Risiko, Ethik und die Frage des Zumutbaren

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Klaus Peter Rippe, Karlsruhe
Risiko, Ethik und die Frage des Zumutbaren
Im Folgenden sollen allgemeine ethische Grundsätze ermittelt werden,
die im Umgang mit Risiken zu beachten sind. In Risikosituationen müssen Handelnde davon ausgehen, dass ein negativ zu beurteilendes Ereignis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Gegenbegriff
zum Begriff „Risiko“ ist der Begriff der Chance, wo es um mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintretende positiv zu beurteilende Ereignisse
oder Zustände geht.
Risiken sind immer durch zwei Faktoren gekennzeichnet: die Wahrscheinlichkeit, mit der das negative Ereignis eintritt, und das zu erwartende Schadensausmaß. Viele, ja die meisten Risikosituationen sind
durch Unsicherheiten über die Eintrittswahrscheinlichkeit oder Unsicherheiten bezüglich des Schadensausmaßes gekennzeichnet, teilweise
auch durch beides. Oft sind bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit
nur qualitative Angaben möglich, die auf groben Einschätzungen beruhen. Solche Situationen, in denen eine numerische Bezifferung der
Wahrscheinlichkeit nicht möglich ist, betrachte ich im Folgenden als
eine Unterklasse von Risiken. Situationen, wo über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens überhaupt nichts gesagt, also nicht einmal grobe Schätzungen vorgenommen werden können, dürfen dagegen
nicht als Risiken bezeichnet werden. Hier hätten wir eine Situation der
Ungewissheit vor uns. Auch die Schadenshöhe muss nicht immer eindeutig bestimmbar sein. Aber wiederum sind Risiken dadurch gekennzeichnet, dass man das Schadenspotential zumindest grob abschätzen
kann.
Ethische Fragen stellen sich sowohl in Situationen, wo eine Person
oder Institution ein für andere bestehendes Risiko minimieren kann, wie
dann, wenn eine Person oder Institution sich selbst oder andere Risiken
aussetzt. Die Anwendung riskanter Technologien, die oftmals im Zentrum ethischer Diskussionen steht, ist nur eines von vielen Beispielen des
zweiten Themenfelds, in dem andere einem Risiko ausgesetzt werden.
Wenn im Folgenden von Risikoexpositionen die Rede ist, wird sich dies
nur auf diesen zweiten Bereich beziehen.
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In Risikodebatten wird die Schadenskomponente in der Regel auf
das „für einen selbst Schlechte“ bezogen, auf Einkommens- oder Wohlstandsverluste, Leid, körperliche Verletzungen, Erkrankungen oder den
Tod. Allerdings ist die Fokussierung auf einen solchen prudentiellen
Schadensbegriff irreführend. Eine der Thesen dieses Aufsatzes ist, dass
der Bereich dessen, was man als private Risiken bezeichnet, nur dann
zu bestimmen ist, wenn man zusätzlich zu einem solchen prudentiellen Schadensbegriff moralische Rechte und Pflichten in Betracht zieht.
Geht es um die ethische Klärung von Risikoexpositionen, sollte man,
dies die zweite These, auf der Anwendungsebene gänzlich von einer prudentiellen Schadenstheorie Abstand nehmen. Für das Feld der Risikoexpositionen, wo eine Person andere einem Risiko aussetzt, werde ich,
dies wird die dritte These sein, für ein Abwehrrecht gegen unzumutbare
Risiken votieren und erörtern, was es konkret heißt, dass ein Risiko zumutbar bzw. unzumutbar ist. Allenfalls am Rande streifen werde ich die
Frage, ob spezifische Personen oder Institutionen verpflichtet sind, unfreiwillige Risiken anderer auf ein zumutbares Maß zu reduzieren. Der
Aufsatz konzentriert sich auf private Risiken und Risikoexpositionen.
Obgleich diese Überlegungen Konsequenzen für die Diskussion um
riskante Technologien haben, werden diese nicht im Einzelnen ausgemalt. Ausklammern werde ich im Folgenden Risiken für nicht-menschliche Wesen, für Tiere, die Umwelt, juristische Personen, sowie Risiken
für künftige Generationen. Auch nur einen dieser Themenkomplexe
aufzugreifen, würde den Rahmen eines Aufsatzes sprengen.
1. Handeln in Risikosituationen:
Der Gegenstand moralischer Urteile
Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment: Fünf Frauen, allesamt
passionierte Raucherinnen, die jeden Tag jeweils eine Packung Zigaretten rauchen, heiraten fünf Nicht-Raucher. Keines der Paare hat Kinder,
und keine Frau verzichtet darauf, in der eigenen Wohnung zu rauchen.
Die Zeit, in denen die fünf Männer täglich dem Passivrauchen ausgesetzt sind, ist ungefähr gleich; und auch ihre Wohnungen sind nahezu
identisch geschnitten. In keiner Familie eines Ehemanns gibt es eine auffällige Häufigkeit von Krebserkrankungen, und kein Ehemann hat eine
besondere medizinische Vorgeschichte. Nach zwanzig Jahren erkrankt
einer der Ehemänner an Krebs und stirbt innert kürzester Zeit. Wie ist
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das Handeln der fünf Frauen im Vergleich zueinander moralisch zu beurteilen?1
Eine erste Sichtweise wäre, dass wir nur bei jener Frau, deren Mann
an Krebs starb, zu fragen haben, ob sie etwas moralisch Falsches getan
hat. Alle anderen hatten moralisches Glück.2 Der Gegenstand, auf den
sich moralische Urteile beziehen, ist damit von äußeren Umständen abhängig, von einem Geschehen, das nicht in der Macht des Handelnden
steht. Diese Position wird etwa von Bernard Williams eingenommen. Die
Witwe, deren Mann auf Grund einer raucherbedingten Ursache starb,
wird die Tat seiner Auffassung nach insofern bedauern, als sie wünscht,
anders gehandelt zu haben; und ihr Bedauern als Täterin unterscheidet
sich in einem relevanten Sinne von jenem von Familiemitgliedern oder
unbeteiligten Zuschauern. Die Kosten dafür, dass etwas geschehen ist,
seien im Falle des toten Passivrauchers, um eine seiner Formulierungen
zu verwenden, „auf das eigene Konto zu verbuchen.“ (Williams 1998, 38)
Die anderen Ehefrauen haben dann, bleibt man bei dieser Metapher,
nichts auf ihr Konto zu verbuchen. Sie werden nicht bedauern, ihrem
Mann dem Passivrauchen ausgesetzt zu haben, und sie haben es nicht
zu bedauern.
