hans Meyers auf der Konferenz der Literaturwissenschaftler in Berlin. 31. Mai 1956, Auszug, in: Schubbe 1972, S. 437 438, hier: S. 438. 183 Vgl. Martin Kohli, Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 31 – 61, hier: S. 38. 180 31 Arbeit nach Vorgabe des Wirtschaftsplanes auch darum, sozialistisch zu arbeiten und zu leben.184 Das sozialistische Leben in der Brigade umfasste nach Roesler drei Dimensionen.185 Erstens übte das Kollektiv, zu dem auch Schriftsteller als Brigadepaten gehören konnten, in Verbindung mit den sozialistischen Moralgeboten einen großen Einfluss auf die Bewusstseinsbildung und die Arbeitsmoral der Arbeiter aus. Zudem übten die Brigadekumpel durch gegenseitige moralische Unterstützung in Lebenskrisen eine seelsorgerische Funktion aus, die zu starken Bindungskräften an die Brigade führte. Zweitens verschwand in den Betrieben die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsort, sodass nach Annette Schuhmann von einer „betriebszentrierten Organisation“ der Freizeit gesprochen werden kann.186 Die Betriebe integrierten bei ihren Freizeitangeboten – Tanzabende, Ausflüge, Familienfeste – stets neben den Arbeitern deren Partner, Familien und Freunde. Zudem waren die Betriebe Quellen für die Vergabe von Wohnraum und Urlaubsplätzen, öffneten Zugänge für soziale Dienstleistungen und wiesen Aufstiegschancen oder materielle Privilegien zu. Diese Korrumpierung in den Brigaden war ein zentraler Legitimationsspender für die Arbeiter. Drittens bemühten sich die Brigaden der sozialistischen Arbeit um die Vermittlung von Kulturgütern. Bereits der Nachterstedter Brief implizierte eine rege literarische Rezeption in den Betrieben, da angeblich 48% der Kumpel aus dem Braunkohlewerk „ständige Leser der Bücher unserer Betriebsbibliothek“187 gewesen seien. Diese betriebliche Kulturarbeit sollte durch den Bitterfelder Weg intensiviert werden, da nach Ulbricht die Hauptaufgabe der Schriftsteller, „die wachsenden kulturellen Bedürfnisse des Volkes auf einem künstlerisch möglichst hohen Niveau“188 zu befriedigen, noch nicht erreicht worden sei. Konkret fehlte Ulbricht ein großer Betriebsroman, der die in den Brigaden der sozialistischen ablaufende Entwicklung der Arbeiter „zu den fortschrittlichsten Menschen, zum Typ des sozialistischen Arbeiters“189 in Tradition des Agitprop der Weimarer Republik unterstützen sollte. Da die Berufsschriftsteller diese Leistung bisher versäumt 184 Vgl. Jörg Roesler, Die Produktionsbrigaden in der Industrie der DDR. Zentrum der Arbeitswelt? In: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 144 – 170, hier: S. 145. 185 Vgl. Roesler., S. 152. 186 Vgl. Schuhmann, S. 11. 187 Dokument 109, in: Schubbe 1972, S. 350. 188 Dokument 178, In: Schubbe 1972, S. 535. 189 Dokument 188, in: Schubbe 1972, S. 552. 32 hätten, sollten die Arbeiter in den Schreibzirkeln nun diese Aufgabe übernehmen, und die „Höhen der Kultur erstürmen“190. In den Betriebsromanen sollten die Arbeiter als Helden des Sozialismus gefeiert werden. Im Sinne der Definition des neuen Menschen als einen universell ausgebildeten und körperlich gestählten Herrscher über Maschine und Geist sollte damit der betriebliche Alltag, in dem oft Mangelwirtschaft herrschte, aufgewertet werden. Die Arbeiter waren in dieser Vorstellung gleichzeitig Subjekt und Objekt der Literatur des Bitterfelder Weges. Diesen Anforderungen entsprach Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ nur bedingt. Ein Teil der Handlung spielt zwar in einem Waggonbauwerk, allerdings konnte die Erzählung nur unzureichend als Betriebsroman gelesen werden. Obwohl sich die Protagonistin Rita in der