Sterbehilfe und Strafrecht - gerechter Einsatz knapper medizinischer Ressourcen bei Patienten am Lebensende Gemeinsame Veranstaltung von ELSA-Dresden und der Forschungsstelle Medizinstrafrecht an der Juristischen Fakultät der TU Dresden am 12. Juni 2012 Referent: Professor Dr. iur. Detlev Sternberg-Lieben (Juristische Fakultät, TU Dresden) Übersicht I 1. Vorbemerkung 2. Ärztliche Sterbehilfe iwS 3. Verhältnis Arztethik/(Straf-)Recht 4. Nicht feststellbarer Patientenwille: Ärztliche Indikation als entscheidende Weichenstellung 5. „übermäßiger“ Behandlungswunsch Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 2 Übersicht II Einzelne Problemfelder 4. allgemeine Sterbebegleitung 5. aktiver Sterbehilfe durch Tötung (≠ Suizidmitwirkung) 6. sog. indirekte „Sterbehilfe“ (= Schmerzminderung mit ggf. lebensverkürzender Wirkung) 7. sog. passive Sterbehilfe (= 8. Nicht zu behandeln: - Patientenverfügung - Vorsorgevollmacht - Entscheidungswege bei Vorliegen bzw. Fehlen von Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht (Vormundschaftsgericht?) Behandlungsbegrenzung) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 3 1. Vorbemerkung allgemeines Spannungsverhältnis bei rechtlichen Regelungen im Arzt/Patienten Verhältnis • Unentbehrlichkeit rechtlicher Grenzziehung • Anerkennung eines sachnotwendig gebotenen ärztlichen „Freiraums“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 4 Recht als bloßer Rahmen Konsequenz (z.B. Therapiefreiheit des Arztes) Grenze: „Kunstfehler“ bei Verfehlen des medizinischen Standards => rechtliche Sanktionierung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 5 Wesentliche Ausnahme vom ärztlichen „Freiraum“ bei körperlichen Eingriffen: „Zugriffsberechtigung„ geboten = (mutmaßliche) Einwilligung des Patienten oder seines Vertreters als zwingende Voraussetzung rechtmäßigen ärztlichen Handelns Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 6 So bereits 1991 auch der Bundesgerichtshof in Strafsachen • „Die Ausschöpfung intensivmedizinischer Technologie ist, wenn sie dem wirklichen oder anzunehmenden Patientenwillen widerspricht, rechtswidrig." Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 7 2. Ärztliche Sterbehilfe iwS Zur Zeit (noch) keine ausdrückliche gesetzliche Regelung Konsequenz Rechtslage aus allgemeinen gesetzlichen Vorgaben zu erschließen ≠ fertiges Ergebnis für alle Zweifelsfragen Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 8 Spannungsverhältnis: Dilemma • einerseits: Nicht-amLeben-Erhalten eines anvertrauten Patienten trotz Möglichkeit (+ medizinischer Indikation) als Tötung durch Unterlassen Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben • andererseits: jeder (!) ärztliche Heileingriff = Körperverletzung → rechtmäßig nur bei (ausdrücklicher/mutmaßlicher) Einwilligung des Patienten oder seines Vertreters 9 Spannungsverhältnis: Auflösung Angesichts der verfassungsrechtlichen Gewährleistung von Menschenwürde, Persönlichkeitsrecht und Körperintegrität selbst bei vitaler Indikation: keine ärztliche Befugnis zur Heilbehandlung ohne Einwilligung des Patienten Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 10 So bereits 1957 der Bundesgerichtshof in Strafsachen • „Das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit fordert Berücksichtigung auch bei einem Menschen, der es ablehnt, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann preiszugeben, wenn er dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit wird. Niemand darf sich zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Um-ständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern, um dadurch wieder gesund zu werden. Diese Richtlinie ist auch für den Arzt verbindlich.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 11 Entscheidung ders Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg im Jahre 2008 • „Bei der Frage, ob bei einem Kranken eine Operation oder ein sonstiger ärztlicher Eingriff vorzunehmen ist, muss in erster Linie sein Selbstbestimmungsrecht beachtet werden. Jeder Mensch kann selbst bestimmen, ob, wie lange und in welcher Weise er behandelt werden soll. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gilt auch dann, wenn es darauf gerichtet ist, eine aus medizinischen Gründen dringend erforderliche Behandlung zu verweigern (…) oder lebensverlängernde Maßnahmen abzubrechen (…). Bei einer Missachtung des Selbstbestimmungsrechts eines Kranken kommt eine strafbare Körperverletzung in Betracht, wenn ein ärztlicher Eingriff vorgenommen oder auf andere Weise, z. B. durch Verabreichung von Medikamenten, in den Körper eingegriffen wird.