übermäßigem Behandlungswunsch

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Sterbehilfe und Strafrecht - gerechter
Einsatz knapper medizinischer Ressourcen
bei Patienten am Lebensende
Gemeinsame Veranstaltung von ELSA-Dresden und
der Forschungsstelle Medizinstrafrecht an der
Juristischen Fakultät der TU Dresden
am 12. Juni 2012
Referent:
Professor Dr. iur. Detlev Sternberg-Lieben
(Juristische Fakultät, TU Dresden)
Übersicht I
1. Vorbemerkung
2. Ärztliche Sterbehilfe iwS
3. Verhältnis Arztethik/(Straf-)Recht
4. Nicht feststellbarer Patientenwille:
Ärztliche Indikation als entscheidende
Weichenstellung
5. „übermäßiger“ Behandlungswunsch
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
2
Übersicht II
Einzelne Problemfelder
4. allgemeine
Sterbebegleitung
5. aktiver Sterbehilfe
durch Tötung (≠
Suizidmitwirkung)
6. sog. indirekte
„Sterbehilfe“ (= Schmerzminderung mit ggf. lebensverkürzender Wirkung)
7. sog. passive
Sterbehilfe (=
8. Nicht zu behandeln:
- Patientenverfügung
- Vorsorgevollmacht
- Entscheidungswege bei
Vorliegen bzw. Fehlen von
Patientenverfügung und
Vorsorgevollmacht
(Vormundschaftsgericht?)
Behandlungsbegrenzung)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
3
1. Vorbemerkung
allgemeines Spannungsverhältnis bei
rechtlichen Regelungen im Arzt/Patienten
Verhältnis
• Unentbehrlichkeit rechtlicher Grenzziehung
• Anerkennung eines sachnotwendig
gebotenen ärztlichen „Freiraums“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
4
Recht als bloßer Rahmen
Konsequenz
(z.B. Therapiefreiheit des
Arztes)
Grenze: „Kunstfehler“ bei Verfehlen des
medizinischen Standards => rechtliche
Sanktionierung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
5
Wesentliche Ausnahme vom
ärztlichen „Freiraum“
bei körperlichen Eingriffen: „Zugriffsberechtigung„
geboten
= (mutmaßliche) Einwilligung des Patienten oder
seines Vertreters als zwingende Voraussetzung
rechtmäßigen ärztlichen Handelns
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
6
So bereits 1991 auch der
Bundesgerichtshof in Strafsachen
• „Die Ausschöpfung intensivmedizinischer
Technologie ist, wenn sie dem wirklichen
oder anzunehmenden Patientenwillen
widerspricht, rechtswidrig."
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
7
2. Ärztliche Sterbehilfe iwS
Zur Zeit (noch) keine ausdrückliche
gesetzliche Regelung
Konsequenz
Rechtslage aus allgemeinen
gesetzlichen Vorgaben zu
erschließen
≠ fertiges Ergebnis für alle
Zweifelsfragen
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
8
Spannungsverhältnis: Dilemma
• einerseits: Nicht-amLeben-Erhalten eines
anvertrauten Patienten
trotz Möglichkeit (+
medizinischer
Indikation) als Tötung
durch Unterlassen
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
• andererseits: jeder (!)
ärztliche Heileingriff =
Körperverletzung
→ rechtmäßig nur bei
(ausdrücklicher/mutmaßlicher) Einwilligung des Patienten
oder seines Vertreters
9
Spannungsverhältnis: Auflösung
Angesichts der verfassungsrechtlichen
Gewährleistung von Menschenwürde,
Persönlichkeitsrecht und Körperintegrität
selbst bei vitaler Indikation: keine ärztliche
Befugnis zur Heilbehandlung ohne
Einwilligung des Patienten
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
10
So bereits 1957 der
Bundesgerichtshof in Strafsachen
•
„Das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes
gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit
fordert Berücksichtigung auch bei einem Menschen, der es
ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann
preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter
in der Frage aufwerfen, unter welchen Um-ständen ein
anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine
körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch
wieder gesund zu werden. Diese Richtlinie ist auch für
den Arzt verbindlich.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
11
Entscheidung ders
Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg
im Jahre 2008
•
„Bei der Frage, ob bei einem Kranken eine Operation oder ein sonstiger
ärztlicher Eingriff vorzunehmen ist, muss in erster Linie sein
Selbstbestimmungsrecht beachtet werden. Jeder Mensch kann selbst
bestimmen, ob, wie lange und in welcher Weise er behandelt werden soll. Das
Selbstbestimmungsrecht des Patienten gilt auch dann, wenn es
darauf gerichtet ist, eine aus medizinischen Gründen dringend
erforderliche Behandlung zu verweigern (…) oder lebensverlängernde Maßnahmen abzubrechen (…). Bei einer Missachtung des
Selbstbestimmungsrechts eines Kranken kommt eine strafbare
Körperverletzung in Betracht, wenn ein ärztlicher Eingriff vorgenommen
oder auf andere Weise, z. B. durch Verabreichung von Medikamenten, in
den Körper eingegriffen wird.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
12
Rechtliche Folgen I
bei nicht konsentierter (also eigenmächtiger)
Heilbehandlung
Sanktionierung
aus § 223
Strafgesetzbuch
(Körperverletzung)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
Schadensersatz
aus § 823 BGB
(Körperverletzung &
Verletzung des allg.
Persönlichkeitsrechts)
13
→ also auch bei Sterbehilfe iwS vorrangig:
Ist die (Weiter-)Behandlung vom
(mutmaßlichen) Patientenwillen gedeckt?