Erzählung rasch mit ihrer Tätigkeit im Werk identifiziert, ist sie als angehende Lehrerin erstens eine Frau und zweitens lediglich eine Arbeiterin auf Zeit, um ihr Studium aufnehmen zu können. Auch Erwin Strittmatters „Ole Bienkopp“ kann nicht als Betriebsroman gelesen werden, sondern thematisierte die LPG-Problematik. Dennoch hielt sich Strittmatter an die Vorgaben eines positiven Helden – ohne dies jedoch vordergründig zu betonen. So erscheint der Protagonist Ole Bienkopp zu Beginn des Romans als eigensinnig, ungeduldig und übermütig. Hinter dieser Fassade konstruierte Strittmatter jedoch einen energiegeladenen und selbstbewussten Helden, der gegen alle Widerstände traditioneller und konservativer Bauern eine Bauerngenossenschaft gründet.191 Im „Handbuch für schreibende Arbeiter“192, ein in dritter Person Plural verfasster Ratgeber, der „Anregungen zur schöpferischen Arbeit und literarisches Rüstzeug“193 vermitteln sollte, setzten die Herausgeber die Bewegung der schreibenden Arbeiter in Tradition zum Proletkult der Weimarer Republik und zu den frühen proletarischen Volksdichtungen des 19. Jahrhunderts. Die Autoren formulierten damit eine progressive, teleologische Entwicklungsgeschichte der Bewegung schreibender Arbeiter, welche mit dem Bitterfelder Weg in der DDR „nach einem Jahrhundert der Unterdrückung, der Ausbeutung und des Kampfes“194 einen Höhepunkt fand. Die Bitterfelder Konferenz eröffnete nach Ansicht der Autoren des Handbuchs „eine neue 190 Dokument 178, in: Schubbe 1972, S. 536. Vgl. Bernhard Mayer-Burger, Entwicklung und Funktion der Literaturpolitik der DDR (1945 – 1978), München 1984, S. 186ff. 192 Jürgen Bonk, Dieter Faulseit, Ursula Steinhaußen (Hrsg.), Handbuch für schreibende Arbeiter, Berlin 1969. 193 Ebd., S. 9. 194 Ebd., S. 21. 191 33 Etappe in der Aneignung und Bereicherung der Schätze der Kultur durch die Arbeiterklasse“.195 Wegweisende Vorbilder seien demnach einerseits die proletarische, revolutionäre Literatur der KPD, samt Roter Revuen und klassischer Stücke der Weimarer Arbeitertheater sowie andererseits das Volkslied „Das Blutgericht“ der schlesischen Weber aus dem Jahr 1844 gewesen. Daraus ergibt sich ein weiteres Paradox des Bitterfelder Wegs: Einerseits sollte sich die Literatur der schreibenden Arbeiter inhaltlich an gegenwärtige Probleme und Erfolge des sozialistischen Aufbaus sowie an die verheißungsvolle Zukunft des „Sieges des Sozialismus“ orientieren. Andererseits sollten sich die Arbeiter dabei an tradierte Formen halten und an Klassiker der proletarischen Kampfliteratur der Zwischenkriegszeit anknüpfen. Zudem erscheinen die ausgewählten Beispiele, die eine Orientierung für die ersten Schreibversuche der Arbeiter boten, problematisch. Das Anknüpfen an Texte, die den proletarischen Kampf gegen Hunger und Armut in der Weltwirtschaftskrise der Weimarer Republik thematisierten,196 erschien in einer Gesellschaft, die sich rühmte, die Klassengegensätze des Kapitalismus überwunden zu haben, antagonistisch. Zudem mussten diese Texte Erinnerungen an die Versorgungskrise in den fünfziger Jahren, sowie den Arbeiteraufstand vom 17. Juni wecken. Das schlesische Volkslied „Das Blutsgericht“, welches die Autoren des Handbuchs um entscheidende Stellen gekürzt zitierten, deuteten jene als Beleg für ein historisch gewachsenes Klassenbewusstsein des Proletariats. In dem Gedicht beklagen die Weber die Zerstörung ihres traditionellen Handwerks durch unmoralisch und profitgierig dargestellte Unternehmer, welche eine Mechanisierung des Webens zur Steigerung der Produktivität und des Umsatzes durchführten. Dabei verschwiegen die Autoren des Handbuchs