Die zweite Sicht ist, dass wir das Handeln aller fünf Frauen moralisch
gleich zu beurteilen haben. Alle setzten ihre Männer Risiken aus; was
heißt: jede tat etwas, das die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass ihr Mann
einen Schaden erleidet. Die Frauen hätten wissen können, dass ein solches Risiko besteht. Alle hatten den gleichen Zugang zu statistischen
Daten und alle hätten ihren Mann bitten und drängen können, eine
individuelle Risikoabklärung vorzunehmen. Diesbezüglich handelten
aber alle insofern gleich, als sie auf weitere Informationen verzichteten
und alle ihren Mann dem Passivrauchen aussetzten. Im geschilderten
Beispiel ist auch die Exposition für alle fünf Männer dieselbe. Die Frauen rauchen gleich viel und die Männer sind über dieselbe Dauer und in
1 Diese Frage wird – bezogen auf Handlungen mit kleinen Eintrittswahrscheinlichkeiten – diskutiert in Thompson 1986. Da in Thompsons Überlegungen moralische
Intuitionen eine zentrale Rolle spielen, gehe ich in in diesem Aufsatz, in dem moralischen Intuitionen keine Begründungsfunktion zugesprochen wird, nicht auf diesen
Ansatz ein.
2 Die Diskussion um moralischen Zufall überschneidet sich mit der risikoethischen
Problematik, ist aber insgesamt breiter angelegt, da es nicht nur um Risikosituationen
geht, sondern u. a. auch darum, dass man durch Zufall an einem bestimmten Ort
und zu einer bestimmten Zeit geboren wurde. Zur Diskussion um moralischen
Zufall sei insb. verwiesen auf Card 1996 sowie Hurley 2003, Ch. 4.
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ungefähr den gleichen Räumlichkeiten dem Rauch ausgesetzt. Da es um
die gleichen Handlungen geht, sind alle fünf, so die zweite Sicht, moralisch gleich zu beurteilen. Dabei ist irrelevant, dass die Handlungen der
fünf Frauen auf Grund von externen Effekten, auf die sie keinen Einfluss
hatten, unterschiedliche Folgen hatten. Entweder haben alle fünf richtig
oder alle fünf falsch gehandelt. Gegenstand der moralischen Beurteilung ist die ex ante-Situation. Dies gilt sowohl für Selbstkritik (also etwa
Schuldgefühle) wie für Kritik anderer.
Die zweite Sicht ist die Richtige, denn in der moralischen Beurteilung
geht es nur um die ex ante-Situation. Auch wenn eine Person einer anderen ex post betrachtet geschadet hat, kann sie ex ante moralisch richtig
gehandelt haben. Es gibt zwei moraltheoretische Gründe, wieso diese Beschränkung auf die ex ante-Situation für die ethische Beurteilung wesentlich ist. Zum einen geht es in der moralischen Beurteilung darum, wofür
eine Person verantwortlich ist und welche Handlungsfolgen ihr selbst zugerechnet werden können. Dies sind aber nur die Folgen, die sie in der Situation der Handlung selbst vorhersehen kann, oder genauer, die sie hätte
vorhersehen müssen. Geschieht etwas gänzlich Unerwartetes, dürfen wir
dies der Person nicht zuschreiben. Zum anderen hat Ethik immer zu berücksichtigen, dass Moral eine handlungsorientierende Funktion hat. Beurteilten wir eine Tat aber ex post, kann eine Person vor oder während
einer Handlung selbst nie wissen, ob sie richtig oder falsch handelt. Es
erweist sich erst im Nachhinein, ob die Handlung falsch war oder nicht.
Die Orientierungsfunktion der Moral ginge also verloren. Der Handelnde muss zum Zeitpunkt des Handelns wissen können, ob die geplante
Handlung richtig oder falsch ist. Daher muss es um voraussichtliche und
absehbare Folgen gehen, nicht um die tatsächlich eintretenden.3
2. Private Risiken
Aus dem bisher Gesagten folgt nur, dass alle fünf Witwen moralisch
gleich, aber noch nicht, wie sie zu beurteilen sind. Um hier einen Schritt
weiter zu kommen, ist es zunächst sinnvoll, bei privaten Risiken einzusetzen.
3 Die Frage der moralischen Schuld ist damit loszulösen von jener der Verpflichtung
zu Schadensersatz und Wiedergutmachung. Letztere setzen den Schadenseintritt
voraus. Diese Unterscheidung spiegelt die rechtliche Differenz zwischen Strafe und
Schadensersatz. Vgl. zu letzterem Punkt: Hoerster 2012, 25 f.
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Würde sich die Schadenskomponente allein auf das prudentiell, also
für ein Wesen selbst Gute beziehen, gäbe es wohl kaum eine Handlung,
bei der allein der Handelnde mit einer Schädigung zu rechnen hat bzw.
nur ihm Risiken drohen. Fast immer können anderen mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit ebenfalls Nachteile erwachsen.
Aktutilitaristen müssen, sofern sie sich auf eine prudentielle Schadenstheorie stützen, die zu erwartenden Auswirkungen für alle Betroffenen in Betracht ziehen. Schon bei regelutilitaristischen Theorien sieht
es anders aus, und auch Deontologien unterscheiden zwischen moralisch relevanten und irrelevanten Auswirkungen auf andere. Vertritt
man eine dieser Theorien oder sucht man sich auf die Alltagsmoral
abzustützen, so wird man sowohl für Risikosituationen wie bei Anwendung des Nicht-Schadensprinzips sagen: Auf Grund des Handelns von
A kann etwas für B prudentiell Schlechtes geschehen, ohne dass dieser
Schaden moralisch relevant ist. Diese Position kann man an Beispielen
wie den Folgenden erläutern: Sagt eine Frau einem Verliebten höflich
und bestimmt, dass sie nichts mit ihm nichts zu tun haben will, ist dies
schlecht für ihn, aber ihr kann dennoch nichts moralisch vorgeworfen
werden. Die Frau bleibt hier voll in ihrem Recht. Gibt eine Dozentin
einer Studierenden eine schlechte Note, kann dies schlecht für die Studentin sein. Aber es handelte sich nur dann um einen moralisch relevanten Schaden, wenn eine ungerechte Bewertung vorläge, wenn also
ein Recht der Studierenden missachtet würde oder die Dozentin gegen
eine moralische Pflicht verstieße. Moralisch relevant sind Auswirkungen dann und nur dann, wenn Rechte Dritter betroffen oder Pflichten
gegenüber anderen zu beachten sind. Eine Risikoexposition liegt im
moralisch relevanten Sinne erst dann vor, wenn durch eine Handlung
einer Person mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein moralisches
Recht anderer missachtet wird.