Wenn nicht
Fortfall der
ärztlichen
Berechtigung zur
Heilbehandlung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
Fortfall der
ärztlichen Pflicht
zur
Lebenserhaltung
14
4. Allgemeine Sterbebegleitung
ohnehin nicht regelbar
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
15
5. Aktive Sterbehilfe durch
Tötung
= Setzen einer neuen, den Tod beschleunigenden
„Noxe“ (z.B. „Todesspritze“)
= strafbar (§ 216 StGB)
(auch bei ausdrücklichem Patientenwunsch)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
16
wichtige „Ausnahmen“
indirekte „Sterbehilfe“ (Leidensminderung)
&
aktive Hilfe zum freiverantwortlichen Suizid
(Patient tötet sich selbst, z.B. durch Einnahme tödlich
wirkenden Medikaments, das ihm vom Arzt beschafft
wurde)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
17
aktive Hilfe zum
freiverantwortlichen Suizid
• Teilnahme → straffrei (da Suizid keine
strafbare Haupttat)
• nach Rechtsprechung problematisch →
unterlassene Lebensrettung durch
behandelnden Arzt nach Suizidversuch
seines Patienten (straffrei bei „vertretbarer
Gewissensentscheidung“) - ferner: § 323c StGB -
• standesrechtlich untersagt =>
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
18
aktive Hilfe zum
freiverantwortlichen Suizid
=> Beschluss des 114. Deutsche Ärztetages 2011:
• Änderung der (Muster-) Berufsordnung:
„Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden
unter Wahrung ihrer Würde und unter
Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist
ihnen verboten, Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur
Selbsttötung leisten.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
19
6. indirekte „Sterbehilfe“
= Schmerzlinderung mit ggf.
lebensverkürzender Wirkung
hinreichende
Schmerzbekämpfung
als (arztethische)
Pflicht (!) =>
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
=> strafbewehrt:
Bei fehlender
Schmerzlinderung als
Körperverletzung
durch Unterlassen
20
sofern ausnahmsweise lebensverkürzende
Wirkung indizierter Schmerztherapie
Schmerzmittelgabe rechtlich zulässig,
sofern Todeserfolg unbeabsichtigte
Nebenfolge der Schmerzbekämpfung
(Wille primär auf Schmerzlinderung und nicht auf Tötung
gerichtet)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
21
Bundesgerichtshof in Strafsachen
1996
• „Denn die Ermöglichung eines Todes in
Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem
erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen … ist ein höherwertiges Rechtsgut
als die Aussicht, unter schwersten,
insbesondere sog. Vernichtungsschmerzen
noch kurze Zeit länger leben zu müssen.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
22
Abgrenzung zur verbotenen
aktiven Tötung
• Willensrichtung des Arztes
• Rechtspraxis: Dosierungsindikation als
Maßstab
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
23
7. passive Sterbehilfe
(= Behandlungsbegrenzung)
Therapie-Ziel-Änderung: Unterlassen einer
auf Lebensverlängerung ausgerichteten
Maximaltherapie → Palliative Medizin
gesetzlich nicht speziell geregelt;
Konsequenz: auch hier Ausrichtung an
allgemeinen Vorgaben der Rechtsordnung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
24
Verfassungsrechtliche
Vorgaben I
• Sterben in Würde + Beachtung eines in
freier Selbstbestimmung geäußerten
Patientenwillens gehören zum
Schutzbereich der Menschenwürde
• kein aufgedrängter Schutz des Einzelnen
vor sich selbst (Grundrechte als Freiheitsrechte)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
25
Verfassungsrechtliche
Vorgaben II
• Selbstbestimmung – auch vorab ausübbar! - des
Menschen über seinen eigenen Körper unabhängig
von Krankheitsart und Todesnähe
• (verfassungsrechtlich geschützte) ärztliche
Gewissensfreiheit rechtfertigt keinen
Eingriff in Grundrechte des Patienten
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
26
passive Sterbehilfe
(„Behandlungsabbruch“)
irrelevant für die (straf-)rechtliche
Beurteilung
Nichtaufnahme einer
lebensverlängernden
Behandlung oder deren
Abbruch
Einsetzen des
Sterbevorgangs
Abbruch lebensverlängernder Behandlung
durch Untätigbleiben oder
aktives Tun
Art der abgelehnten
Maßnahme (auch künstl.
Ernährung) =>
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
27
Bundesgerichtshof in Zivilsachen
2003
• => „Die mit Hilfe einer Magensonde durchgeführte
künstliche Ernährung ist ein Eingriff in die körperliche
Integrität, der deshalb der Einwilligung des Patienten
bedarf (…). Eine gegen den erklärten Willen des
Patienten durchgeführte künstliche Ernährung ist
folglich eine rechtswidrige Handlung, deren Unterlassung der Patient …verlangen kann. Dies gilt auch
dann, wenn die begehrte Unterlassung - wie hier - zum
Tode des Patienten führen würde. Das Recht des
Patienten zur Bestimmung über seinen Körper macht
Zwangsbehandlungen, auch wenn sie lebenserhaltend
wirken, unzulässig.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
28
Zulässigkeit konsentierter passiver
Sterbehilfe (Behandlungsbegrenzung)
aktuelles (auch mündliches) Veto des
(einwilligungsfähigen!) Patienten
= verbindlich (wie sonst auch)
vorab: Patientenverfügung (vgl. nunmehr § 1901a
BGB)
= Verbindlich, sofern...