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 12 Rechtliche Folgen I bei nicht konsentierter (also eigenmächtiger) Heilbehandlung Sanktionierung aus § 223 Strafgesetzbuch (Körperverletzung) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben Schadensersatz aus § 823 BGB (Körperverletzung & Verletzung des allg. Persönlichkeitsrechts) 13 → also auch bei Sterbehilfe iwS vorrangig: Ist die (Weiter-)Behandlung vom (mutmaßlichen) Patientenwillen gedeckt? Wenn nicht Fortfall der ärztlichen Berechtigung zur Heilbehandlung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben Fortfall der ärztlichen Pflicht zur Lebenserhaltung 14 4. Allgemeine Sterbebegleitung ohnehin nicht regelbar Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 15 5. Aktive Sterbehilfe durch Tötung = Setzen einer neuen, den Tod beschleunigenden „Noxe“ (z.B. „Todesspritze“) = strafbar (§ 216 StGB) (auch bei ausdrücklichem Patientenwunsch) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 16 wichtige „Ausnahmen“ indirekte „Sterbehilfe“ (Leidensminderung) & aktive Hilfe zum freiverantwortlichen Suizid (Patient tötet sich selbst, z.B. durch Einnahme tödlich wirkenden Medikaments, das ihm vom Arzt beschafft wurde) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 17 aktive Hilfe zum freiverantwortlichen Suizid • Teilnahme → straffrei (da Suizid keine strafbare Haupttat) • nach Rechtsprechung problematisch → unterlassene Lebensrettung durch behandelnden Arzt nach Suizidversuch seines Patienten (straffrei bei „vertretbarer Gewissensentscheidung“) - ferner: § 323c StGB - • standesrechtlich untersagt => Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 18 aktive Hilfe zum freiverantwortlichen Suizid => Beschluss des 114. Deutsche Ärztetages 2011: • Änderung der (Muster-) Berufsordnung: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 19 6. indirekte „Sterbehilfe“ = Schmerzlinderung mit ggf. lebensverkürzender Wirkung hinreichende Schmerzbekämpfung als (arztethische) Pflicht (!) => Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben => strafbewehrt: Bei fehlender Schmerzlinderung als Körperverletzung durch Unterlassen 20 sofern ausnahmsweise lebensverkürzende Wirkung indizierter Schmerztherapie Schmerzmittelgabe rechtlich zulässig, sofern Todeserfolg unbeabsichtigte Nebenfolge der Schmerzbekämpfung (Wille primär auf Schmerzlinderung und nicht auf Tötung gerichtet) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 21 Bundesgerichtshof in Strafsachen 1996 • „Denn die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen … ist ein höherwertiges Rechtsgut als die Aussicht, unter schwersten, insbesondere sog. Vernichtungsschmerzen noch kurze Zeit länger leben zu müssen.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 22 Abgrenzung zur verbotenen aktiven Tötung • Willensrichtung des Arztes • Rechtspraxis: Dosierungsindikation als Maßstab Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 23 7. passive Sterbehilfe (= Behandlungsbegrenzung) Therapie-Ziel-Änderung: Unterlassen einer auf Lebensverlängerung ausgerichteten Maximaltherapie → Palliative Medizin gesetzlich nicht speziell geregelt; Konsequenz: auch hier Ausrichtung an allgemeinen Vorgaben der Rechtsordnung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 24 Verfassungsrechtliche Vorgaben I • Sterben in Würde + Beachtung eines in freier Selbstbestimmung geäußerten Patientenwillens gehören zum Schutzbereich der Menschenwürde • kein aufgedrängter Schutz des Einzelnen vor sich selbst (Grundrechte als Freiheitsrechte) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 25 Verfassungsrechtliche Vorgaben II • Selbstbestimmung – auch vorab ausübbar! - des Menschen über seinen eigenen Körper unabhängig von Krankheitsart und Todesnähe • (verfassungsrechtlich geschützte) ärztliche Gewissensfreiheit rechtfertigt keinen Eingriff in Grundrechte des Patienten Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 26 passive Sterbehilfe („Behandlungsabbruch“) irrelevant für die (straf-)rechtliche Beurteilung Nichtaufnahme einer lebensverlängernden Behandlung oder deren Abbruch Einsetzen des Sterbevorgangs Abbruch lebensverlängernder Behandlung durch Untätigbleiben oder aktives Tun Art der abgelehnten Maßnahme (auch künstl. Ernährung) => Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 27 Bundesgerichtshof in Zivilsachen 2003 • => „Die mit Hilfe einer Magensonde durchgeführte künstliche Ernährung ist ein Eingriff in die körperliche Integrität, der deshalb der Einwilligung des Patienten bedarf (…). Eine gegen den erklärten Willen des Patienten durchgeführte künstliche Ernährung ist folglich eine rechtswidrige Handlung, deren Unterlassung der Patient …verlangen kann. Dies gilt auch dann, wenn die begehrte Unterlassung - wie hier - zum Tode des Patienten führen würde. Das Recht des Patienten zur Bestimmung über seinen Körper macht Zwangsbehandlungen, auch wenn sie lebenserhaltend wirken, unzulässig.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 28 Zulässigkeit konsentierter passiver Sterbehilfe (Behandlungsbegrenzung) aktuelles (auch mündliches) Veto des (einwilligungsfähigen!) Patienten = verbindlich (wie sonst auch) vorab: Patientenverfügung (vgl. nunmehr § 1901a BGB) = Verbindlich, sofern... Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 29 verbindlich, sofern... • von Volljährigem aufgesetzt • schriftlich • einschlägig für aktuelle Lebens- und Behandlungssituation • unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung • nicht widerrufen vom Patienten • kein augenfälliger Wegfall ihrer Geschäftsgrundlage Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 30 nicht erforderlich... • vorherige (ärztliche) Beratung • (jährliche) Aktualisierung • notarielle Beurkundung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 31 Konsequenz: → Weiterbehandlung rechtswidrig Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 32 Verhältnis von Arztethik / (Straf-) Recht Z.B. Vier-Prinzipien-Modell der Medizinethik von Beauchamp und Childress („Georgetown mantra“): • Respekt vor der Autonomie der Patientin / des Patienten (respect for autonomy) • Nicht-Schaden (nonmaleficence) • Fürsorge, Hilfeleistung (beneficence) • Gleichheit und Gerechtigkeit (justice) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 33 Verhältnis von Arztethik / (Straf-) Recht Überschneidung von Ethik und Recht im ärztlichen Berufsfeld (vgl. Bundesverfassungsgericht 1980: „Weit mehr als sonst in den sozialen Beziehungen der Menschen fließt im ärztlichen Berufsbereich das Ethische mit dem Rechtlichen zusammen.“) ABER: Staatlich gesetztes Recht als einziger allen Bürgern noch gemeinsamer Handlungsrahmen Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 34 Verhältnis von Arztethik / (Straf-) Recht bei Übernahme ethischer Vorgaben in die Rechtsordnung: → ethische Vorgaben werden Teile der Rechtsordnung: - Selbständigkeit der Rechtsanwendung gegenüber der moralischen Norm (als ihrem Ausgangspunkt) → (straf)gesetzmediatisierte Moralgültigkeit Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 35 Verhältnis von Arztethik / (Straf-) Recht Entlastungsfunktion der Standesethik für das Recht zur Vermeidung sachwidriger Feinsteuerung (Recht und Moral als „kommunizierende Röhren“) → Recht sichert und belässt Freiheitssphären, in denen sittliche Entscheidungen erst getroffen werden können Unterstützende Funktion der Ethik für das Recht: Begründung einer für die Wirksamkeit des Rechts unerlässlichen Rechtsgesinnung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 36 Verhältnis von Arztethik / (Straf-) Recht mithin: einerseits: Unentbehrlichkeit rechtlicher Grenzziehung (Schutz-Funktion zugunsten Patienten) andererseits: sachnotwendiger medizinischer "Freiraum" (auch zugunsten des Patienten) Konsequenz Recht als bloßer Rahmen ("Grenzkontrolle") → z.B. Therapiefreiheit innerhalb des ärztlicherseits definierten Standards Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 37 Verhältnis von Arztethik / (Straf-) Recht Relevanz medizinischer Ethik für: • Gesetzgeber als zu berücksichtigende Programmatik (z.B. bei evtl. ausdrücklicher Regelung der Sterbehilfe) • Auslegungshilfe für Rechtsanwender (z.B. Behandlungsabbruch bei Äußerungsunfähigkeit infolge Zielsetzung ärztlichen Handelns?) • handlungsleitendes Kriterium für die Ärzteschaft Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 6 38 Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de lege lata kein ärztliches Handeln im rechtsfreien (ausschließlich arztethisch gelenkten) Bereich, da: - staatliche Schutzpflicht für das Leben - umgekehrt aber auch staatliche Schutzpflicht: - für Körperintegrität des Patienten (durch Weiterbehandlung tangiert) - für Menschenwürde des Patienten (Recht auf seinen eigenen „natürlichen“ Tod) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 39 Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de lege ferenda • gesetzgeberische Leitentscheidung notwendig („Wesentlichkeitstheorie“) • bspw. gesetzliche Festlegung: „Bei Sterbenden oder irreversibel Bewusstlosen ist eine medizinische Behandlung nicht geboten.“ (so Vorschlag in § 214 AE-Sterbehilfe [1986]) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 9 40 Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de lege ferenda • => Ausfüllung dieses gesetzlichen Rahmens (Wann beginnt der Sterbeprozess? Wann liegt irreversible Bewusstlosigkeit vor?) → originär ärztliche Entscheidung Beispiel für entsprechende „Arbeitsteilung“: → Todesbegriff: - wann ist der Mensch tot? (=> Recht) - wie ist dies festzustellen? (=> Medizin) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben - 41 Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de lege ferenda In zukünftiger gesetzlicher Regelung: → Entscheidung, inwieweit ökonomische Erwägungen hierbei mit zu berücksichtigen → explizite Rationierung auf höherer Ebene auf Basis allgemein-verbindlicher Regelung (bspw. anhand „kosten-sensibler Leitlinien“ unter Berücksichtigung verfügbarer wissenschaftlicher Evidenz) vorzugswürdig gegenüber impliziter Rationierung „am Krankenbett“ - i.