Damit ergibt sich eine sinnvolle Deutung des Begriffs privater Risiken. Diese liegen dann vor, wenn Personen durch ihr Tun oder Unterlassen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ihnen etwas für sie selbst
prudentiell Schlechtes widerfährt und dies, ohne dass sie mit ihrem Tun
oder Unterlassen Rechte anderer oder Pflichten gegenüber anderen missachten. Nach dieser Definition ist durchaus möglich, dass Handlungen
Konsequenzen für Dritte haben und dennoch als private Risiken zu beurteilen sind.
Ohne dies hier ausführlich begründen zu können, gehe ich davon aus,
dass Personen das Recht haben, frei über sich selbst und ihren Körper
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zu verfügen, sofern sie damit nicht in Rechte anderer eingreifen oder
Pflichten gegenüber anderen missachten. Dann wäre die Inkaufnahme
privater Risiken prinzipiell moralisch zulässig. Voraussetzung ist allein,
dass es sich um urteilsfähige Personen handelt, sie also fähig sind, sich zu
informieren, die Situation zu verstehen und frei von inneren und äußeren Zwängen zu entscheiden. Fürsorgehandlungen anderer beziehen sich
im Falle von privaten Risiken auf die Bereitstellung von Informationen
sowie auf die Überprüfung, dass die Bedingungen autonomen Handelns
im Einzelfall vorliegen.
Dies ist heute im Allgemeinen unstrittig, nicht jedoch in zwei Fällen:
für Risiken, bei denen eine große Selbstschädigung denkbar ist, und solche, welche der Allgemeinheit Kosten auferlegen.
Dass in Situationen, in denen eine hohe Selbstschädigungsgefahr
besteht, besonders hohe Anforderungen an die Bedingung der Urteilsfähigkeit gestellt werden müssen, folgt aus dem Charakter der Urteilsfähigkeitsbeurteilung. Komplexere Situationen stellen in der Regel höhere Anforderungen an die Kompetenz des Einzelnen. In vielen Fällen
werden Personen, die sich hochriskanten Situationen aussetzen, kaum
die Kompetenz haben, die weitreichenden Folgen ihrer Handlung zu bedenken. Hier haben andere die Pflicht, urteilsunfähige Personen vor Risiken zu schützen. Wenn aber Urteilsfähigkeit vorliegt, haben Personen
die Freiheit, riskante Handlungen auszuführen. Lehnt man den Suizid
nicht als grundsätzlich moralisch unzulässig ab, muss man auch hohe
Selbstschädigungen als moralisch zulässig ansehen, und dies unabhängig
davon, dass man sie bedauert. Entscheidet sich eine urteilsfähige Person
trotz Warnungen, lebensgefährliche Risiken einzugehen, ist dies moralisch zulässig.
Der für die heutige Diskussion weit wichtigere Punkt ist, ob eventuell
entstehende Kosten für die Allgemeinheit es erlauben, private Risiken
einzudämmen. Spätestens seit der Einführung der Gurtpflicht ist dies
auf politischer und rechtlicher Ebene die herrschende Ansicht, und im
Bereich der Public Health-Ethik haben wir hier das wohl wirkmächtig­
ste Argument für die Regulierung riskanter Lebensweisen. Um die Stabilität der Sozial- und Krankenversicherungen zu stützen und sie vor der
Gefahr der Überlastung zu schützen, sei es erforderlich, private Risiken
zu regulieren. Voraussetzung ist nur, dass Eingriffe in private Risiken
verhältnismäßig, also geeignet, alternativlos und angemessen sind. Natürlich müsste man auch hinterfragen, ob hier wirklich stets Kosten reduziert werden. Wenn politische Maßnahmen Leben verlängern, ist dies
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auch ein beträchtlicher Kostenfaktor für das Sozial- und Rentensystem
und nicht nur ein Einsparungspotenzial. Aber gehen wir davon aus, dass
eine Nettoeinsparung erfolgt, dann stellt sich das ethisch bedeutsamere
Problem, inwiefern hier Kostenüberlegungen ins Spiel gebracht werden
dürfen. Das heutige Sozialversicherungssystem geht in den meisten europäischen Ländern von im Recht verankerten moralischen Anspruchsrechten aus, welche Menschen zukommen und die weder verloren noch
verwirkt werden können. Geht es um moralische Rechte, die an keine
weiteren Bedingungen geknüpft sind, so können private Risiken zwar
Folgen für die Sozialversicherungen haben, aber der Betroffene nimmt
etwas in Anspruch, auf das er moralisch ein Recht hat. Die Allgemeinheit – und jeder Einzelne – ist dann verpflichtet, ihm zu helfen. Wer moralische und rechtliche Pflichten aber zu erfüllen hat, kann nicht darauf
verweisen, ihm entstehen dadurch zu hohe finanzielle Kosten.
Natürlich könnte man überlegen, ob es eine Solidarpflicht jedes einzelnen Bürgers gibt, keine unnötigen Kosten zu verursachen. In diesem
Falle könnte das Recht auf Sozial- oder Krankenversicherungsleistungen an gewisse Bedingungen geknüpft werden, wie jene, keine unverantwortlichen Risiken einzugehen. Für letztere müsste dann der Bürger
selbst haften und müsste sich, sofern möglich, privat versichern. Für welche privaten Risiken dies gilt, müsste dann separat diskutiert werden. Es
reicht hier, mögliche Kandidaten zu nennen wie etwa, sich fahrlässig in
Bergnot zu bringen, Risikosportarten auszuüben oder zu viel Fast Food
zu essen. Würde man dies aber tun, könnte man auch nicht davon sprechen, dass Personen, die privat Risiken eingehen, der Allgemeinheit Kosten auferlegen. Denn wenn es sich um unverantwortliche Risiken handelt, müsste die Allgemeinheit ja gerade nicht zahlen. Der Verweis auf
Kosten für die Allgemeinheit darf also nicht vorgebracht werden, wenn
sich diese Kosten daraus ergeben, moralische und juridische Rechte von
Bürgern zu erfüllen. Zudem könnte diese Einschränkung privater Risiken einfach dadurch ausgehebelt werden, dass man sich für ein Gesundheitswesen einsetzt, das auf höhere Eigenverantwortung setzt. Müssen
sich Personen privat versichern und haften sie selbst für Rettungsmaßnahmen, entfallen die Kosten für die Allgemeinheit.