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
29
verbindlich, sofern...
• von Volljährigem aufgesetzt
• schriftlich
• einschlägig für aktuelle Lebens- und
Behandlungssituation
• unabhängig von Art und Stadium einer
Erkrankung
• nicht widerrufen vom Patienten
• kein augenfälliger Wegfall ihrer
Geschäftsgrundlage
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
30
nicht erforderlich...
• vorherige (ärztliche) Beratung
• (jährliche) Aktualisierung
• notarielle Beurkundung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
31
Konsequenz:
→ Weiterbehandlung rechtswidrig
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
32
Verhältnis von Arztethik / (Straf-)
Recht
Z.B. Vier-Prinzipien-Modell der Medizinethik von
Beauchamp und Childress („Georgetown
mantra“):
• Respekt vor der Autonomie der Patientin / des
Patienten (respect for autonomy)
• Nicht-Schaden (nonmaleficence)
• Fürsorge, Hilfeleistung (beneficence)
• Gleichheit und Gerechtigkeit (justice)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
33
Verhältnis von Arztethik / (Straf-)
Recht
Überschneidung von Ethik und Recht im
ärztlichen Berufsfeld
(vgl. Bundesverfassungsgericht 1980: „Weit mehr
als sonst in den sozialen Beziehungen der
Menschen fließt im ärztlichen Berufsbereich das
Ethische mit dem Rechtlichen zusammen.“)
ABER:
Staatlich gesetztes Recht als einziger allen
Bürgern noch gemeinsamer Handlungsrahmen
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
34
Verhältnis von Arztethik / (Straf-)
Recht
bei Übernahme ethischer Vorgaben in die
Rechtsordnung:
→ ethische Vorgaben werden Teile der
Rechtsordnung:
- Selbständigkeit der Rechtsanwendung
gegenüber der moralischen Norm (als
ihrem Ausgangspunkt)
→ (straf)gesetzmediatisierte Moralgültigkeit
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
35
Verhältnis von Arztethik / (Straf-)
Recht
Entlastungsfunktion der Standesethik für das Recht
zur Vermeidung sachwidriger Feinsteuerung (Recht
und Moral als „kommunizierende Röhren“)
→ Recht sichert und belässt Freiheitssphären, in denen
sittliche Entscheidungen erst getroffen werden
können
Unterstützende Funktion der Ethik für das Recht:
Begründung einer für die Wirksamkeit des Rechts
unerlässlichen Rechtsgesinnung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
36
Verhältnis von Arztethik / (Straf-)
Recht
mithin:
einerseits: Unentbehrlichkeit rechtlicher
Grenzziehung (Schutz-Funktion zugunsten
Patienten)
andererseits: sachnotwendiger medizinischer
"Freiraum" (auch zugunsten des Patienten)
Konsequenz
Recht als bloßer Rahmen ("Grenzkontrolle") → z.B.
Therapiefreiheit innerhalb des ärztlicherseits
definierten Standards
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
37
Verhältnis von Arztethik / (Straf-)
Recht
Relevanz medizinischer Ethik für:
• Gesetzgeber als zu berücksichtigende Programmatik
(z.B. bei evtl. ausdrücklicher Regelung der
Sterbehilfe)
• Auslegungshilfe für Rechtsanwender (z.B.
Behandlungsabbruch bei Äußerungsunfähigkeit
infolge Zielsetzung ärztlichen Handelns?)
• handlungsleitendes Kriterium für die Ärzteschaft
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
6
38
Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage
de lege lata
kein ärztliches Handeln im rechtsfreien
(ausschließlich arztethisch gelenkten) Bereich,
da:
- staatliche Schutzpflicht für das Leben
- umgekehrt aber auch staatliche Schutzpflicht:
- für Körperintegrität des Patienten (durch
Weiterbehandlung tangiert)
- für Menschenwürde des Patienten (Recht
auf seinen eigenen „natürlichen“ Tod)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
39
Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage
de lege ferenda
•
gesetzgeberische Leitentscheidung notwendig
(„Wesentlichkeitstheorie“)
• bspw. gesetzliche Festlegung:
„Bei Sterbenden oder irreversibel
Bewusstlosen ist eine medizinische
Behandlung nicht geboten.“
(so Vorschlag in § 214 AE-Sterbehilfe
[1986])
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
9
40
Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de
lege ferenda
• => Ausfüllung dieses gesetzlichen Rahmens (Wann beginnt der Sterbeprozess?
Wann liegt irreversible Bewusstlosigkeit
vor?)
→ originär ärztliche Entscheidung
Beispiel für entsprechende „Arbeitsteilung“:
→ Todesbegriff:
- wann ist der Mensch tot? (=> Recht)
- wie ist dies festzustellen? (=> Medizin)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
-
41
Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage
de lege ferenda
In zukünftiger gesetzlicher Regelung:
→ Entscheidung, inwieweit ökonomische
Erwägungen hierbei mit zu berücksichtigen
→ explizite Rationierung auf höherer Ebene auf Basis
allgemein-verbindlicher Regelung (bspw. anhand
„kosten-sensibler Leitlinien“ unter Berücksichtigung
verfügbarer wissenschaftlicher Evidenz) vorzugswürdig gegenüber impliziter Rationierung „am
Krankenbett“
- i.Ü. nicht zu unterschätzen (Marckmann):
- konsequente Berücksichtigung von Patientenpräferenzen („Veto“) kann bereits heute Ressourcen
zugunsten anderer Patienten sparen
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
42
Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de
lege ferenda
Nur angedeutet:
→ Berücksichtigung ökonomischer Erwägungen bei
Lebenserhaltung überhaupt zulässig?