konsequent, dass die Weber sich in dem Text als Vollstrecker einer göttlichen Gerechtigkeit wähnten, die den Unternehmern keinen proletarischen Klassenkampf androhten, sondern sie nach christlichen Glaubensgrundsätzen verurteilten, für ihre Sünden im Jenseits Buße leisten zu müssen. Tradition, Askese und Religion der Weber bilden in dem Text den zentralen Gegensatz zu Industrialisierung, Gier und Atheismus der Unternehmer. So unterließen es die Autoren, die Strophen des Gedichtes abzudrucken, die in der Phase des offensiven Kirchenkampfes der SED Aktualität besaßen: „Doch ha! Sie glauben an keinen Gott, 195 196 Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 19. 34 Noch weder an Höll‘ und Himmel, Religion ist nur ihr Spott, Hält sich ans Weltgetümmel.“197 Dieses Aussparen der christlichen Dimension des Textes war jedoch insofern konsequent, als Kultur den Wertvorstellungen und der Ideologie der Partei folgen sollte. Das Anknüpfen an diese konstruierte Traditionslinie sollte den Arbeitern verdeutlichen, dass sie Teilnehmer und Gestalter eines historischen Prozesses und vollberechtigte Mitglieder der sozialistischen Kulturgesellschaft seien. Insofern übte der Bitterfelder Weg eine „kompensatorische Funktion“ 198 aus. Die Zirkel bildeten die Arbeiter darin aus, eine teleologische Geschichte der proletarischen Literatur fortzuschreiben. Insofern versuchte die SED das Konzept der Kulturgesellschaft durch Partizipation der Arbeiterklasse zu legitimieren. An diesen Anforderungen an die Arbeiter scheiterte der Bitterfelder Weg. Nachdem die Parteispitze einsehen musste, dass die Arbeiter überfordert waren, die romantische Vorstellung eines im Betrieb entstandenen gesellschaftlichen Betriebsromans zu erfüllen, fokussierte Ulbricht auf der zweiten Bitterfelder Konferenz im April 1964 kleinere Formen. Auch das 1969 erschienene „Handbuch für schreibende Arbeiter“ sparte Hinweise zum Verfassen von Romanen aus – dies „hätte den Charakter dieses Handbuchs überfordert“199 räumten die Autoren ein. Große Bedeutung maß die Partei dem Brigadetagebuch bei, in das die Arbeiter alles eintragen sollten, was in der Brigade geschah. Dahinter standen pädagogische Motive.200 Die Arbeiter sollten im schreibenden Kollektiv erkennen, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Produktivität zu steigern. Das Brigadetagebuch kann damit als ein kulturpolitisches Element des Neuen Ökonomischen Systems gedeutet werden. Den Arbeitern wurde in Aussicht gestellt, durch ununterbrochenes Wachstum den Lebensstandard Westdeutschlands in naher Zukunft zu überholen.201 Die SED musste feststellen, dass trotz der staatlichen Förderung und öffentlichen Aufmerksamkeit keine hochwertige Arbeiterkultur erzwungen 197 Vgl. Das Blutgericht Gerlach, S. 11. 199 Handbuch, S. 9. 200 Vgl. Gerlach, S. 59. 201 Vgl. Manfred G. Schmidt, Der Wohlfahrts- und Arbeitsstaat – die Sozialpolitik, in: André Steiner (Hrsg.), Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte?, S. 127 – 144, hier: S. 137. 198 35 werden konnte.202 Ester von Richthofen stellt in ihrer Untersuchung der kulturellen Massenarbeit in den Betrieben fest, dass das Interesse der Arbeiter, nach Feierabend in den betrieblichen Schreibzirkeln an sozialistischer Hochkultur zu arbeiten, gering gewesen sei. 203 Die Zahlen der aktiven schreibenden Arbeiter sanken demnach stetig, da sich viele Arbeiter eher nach entspannenden Tätigkeiten in den Brigaden sehnten. Beliebt waren nach Richthofen gesellige Kartenabende oder gemeinsame Plauderrunden mit Kaffee und Kuchen, um die Anstrengungen der Planerfüllung auszugleichen. Zudem fehlte es an Schriftstellern, die willens waren, die Arbeiter auszubilden. Nach Honeckers kulturpolitischem Kahlschlag auf dem 11. Plenum des ZK, sowie der Fokussierung auf die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ als neuer zentraler Legitimationsspender für die Parteiherrschaft,204 verlor der Bitterfelder Weg an Bedeutung. d. Sozialistische Nationalliteratur und Identitätsbildung Walter Ulbricht zufolge war der Bitterfelder Weg „die Entwicklung der deutschen sozialistischen Nationalkultur über einen längeren Zeitraum.