Ü. nicht zu unterschätzen (Marckmann): - konsequente Berücksichtigung von Patientenpräferenzen („Veto“) kann bereits heute Ressourcen zugunsten anderer Patienten sparen Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 42 Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de lege ferenda Nur angedeutet: → Berücksichtigung ökonomischer Erwägungen bei Lebenserhaltung überhaupt zulässig? Vgl. Bundesverfassungsgericht (1998), Bd. 115, 25: „Es ist mit den Grundrechten … nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten …von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.“ → Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben → 43 Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de lege ferenda → → zwar (BVerfG ebd.): „Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung darf auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein … Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht.“ ABER: → → Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 44 Behandlungs“abbruch“ / Rechtslage de lege ferenda → → BVerfG im Ergebnis : => unmittelbar aus der Verfassung ein medizinischer Leistungsanspruch gegenüber der Sozialversicherung [!] konstruiert, der einzig und allein auf den Gesundheitszustand des Betroffenen und auf eine (überdies dann auch nur potentielle) medizinische Zweckmäßigkeit der Leistung abstellt, ohne noch eine Kosten-NutzenAbwägung zuzulassen… Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 45 zurück zur gegenwärtigen Rechtslage Vorgehen bis zur gesetzgeberischen Regelung: => „passive Sterbehilfe“ = Behandlungsbegrenzung = Unterlassen auf Lebenserhaltung ausgerichteter Maximaltherapie = lebensverkürzende Therapie-Umstellung auf palliative Versorgung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 46 Gegenwärtige Rechtslage „Passive Sterbehilfe“: auf jeden Fall zulässig (da rechtlich geboten!) bei: - aktuell erklärtem Behandlungsveto des Patienten - vorab erklärter Nicht-Einwilligung in Behandlung (Patientenverfügung) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 47 Gegenwärtige Rechtslage → für rechtliche Behandlung ohne Belang: - Nichtaufnahme einer lebensverlängernden Behandlung oder deren Abbruch - Abbruch lebensverlängernder Behandlung durch Untätigbleiben (z.B. bei Begleitkrankheit) oder durch aktives Tun (sog. technischer Behandlungsabbruch: „Abschalten“) - Todesnähe Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 48 Gegenwärtige Rechtslage • Dogmatische Umsetzung der passiven Sterbehilfe (= Behandlungs“abbruch“) Unterlassen: Wegfall der Garantenstellung: §§ 212, 13 StGB (-) oder - aktives Tun → TB-los oder rechtfertigungsfähig - Bewertung als Unterlassen? - § 34 StGB oder - Art. 2 I iVm 1 I, 2 II GG (Patient) als Rechtfertigungsgrund ODER - (mutmaßliche) Einwilligung in Behandlungsabbruch (BGHStE 55, 191 aus 2010) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 49 Gegenwärtige Rechtslage letztlich nicht von Belang, ob: - auf (fehlende) Einwilligung in die Weiterbehandlung oder - auf (fehlende) Einwilligung in den Behandlungs“abbruch“ abgestellt wird: → Sachfrage bedeutsamer als deren dogmatischsystematische Einordnung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 50 Gegenwärtige Rechtslage bei nicht feststellbarem Patienten-Willen: • keine Entscheidung durch Angehörige • keine Entscheidung nach ärztlichem Belieben • vielmehr: Abstellen auf mutmaßlichen Willen des individuellen Patienten (wie auch sonst als unentbehrlicher Notbehelf) • mutmaßlicher Wille nicht zwingend identisch mit dem (zu unterstellenden) Willen eines "verständigen Durchschnitts- Patienten" Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 51 Gegenwärtige Rechtslage • Patienten-Wille zu erschließen auf Basis konkreter Anhaltspunkte (also anhand individueller personenbezogener Informationen) • zu berücksichtigen insbesondere (so ↓ § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB): - frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen - ethische oder religiöse Überzeugungen - sonstige persönliche Wertvorstellungen - Ferner (?) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben →→ 52 Gegenwärtige Rechtslage → → vom BGH/Strafsenat 1994 insoweit erwähnt: - altersbedingte Lebenserwartung - Erleiden von Schmerzen aber auch: - Kriterien, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen => sehr zweifelhaft, da es hierbei nicht um das betroffene Individuum und seinen mutmaßlichen Willen geht, vgl. etwa BGHStE 45, 219, 221 (1999) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben →→ 53 Gegenwärtige Rechtslage → → BGH (zu mutmaßlicher Einwilligung in OP-Erweiterung): „Liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß sich der Patient anders entschieden hätte, wird allerdings davon auszugehen sein, daß sein (hypothetischer) Wille mit dem übereinstimmt, was gemeinhin als normal und vernünftig angesehen wird.