Uwe-Jens Heuer Interview Juristische - TP

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Juristische Verfolgung erschwert Auseinandersetzung mit Geschichte
Interview mit dem PDS-Bundestagsabgeordneten Uwe-Jens Heuer
TP: Herr Heuer, auf einer Podiumsdiskussion im März dieses Jahres haben Sie gesagt, die
Angeklagten im Politbüroprozeß gehören nicht auf die Anklagebank. Ich möchte das etwas genauer
wissen: Aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen?
Heuer: Ja, ich meine, erst einmal aus rechtlichen Gründen. Ich bin der Meinung, daß dieser Prozeß das ist erst mal das grundsätzlich Juristische - gegen das Rückwirkungsverbot des Artikels 103 des
Grundgesetzes verstößt. Das heißt, die Angeklagten werden nicht an dem Recht gemessen, das zur
Tatzeit galt, und das halte ich für einen Verstoß gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland.
TP: Das Rückwirkungsverbot der Verfassung kann ja nun - wie es durch die Rechtsprechung
geschieht - durch die Radbruchsche Formel umgangen werden. Die Radbruchsche Formel hört sich
auch schön an..., vielleicht erklären Sie als Jurist zunächst einmal diese Formel...
Heuer: Die Radbruchsche Formel stammt ja aus der Zeit kurz nach dem Ende des zweiten
Weltkrieges. Radbruch formulierte hier, daß das gesetzte, "positive" Recht dann und nur dann
weichen müsse, wenn es der Gerechtigkeit in unerträglichem Maße widerspricht. Die Problematik liegt
allerdings darin, daß über Gerechtigkeit als "naturrechtlichen" Maßstab notwendig die
unterschiedlichsten Vorstellungen bestehen und das ist eine unsichere und deshalb für mich nicht
akzeptierbare Grundlage einer Bestrafung. Bestimmtheit der Strafvorschrift - und hier ist der DDR
auch einiges vorzuwerfen - ist wie das Rückwirkungsverbot Ausdruck eines Menschenrechts.
TP: Aber die Menschenrechtspakte der UNO waren doch hinreichend bestimmt?
Heuer: Das ist richtig. Aber das müssen wir dann aber etwas genauer noch diskutieren, glaube ich. Es
ist ja so, daß auch nach der DDR-Verfassung die allgemeinen Regeln des Völkerrechts galten. Sie
wissen, daß die DDR den Menschenrechtspakten von 1966 beigetreten ist. Aber sie ging - wie
übrigens alle sozialistischen Staaten und andere Länder auch - davon aus, daß diese vertragliche
Verpflichtung der DDR nur dann für DDR-Bürger gilt, wenn sie vom Staat überführt worden ist. Eine
der Regeln dort ist, daß der Staat eine bestimmte Freizügigkeit zu gewähren hat, also Reisen ins
Ausland, und dabei sind bestimmte Einschränkungen zulässig, aber ich sage noch mal: Die DDR hat
diese Regeln nicht in ihr eigenes Recht überführt, und ich räume Ihnen durchaus ein, daß sie damit
gegen ihre vertraglichen Verpflichtungen verstoßen hat, aber auf jeden Fall sind diese Regeln dann
kein verbindliches Recht für DDR-Bürger geworden.
TP: Das Urteil des BGH, das die Freiheitsstrafen gegen Keßler, Streletz und Albrecht und die
Anwendung
der
Radbruchschen
Formel
bestätigt
hat,
steht
zur
Prüfung
beim
Bundesverfassungsgericht an. Welche Erfolgschancen messen Sie den Verfassungsbeschwerden der
Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates bei?
Heuer: Ich möchte zunächst ein Argument noch einmal anführen, das ich für wichtig halte: Sehen Sie,
im Grunde genommen bedeutet die Konstruktion dieses Urteils und auch der Anklage in Prozessen,
die gegenwärtig laufen, daß DDR-Recht die Angeklagten verpflichtet hätte, die Mauer abzubauen.