Umwandlung von Risikoexpositionen in private Risiken: Stimmt eine
Person einer Risikoexposition zu, geht sie ein privates Risiko ein. Diese Handlungen sind wie private Risiken zu beurteilen. Wiederum sind
hier gewisse normative Bedingungen zu beachten, die bei der erfolgten
Zustimmung vorliegen müssen: das Vorliegen der Urteilsfähigkeit, die
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Verfügbarkeit von Informationen über das Risiko und mögliche Vorsorgemaßnahmen sowie aber auch, dass keine Partei auf Grund einer
Notsituation ausgebeutet wird. Sind diese Bedingungen erfüllt, wandelt
sich die Risikoexposition in ein privates Risiko um. Wir können hier
zwei Fälle unterscheiden:
– die Übernahme eines Risikos durch die explizite Zustimmung der
betroffenen urteilsfähigen Person: Hierher gehört unter anderem die
vertragliche Zustimmung. Wären gewisse normative Bedingungen
bei allen Geschäftsabschlüssen erfüllt (vgl. Rippe 2010: Kap. 6), würden wir im Feld der Wirtschaft nur private Risiken vor uns haben. Da
in der konkreten Wirtschaft aber diese normativen Bedingungen der
Zustimmung nicht immer erfüllt sind, liegen hier sehr wohl Risikoexpositionen vor. Man denke nur an Leiharbeiter, die Risiken an ihren
zeitweiligen Arbeitsplätzen ausgesetzt sind. (vgl. Kampshoff 2012:
Kap. 4) Weder können sie sich über die Risiken ihrer wechselnden
Arbeitsplätze informieren, noch kann man so einfach sagen, dass sie
ihren Arbeitsplatz frei wählen.
– die Übernahme eines Risikos durch implizite Zustimmung einer betroffenen urteilsfähigen Person. Implizite Zustimmung liegt dann
vor, wenn eine Handlungsweise einer Person nur dadurch plausibel
erklärt werden kann, dass sie sich freiwillig der Risikoexposition aussetzt. Implizite Zustimmung liegt vor, wenn eine urteilsfähige Person,
obwohl sie Informationen über ein Risiko hat, der Situation der Risikoexposition nicht ausweicht oder sich bewusst in sie hineinbegibt.
Wer als Nichtraucher freiwillig (und nüchtern) eine verrauchte Bar
betritt und sich dort über längere Zeit aufhält, geht ein privates Risiko
ein. Dasselbe gilt für Personen, die sich zunächst im Nichtraucherbereich wähnten, nun aber bemerken, dass sie in der Raucherzone sind,
diesen Bereich aber dennoch nicht verlassen.
Im oben geschilderten Beispiel hätten die fünf Ehemänner die Möglichkeit gehabt, gegen die Risikoexposition durch ihre Frauen Einspruch zu erheben. Dass sie die Risiken des Passivrauchens nicht
kannten oder nicht kennen konnten, kann angesichts breiter Public
Health-Kampagnen ausgeschlossen werden. Setzen wir voraus, dass
Eheleute einander umstimmen können, muss man das Verhalten der
fünf Ehemänner als implizite Zustimmung deuten. Die fünf Männer
sind private Risiken eingegangen; und alle Frauen haben moralisch
zulässig gehandelt.
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Die Beurteilung des Rauchens in der Wohnung ändert sich, wenn
Kinder ins Spiel kommen. Dann würden wir uns wieder in der Klasse
der Risikoexpositionen bewegen, die aufgrund fehlender expliziter oder
impliziter Zustimmung nicht in private Risiken umgewandelt werden
können. Gehen wir zu diesen über.
3. Andere einem Risiko aussetzen
In vielen Diskussionen, etwa jener um Gentechnik, Nanotechnologie
oder Synthetische Biologie, wird immer wieder wie selbstverständlich
angenommen, dass man bei der ethischen Beurteilung niemals allein
auf die Risiken blicken dürfe, sondern immer auch die Chancen in den
Blick zu nehmen habe. Chancen und Risiken werden dabei wiederum
mit einer prudentiellen Theorie des Guten gemessen.
Dass es für jeden Einzelnen klug ist, beim individuellen Handeln die
sich eröffnenden Chancen wie die möglichen Risiken zu berücksichtigen,
ist unstrittig. Aber wir sind hier nicht im Feld privater Risiken, sondern
in jenem der Risikoexposition. Bei Risikoexpositionen sind zudem unterschiedliche Verteilungen von Chancen und Risiken zu beachten. Die risikoexponierende Person kann Chancen haben, der oder die Exponierte
nur Risiken; beide können Risiken und Chancen haben, zudem mögen
einigen Personen, die einem Risiko ausgesetzt werden, keinerlei Chancen erwachsen, anderen aber, welche demselben Risiko ausgesetzt sind,
durchaus. Hier darf nicht zu schnell angenommen werden, der ethisch
Urteilende dürfe einen archimedischen Standpunkt einnehmen, von dem
aus er für alle Betroffenen das bestmögliche Ergebnis zu erzielen hat.
Meine These ist: Geht es um die Beurteilung einer Risikoexposition,
so entscheidet über die moralische Zulässigkeit der Risikoexposition
prima facie die Höhe des Risikos für jeden einzelnen Betroffenen. Ein
Kalkül, das alle Einzelrisiken zu einem Gesamtrisiko addiert, darf nicht
vorgenommen werden. Ich lehne also die utilitaristische oder allgemein konsequentialistische Zugangsweise ab, von einem unparteiischen
Standpunkt aus alle zu erwartenden Folgen zu erfassen und in einem
Gesamtkalkül zu bewerten. Dies liegt nicht daran, dass eine solche
Theorie kontraintuitive Konsequenzen hat. Man will in der Philosophie
nicht eine Antwort auf die Frage, was Personen vortheoretisch für richtig halten, sondern eine Antwort darauf, was richtig ist. Das Problem
ist vielmehr, dass der Utilitarismus nicht begründen kann, wieso man
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von einer individuellen Entscheidungstheorie zu einem unparteiischen
Interessenkalkül übergehen muss und wieso Einzelne verpflichtet sein
sollen, erstens die Interessen aller zu berücksichtigen und zweitens das
Gesamtwohl auch noch zu maximieren.
Wie sieht die Alternative aus?4 Ich gehe im Folgenden von einer Theorie aus, nach welcher es im Interesse jeder Person ist, dass bestimmte Interessen durch moralische Rechte geschützt werden und dass andere Personen, dies die Kehrseite, moralische Pflichten haben, diese moralischen
Rechte zu beachten.5 Wenn man von diesem oder auch irgendeinem anderen Ansatz, der moralische Rechte kennt, ausgeht, darf man die Frage,
ob das moralische Recht einer anderen Person missachtet wird, nicht erst
mit Blick darauf beantworten, ob auch Rechte anderer betroffen sind.
Wenn ich meinem Nachbarn einen Finger breche, verstoße ich gegen
ein moralisches Recht. Diese Missachtung eines spezifischen Rechts
wird aber nicht dadurch größer, dass ich das Recht einer anderen Person
ebenso missachte und auch dieser einen Finger breche. Kann ein Recht
auf Unversehrtheit begründet werden, ist dieses moralische Abwehrrecht
unabhängig davon zu achten, ob bei anderen dieses Recht ebenso missachtet wird. Der Umstand, dass jemand Rechte unterschiedlicher Personen missachtet, ist bei Bemessung der Höhe des moralischen Vergehens
und bei der Zumessung einer moralischen Sanktion relevant, aber nicht
für die Frage, ob ein moralisches Recht missachtet wurde.