“ (mutmaßl. Wille als Fiktion = verschleierte Fremdbestimmung) übertragen auf Behandlungs“abbruch“: => Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 54 Gegenwärtige Rechtslage → Allgemeine Wertvorstellungen bei passiver Sterbehilfe (BGHStE 40, 257, 263 [1994]): „Im Einzelfall wird die Entscheidung naturgemäß auch davon abhängen, wie aussichtslos die ärztliche Prognose und wie nahe der Patient dem Tode ist: je weniger die Wiederherstellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens zu erwarten ist und je kürzer der Tod bevorsteht, um so eher wird ein Behandlungsabbruch vertretbar erscheinen.“ - als „Willensvehikel“ kaum akzeptabel Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 55 Gegenwärtige Rechtslage • Bundestagsdrucksache 16/8442 S. 16 (zur Patientenverfügung, § 1901a BGB) „Kann ein auf die Durchführung, die Nichteinleitung oder die Beendigung einer ärztlichen Maßnahme gerichteter Wille des Betreuten auch nach Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisse nicht festgestellt werden, gebietet es das hohe Rechtsgut auf Leben, entsprechend dem Wohl des Betreuten zu entscheiden und dabei dem Schutz seines Lebens Vorrang einzuräumen.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 56 Gegenwärtige Rechtslage • § 1901a II 2 BGB: „[Bei fehlender Patientenverfügung →] Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Also: Gesetzgeberischer Vorhang zu – und Fragen für die Praxis offen….. Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 57 Gegenwärtige Rechtslage Bei nicht feststellbarem Patientenwillen → bislang keine überzeugende Lösung entwickelt: bspw.: - Sinnlosigkeit weiterer ärztlicher Bemühungen (aber: „Frage nach dem „Sinn” ärztlichen Handelns untrennbar mit jener weiteren nach der „Entscheidungsmacht” zwischen juristischem und medizinischem Geltungsanspruch verknüpft.“ [Duttge] Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 58 Gegenwärtige Rechtslage - Unzumutbarkeit der Weiterbehandlung für den Arzt? - Menschenwürde des „Sterbenden“? - Güterabwägung / § 34 StGB (wie bei indirekter Sterbehilfe)? aber: Für patienten-interne Abwägung (Leben[srest] ./. Schmerzbekämpfung) hier kein Raum: stattdessen [Merkel] Güterabwägung: "biologisches" Leben ./. fehlendes Lebensinteresse"? →→ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 59 Gegenwärtige Rechtslage → → Aber: - Wieso Fortexistenz für Apalliker eine seinen Interessen zuwiderlaufende Last? „Der Apalliker lebt, mehr wissen wir nicht.“ (Jähnke) - Weshalb sollte seine idR minimale Chance, doch noch aus dem Koma zu erwachen, als Interesse pro vita ausgeblendet bleiben? Wieso wäre eine für diesen Fall zu prognostizierende schlechte Lebensqualität als Faktor in Abwägung einzustellen? Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 60 Gegenwärtige Rechtslage • ökonomische Faktoren als insoweit ausschlaggebender Abwägungsfaktor? abzulehnen: Lebensschutz würde totaler Materialisierung zum Opfer fallen: => wirtschaftliche Faktoren dürfen nicht von vornherein die Frage nach dem Sinn weiterer Lebensverlängerung für den Patienten verdrängen! Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 61 Gegenwärtige Rechtslage Weiterer Ansatz: • normative Unzumutbarkeit der Weiterbehandlung infolge Zielsetzung des auf „Erhaltung und Ermöglichung menschlicher Selbstverwirklichung“ gerichteten ärztlichen Auftrags (Eser) => dieser endet mangels Möglichkeit weiterer Selbstwahrnehmung bei unwiderruflichem Verlust jeglicher Reaktionsund Kommunikationsfähigkeit Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 62 Gegenwärtige Rechtslage Aber: Diese Lösung setzt Verständigung über das Essentielle des Menschen voraus: Aus welchem Grunde kommt der Kommunikationsfähigkeit diese Schlüsselrolle zu? {m.E. nur vom Gesetzgeber bestimmbar} Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 63 Lösungsvorschlag • Abstellen auf Fortfall der Indikation zur weiteren (Maximal-) Behandlung Konsequenz: Fortfall der strafbewehrten Behandlungspflicht Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 64 Lösungsvorschlag Fehlende Indikation für Weiterbehandlung als von Rspr. und Gesetzgebung relativ kritiklos verwandter Schlüsselbegriff der Sterbehilfe, vgl. etwa: - BGHZ 154, 205, 224 (2003) → - § 1901b Abs. 1 BGB (2009) → - s.a. BÄK (Sterbebegleitung 2011) → Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 65 Lösungsvorschlag • BGHZ (2003): „Die medizinische Indikation, verstanden als das fachliche Urteil über den Wert oder Unwert einer medizinischen Behandlungsmethode in ihrer Anwendung auf den konkreten Fall, begrenzt insoweit den Inhalt des ärztlichen Heilauftrags. … im Schnittfeld naturwissenschaftlicher und medizinethischer Überlegungen nicht immer scharfe Begrenzung.“…. Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 66 Lösungsvorschlag • Noch BGHZ (2003): [Keine Weiterbehandlung, sofern diese] …„ärztlicherseits … nicht angeboten wird - sei es, dass sie nach Auffassung der behandelnden Ärzte von vornherein nicht indiziert, sinnlos geworden oder aus sonstigen Gründen nicht möglich ist.