Und ich muß Ihnen sagen, ich halte das für eine absurde Unterstellung. Ich will gar nicht darüber
diskutieren, ob sie hätte abgebaut werden müssen oder sollen..., aber daß DDR-Recht die Führung
dieses Landes - und die Führung dieses Landes lag ja in den Händen des Politbüros - verpflichtet
haben sollte, die Mauer abzubauen, halte ich für eine Absurdität. Sie haben ja gesehen, daß die
DDR, wie sich erwiesen hat - und das ist natürlich eine schlimme Tatsache -, ohne die Mauer nicht
lebensfähig war. Das hat sich ja am Schluß deutlich gezeigt. Und nun würde das aber juristisch
bedeuten, die DDR-Führung war gleichsam zum Staatsselbstmord verpflichtet - juristisch aufgrund
des eigenen Rechts. Und das halte ich für eine absurde Vorstellung. Ich glaube nicht, daß eine
Rechtsordnung vorstellbar ist, die die Regierung oder die Führung eines Landes verpflichtet, dieses
Land zu beseitigen. Ich nehme an, daß auch in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
eine solche Verpflichtung der Führung dieses Staates nicht hineingedacht werden kann. Und insofern
meine ich, daß es sich da um einen Versuch handelt, in eine Rechtsordnung etwas hinein zu
interpretieren, was nicht geht. Ich hoffe, daß das Bundesverfassungsgericht diesen Positionen nicht
folgt.
TP: Wäre es wirklich Selbstmord gewesen, wenn Mauer und Grenze beseitigt worden wären? Wenn
man heute Stimmen hört, würden ja viele wieder in die DDR zurück und viele aus dem Westen gleich
hinterher..
Heuer: Ja, Sie haben recht, inzwischen gibt es eine etwas andere Sicht der Dinge. Ich will noch
einmal sagen: Ich habe den Bau der Mauer 1961 für legitim gehalten unter den damaligen
Umständen. Die Masse der Leute sind aus ökonomischen Gründen gegangen, natürlich auch aus
politischen - das kann man gar nicht bestreiten -, aber die Masse der Leute doch wohl aufgrund der
besseren Lebensverhältnisse, die sie in Westdeutschland erwarteten. Und damals ist diese Mauer
gebaut worden. Was ich vorwerfe, ist, daß es die DDR und ihre Führung nicht verstanden hat, die
Mauer entbehrlich zu machen. Das ist ein Vorwurf, und es hat sich nach positiven Versuchen in den
sechziger Jahren gezeigt, daß es nicht gelungen ist, die DDR wettbewerbsfähig gegenüber der
Bundesrepublik Deutschland zu machen. Und deshalb bedeutete dann die Öffnung der Mauer im
Grunde das Ende der DDR.
TP: Im Politbüroprozeß geht es nun um die Toten und Verletzten an Grenze und Mauer. Sind diese
Toten und Verletzten an Grenze und Mauer notwendig gewesen, hätte nicht in Kauf genommen
werden können, daß eben einige Tausend flüchten, dann wären immer noch 16 Millionen übrig
geblieben. Wer ist nun auch für diese Toten und Verletzten verantwortlich zu machen?
Heuer: Das sind zwei verschiedene Fragen; die erste Frage ist, waren die Toten vermeidbar. Nun
kann und muß man darüber diskutieren, in welchem Umfang was notwendig gewesen war, ob die
Schußanlagen notwendig gewesen waren..., das kann man alles diskutieren. Aber im Prinzip sollte die
Mauer dazu dienen, vom Verlassen der DDR abzuschrecken. Und die Menschen wußten natürlich
auch von dem Risiko. Und wenn Menschen dieses Risiko trotzdem eingingen, zeigt das ja, daß ihr
Wunsch, die DDR zu verlassen, außerordentlich groß war. Und es gab in wechselnder Höhe die
ganze Zeit einen bestimmten Sog, eine bestimmte Anziehungskraft der Bundesrepublik Deutschland;
ich sagte ja bereits, daß das in meinen Augen an dem ökonomischen Niveau-Unterschied lag, auch
an anderen Gründen, aber ich halte die ökonomischen Gründe für die Hauptursache. Es hat natürlich
auch die ganze Zeit von Westdeutschland aus eine mehr oder minder starke Abwerbung gegeben.
Wie Sie wissen, hat Springer in Westberlin unmittelbar vor dem Bau der Mauer auch ein Hochhaus
gebaut, das er mit Ostberlinern bestücken wollte, d.h. dieser Sog ist auch bewußt gemacht worden.
Sie wissen, daß Schlepper da waren und Sie wissen, in welchem Umfang das unterstützt wurde; und
es sind Tunnel gebaut worden, und es gab natürlich ein Bestreben dauernd von seiten der
Bundesrepublik Deutschland, in diesem oder jenem Umfang anzureizen, die DDR aus verschiedenen
Gründen zu verlassen. Und man wußte natürlich auch, daß das die schwache Stelle der DDR war.