Genauso wenig wird die Missachtung eines Rechts aufgehoben, wenn
ich dadurch eine noch schwerwiegendere Verletzung eines Rechts Dritter verhindere. Vielmehr haben wir dann die Situation eines moralischen
Konflikts, in dem zu prüfen ist, ob die Missachtung eines der Rechte
wirklich erforderlich, verhältnismäßig und gerechtfertigt ist. Die Missachtung moralischer Rechte kann allenfalls unter Berufung auf andere
4 Ich lasse hier bewusst eine kantianische Position außen vor, welche für die Risikoethik von Cranor 2007 skizziert wird. Da ich das Begründungsproblem – Wieso
kommt Autonomie ein absoluter Wert zu – für nicht gelöst ansehe, sehe ich diesen
kantianischen Ansatz nicht als begehbare Alternative, zumal der Verweis auf moralische Intuitionen von mir nicht als Argument angesehen wird. Auf Anwendungsebene besteht in etlichen Hinsicht Übereinstimmung zu Cranor, der ebenfalls gegen
den konsequentialistisch bestimmten risikoethischen Mainstream argumentiert.
Für Cranor entscheidet sich die Zulässigkeit einer Risikoexposition darin, ob sie vor
jeder Person gerechtfertigt werden kann (ebd. 48 – 51). Differenzen bestehen auch auf
Anwendungsebene bezüglich der Frage, was ein zumutbares Risiko ist.
5 Eine solche interessenbasierte Ethik wird auch in Hoerster 2003 und Stemmer 2000
vertreten.
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moralische Abwehr- oder Anspruchsrechte6 gerechtfertigt werden, nicht
aber durch den Verweis auf Interessen. Denn der Schutz dieses Rechts
würde wiederum erlöschen, wenn Dritte nur genügend starke Eigeninteressen zu nennen brauchten, um einen Rechtsbruch zu rechtfertigen.
Dasselbe gälte, wenn der Verweis auf Interessen anderer ausreichte, moralische Rechte zu missachten. Die Schutzfunktion moralischer Rechte
besteht nur dann, wenn allein eine Abwägung gegen andere Rechte zulässig ist.
Gibt es ein Abwehrrecht gegen Risiken, dürften wir bei Risikoexpositionen nicht einfach die Einzelrisiken der Betroffenen in irgendein Kalkül einführen, um erst in einer Abwägung mit anderen Risiken
und Chancen zu einem Urteil zu gelangen. Wir müssten prüfen, ob
das Recht irgendeines Betroffenen hier verletzt wird. Ist dies der Fall,
wäre die Handlung prima facie moralisch unzulässig. Eine Missachtung
könnte allenfalls gerechtfertigt werden, wenn dies zur Sicherung eines
moralisch höherrangigen Rechts erforderlich ist.
Ein solches Abwehrrecht gegen Risikoexpositionen kann sehr wohl
begründet werden. Es ist im Interesse jedes einzelnen, dass der Bereich
der Risikoexpositionen durch klare und eindeutige Normen geregelt
wird. Ansonsten würden schutzwürdige Interessen wie die auf Leben
oder körperliche Unversehrtheit nur gegen mit Sicherheit zu erwartende
Eingriffe anderer geschützt sein, aber eben nicht gegen solche, in denen
eine Missachtung mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Personen müssten zudem alle Vorsorgemaßnahmen selber tragen, dürften sie doch nicht
erwarten und einfordern, dass andere bei Risikoexpositionen Rücksicht
auf sie nehmen. Da Personen nicht immer wissen können, welche Risiken ihnen andere zumuten, könnten sie solche Vorsorgemaßnahmen in
vielen Fällen nicht einmal treffen. Sie sind darauf angewiesen, dass jeder
Handelnde selbst Risiken für Dritte ermittelt und sofern vorhanden zu
minimieren sucht.
Geht man vom moraltheoretischen Ansatz einer interessenbasierten
Ethik aus, so spielt das prudentiell Gute auf Begründungsebene eine zentrale Rolle. Bestimmte Interessen des einzelnen sollen durch moralische
Rechte geschützt werden. Zentrale Interessen wie zum Beispiel jene, nicht
ohne eigene Zustimmung von anderen getötet, verletzt oder gedemütigt
zu werden, können durch moralische Rechte aber nur dann geschützt wer6 Wenn im Folgenden von moralischen Rechten gesprochen wird, geht es nur um
diese beiden Typen, nicht aber um Freiheitsrechte.
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den, wenn auf Anwendungsebene anderen nicht mehr einfach erlaubt ist,
zu fragen, ob eine konkrete Handlung gut oder schlecht für den Betroffenen ist. Auch wenn jemand nie davon erfährt, dass ihm etwas gestohlen
wurde, und der Diebstahl damit keine Auswirkung auf sein prudentielles
Gut hat, liegt dennoch eine Missachtung eines seiner moralischen Rechte
vor. Auf der anderen Seite kann es – wie oben ausgeführt – sein, dass das
Handeln anderer Auswirkungen auf eine Person hat, die schlecht für sie
sind, ohne dass ein moralisches Recht missachtet wurde. Wir haben also
hier den oben bereits angesprochenen Punkt, dass einem im prudentiellen
Sinne geschädigt wird, dies aber dennoch moralisch irrelevant ist. Wird
B durch eine Handlung von A etwas prudentiell Schlechtes zugefügt, so
ist es – wie oben ausgeführt – nur dann moralisch unzulässig, wenn B ein
moralisches Recht hat, das ihn gegen eine solche Handlung schützt.
Auch wenn es im Interesse jedes einzelnen ist, dass sich der Schutzbereich moralischer Rechte auch auf deren wahrscheinliche Missachtung ausdehnt, ist es nicht im Interesse eines jeden, wenn jede Risikoexposition als Missachtung eines moralischen Rechts aufgefasst würde.