“205 Seit dem I. Deutschen Schriftstellerkongress im Oktober 1947 galt in der SBZ und anschließend in der DDR die Prämisse, kulturell an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen.206 Insbesondere die Weimarer Klassik und der Humanismus boten als „Kulturerbe“ Anknüpfungspunkte für einen kulturellen Neuanfang und ein „kulturvolles Leben“207 im Sozialismus. Dieses Kulturerbe bildete die Grundlage für Ulbrichts Auffassung der Kulturnation DDR. Ulbricht vertrat die Interpretation zweier Linien der deutschen Nation. Demzufolge war die deutsche Nation staatenübergreifend in zwei Klassenpositionen getrennt, 202 Vgl. Esther von Richthofen, Normalisierung der Herrschaft? Staat und Gesellschaft in der DDR 1961-1979. Kulturelle Massenarbeit in Betrieben und Massenorganisationen im Bezirk Potsdam, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Das war die DDR. DDR-Forschung im Fadenkreuz von Herrschaft, Außenbeziehungen, Kultur und Souveränität, Münster 2004, 573 – 591, hier: S. 578. 203 Vgl. ebd., S. 578f. 204 Vgl. Wehler 2009, S. 95ff. 205 Dokument 283. Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur. Rede Walter Ulbrichts auf der II. Bitterfelder Konferenz, 24. Und 25. April 1964, in: Schubbe 1972, S, 956 – 991, hier: S. 957. 206 Vgl. Jäger, S. 15. 207 Z.n. Meuschel, S. 71. 36 wobei westdeutsche Arbeiter kultursoziologisch zur DDR gehörten.208 Konstitutiv für diese Theorie war die Annahme, dass Nation nicht mit Nationalität gleichzusetzen sei, sondern der Klassencharakter das entscheidende Kriterium der Nationenbildung darstelle.209 Um die DDR eindeutig von der Bundesrepublik abzugrenzen, war die SED-Führung stets darum bemüht, ihre Selbständigkeit zu betonen. Das Konzept der „Kulturnation“ DDR bot dafür die Möglichkeit. Nach Friedrich Meineckes Typologie der Nationen sind „Kulturnation“ und „Staatsnation“ Unterkategorien des semantisch weiten Begriffs Nation.210 Als Staatsnation fasst Meinecke solche Nationen, die ihre Selbständigkeit auf Traditionen der Politik- und Verfassungsgeschichte begründen. Im Gegensatz zur Staatsnation ist die Kulturnation nach Meinecke durch eine sprachlich-kulturelle Einheit gekennzeichnet. Als „Kulturgüter“, die als Begründungsmuster für nationale Identität taugen, formuliert Meinecke die unvollständige Liste Sprache, Religion und Literatur.211 Die Sprache bot der SED unzureichende Möglichkeiten, eine die Bundesrepublik ausgrenzende nationale Identität der DDR zu konstruieren. Auf religiöser Ebene versuchte die SED die Attraktivität ihrer Ersatzreligion Sozialismus zu steigern. Die sozialistischen Moralgebote oder die Einführung der Jugendweihe können als Versuche gedeutet werden, eine pseudoreligiöse Identität zu erzeugen. Die Literatur hingegen bot ungleich bessere Perspektiven, eine eigenständige Kulturnation DDR zu definieren, die sich auf das kulturelle Erbe der Weimarer Klassik berief. Die Klassik galt der SED als Orientierungsrahmen der gesamten DDR-Kultur. Das Ministerium für Kultur der DDR erklärte die Pflege des Erbes der Weimarer Kulturpolitik.212 Gewinnung Diese der Klassik Erbpflege bürgerlichen war als die Hauptaufgabe besonders für Intellektuellen und die staatlicher ideologische Schriftsteller in der unmittelbaren Nachkriegszeit attraktiv. Analog zur Antifaschismus-Doktrin konnte die SED die moralische Erneuerung auf kulturell hohem Niveau 208 Vgl. Manfred Ackermann, Phasen und Zäsuren des Erbeverständnisses der DDR, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Band III/2. Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken n Staat und Gesellschaft der DDR, BadenBaden 1995, S. 768 – 795, hier: S. 788. 209 Vgl. ebd., S. 789. 210 Vgl. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Herzfeld, München 1963, S. 10. 211 Vgl. ebd. 212 Vgl. Ackermann, S. 776. 37 propagieren. Zudem wies die SED mit der Pflege der Weimarer Klassik die Vorwürfe zurück, die kommunistische Partei sei geschichts- und traditionslos.213 Auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress im Januar 1956 rühmte Johannes R. Becher die „Größe unserer214 Literatur, die mit dazu beigetragen hat, unser ruhmreiches deutsches Kulturerbe zunächst vor der Vergessenheit und der Fälschung, und alsdann vor der Vernichtung zu retten.“215 Becher vereinnahmte die Weimarer Klassik als Wegweiser für die hohe künstlerische Qualität der neuen in der DDR entstandenen Literatur, um der Bundesrepublik die Klassik „weg (…) zu interpretieren“216 wie Manfred Ackermann feststellt. Becher leitete die klassischen Kunstideale samt goetheschem Geniekult ab und wandte sie auf die sozialistische Kulturrevolution an, indem er Literatur als Kollektivwesen definierte, „Literaturgesellschaft“217 Macht in der eine überindividualisierte und Geist in Gemeinschaftswerk ein transformierte. Diese Identität zum Anfassen, die DDR gehörte zu den Staaten mit der höchsten Bücherproduktion pro Kopf,218 sollte seit der Bitterfelder Konferenz aus dem Volk selbst erwachsen. Die SED erhoffte sich, daraus eine nationale Identität der schreibenden Arbeiter zu konstruieren. IV. Fazit Die Kulturrevolution und der Bitterfelder Weg waren kulturpolitische Initiativen, mit denen die SED auf die Herrschaftsinstabilität in Folge der Ereignisse des 17. Juni 1953 und des XX. Parteitags der KPdSU reagierte. Der Bitterfelder Weg kann insofern totalitär-stalinistisch gedeutet werden, als die Partei umfassende Planungs-, Gestaltungs- und Entscheidungshoheit einforderte und ein Wahrheitsmonopol in ideologischer und künstlerisch-methodischer Hinsicht auszuüben versuchte. Die verpflichtende Methode des sozialistischen Realismus steht prototypisch für diesen Anspruch. Die SED definierte darüber hinaus festgesetzte Rollenideale, um von ihrer kulturellen Planung abweichendes Verhalten von vornherein auszuschließen. Damit wird deutlich, 213 Vgl. Ackermann, S. 774. Hervorhebung im Original. 215 Dokument 121, in: Schubbe 1972, S. 395. 216 Ackermann, S. 776. 217 Dokument 121, in: Schubbe 1972, S. 403. 218 Vgl. Barck, S. 311. 214 38 dass die Entstalinisierung in der DDR ein langer Prozess war. Stalinistische Vorstellungsideale prägten die Kulturpolitik bis weit in die sechziger Jahre. Während in anderen kommunistischen Staaten wie Polen oder Ungarn die Entstalinisierung wesentlich dynamischer und gewaltsamer ablief, blieben in der DDR weitere Aufstände oder gar Putschversuche wie in Ungarn aus. Diese relative Stabilität kann mit einem stabilen Legitimationsglauben in die charismatische Herrschaft gedeutet werden. Die SED verstand es, mit den kulturpolitischen Initiativen Ende der fünfziger Jahre die ideologische Glaubenskrise der Schriftsteller auszugleichen, indem sie die Schriftsteller in einer Kombination aus Betonung der Bindungskräfte und