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 67 Lösungsvorschlag • § 1901b Abs. 1 BGB (zur Patientenverfügung): “Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 68 Lösungsvorschlag • BÄK (Sterbebegleitung 2011): „Entscheidung [zur Behandlungsbegrenzung] darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden … Art und Ausmaß einer Behandlung sind gemäß der medizinischen Indikation vom Arzt zu verantworten…. Alle Entscheidungen müssen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls getroffen werden.“ →→ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 69 Lösungsvorschlag • [BÄK]→ Behandlung bei schwerster zerebraler Schädigung: Art und Ausmaß [der] Behandlung sind gemäß der medizinischen Indikation vom Arzt zu verantworten; eine anhaltende Bewusstseinsbeeinträchtigung allein rechtfertigt nicht den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen. ….Bei Neugeborenen mit schwersten Beeinträchtigungen durch Fehlbildungen oder Stoffwechselstörungen, bei denen keine Aussicht auf Heilung oder Besserung besteht, kann … eine lebenserhaltende Behandlung, die ausgefallene oder ungenügende Vitalfunktionen ersetzen soll, unterlassen oder beendet werden.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 70 Lösungsvorschlag • Aber: es gibt nicht die Indikation: => Indikation (insb. auch iZm Nichtbehandlung am Lebensende) von Zielstellung abhängig zu unterscheiden (z.B. Neitzke): - medizinische Indikation - ärztliche Indikation Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 71 Lösungsvorschlag • medizinische Indikation = „fachliche Rechtfertigung dafür, dass eine geplante ärztliche Maßnahme in vergleichbaren Fällen medizinisch sinnvoll und damit angezeigt ist“ (Neitzke) bzw. „Grund…, welcher es erlaubt, eine bestimmte ärztliche Maßnahme durchzuführen, die nach Abschätzung des möglichen Nutzen und Risikos unter Beachtung etwaiger Kontraindikationen - für den Patienten sinnvoll ist.“ (Oehmichen) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 72 Lösungsvorschlag Medizinische Indikation: - nach Feststellung einer Erkrankung (Diagnose), die behandelbar ist (Inblicknahme des med. Methodenspektrums) - wird in Hinblick auf ein bestimmtes Behandlungsziel eine Prognose gestellt, ob mögliche Behandlungsmaßnahmen unter Beachtung von Kontraindikationen einen Behandlungserfolg erzielen können Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 73 Lösungsvorschlag hierbei: grundsätzlich Indikation und Patienten-Konsens zu trennen aber: - Therapieziel auch von Wünschen des Patienten abhängig („shared decision making“) - Prozesshaftigkeit der Indikationsstellung (ebenso die Bildung des Patientenwillens) - in die dann indizierte Therapie muss Patient aber noch einwilligen Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 74 Lösungsvorschlag Ärztliche Indikation: Prüfung der Angemessenheit einer medizinisch als indiziert angesehenen Maßnahme am konkreten Einzelschicksal = „Tor, durch das die Ethik Eingang findet in den überindividuell-rationalen Prozess ärztlicher Entscheidungsprozesse“ (Neitzke); s.a. Anschütz (1982): „Indikationsstellung …. [als] einziger Ort, wo in den fast zwangshaft naturwissenschaftlich logischen Gedankengang von Anamnese, Befund, Diagnose und Therapie ethische Gedankengänge eingebracht werden können.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 75 Lösungsvorschlag Zur ärztlichen Indikation zählen bspw.: - Alter - jetzige sowie zukünftige Lebensqualität (s.u.) - Komorbidität und andere Risiken - weitere Lebensplanung des Patienten - zu erwartende Compliance - Patienten-Einstellung zu Leid und Sterben - Menschenbild des Patienten - seine sonstigen Lebensumstände, soziales Umfeld Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 76 Lösungsvorschlag Gesamtindikation → zielt auf fachlich bestmögliches und individuell angemessenes Therapieangebot „Therapie ohne medizinische Indikation: medizinischwissenschaftlich verantwortungslos; Therapie ohne ärztliche Indikation: moralisch verantwortungslos“ (Neitzke) →Arzt dem Menschen und nicht dessem Organismus verpflichtet Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 77 Lösungsvorschlag • nicht zur ärztlichen Indikation (mit ihrem am Patienten zu orientierenden Ansatz) zählen: - gerechte Ressourcen-Zuteilung! - drittbewertete Lebensqualität: → Lebensqualität nur vom Betroffenen (und eben nicht von Dritten) einzustufen: Maßgebend → Maßstab des Patienten (und nicht des Arztes) → insoweit gibt es keine medizinischnaturwissenschaftliche Objektivität Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 78 Lösungsvorschlag • ebenfalls nicht zur ärztlichen Indikation zählt: objektive „Futility“ (Sinn- oder Nutzlosigkeit einer Maßnahme) → ob medizinisch mögliche Maßnahme dem einzelnen Kranken in seiner konkreten Situation noch gerecht würde („angemessen“), darf nur aus Patientensicht bestimmt werden (sonst droht: Camouflage in Wahrheit ökonomisch motivierter Entscheidung) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 79 Lösungsvorschlag • zukünftig (?) zu erwarten: => ärztliche Indikationsstellung zunehmend unter Einschluss wirtschaftlicher Überlegungen (idR als verdeckte Rationierung) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 80 Lösungsvorschlag vgl. Oehmichen (Arzt): „[Behandlungsindikation] letztlich determiniert vom individuellen Krankheitszustand und der Prognose, von der kollektiven Erfahrung, von medizinischen Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie sowie von personellen, organisatorischen, institutionellen und ökonomischen Bedingungen der gesamten Gesellschaft.