Vgl. Bundesverfassungsgericht (1998), Bd. 115, 25:
„Es ist mit den Grundrechten … nicht vereinbar, einen
gesetzlich Krankenversicherten …von der Leistung einer von
ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode
auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende
Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive
Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.“ →
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
→
43
Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de
lege ferenda
→ → zwar (BVerfG ebd.):
„Der Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenversicherung darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein
… Gerade im Gesundheitswesen hat der
Kostenaspekt für gesetzgeberische
Entscheidungen erhebliches Gewicht.“
ABER: → →
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
44
Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de
lege ferenda
→ → BVerfG im Ergebnis :
=> unmittelbar aus der Verfassung ein
medizinischer Leistungsanspruch gegenüber der
Sozialversicherung [!] konstruiert, der einzig und
allein auf den Gesundheitszustand des Betroffenen und auf eine (überdies dann auch nur
potentielle) medizinische Zweckmäßigkeit der
Leistung abstellt, ohne noch eine Kosten-NutzenAbwägung zuzulassen…
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
45
zurück zur gegenwärtigen Rechtslage
Vorgehen bis zur gesetzgeberischen
Regelung:
=> „passive Sterbehilfe“
= Behandlungsbegrenzung
= Unterlassen auf Lebenserhaltung
ausgerichteter Maximaltherapie
= lebensverkürzende Therapie-Umstellung auf
palliative Versorgung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
46
Gegenwärtige Rechtslage
„Passive Sterbehilfe“:
auf jeden Fall zulässig (da rechtlich
geboten!) bei:
- aktuell erklärtem Behandlungsveto des
Patienten
- vorab erklärter Nicht-Einwilligung
in Behandlung (Patientenverfügung)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
47
Gegenwärtige Rechtslage
→ für rechtliche Behandlung ohne Belang:
- Nichtaufnahme einer lebensverlängernden
Behandlung oder deren Abbruch
- Abbruch lebensverlängernder Behandlung durch
Untätigbleiben (z.B. bei Begleitkrankheit) oder
durch aktives Tun (sog. technischer Behandlungsabbruch: „Abschalten“)
- Todesnähe
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
48
Gegenwärtige Rechtslage
• Dogmatische Umsetzung der passiven Sterbehilfe
(= Behandlungs“abbruch“)
Unterlassen: Wegfall der Garantenstellung: §§ 212,
13 StGB (-)
oder
- aktives Tun → TB-los oder rechtfertigungsfähig
- Bewertung als Unterlassen?
- § 34 StGB oder
- Art. 2 I iVm 1 I, 2 II GG (Patient) als
Rechtfertigungsgrund
ODER
- (mutmaßliche) Einwilligung in Behandlungsabbruch (BGHStE 55, 191 aus 2010)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
49
Gegenwärtige Rechtslage
letztlich nicht von Belang, ob:
- auf (fehlende) Einwilligung in die
Weiterbehandlung oder
- auf (fehlende) Einwilligung in den
Behandlungs“abbruch“
abgestellt wird:
→ Sachfrage bedeutsamer als deren dogmatischsystematische Einordnung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
50
Gegenwärtige Rechtslage
bei nicht feststellbarem Patienten-Willen:
• keine Entscheidung durch Angehörige
• keine Entscheidung nach ärztlichem Belieben
• vielmehr: Abstellen auf mutmaßlichen Willen
des individuellen Patienten (wie auch sonst als
unentbehrlicher Notbehelf)
• mutmaßlicher Wille nicht zwingend identisch
mit dem (zu unterstellenden) Willen eines
"verständigen Durchschnitts- Patienten"
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
51
Gegenwärtige Rechtslage
• Patienten-Wille zu erschließen auf Basis
konkreter Anhaltspunkte (also anhand
individueller personenbezogener Informationen)
• zu berücksichtigen insbesondere (so
↓
§ 1901a Abs. 1 S. 2 BGB):
- frühere mündliche oder schriftliche
Äußerungen
- ethische oder religiöse Überzeugungen
- sonstige persönliche Wertvorstellungen
- Ferner (?)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
→→
52
Gegenwärtige Rechtslage
→ → vom BGH/Strafsenat 1994 insoweit
erwähnt:
- altersbedingte Lebenserwartung
- Erleiden von Schmerzen
aber auch:
- Kriterien, die allgemeinen Wertvorstellungen
entsprechen
=> sehr zweifelhaft, da es hierbei nicht um das
betroffene Individuum und seinen
mutmaßlichen Willen geht, vgl. etwa BGHStE 45,
219, 221 (1999)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
→→
53
Gegenwärtige Rechtslage
→ → BGH (zu mutmaßlicher Einwilligung in
OP-Erweiterung):
„Liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß sich
der Patient anders entschieden hätte, wird
allerdings davon auszugehen sein, daß sein
(hypothetischer) Wille mit dem übereinstimmt, was
gemeinhin als normal und vernünftig angesehen
wird.“
(mutmaßl. Wille als Fiktion = verschleierte
Fremdbestimmung)
übertragen auf Behandlungs“abbruch“: =>
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
54
Gegenwärtige Rechtslage
→ Allgemeine Wertvorstellungen bei passiver
Sterbehilfe (BGHStE 40, 257, 263 [1994]):
„Im Einzelfall wird die Entscheidung naturgemäß auch davon abhängen, wie aussichtslos
die ärztliche Prognose und wie nahe der Patient
dem Tode ist: je weniger die Wiederherstellung
eines nach allgemeinen Vorstellungen
menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je
kürzer der Tod bevorsteht, um so eher wird ein
Behandlungsabbruch vertretbar erscheinen.“
- als „Willensvehikel“ kaum akzeptabel Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
55
Gegenwärtige Rechtslage
• Bundestagsdrucksache 16/8442 S. 16 (zur
Patientenverfügung, § 1901a BGB)
„Kann ein auf die Durchführung, die
Nichteinleitung oder die Beendigung einer
ärztlichen Maßnahme gerichteter Wille des
Betreuten auch nach Ausschöpfung aller
verfügbaren Erkenntnisse nicht festgestellt
werden, gebietet es das hohe Rechtsgut auf Leben,
entsprechend dem Wohl des Betreuten zu
entscheiden und dabei dem Schutz seines Lebens
Vorrang einzuräumen.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
56
Gegenwärtige Rechtslage
• § 1901a II 2 BGB:
„[Bei fehlender Patientenverfügung →] Der
mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter
Anhaltspunkte zu ermitteln.