Dadurch würden zu viele Handlungen als moralisch falsch verboten;
denn zu oft sind Eingriffe in Rechte anderer möglich und zu oft ist die
Wahrscheinlichkeit eben doch grob abzuschätzen. Da Moral zumindest
auch die Funktion hat, gemeinsames Handeln zu regeln, wäre es auch
nicht ratsam, würde man diese Handlungen nur dann erlauben, wenn
explizite oder implizite Zustimmung vorliegt. Das Kriterium der expliziten Zustimmung ist, wie leicht gezeigt werden kann, zu restriktiv,
das der impliziten dagegen zu unscharf. Würde man versuchen, das explizite Zustimmungskriterium als allgemeines Kriterium für die Risikoexposition einzuführen, würde moralisch richtiges Handeln in einer
Vielzahl von Lebenssituationen nahezu unmöglich. Selbst wenn man zu
Fuß durch die Stadt geht, setzt dies andere Personen Risiken aus, wie
zum Beispiel andere Fußgänger oder Fahrradfahrer, denen man in den
Weg laufen könnte. Jeden um Erlaubnis zu fragen, verunmöglichte die
Durchführung der Handlung. Die explizite Zustimmung hat eine risikoethische Relevanz, da sie ja Risikoexpositionen in private Risiken
umwandelt. Aber es bedarf zusätzlicher Kriterien.
Wie sähe es bei der impliziten Zustimmung aus? In vielen Fällen wird
kaum möglich sein, eine klare Aussage zu machen, ob eine implizite Zustimmung zu einer bestimmten Handlungsweise vorliegt. Der Umstand,
dass sich auch die anderen am Verkehr beteiligen, kann beispielsweise
nicht als implizite Zustimmung zu einem bestimmten VerkehrsverhalZeitschrift für philosophische Forschung, Band 67 (2013), 4
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ten gedeutet werden. Wenn überhaupt, handeln Verkehrsteilnehmer auf
Grund einer indirekten Zustimmung. Sie stimmen Risikoexpositionen
im Straßenverkehr zu, sofern sich alle Handelnde an gewisse Regeln halten, denen man wiederum zustimmt oder zumindest vernünftigerweise
zustimmen kann. Dasselbe kann für andere Lebenssituationen gesagt
werden. Die Frage ist nur, um welche Regeln es sich handelt.
Mit Blick auf unsere Alltagsmoral bieten sich weitere mögliche Normen an, die zu prüfen sind. Dabei ist vor allem an Sorgfaltspflichten
zu denken, mit denen Risiken minimiert werden. Beispiele wären etwa,
regelmäßig die Sicherheit der eigenen Gaszuleitung zu kontrollieren,
Hunde an der Leine zu führen oder den Tigerkäfig abzuschließen. Teil
dieser Sorgfaltspflichten ist, dass die risikoexponierende Person in der
Pflicht steht, Risiken für andere zu erkennen, angemessene Vorsorgemaßnahmen zu treffen und Warnungen auszusprechen. Die Frage, ob
diese Sorgfaltspflichten ethisch begründet werden können, hängt davon
ab, wie weit Risiken zu minimieren sind. Vielleicht wird man einfordern
wollen, sie müssten letztlich auf Null reduziert werden. Handlungen wären nur dann auszuführen, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit Null
ist oder eine implizite oder explizite Zustimmung vorliegt. Aber auch
hier würde die Moral eine Norm etablieren, welche in der Praxis kein
Mensch einhalten kann. Trotz größter Sorgfalt und Behutsamkeit wird
fast immer ein letztes Risiko bleiben: die Möglichkeit eines Schadens,
der mit kleinster Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Wollte jemand moralisch handeln, müsste er einen Großteil seiner Ressourcen, Zeit und
Energie dazu einsetzen, dass er andere keinem Risiko aussetzt. Dies ist
sicher nicht im Interesse jedes Einzelnen. Wir dürfen also nicht von Maximalforderungen an die Sorgfalt anderer ausgehen, sondern brauchen
ein anderes Kriterium.
Der Vorschlag, den ich im Folgenden unterbreiten will, ist, dass bei
der moralischen Beurteilung von Risikoexpositionen der Begriff der Zumutbarkeit eine zentrale Rolle spielt. Wird von Zumutbarkeit gesprochen, ist darin enthalten, dass der Person etwas auferlegt wird, was sie
vermeiden will, es aber von ihr zu teilende rationale Gründe gibt, dies
dennoch anzunehmen. Man könnte also auch von Akzeptabilität sprechen. Auf normativer Ebene sind beide Begriffe synonym. Ist etwas zumutbar, ist es auch akzeptabel. Im Falle von Risikoexpositionen ziehe
ich freilich den Begriff des Zumutbaren vor. Die zu teilenden rationalen
Gründe sind hier letztlich, dass gewisse Risiken hinzunehmen sind, da
man ansonsten auch selbst andere keinerlei Risiko aussetzen darf.
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Es geht in zweierlei Hinsicht um Zumutbarkeit. Zum einen ist das
Befolgen von Sorgfaltspflichten mit einem Aufwand an Zeit, Aufmerksamkeit und Ressourcen verbunden. Risikoexponierenden dürfen unter
Umständen Sorgfaltspflichten aufgebürdet werden, dass ein moralisch
zulässiges Verfolgen ihrer Vorhaben nahezu unmöglich wird. Zum anderen sind Risikoexponierte aufgefordert, gewisse Risiken hinzunehmen.
Dies ist daher zumutbar, weil sie reziprok selbst die moralische Erlaubnis
haben, anderen gewisse Risiken zuzumuten. Jeder darf anderen gewisse
Risiken zumuten, muss aber bereit sein, genau diese Risiken selbst hinzunehmen. Jene Risiken, die man anderen zumuten darf, bezeichne ich
als zumutbare Risiken. Insgesamt begründet die Überlegung ein moralisches Abwehrrecht wie auch moralische Pflichten. Sie begründet einerseits ein moralisches Recht, keinen unzumutbaren Risiken ausgesetzt zu
werden. Zum anderen begründet sie eine moralische Pflicht, dass man
in Situationen, in denen man davon ausgehen muss, dass Rechte anderer wahrscheinlich mißachtet werden, ausreichende Sorgfaltsmaßnahmen ergreifen muss, um sie keinen unzumutbaren Risiken auszusetzen.
Übersteigt das Risiko trotz aller Sorgfaltsbemühungen die Grenze des
Zumutbaren, so bedarf es der Zustimmung aller Betroffenen, um die
Handlung dennoch vollziehen zu dürfen. Liegt diese nicht vor, hat der
Handelnde die moralische Pflicht, die risikoexponierende Handlung zu
unterlassen. Konkret bedeutet dies, dass es einen Schwellenwert gibt,
unterhalb dessen ein Risiko zumutbar und damit auch zulässig ist, und
unzulässig, wenn es ihn übersteigt. Es ist natürlich denkbar, dass Personen einer solchen ansonsten unzulässigen Risikoexposition explizit oder
implizit zustimmen, aber eine Handlung muss unterbleiben, sofern keine
Zustimmung aller Exponierten vorliegt. Wenn diese Sorgfaltspflichten
praktisch eingehalten bzw. umgesetzt werden und wenn das Risiko daher unterhalb des Schwellenwerts liegt, ist die entsprechende Risikoexposition zulässig – selbst wenn in der Folge ein Schaden eintreten sollte.