Das ist ja auch selbstverständlich. Und Sie wissen auch, daß die Medien der Bundesrepublik
Deutschland in die DDR hineinwirkten aus verschiedenen Gründen, aber doch in erheblichem
Umfang. Es hat also eine erhebliche Massenabwanderung gegeben und offensichtlich hat sich
gezeigt, daß dieser Sog die ganze Zeit bestanden hat. Zeitweise sah es erheblich besser aus, würde
ich meinen, aber er hat doch in mehr oder weniger starkem Umfang bestanden.
TP: Wer ist aber nun für die Toten und Verletzten, die es gegeben hat an Mauer und Grenze, zur
Verantwortung zu ziehen - auch strafrechtlich, sieht man einmal vom Rückwirkungsverbot ab.
Heuer: Vom Rückwirkungsverbot kann man als Jurist nicht absehen. Grundsätzlich muß man sagen,
daß der Staat - das kann einen bedrücken, und das ist auch etwas Bedrückendes, aber es ist so - das
Gewaltmonopol hat. Jeder Staat auf der Welt nimmt für sich letztlich dieses Recht in Anspruch,
Waffengewalt auch gegen ausländische Bürger und auch gegen eigene Bürger anzuwenden. Das tut
auch die Bundesrepublik Deutschland. Der Staat hat eine Armee, hat eine Polizei, hat
Schußwaffenbestimmungen. Das haben alle Staaten, die sehen zwar unterschiedlich aus, aber doch
im großen und ganzen recht ähnlich. Man kann es beklagen, daß ein Staat so etwas macht, im
Grunde ist es aber so, daß jeder Staat davon ausgeht, daß er dieses Recht hat. Auch an den Grenzen
der Bundesrepublik Deutschland wurden Leute erschossen. Wenn deutsche Streitkräfte heute ins
Ausland gehen zu militärischen Einsätzen, werden sie auch Leute erschießen, wenn es denn sein
muß in den Augen der militärischen Führung. Und auch Herr Rühe kriegt dann die Verantwortung für
die Schüsse, die die Truppen bei Auslandseinsätzen abgeben. Man kann das beklagen, daß der Staat
diese Rolle spielt. Aber die Staaten haben das in der Geschichte gespielt, und sie tun es heute und
insofern meine ich, daß da die DDR im Grunde so gehandelt hat, wie andere Staaten auch, allerdings,
das muß ich einräumen, in einer besonderen Situation, weil sie das Verlassen des eigenen Staates
unter Strafe gestellt hat, was, wie ich weiß und wie Sie wissen, für die Mehrzahl der Staaten
unzweifelhaft in dieser Form nicht gilt. Es bedrückt mich noch heute, daß die DDR nur auf diese den
Tod von Menschen in Kauf nehmende Weise erhalten wurde und wohl auch nur auf diese Weise
erhalten werden konnte.
TP: Sind denn nun die Politbüromitglieder für die Toten und Verletzten an Grenze und Mauer
verantwortlich zu machen?
Heuer: Also erst einmal möchte ich vielleicht noch eins sagen dazu: Ich meine, daß juristische
Verfolgung die Auseinandersetzung mit Geschichte grundsätzlich nicht erleichtert, sondern erschwert.
Es ist ja einleuchtend, daß jemand, dem ein Ermittlungsverfahren droht oder dem ein Bußgeld droht,
der mit hoher Strafe bedroht ist, daß der über seine wirklichen Motive und über die Frage, warum er
bestimmte Dinge gemacht hat, nicht so offen und so ehrlich reden wird, wie jemand, dem so etwas
nicht droht. Das heißt, eine wirkliche Diskussion über Versäumnisse, über Fehler, über Irrtümer, auch
über moralische Verstöße kann nicht stattfinden oder wird kaum stattfinden, wenn der Staatsanwalt
mit der Sache befaßt ist.
TP: Würden beispielsweise Tribunale, wie sie Wolfgang Ullmann ins Gespräch gebracht hat, den
Gerechtigkeitsvorstellungen der Opfer genügen? Oder würde dadurch nicht eher einer Lynchjustiz
Vorschub geleistet?