Also:
Gesetzgeberischer Vorhang zu – und Fragen
für die Praxis offen…..
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
57
Gegenwärtige Rechtslage
Bei nicht feststellbarem Patientenwillen
→ bislang keine überzeugende Lösung entwickelt:
bspw.:
- Sinnlosigkeit weiterer ärztlicher Bemühungen
(aber: „Frage nach dem „Sinn” ärztlichen
Handelns untrennbar mit jener weiteren nach
der „Entscheidungsmacht” zwischen
juristischem und medizinischem Geltungsanspruch verknüpft.“ [Duttge]
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
58
Gegenwärtige Rechtslage
- Unzumutbarkeit der Weiterbehandlung für den Arzt?
- Menschenwürde des „Sterbenden“?
- Güterabwägung / § 34 StGB (wie bei indirekter
Sterbehilfe)?
 aber: Für patienten-interne Abwägung (Leben[srest] ./.
Schmerzbekämpfung) hier kein Raum:
 stattdessen [Merkel] Güterabwägung: "biologisches" Leben
./. fehlendes Lebensinteresse"?
→→
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
59
Gegenwärtige Rechtslage
→ → Aber:
- Wieso Fortexistenz für Apalliker eine seinen
Interessen zuwiderlaufende Last? „Der Apalliker
lebt, mehr wissen wir nicht.“ (Jähnke)
- Weshalb sollte seine idR minimale Chance, doch
noch aus dem Koma zu erwachen, als Interesse pro
vita ausgeblendet bleiben? Wieso wäre eine für
diesen Fall zu prognostizierende schlechte Lebensqualität als Faktor in Abwägung einzustellen?
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
60
Gegenwärtige Rechtslage
• ökonomische Faktoren als insoweit
ausschlaggebender Abwägungsfaktor?
abzulehnen:
 Lebensschutz würde totaler Materialisierung zum
Opfer fallen:
=> wirtschaftliche Faktoren dürfen nicht von
vornherein die Frage nach dem Sinn weiterer
Lebensverlängerung für den Patienten verdrängen!
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
61
Gegenwärtige Rechtslage
Weiterer Ansatz:
• normative Unzumutbarkeit der Weiterbehandlung infolge Zielsetzung des auf
„Erhaltung und Ermöglichung menschlicher
Selbstverwirklichung“ gerichteten ärztlichen
Auftrags (Eser) => dieser endet mangels
Möglichkeit weiterer Selbstwahrnehmung bei
unwiderruflichem Verlust jeglicher Reaktionsund Kommunikationsfähigkeit
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
62
Gegenwärtige Rechtslage
Aber:
Diese Lösung setzt Verständigung über das
Essentielle des Menschen voraus: Aus
welchem Grunde kommt der Kommunikationsfähigkeit diese Schlüsselrolle zu?
{m.E. nur vom Gesetzgeber bestimmbar}
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
63
Lösungsvorschlag
• Abstellen auf Fortfall der Indikation zur
weiteren (Maximal-) Behandlung
Konsequenz:
Fortfall der strafbewehrten Behandlungspflicht
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
64
Lösungsvorschlag
Fehlende Indikation für Weiterbehandlung als von
Rspr. und Gesetzgebung relativ kritiklos
verwandter Schlüsselbegriff der Sterbehilfe,
vgl. etwa:
- BGHZ 154, 205, 224 (2003) →
- § 1901b Abs. 1 BGB (2009) →
- s.a. BÄK (Sterbebegleitung 2011) →
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
65
Lösungsvorschlag
• BGHZ (2003):
„Die medizinische Indikation, verstanden als das
fachliche Urteil über den Wert oder Unwert einer
medizinischen Behandlungsmethode in ihrer
Anwendung auf den konkreten Fall, begrenzt
insoweit den Inhalt des ärztlichen Heilauftrags.
… im Schnittfeld naturwissenschaftlicher und
medizinethischer Überlegungen nicht immer
scharfe Begrenzung.“….