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 81 Lösungsvorschlag vgl. Kirchhof (Jurist): „Auch Faktoren außerhalb der direkten ArztPatienten-Beziehung beeinflussen das ärztlich Indizierbare: gesellschaftliche Gegebenheiten wie Verfügbarkeit von Ressourcen, Finanzierbarkeit und somit das Prinzip der „Gerechtigkeit“ dürfen nicht vernachlässigt werden. Damit wäre es notwendig, in der Indikationsstellung die „Kultur des Maßes neu zu entdecken“.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 82 Lösungsvorschlag Rationierungserwägungen verstärkt durch: • arztethisches Prinzip der Wahrung von Gerechtigkeit, hier als Sicherung des Teilhaberechts zukünftiger Patienten an medizinischen Leistungen • ferner: Wo nichts ist, hat auch der Sozialstaat sein Recht verloren => “gegen Finanzengpässe lässt sich nicht juristisch anargumentieren“ (Isensee) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 83 Lösungsvorschlag • zur „Rationierung am Krankenbett“: handlungsleitende Berücksichtigung knapper Ressourcen → Nichtbehandlung als Ergebnis einer Güterabwägung (§ 34 StGB bzw. rechtfertigende Pflichtenkollision) mit Interessen Dritter? aber: entgegenstehend → Lebenswertindifferenz des GG und damit auch des § 34 StGB! => hierzu BVerfG 39, 1, 59 (1975) → Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 84 Lösungsvorschlag BVerfG 39, 1, 59 (1975) zu § 218 StGB: „Der Schutz des einzelnen Lebens darf nicht deswegen aufgegeben werden, weil das an sich achtenswerte Ziel verfolgt wird, andere Leben zu retten. Jedes menschliche Leben - auch das erst sich entwickelnde Leben - ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 85 Lösungsvorschlag • Aber: m.E. ungeachtet dieser Vorgabe der „Lebenswertindifferenz“ zwei (letztlich auch „ökonomisch“ begründete) Kriterien für Behandlungsbeschränkung berücksichtigungsfähig: - „probalistische Sinnlosigkeit“ - „quantitative Sinnlosigkeit“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 86 Lösungsvorschlag • „probalistische Sinnlosigkeit“ → Maßnahmen, die einen lebenserhaltenden Effekt zwar haben können, aber nicht mit einer hinreichenden [!?], „statistisch gesicherten“ Wahrscheinlichkeit ab gewissem Grad der Unwahrscheinlichkeit des erwünschten Erfolges beginnt Abwägung mit dem dafür erforderlichen Aufwand (trotz des Grundsatzes, dass jedes Leben in jedem Zustand einen gegenüber ökonomischen Interessen nicht abwägbaren Höchstwert darstellt) - vgl. Merkel Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 87 Lösungsvorschlag z.B. Marckmann (Mediziner): “Je kleiner der zu erwartende Nutzengewinn für Patienten ist, desto höhere Anforderungen sind an die wissenschaftliche Evidenz [seines Eintretens] zu stellen.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 88 Lösungsvorschlag Der Einsatz klinischer Maßnahmen in derartigen Grenzfällen eben auch ein Problem der Verteilung knapper Ressourcen zur Unverhältnismäßigkeit von Aufwand und Nutzen vgl. Taupitz (Jurist): Eine Behandlung darf umso eher unterbleiben, „je größere Ressourcen (im weitesten Sinne) sie einerseits bindet (die dann für andere Patienten nicht zur Verfügung stehen) und je geringer oder unsicherer der Nutzen (im weitesten Sinne) für den betroffenen Patienten andererseits ist.“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 89 Lösungsvorschlag • „quantitative Sinnlosigkeit“: → Maßnahmen, die eine Lebenserhaltung zwar hinreichend sicher, aber nicht für eine hinreichend lange Zeit [!?] erreichen können besteht wirklich Rechtspflicht, einem todkranken Patienten eine "große Operation" zur Lebensverlängerung um nur wenige Stunden zu verabfolgen? Parallele: Keine Garantenverpflichtung der Eltern, zur Behandlung ihres Kindes weltweit Spezialisten aufzusuchen vgl. Merkel Prof. Dr. Detlev 90 Sternberg-Lieben Lösungsvorschlag • angesichts der „Korrumpierbarkeit“ [im Sinne vielfältiger Einflussmöglichkeiten] der Indikationsstellung (Gahl) rechtliche Überprüfung erforderlich: - aber nur auf „Beurteilungsfehler“ - also: kein bedingungsloses Übernehmen ärztlicher Indikationsstellung durch das (Straf-)Recht Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 91 Lösungsvorschlag • Keine Besonderheit der Sterbehilfe i.w.S.: → auch sonst kommt im Arztrecht von der Ärzteschaft eigenständig