Heuer: Das glaube ich eigentlich nicht. Eine Lynchjustiz hat es ja auch nicht gegeben, obwohl
manche das erwartet hatten.
TP: Sie hat es deswegen möglicherweise nicht gegeben, weil viele doch auf die Justiz vertrauen, daß
sie sozusagen angemessen mit der Vergangenheitsbewältigung fertig wird.
Heuer: Gut, das kann man, wie auch immer, verschieden sehen; ich glaube das jedenfalls nicht.
Die Bewertung der Geschichte ist in meinen Augen weit leichter und auch die Frage der
Verantwortung einzelner ist weit leichter zu stellen, wenn nicht der Staatsanwalt seine Hand mit im
Spiel hat. Diese Frage der Bewertung wird man unterschiedlich sehen. Sehen Sie, die Frage, ob der
Bau der Mauer legitim war, hängt mit der Frage zusammen, ob man diesen sozialistischen Versuch in
Ostdeutschland für legitim hielt. Wenn dieser sozialistische Versuch legitim war in Antwort auf den
zweiten Weltkrieg, in Antwort auf den Faschismus, dann konnte und mußte man in meinen Augen zu
der Schlußfolgerung kommen, daß es legitim war, die Fortsetzung dieses Versuches auch mit diesem,
wie ich zugebe, sehr schweren und sehr schwer zu verantwortbaren Schritt des Baus der Mauer zu
sichern. Wer das nicht so sieht, wer die DDR für einen Irrweg der deutschen Geschichte hält, wer der
Meinung ist, daß sie ein Ausbruch aus deutscher Geschichte ist, der wird das sicherlich anders sehen.
TP: Sie werden kaum jemanden finden, der Ihnen darin beipflichtet, daß man die Freiheit mit
Unfreiheit erreichen kann...
Heuer: Ach, wissen Sie, was heißt Freiheit durch Unfreiheit... Die Bundesrepublik Deutschland hält es
ja für legitim, ihre Interessen, sagen wir mal in Jugoslawien oder in Somalia, mit Waffengewalt zu
schützen. Also, das ist eine Frage der Sichtweise. Wenn man einen Staat als Ganzes für legitim hält,
dann hält man auch bestimmte Dinge für berechtigt, kann sie für berechtigt halten jedenfalls, die von
anderen abgelehnt werden. Ich räume Ihnen ohne weiteres ein, es war ein schwerer Schritt, es war,
weil es ja Schüsse gegen das eigene Volk, gegen die eigenen Bürger bedeutete - das ist mir schon
klar - ein Eingeständnis einer Niederlage, bei offenen Grenzen den Sozialismus zu gestalten, und es
war ein schwerer Einschnitt. Aber ich denke, daß die Entwicklung der DDR danach vor allem in den
sechziger Jahren das doch in bestimmter Weise legitimiert hat. Allerdings muß ich Ihnen einräumen,
daß in der Folgezeit die DDR sich als nicht reformfähig erwiesen hat und damit das Urteil der
Geschichte über sie gesprochen wurde.
TP: Nun nochmals zurück zu meiner Frage, die zweimal untergegangen ist und somit nicht
beantwortet wurde. Mal abgesehen von Moral und strafrechtlicher Verantwortung: Hat das Politbüro
das Grenzregime - so wie es war und ausgestaltet war - zu vertreten, also in welcher Weise auch
immer dafür verantwortlich?
Heuer: Ja, wenn sie es für legitim halten, dann stellt sich die Frage der Verantwortlichkeit nicht. Für
denjenigen, der es moralisch verurteilt, ist dafür natürlich nicht der Grenzsoldat, sondern sind
diejenigen verantwortlich, die das entschieden haben.
TP: Sind das die Politbüromitglieder -mal abgesehen davon, was der Warschauer Pakt noch dazu
beigetragen hatte?
Heuer: Das ist das schwierige Problem, wie weit war die DDR allein in der Lage, so etwas überhaupt
zu entscheiden. Es wird ja gegenwärtig diskutiert, ob Ulbricht das an Chruschtschow herangetragen
hat; jedenfalls ist eines sicher, daß weder der Bau noch der Abbau der Mauer - ich sehe von der
besonderen Situation 1989 ab - eine einsame Entscheidung der DDR sein konnte. Der Bau der Mauer
war eine gemeinsame Entscheidung der Warschauer Vertragsstaaten, das wäre ohne die Sowjetunion
überhaupt nicht möglich gewesen. Genau wie die Beseitigung der Mauer. Auch die Änderung des
Grenzregimes, wie man jetzt erfährt, war im Grunde nicht möglich ohne die Zustimmung der
Sowjetunion. Das heißt, eine einsame Entscheidung der DDR, des Politbüros, war in diesem Feld
nicht möglich.