Der Gedanke, dass bei Risikoexpositionen zwischen zumutbaren
und unzumutbaren Risiken zu unterscheiden ist, kann nur dann zu klaren moralischen Antworten führen, wenn es um sogenannt objektive,
nicht um subjektive Risikoeinschätzungen geht. Es muss intersubjektiv
verbindliche Standards geben, wie mögliche Rechtsverletzungen oder
Eintrittswahrscheinlichkeiten ermittelt werden können. Wenn obige
Ausführungen korrekt sind, sprechen zwei Gründe für den notwendigen Rückgriff auf objektive Risiken. Erstens ist zentrales Element der
Sorgfaltspflichten, dass sich die risikoexponierende Person über das VorZeitschrift für philosophische Forschung, Band 67 (2013), 4
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liegen eines Risikos informiert und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen ergreift, das Risiko für andere zu reduzieren. Damit Dritte aber
beurteilen können, ob diese Pflichten erfüllt wurden oder nicht, bedarf
es intersubjektiver Standards, wie man sich zu informieren hat, was als
angemessene Information gilt und welche technischen Maßnahmen als
effizient gelten. Zweitens muss der Risikoexponent wissen können, ob
konkrete Risiken anderen zugemutet werden dürfen. Müsste er stets
nach der subjektiven Risikoeinschätzung des anderen fragen, wären wir
bei jenen Problemen, bei denen sich auch schon das Kriterium der expliziten Zustimmung als ungeeignet erwies. In vielen Lebenskontexten
wären Personen nicht fähig, moralisch zulässig zu handeln.
Die Konzeption eines Schwellenwertes enthält ferner notwendig eine
Konsistenzforderung. Gilt ein Risiko als zumutbar, so ist ein bezüglich Schadensausmaß und Wahrscheinlichkeit gleiches Risiko ebenfalls als zumutbar anzusehen. Dabei dürfen private Risiken und Risikoexpositionen nicht miteinander vermischt werden. Es ist eine Sache,
dass man ein Risiko als privates Risiko akzeptiert, und eine andere, dass
es einem von anderen zugemutet wird. Der Verweis, dass eine Person
raucht, ist also kein Argument dafür, dass ihm ein vergleichbares Risiko
von anderen zugemutet werden darf. Zudem geht es natürlich auch nicht
darum, was Personen in ihrem Alltagsverhalten akzeptieren, sondern darum, was sie rational als akzeptabel bzw. zumutbar ansehen müssen.7
Zumutbarkeit als Kriterium für Risikoexpositionen zu wählen, ist damit
nicht mit Sozialakzeptanz zu verwechseln.
Es bedarf noch einer Ergänzung. Mit welcher Wahrscheinlichkeit
das Recht eines anderen missachtet wird, hängt in einigen Fällen nicht
allein vom Handelnden ab, sondern auch vom Verhalten des anderen.
Geht ein Fußgänger bei Rot über die Kreuzung, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Autofahrer ihn verletzt oder tötet. Wir brauchen also nicht nur einen Maßstab für die Sorgfalt des Handelnden,
sondern auch einen dafür, mit welchem Verhalten des anderen er zu
rechnen hat. Hier könnte man davon ausgehen, dass man bei Risikoexpositionen gegenüber Nicht-Urteilsfähigen den Schwellenwert für
zumutbare Risiken tiefer anzusetzen hat als bei Urteilsfähigen. Letztere könnte eine Pflicht zukommen, selbst mit einer gewissen Umsicht
vorzugehen und etwaige Risiken zu erkennen. Aber der Fußgänger,
der bei Rot über die Straße geht, ist nicht nur einem Risiko ausgesetzt;
7 Das Konsistenzkriterium wird insbesondere von Gethmann (1993, 42 – 51) betont.
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dies dürfte er in eigener Verantwortung eingehen. Er setzt auch andere
einem Risiko aus. In allen anderen Fällen, wo die Rollen von Risikoexpositeur und -exponierten klar getrennt sind, hat ersterer davon auszugehen, dass der andere im Moment eben nicht aufmerksam ist und
nichts von der Risikoexposition weiß.
Wann ist ein Risiko aber als unzumutbar zu betrachten? Um den
Schwellenwert zu bestimmen, gibt es auf Begründungsebene zwei ernsthaft zu prüfende Ausgangsoptionen. Erstere geht davon aus, dass Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe zu berücksichtigen sind,
letztere, dass nur die Eintrittswahrscheinlichkeit den Ausschlag gibt.
Der Gedanke, dass nur die Schadenshöhe zu berücksichtigen ist, muss
dagegen kaum ernsthaft geprüft werden. Dann wiederum würde ein
solches Kriterium zu viele Handlungen als moralisch unzulässig erweisen. Durch das Anzünden eines sorgfältig eingebauten und mehrmals
technisch überwachten Gasherds wird, wenn auch mit minimaler Wahrscheinlichkeit, das Leben mehrerer Personen gefährdet.
Wenn man an Katastrophen denkt, in denen Hunderte, Tausende, ja mehr umkommen könnten, scheint der Ansatz naheliegend,
der Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß in den Blick
nimmt. Ein Schiffsunglück wie das der Titanic sollte doch mit größerer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden als eine Knöchelverstauchung, welche dadurch entsteht, dass man einem anderen seinen
Trolley vor die Füße rollt. Allerdings müssen wir hier vorsichtig sein.
Ob eine Schädigung für eine Person zumutbar ist, kann auch nicht
davon abhängen, wie viele andere denselben Schaden erleiden. Wenn
mich jemand durch den Umgang mit seinen Giftschlangen einem Risiko aussetzt, dieses Risiko aber alles in allem zumutbar ist, wird seine
Tierhaltung für mich nicht weniger zumutbar, wenn auch andere diesem Risiko ausgesetzt sind. Der Begriff des Zumutbaren bezieht sich
immer auf die Folgen für jedes betroffene Individuum. Etwas muss
jedem Einzelnen zugemutet werden dürfen. Für die Frage, ob der
Lärm eines Rasenmähers zumutbar ist, ist daher irrelevant, wie viele
Personen dem Lärm ausgesetzt sind, relevant ist allein, ob Individuen
an bestimmten Tagen und zu bestimmten Tageszeiten einen bestimmten Geräuschpegel hinnehmen müssen. Läge der Geräuschpegel im
zumutbaren Bereich, hätten ihn Personen zu dulden, und dies auch
dann, wenn es sehr viele sind.
Eintrittswahrscheinlichkeit wie Schadenshöhe könnten weiterhin eine
Rolle spielen, wenn es um die Ermittlung eines Schwellenwertes geht,
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aber eben bezüglich des Risikos für die jeweils betroffenen Individuen.