entwickelten Regulierungen (z.B. Behandlungsstandards) Rechtswirkungen (z.B. Verneinung eines Behandlungsfehler) nur zu: - bei einer vom Rechtsanwender kontrollierten Rezeption [sowie ggfs.] - bei vom Recht garantierter prozeduraler Absicherung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 92 Lösungsvorschlag Lösung zwischen zwei zu vermeidenden Übeln zu entwickeln: - Scylla ärztlicher Immobilität (infolge übermäßiger Einengung ärztlichen Entscheidungsspielraums durch feinststeuernde rechtliche Vorgaben) - Charybdis rechtsbindungslosen ärztlichen Beliebens (unvereinbar mit den grundgesetzlichen Schutzgarantien für Leib und Leben, Art. 2 II GG) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 93 Lösungsvorschlag Lösungsversuch: - kein Handlungsermessen freier Beliebigkeit (also kein „rechtsfreier Bereich“) - sondern “kriterienorientiertes Beurteilungsermessen“ (Eser), bei dem die wesentlichen Kriterien von der Rechtsgemeinschaft (nicht zwingend Gesetzgeber) vorzugeben sind → Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 94 Lösungsvorschlag • Hat der Arzt eine medizinisch-ärztlich vertretbare Entscheidung ohne Berücksichtigung sachfremder Erwägungen ( ← Problem: Wie groß ist das Einfallstor für Erwägungen gerechter Ressourcenzuteilung? {m.E. de lege lata: nur probalistische und quantitative Sinnlosigkeit} ) getroffen? Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 95 Lösungsvorschlag => vgl. insoweit die zur Vermeidung von Beurteilungsfehlern entwickelten allgemeinen verwaltungsrechtlichen Kriterien: - zutreffende und vollständige Sachverhaltsaufklärung / - Beachtung der einschlägigen Bewertungsmaßstäbe / - Vermeidung sachfremder, willkürlicher oder sonst unsachlicher Erwägungen • Sind diese Grenzen ärztlicher Indikationsstellung eingehalten, so hat die Rechtsordnung jede Entscheidung des abwägenden Arztes zu respektieren Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 96 Lösungsvorschlag • Sinnvolle Ergänzung dieses Lösungsansatzes: → prozedurale Kompensation - Legitimation durch Verfahren: Bei Unentscheidbarem, das entschieden werden muss, wird jedes prozedural ordentlich erlangte Ergebnis akzeptiert (Eser) Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 97 Lösungsvorschlag - vgl. auch (bei Unentscheidbarem am Lebensbeginn) Straffreiheit bei Angezeigtsein eines Schwangerschaftsabbruchs „nach ärztlicher Erkenntnis“ (§ 218a Abs. 2 StGB) • vorliegend (Unentscheidbares am Lebensende): → → {sofern möglich} Einschalten eines Klinischen Ethik-Komitees - keine inhaltliche Entscheidung der (hierfür nicht legitimierten) Ethik-Kommission, sondern: - („nur“): Beratung des Arztes, der allein die Entscheidung zu treffen und zu verantworten hat Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 98 Lösungsvorschlag • sicherlich mit dieser Lösung verbunden: => gewisser Kontrollverlust des Rechts - m.E.: nicht zu beklagen, da hierdurch: => Freiraum eröffnet zur eigenverantworteten, ethisch geleiteten ärztlichen Entscheidung Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 99 übermäßiger Behandlungswunsch • Bundesgerichtshof in Zivilsachen 2003: „Auch dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen lässt sich eine Antwort [ergänze: auf die Frage, welche lebensverlängernden oder erhaltenden Maßnahmen der Betroffene beanspruchen kann] nicht entnehmen; denn dieses Recht lässt sich nur als Abwehrrecht gegen, nicht aber als Anspruch auf eine bestimmte Behandlung begreifen (…).“ Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 100 übermäßiger Behandlungswunsch (bspw. in Bezug auf Wach-KomaPatienten) • Bei sog. übermäßigem Behandlungswunsch des Patienten (übermäßig infolge fehlender Indikation): → grundsätzlich keine Behandlungspflicht → im Beispiel aber => Behandlungsabbruch unzulässig, da: - medizinische Indikation: (+) → Leben des Patienten kann erhalten werden Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 101 übermäßiger Behandlungswunsch - ärztliche Indikation: (+) [!] => Gesichtspunkt mangelnder Lebensqualität (z.B. Bewusstlosigkeit) scheidet infolge Patientendisposition als berücksichtigungsfähiges Kriterium aus → (→ Orientierung der Bewertung dieses Lebens an individuellen Präferenzen des Betroffenen – wie auch im umgekehrten Fall einer Behandlungsverweigerung!) => weder probalistische noch quantitative Sinnlosigkeit Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 102 übermäßiger Behandlungswunsch Konsequenz: - behandelnde Ärzte müssen Verlegung des (z.B. Wach-Koma)Patienten in eine seine Weiterbehandlung ermöglichende Institution ermöglichen - für Übergangszeit bis zur Verlegung ist Behandlung fortsetzen Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben 103 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Professor Dr. Detlev Sternberg-Lieben Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben Forschungsstelle Medizinstrafrecht Juristische Fakultät - TU Dresden 104