TP: Was wäre Ihrer Meinung nach passiert, wenn von seiten der DDR 1961 gesagt worden wäre, wir
wollen diese Mauer nicht?
Heuer: Daß das Politbüro das unzweifelhaft so nicht gesehen hat, das habe ich ja schon gesagt; und
wenn die Sowjetunion es gewollt hätte, für notwendig gehalten hätte, dann hätte sie durchgesetzt, daß
auch eine DDR-Führung das mitgemacht hätte. Da bin ich ganz sicher. Also wenn sie meinte, daß
davon eine Gefahr für die Existenz der DDR ausgegangen wäre, wenn die Sowjetunion also meinte,
es sei so etwas für die Sicherung ihres Einflußbereiches in Europa notwendig - darum ging es ja -, und
zur Sicherung vor einem neuen deutschen Angriff - solche Vorstellungen gab es ja, und es hat ja
einen deutschen Angriff 1941 gegeben -, dann hätte eine DDR-Führung in meinen Augen keine
Möglichkeit gehabt, sich dem zu widersetzen.
TP: Wenn man gewissen Seiten Glauben schenken darf, dann war es doch eher so, daß die Initiative
zum Bau der Mauer von der DDR ausging insoweit, daß sie die UdSSR um Zustimmung dafür bat,
aber keinesfalls die Mauer von der UdSSR aufoktroyiert wurde.
Heuer: Ich sagte Ihnen ja schon, da gibt es jetzt unterschiedliche Informationen, unterschiedliche
Sichtweisen. Und das wäre im einzelnen noch zu untersuchen. Aber die Sowjetunion war sicherlich
der Meinung, daß der Fortbestand der DDR auf jeden Fall gesichert werden müßte. Und da geht es
um die Bewertung, ob der Fortbestand der DDR bei offener Grenze weiterhin gesichert war. Und ich
glaube, daß damals die Auffassung doch wohl die war, daß es ohne Aufrechterhaltung der Mauer eine
Weiterexistenz der DDR nicht möglich gewesen wäre.
TP: Von welcher Seite wurde diese Auffassung vertreten?
Heuer: Ich glaube sowohl von der DDR als auch von der Sowjetunion.
TP: In welcher Form ist wer für die Toten und Verletzten an Grenze und Mauer nun zur Verantwortung
zu ziehen? Sie stehen ja auf dem Standpunkt, daß aufgrund des Rückwirkungsverbotes eine
strafrechtliche Aufarbeitung unzulässig ist. Die Opfer bzw. die Angehörigen der Opfer fordern
Genugtuung. Sie treten in den Prozessen als Nebenkläger auf. Wenn es jetzt eine Genugtuung in
ihrem Sinne nicht gibt, wäre da möglicherweise für sozialen Zündstoff gesorgt?
Heuer: Ach, wissen Sie, ich glaube das nicht. Die Masse der Ostdeutschen hat ganz andere
Probleme als diese. Ich glaube nicht, daß das der große soziale Zündstoff ist. Das halte ich für eine
Fehlannahme. Sicherlich hat das eine Rolle gespielt im Jahre 1990, das kann überhaupt nicht
bestritten werden. Aber ich glaube, daß die sechs Jahre Vereinigung und ihr Verlauf und all das, was
heute in Ostdeutschland passiert - die Arbeitslosigkeit, der Zusammenbruch der Industrie und der
Landwirtschaft, die Entwertung des Lebens vieler -, für die Ostdeutschen schwerer wiegt als all das,
worüber wir hier gesprochen haben. Das rechtfertigt das überhaupt nicht, nur meine ich, daß das alles
schwerer wiegt im Bewußtsein der Menschen, was heute passiert. Ich glaube, der soziale Frieden wird
heute in Ostdeutschland durch ganz andere Dinge gestört als durch fehlende Verurteilungen von
DDR-Politikern.
TP: Würde der soziale Frieden gestört, wenn sie verurteilt würden?
Heuer: Ja, das ist schwierig. Ich meine, daß die Sicht auf die DDR heute eine andere ist als 1990.