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
66
Lösungsvorschlag
• Noch BGHZ (2003):
[Keine Weiterbehandlung, sofern diese]
…„ärztlicherseits … nicht angeboten wird
- sei es, dass sie nach Auffassung der
behandelnden Ärzte von vornherein nicht
indiziert, sinnlos geworden oder aus
sonstigen Gründen nicht möglich ist.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
67
Lösungsvorschlag
• § 1901b Abs. 1 BGB (zur Patientenverfügung):
“Der behandelnde Arzt prüft, welche
ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den
Gesamtzustand und die Prognose des
Patienten indiziert ist.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
68
Lösungsvorschlag
• BÄK (Sterbebegleitung 2011):
„Entscheidung [zur Behandlungsbegrenzung]
darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen
abhängig gemacht werden … Art und Ausmaß
einer Behandlung sind gemäß der medizinischen
Indikation vom Arzt zu verantworten…. Alle
Entscheidungen müssen unter Berücksichtigung
der Umstände des Einzelfalls getroffen werden.“
→→
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
69
Lösungsvorschlag
• [BÄK]→ Behandlung bei schwerster zerebraler
Schädigung: Art und Ausmaß [der] Behandlung sind
gemäß der medizinischen Indikation vom Arzt zu
verantworten; eine anhaltende
Bewusstseinsbeeinträchtigung allein rechtfertigt nicht
den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen. ….Bei
Neugeborenen mit schwersten Beeinträchtigungen
durch Fehlbildungen oder Stoffwechselstörungen, bei
denen keine Aussicht auf Heilung oder Besserung
besteht, kann … eine lebenserhaltende Behandlung, die
ausgefallene oder ungenügende Vitalfunktionen ersetzen
soll, unterlassen oder beendet werden.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
70
Lösungsvorschlag
• Aber:
es gibt nicht die Indikation:
=> Indikation (insb. auch iZm Nichtbehandlung am
Lebensende) von Zielstellung abhängig
 zu unterscheiden (z.B. Neitzke):
- medizinische Indikation
- ärztliche Indikation
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
71
Lösungsvorschlag
• medizinische Indikation =
„fachliche Rechtfertigung dafür, dass eine geplante
ärztliche Maßnahme in vergleichbaren Fällen
medizinisch sinnvoll und damit angezeigt ist“
(Neitzke)
bzw.
„Grund…, welcher es erlaubt, eine bestimmte
ärztliche Maßnahme durchzuführen, die nach
Abschätzung des möglichen Nutzen und Risikos unter Beachtung etwaiger Kontraindikationen - für
den Patienten sinnvoll ist.“ (Oehmichen)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
72
Lösungsvorschlag
Medizinische Indikation:
- nach Feststellung einer Erkrankung (Diagnose), die
behandelbar ist (Inblicknahme des med. Methodenspektrums)
- wird in Hinblick auf ein bestimmtes Behandlungsziel eine Prognose gestellt, ob mögliche Behandlungsmaßnahmen unter Beachtung von Kontraindikationen einen Behandlungserfolg erzielen
können
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
73
Lösungsvorschlag
hierbei:
grundsätzlich Indikation und Patienten-Konsens zu
trennen
aber:
- Therapieziel auch von Wünschen des Patienten
abhängig („shared decision making“)
- Prozesshaftigkeit der Indikationsstellung (ebenso
die Bildung des Patientenwillens)
- in die dann indizierte Therapie muss Patient aber
noch einwilligen
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
74
Lösungsvorschlag
Ärztliche Indikation:
Prüfung der Angemessenheit einer medizinisch als
indiziert angesehenen Maßnahme am konkreten
Einzelschicksal
= „Tor, durch das die Ethik Eingang findet in den
überindividuell-rationalen Prozess ärztlicher
Entscheidungsprozesse“ (Neitzke);
s.a. Anschütz (1982): „Indikationsstellung …. [als]
einziger Ort, wo in den fast zwangshaft naturwissenschaftlich logischen Gedankengang von Anamnese,
Befund, Diagnose und Therapie ethische Gedankengänge eingebracht werden können.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
75
Lösungsvorschlag
Zur ärztlichen Indikation zählen bspw.:
- Alter
- jetzige sowie zukünftige Lebensqualität (s.u.)
- Komorbidität und andere Risiken
- weitere Lebensplanung des Patienten
- zu erwartende Compliance
- Patienten-Einstellung zu Leid und Sterben
- Menschenbild des Patienten
- seine sonstigen Lebensumstände, soziales Umfeld
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
76
Lösungsvorschlag
Gesamtindikation → zielt auf fachlich bestmögliches und
individuell angemessenes Therapieangebot
„Therapie ohne medizinische Indikation: medizinischwissenschaftlich verantwortungslos; Therapie ohne
ärztliche Indikation: moralisch verantwortungslos“
(Neitzke)
→Arzt dem Menschen und nicht dessem Organismus
verpflichtet
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
77
Lösungsvorschlag
• nicht zur ärztlichen Indikation (mit ihrem am
Patienten zu orientierenden Ansatz) zählen:
- gerechte Ressourcen-Zuteilung!