obrigkeitsstaatlichen Repressionen einband und einschüchterte. Damit konnte die SED ihr politbürokratisches Sozialismusmodell auf kultureller Ebene manifestieren. Die Kampagne Bitterfelder Weg bot die Chance, eine egalitäre Gesellschaft in den Brigaden der sozialistischen Arbeit zu kreieren, die die Arbeiter kulturell emporhob und ihnen neue Sinnhorizonte in den Zirkeln der schreibenden Arbeiter anbot. Dieser Aspekt des Bitterfelder Weges lässt sich mit Dietrich Mühlbergs Vorschlag, Kulturgesellschaft berücksichtigt zu die DDR-Geschichte schreiben, werden, dass gut die als fassen. SED Geschichte Allerdings den einer muss Bitterfelder dabei Weg aus machtpolitischem Kalkül plante und das Konzept an systemspezifische Legitimationsspender wie gleichberechtigte Teilhabe, sozialistische Moralgebote und egalitäre Gerechtigkeitsvorstellungen ausrichtete. Darüber hinaus bot das auf dem Bitterfelder Weg begangene Gemeinschaftsprojekt der sozialistischen Nationalliteratur Möglichkeiten, eine die Bundesrepublik ausgrenzende nationale Kulturidentität zu konstruieren, um die DDR als Staat zu konsolidieren. Daraus resultierte zumindest in der Parteiplanung eine dem Kapitalismus Westdeutschlands Gesellschaft“ gegenüberstehende „kulturelle Gegen- 219 . Insofern war die Kultur ein verlängerter Arm der Politik und Machtsicherung der Partei. Dennoch gibt es Argumente gegen die Annahmen einer totalen Durchherrschung und Planungsliteratur. Aus der Analyse der Mentalität der Schriftsteller ging hervor, dass diese durchaus Möglichkeiten zu Protest und Widerstand hatten. Die Verpflichtung auf den sozialistischen Realismus und die Forderung nach positiven Helden aus der Arbeitswelt konnten die 219 Dietrich Mühlberg, Die DDR als Gegenstand kulturhistorischer Forschung, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 33, Berlin 1993, S. 7-35, hier: S. 37. 39 Schriftsteller zudem in ihren Werken künstlerisch umgehen. So bot die Literatur auch stets eine Ersatzöffentlichkeit. Verweigerungshaltungen wie am Beispiel von Anna Seghers, und konfrontativer Widerstand gegen ästhetische Primitivität wie im Falle Heyms verdeutlichen, dass es durchaus Grenzen der Durchherrschung der Kultur gab. Zudem hatten die von der SED eingesetzten Mittel zur machtpolitischen Einflussnahme der Schriftsteller andere als die intendierten Folgen:220 So machte Christa Wolf desillusionierende Erfahrungen im Bitterfelder Weg und löste sich daraufhin von der Aufgabe als Erzieherin. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass zwischen einem totalen Anspruch des Staates und der Umsetzung in der historischen Realität unterschieden werden muss. V. Quellen- und Literaturverzeichnis a. Quellen b. Literatur VI. Anhang Erklärung: Der Unterzeichnende versichert, dass er die vorliegende schriftliche Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die von ihm angegebenen Hilfsmittel benutzt hat. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinne nach entnommen sind, wurden in jedem Fall unter Angabe der Quellen kenntlich gemacht. Dies gilt auch für beigegebene Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen und dergleichen. 220 Vgl. Mühlberg 1994, S. 68. 40 Dem Unterzeichnenden ist bewusst, dass jedes Zuwiderhandeln (Einreichen einer Arbeit, die wörtlich oder nahezu wörtlich, ganz oder zu Teilen aus einer Arbeit oder mehreren Arbeiten [publiziert im Internet, in Zeitschriften, Monographien etc.] anderer übernommen ist) als Täuschungsversuch (siehe § 18 BPO) gelten kann, der die Bewertung der Arbeit mit „nicht ausreichend “ zur Folge hat. ________________________ ________________________ Datum, Ort Unterschrift 41