1990 haben auch viele Menschen geglaubt in Ostdeutschland, daß sie durch eine Totalabsage an die
DDR ihren Eintritt in die Bundesrepublik leichter erlangen. Und sie haben sich vermutlich auch ein
falsches Bild von vielem in der Bundesrepublik gemacht und von ihrer Lage in dieser Bundesrepublik.
Nun ist eine ganze Reihe von Dingen dazugekommen, die heute dazu führen, daß sie ein kritischeres
Bild auf die Bundesrepublik haben. Ich meine nicht, daß sie die DDR heute in rosigen Farben sehen.
Aber sie sind in der Lage, beide Systeme zu vergleichen und sehen einige Dinge besser in der DDR,
einige Dinge besser heute. Ich glaube, daß sie ein ziemlich realistisches Bild beider Systeme
inzwischen haben, wobei ich nicht denke, daß ein erheblicher Teil sich irgendwie die DDR
zurückwünscht; aber sie meinen doch, daß die absolute Verdammung der DDR nicht mehr angebracht
ist, wie das vor einigen Jahren noch der Fall war. Im Grunde glaube ich, daß sie die ständigen
Versuche, die DDR als Unrechtsstaat darzustellen, als stalinistisch, als totalitär oder wie auch immer,
doch als Angriff auf sich selbst ansehen, auf ihr Leben; und sie werden ja auch von vielen
Westdeutschen dazu verwandt, weil man bestimmte Benachteiligungen der DDR-Bürger eben leichter
begründen kann, wenn man sagt: Ihr habt in einem Unrechtsstaat gelebt. Und weil es leichter ist, die
Strafverfolgung bei den Renten, die Strafrenten oder anderes oder Benachteiligungen, alles, was hier
gelaufen ist in den letzten Jahren, leichter zu begründen ist, wenn man eben sagt: Ihr hattet eine
marode Wirtschaft, Ihr hattet einen Unrechtsstaat, und nun seid mal ruhig und freut euch, daß Ihr
endlich leben dürft in der Bundesrepublik Deutschland. Und insofern glaube ich, daß die
Ostdeutschen das Gefühl haben, daß diese Art des Umgangs, diese Art der Totalverdammung, die ja
auch verbunden ist mit diesen Prozessen, ihre persönlichen Chancen beeinträchtigt in dieser
Bundesrepublik Deutschland. Und deshalb meine ich, daß die meisten nicht solche Verurteilungen
fordern, sondern - jedenfalls viele - darin doch so etwas sehen wie Siegerjustiz oder, sagen wir mal,
auch eine Legitimierung dessen, was in den letzten Jahren in Ostdeutschland passiert ist.
TP: Was sagen Sie zu dem Schreiben von 131 Duma-Abgeordneten an den Deutschen Bundestag?
Sind Sie auch der Meinung, daß ein ganzes Volk diskriminiert und politisch verfolgt wird oder daß nur
diejenigen vor Gericht stehen, bei denen so etwas wie strafrechtlich vorwerfbare Schuld
nachgewiesen werden soll?
Heuer: Otto Kirchheimer hat in seinem Buch "Politische Justiz - Verwendung juristischer
Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken" einen solchen Vorgang sehr überzeugend
beschrieben: "Ist der Gegner aus dem politischen Konkurrenzkampf bereits ausgeschaltet, so
bemühen sich die Ankläger, seine Niederlage... als unumgänglich und gerecht hinzustellen.. Das
Gerichtsverfahren nimmt das angestrebte Bild aus dem Bereich des privaten Geschehens und
parteiischer Konstruktion heraus und hebt es auf ein offizielles, autoritatives, gewissermaßen
neutrales Postament hinaus". Man hätte das ja nicht machen müssen. Man hat ja die Verjährung, wie
Sie wissen, das Ruhen der Verjährung durchgesetzt und beschlossen...
TP: ... aber nur für bestimmte Taten...
Heuer: ...ja, für alles, was in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgt ist seit 1949. Das heißt,
man hat theoretisch die Möglichkeit gehabt, jeden einzelnen Hausfriedensbruch seit 1949 zu
verfolgen. Das hat man nicht alles gemacht. Das wäre ja auch ins Uferlose ausgewuchert.