- drittbewertete Lebensqualität:
→ Lebensqualität nur vom Betroffenen (und eben
nicht von Dritten) einzustufen: Maßgebend
→ Maßstab des Patienten (und nicht des
Arztes)
→ insoweit gibt es keine medizinischnaturwissenschaftliche Objektivität
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
78
Lösungsvorschlag
• ebenfalls nicht zur ärztlichen Indikation zählt:
objektive „Futility“ (Sinn- oder Nutzlosigkeit
einer Maßnahme)
→ ob medizinisch mögliche Maßnahme dem
einzelnen Kranken in seiner konkreten Situation
noch gerecht würde („angemessen“), darf nur aus
Patientensicht bestimmt werden
(sonst droht: Camouflage in Wahrheit ökonomisch
motivierter Entscheidung)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
79
Lösungsvorschlag
• zukünftig (?) zu erwarten:
=> ärztliche Indikationsstellung zunehmend
unter Einschluss wirtschaftlicher Überlegungen (idR als verdeckte Rationierung)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
80
Lösungsvorschlag
vgl. Oehmichen (Arzt):
„[Behandlungsindikation] letztlich determiniert
vom individuellen Krankheitszustand und der
Prognose, von der kollektiven Erfahrung, von
medizinischen Möglichkeiten der Diagnostik und
Therapie sowie von personellen, organisatorischen, institutionellen und ökonomischen
Bedingungen der gesamten Gesellschaft.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
81
Lösungsvorschlag
vgl. Kirchhof (Jurist):
„Auch Faktoren außerhalb der direkten ArztPatienten-Beziehung beeinflussen das ärztlich
Indizierbare: gesellschaftliche Gegebenheiten wie
Verfügbarkeit von Ressourcen, Finanzierbarkeit
und somit das Prinzip der „Gerechtigkeit“ dürfen
nicht vernachlässigt werden. Damit wäre es
notwendig, in der Indikationsstellung die „Kultur
des Maßes neu zu entdecken“.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
82
Lösungsvorschlag
Rationierungserwägungen verstärkt durch:
• arztethisches Prinzip der Wahrung von
Gerechtigkeit, hier als Sicherung des
Teilhaberechts zukünftiger Patienten an
medizinischen Leistungen
• ferner: Wo nichts ist, hat auch der Sozialstaat sein
Recht verloren => “gegen Finanzengpässe lässt
sich nicht juristisch anargumentieren“ (Isensee)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
83
Lösungsvorschlag
• zur „Rationierung am Krankenbett“:
handlungsleitende Berücksichtigung knapper
Ressourcen
→ Nichtbehandlung als Ergebnis einer
Güterabwägung (§ 34 StGB bzw. rechtfertigende
Pflichtenkollision) mit Interessen Dritter?
 aber: entgegenstehend → Lebenswertindifferenz
des GG und damit auch des § 34 StGB!
=> hierzu BVerfG 39, 1, 59 (1975) →
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
84
Lösungsvorschlag
BVerfG 39, 1, 59 (1975) zu § 218 StGB:
„Der Schutz des einzelnen Lebens darf nicht
deswegen aufgegeben werden, weil das an sich
achtenswerte Ziel verfolgt wird, andere Leben zu
retten. Jedes menschliche Leben - auch das erst
sich entwickelnde Leben - ist als solches gleich
wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie
gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar
zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
85
Lösungsvorschlag
• Aber:
m.E. ungeachtet dieser Vorgabe der
„Lebenswertindifferenz“ zwei (letztlich
auch „ökonomisch“ begründete) Kriterien
für Behandlungsbeschränkung berücksichtigungsfähig:
- „probalistische Sinnlosigkeit“
- „quantitative Sinnlosigkeit“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
86
Lösungsvorschlag
• „probalistische Sinnlosigkeit“
→ Maßnahmen, die einen lebenserhaltenden Effekt
zwar haben können, aber nicht mit einer
hinreichenden [!?], „statistisch gesicherten“
Wahrscheinlichkeit
 ab gewissem Grad der Unwahrscheinlichkeit des
erwünschten Erfolges beginnt Abwägung mit
dem dafür erforderlichen Aufwand (trotz des
Grundsatzes, dass jedes Leben in jedem Zustand
einen gegenüber ökonomischen Interessen nicht
abwägbaren Höchstwert darstellt)
- vgl. Merkel Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
87
Lösungsvorschlag
z.B. Marckmann (Mediziner):
“Je kleiner der zu erwartende Nutzengewinn
für Patienten ist, desto höhere Anforderungen
sind an die wissenschaftliche Evidenz [seines
Eintretens] zu stellen.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
88
Lösungsvorschlag
Der Einsatz klinischer Maßnahmen in derartigen
Grenzfällen eben auch ein Problem der
Verteilung knapper Ressourcen
zur Unverhältnismäßigkeit von Aufwand und
Nutzen vgl. Taupitz (Jurist):
Eine Behandlung darf umso eher unterbleiben, „je
größere Ressourcen (im weitesten Sinne) sie
einerseits bindet (die dann für andere Patienten
nicht zur Verfügung stehen) und je geringer oder
unsicherer der Nutzen (im weitesten Sinne) für den
betroffenen Patienten andererseits ist.“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
89
Lösungsvorschlag
• „quantitative Sinnlosigkeit“:
→ Maßnahmen, die eine Lebenserhaltung zwar
hinreichend sicher, aber nicht für eine
hinreichend lange Zeit [!?] erreichen können
 besteht wirklich Rechtspflicht, einem todkranken Patienten eine "große Operation" zur
Lebensverlängerung um nur wenige Stunden zu
verabfolgen?
 Parallele: Keine Garantenverpflichtung der
Eltern, zur Behandlung ihres Kindes weltweit
Spezialisten aufzusuchen
vgl.
Merkel
Prof. Dr. Detlev
90
Sternberg-Lieben
Lösungsvorschlag
• angesichts der „Korrumpierbarkeit“ [im Sinne
vielfältiger Einflussmöglichkeiten] der
Indikationsstellung (Gahl)
 rechtliche Überprüfung erforderlich:
- aber nur auf „Beurteilungsfehler“
- also: kein bedingungsloses Übernehmen
ärztlicher Indikationsstellung durch das
(Straf-)Recht
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
91
Lösungsvorschlag
• Keine Besonderheit der Sterbehilfe i.w.S.:
→ auch sonst kommt im Arztrecht von der
Ärzteschaft eigenständig entwickelten
Regulierungen (z.B. Behandlungsstandards)
Rechtswirkungen (z.B. Verneinung eines
Behandlungsfehler) nur zu:
- bei einer vom Rechtsanwender kontrollierten
Rezeption [sowie ggfs.]