Sie müssen aber auch sehen, daß kein einziger Nazirichter wegen Rechtsbeugung verurteilt worden
ist und daß man das aber bei DDR-Richtern macht und daß man nun auch die Maßstäbe der
Rechtsprechung bei Rechtsbeugung geändert hat, anders als damals gegenüber den Nazi-Richtern.
Das hat der Bundesgerichtshof jetzt selbst entschieden, das sei ja alles sehr bedauerlich, daß man bei
den Nazi-Richtern nicht verurteilt hat und daß man das jetzt nachträglich für falsch hält. Das spüren ja
auch die Leute, man hätte auch anders damit umgehen können, man hätte das nicht machen können;
wenn man z.B. die Verjährungsregelung nicht getroffen hätte, wäre sehr vieles verjährt gewesen.
Es war schon der politische Wille, das zu tun, und Sie wissen ja, Frau Süssmuth war jetzt in Südafrika
und hat sehr positive Worte darüber gefunden, wie da Mandela und der ANC nun mit den Leuten des
Apartheidregimes umgehen. Das wird als positiver Akt der Versöhnung gesehen. Hier macht man es
anders. Nirgendwo gibt es Vergleichbares, es gibt es nur in Ostdeutschland. Nur gegenüber der DDR.
Und dahinter scheinen mir doch auch politische Absichten zu stehen, das so zu machen. Und ich
meine, daß die Justiz zum Teil auch ein gewisses Unbehagen hat. Sie merken auch, der
Bundesgerichtshof schränkt in einer Reihe von Fragen schon ein, bei den Rechtsbeugungen hat er
eine einschränkende Rechtsprechung vorgenommen. In einer Reihe von Fragen geht man
vorsichtiger damit um, während beispielsweise der Generalstaatsanwalt in Berlin, Herr Schaefgen, fest
entschlossen ist, das weiter durchzuführen. Ich war selbst dabei, als er sagte, das sei seine Pflicht und
er erfüllte sie gerne. Das heißt, es steckt ein politischer Wille dahinter, und deshalb bin ich schon der
Meinung, daß nur die Politik im Grunde genommen diesen Prozeß bremsen kann. Die
Staatsanwaltschaft erklärt ja selbst, daß sie durch das Legalitätsprinzip verpflichtet ist, jedenfalls hat
sie durchaus das Recht dazu und wobei, ich sagte schon, die Gerichte, wie mir scheint, zu
wesentlichen Teilen zurückhaltender sind. Das ist unterschiedlich, aber das gibt es durchaus
Meinungen, die darauf hinauslaufen - Herr Odersky (früherer Vorsitzender des Bundesgerichtshofes)
hat das gesagt und verschiedene andere -, daß dieser Prozeß wohl auf die Dauer nicht zum sozialen
Frieden in Deutschland beiträgt.
TP: Sie haben im vergangenen Jahr mit Gysi einen Gesetzesentwurf im Bundestag eingebracht,
wonach hoheitliches Handeln nicht mehr bestraft werden soll. Ausnahmen machen Sie z.B. bei
Gefangenenmißhandlungen. Gibt es noch weitere Ausnahmen?
Heuer: Ja, wir fordern keine Amnestie, obwohl z.B. von Herr Bahr (SPD) oder von Herrn Eylmann
(CDU) eine Amnestie vorgeschlagen worden ist. Wir fordern, daß hoheitliches Handeln nicht mehr
bestraft werden soll. Ausnahmen machen wir für die Fälle, bei denen es sich in der Realität nicht mehr
um hoheitliches Handeln handelte, sondern der Handelnde zwar Hoheitsträger war in der DDR, aber
die eigentliche Tat nicht hoheitliches Handeln war. Das gilt z.B. für Gefangenenmißhandlungen, das
gilt auch, wenn jemand als Grenzsoldat einen Flüchtenden erschossen hat, obwohl der sich bereits
ergeben und die Hände hochgehoben hat. Dies fällt nicht unter die Straffreiheit, das ist zumindest
glatter Totschlag.
Also Straffreiheit nur für Taten, die hoheitliches Handeln waren.
Interview: Dietmar Jochum, TP Berlin
Professor Dr. Uwe-Jens Heuer lehrte lange Jahre an der Humboldt-Universität in Berlin
Rechtswissenschaft, dort war er zuletzt Direktor des Institutes für Staatsrecht. Seit 1967 war er
u.a. am Zentralinstitut für sozialistische Wirtschaftsführung in Berlin. Seit 1990 ist er für die
PDS im Bundestag.
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