- bei vom Recht garantierter prozeduraler
Absicherung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
92
Lösungsvorschlag
Lösung zwischen zwei zu vermeidenden Übeln zu
entwickeln:
- Scylla ärztlicher Immobilität (infolge übermäßiger
Einengung ärztlichen Entscheidungsspielraums
durch feinststeuernde rechtliche Vorgaben)
- Charybdis rechtsbindungslosen ärztlichen Beliebens
(unvereinbar mit den grundgesetzlichen Schutzgarantien für Leib und Leben, Art. 2 II GG)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
93
Lösungsvorschlag
 Lösungsversuch:
- kein Handlungsermessen freier Beliebigkeit
(also kein „rechtsfreier Bereich“)
- sondern “kriterienorientiertes Beurteilungsermessen“ (Eser), bei dem die wesentlichen
Kriterien von der Rechtsgemeinschaft (nicht
zwingend Gesetzgeber) vorzugeben sind →
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
94
Lösungsvorschlag
• Hat der Arzt eine medizinisch-ärztlich vertretbare
Entscheidung ohne Berücksichtigung sachfremder
Erwägungen
( ← Problem: Wie groß ist das Einfallstor für
Erwägungen gerechter Ressourcenzuteilung?
{m.E. de lege lata: nur probalistische und quantitative
Sinnlosigkeit} )
getroffen?
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
95
Lösungsvorschlag
=> vgl. insoweit die zur Vermeidung von
Beurteilungsfehlern entwickelten allgemeinen
verwaltungsrechtlichen Kriterien:
- zutreffende und vollständige Sachverhaltsaufklärung / - Beachtung der einschlägigen
Bewertungsmaßstäbe / - Vermeidung
sachfremder, willkürlicher oder sonst unsachlicher Erwägungen
• Sind diese Grenzen ärztlicher Indikationsstellung eingehalten, so hat die
Rechtsordnung jede Entscheidung des
abwägenden Arztes zu respektieren
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
96
Lösungsvorschlag
• Sinnvolle Ergänzung dieses Lösungsansatzes:
→ prozedurale Kompensation
- Legitimation durch Verfahren:
Bei Unentscheidbarem, das entschieden werden
muss, wird jedes prozedural ordentlich erlangte
Ergebnis akzeptiert (Eser)
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
97
Lösungsvorschlag
- vgl. auch (bei Unentscheidbarem am Lebensbeginn) Straffreiheit bei Angezeigtsein eines
Schwangerschaftsabbruchs „nach ärztlicher
Erkenntnis“ (§ 218a Abs. 2 StGB)
• vorliegend (Unentscheidbares am Lebensende):
→ → {sofern möglich}
Einschalten eines Klinischen Ethik-Komitees
- keine inhaltliche Entscheidung der (hierfür nicht
legitimierten) Ethik-Kommission, sondern:
- („nur“): Beratung des Arztes, der allein die
Entscheidung zu treffen und zu verantworten hat
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
98
Lösungsvorschlag
• sicherlich mit dieser Lösung verbunden:
=> gewisser Kontrollverlust des Rechts
- m.E.: nicht zu beklagen, da hierdurch:
=> Freiraum eröffnet zur eigenverantworteten, ethisch geleiteten ärztlichen
Entscheidung
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
99
übermäßiger Behandlungswunsch
• Bundesgerichtshof in Zivilsachen 2003: „Auch
dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen
lässt sich eine Antwort [ergänze: auf die
Frage, welche lebensverlängernden oder erhaltenden Maßnahmen der Betroffene
beanspruchen kann] nicht entnehmen; denn
dieses Recht lässt sich nur als Abwehrrecht
gegen, nicht aber als Anspruch auf eine
bestimmte Behandlung begreifen (…).“
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
100
übermäßiger Behandlungswunsch
(bspw. in Bezug auf Wach-KomaPatienten)
• Bei sog. übermäßigem Behandlungswunsch des
Patienten (übermäßig infolge fehlender Indikation):
→ grundsätzlich keine Behandlungspflicht
→ im Beispiel aber => Behandlungsabbruch unzulässig, da:
- medizinische Indikation: (+)
→ Leben des Patienten kann erhalten werden
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
101
übermäßiger Behandlungswunsch
- ärztliche Indikation: (+) [!]
=> Gesichtspunkt mangelnder Lebensqualität (z.B.
Bewusstlosigkeit) scheidet infolge Patientendisposition als berücksichtigungsfähiges
Kriterium aus
→
(→ Orientierung der Bewertung dieses Lebens an
individuellen Präferenzen des Betroffenen – wie
auch im umgekehrten Fall einer Behandlungsverweigerung!)
=> weder probalistische noch quantitative
Sinnlosigkeit
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
102
übermäßiger Behandlungswunsch
Konsequenz:
- behandelnde Ärzte müssen Verlegung des (z.B.
Wach-Koma)Patienten in eine seine Weiterbehandlung ermöglichende Institution ermöglichen
- für Übergangszeit bis zur Verlegung ist
Behandlung fortsetzen
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
103
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit!
Professor Dr. Detlev Sternberg-Lieben
Prof. Dr. Detlev
Sternberg-Lieben
Forschungsstelle Medizinstrafrecht
Juristische Fakultät - TU Dresden
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