Man würde dann zum Beispiel annehmen, dass eine schwere Schädigung eines Menschen, die mit kleiner Wahrscheinlichkeit eintritt, weniger zumutbar ist, als eine sehr kleine Schädigung, die mit derselben
Wahrscheinlichkeit eintritt. Sollte man beim Begriff des Zumutbaren
aber so vorgehen? Sicher gibt es eine starke moralische Intuition, dass
man weit größere Sorgfalt walten lassen sollte, um jemanden vor dem
Tod zu schützen, als ihn vor ein paar blauen Flecken zu bewahren. Aber
es bedarf einer Begründung dieser Position.
Auch wenn sich die Schadenskomponente bei Risikoexpositionen
auf Anwendungsebene nicht auf Eingriffe in das Wohlergehen, sondern auf Missachtung moralischer Rechte bezieht, geht es auf Begründungsebene um das prudentiell Gute. Einige Rechte schützen relativ
betrachtet bedeutendere Interessen und müssen damit höher gewichtet
werden. Ist dies so, muss man für jedes einzelne Recht eine spezifische
Wahrscheinlichkeit definieren. Eine Wahrscheinlichkeit von 1:x ist zu
klein, um als zumutbares Risiko bezüglich des Rechts auf Leben zu
gelten, aber mehr als ausreichend, wenn ein Eigentumsrecht auf dem
Spiel steht.
Man mag einwenden, dass dies nicht nur für Rechte untereinander
gelten muss, sondern auch für ein und dasselbe Recht, etwa das auf
körperliche Unversehrtheit. Der Schaden ist nicht nur die Rechtsmissachtung per se, sondern die damit verbundenen Auswirkungen für den
einzelnen Betroffenen; es ist nun mal schlimmer, ob mir drei Knochen
gebrochen werden oder nur einer. Wäre es dreimal schlimmer, drei Knochenbrüche zu erleiden als einen und könnte man alle konkreten Interessen allgemein kardinal anordnen, wäre es denkbar, einen einzelnen
Schwellenwert zu formulieren, der sich auf das Produkt aus Wahrscheinlichkeit und Schadenshöhe ausrichtet. In diesem Falle gäbe dann doch
auf Anwendungsebene eine prudentielle Schadenstheorie den Ausschlag.
Unabhängig von allen Schwierigkeiten, wie wir im konkreten Einzelfall Wahrscheinlichkeit und Schadenshöhe ermitteln wollen, stellt sich
freilich bereits auf Begründungsebene das Problem, dass eine solche kardinale Anordnung aller Interessen kaum möglich ist. Allenfalls grobe
Rangordnungen von Interessentypen liegen nahe wie der Vorrang des
Interesses auf Leben gegenüber dem auf Eigentum. Es ist daher ratsamer,
sich in der Anwendungsebene auf Rechte zu beziehen. Das Abwehrrecht
gegen Risiken würde dann missachtet, wenn die Risikoexpositon über
einer für das konkrete Recht spezifischen Eintrittswahrscheinlichkeit
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liegt.8 Können negative Auswirkungen auf andere erwartet werden, hat
der Handelnde zu prüfen, mit welcher Wahrscheinlichkeit er überhaupt
das Recht irgendeiner Person missachtet und wenn ja, ob es sich um
eine zumutbare Risikoexposition handelt. Die Zulässigkeit des Handelns
lässt sich damit stets mit Blick auf jene Betroffenen prüfen, welche mit
höchster Wahrscheinlichkeit in ihrem Recht gefährdet werden.
Um welche Eintrittswahrscheinlichkeit geht es dann aber? Da Rechte
besonders wichtige Interessen schützen, ist klar, dass deren Schutz Vorrang hat vor dem Interesse, möglichst wenig Sorgfalt walten zu lassen
und möglichst frei handeln zu können. Die Abwehrfunktion des Rechts
wird sogar nur dann wirklich bewahrt, wenn die Wahrscheinlichkeit
einer Missachtung möglichst gering ist. Sie darf freilich auch nicht so
gering sein, dass dadurch kaum möglich ist, moralisch zulässig zu handeln. Wir brauchen also eine Eintrittswahrscheinlichkeit, bei der wir das
Eintreffen des Schadensfalls als, je nach moralischem Recht, unwahrscheinlich bis sehr unwahrscheinlich erachten, sie aber eben doch nicht
auf Null zugeht. Dies sind allerdings sehr vage Aussagen, und unterschiedliche Personen mögen etwas ganz Unterschiedliches unter „sehr
unwahrscheinlich“ verstehen. Auch wenn es uns als Handelnde überfordern würde, Wahrscheinlichkeiten stets mathematisch zu berechnen,
und dies auch nicht in allen Situationen möglich ist, bedarf es doch eines
gemeinsamen Verständnisses, was als unwahrscheinlich zu betrachten
ist. Dies wird allerdings kaum möglich sein, ohne auf numerische Wahrscheinlichkeitsaussagen zurückzugreifen. Zudem müssen diese numerischen Angaben auch so ausfallen, dass sich jeder etwas unter den Größenangaben vorstellen kann. Aber eine solche intersubjektive Verständigung ist durchaus möglich, wie man an Beispielen wie dem Folgenden
illustrieren kann. Wird eine Fahrradbremse hergestellt, bei der die Verantwortlichen damit rechnen, dass sie in einem von 200 Bremsversuchen
versagt, wird man das Versagen im Einzelfall nicht für unwahrscheinlich
halten. Wenn man einen Ausfall in 20.000 Versuchen erwarten muss,
wird man ein Bremsversagen im Einzelfall als eher unwahrscheinlich
bezeichnen. Doch erst bei einem Versagen in 100.000 oder 200.000 Fällen wird man anfangen, davon zu sprechen, dass ein Bremsversagen im
Einzelfall unwahrscheinlich ist. Von sehr unwahrscheinlich wird man
aber erst dann sprechen, wenn die Bremse in einem von einer Million
8 Sicher gibt es zudem leichte, mittelschwere und schwere Eingriffe in bestimmte
Rechte. Diese Option lasse ich im Folgenden außen vor und spreche der Einfachheit
halber nur von Rechtsmissachtungen.
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Versuchen nicht funktioniert. Nimmt man dieses Beispiel als Ausgangspunkt, wäre die Missachtung eines Rechts dann sehr unwahrscheinlich,
wenn die Wahrscheinlichkeit bei 1:1 Million liegt, und unwahrscheinlich, wenn sie bei 1:100 000 liegt.
Mitunter wird man freilich überhaupt nichts darüber sagen können
wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit ist.9 Bei neuartigen Technologien und bisher unbekannten Stoffen oder Naturphänomenen kann dies
der Fall sein. Unbefriedigend wäre, wenn man solche Handlungen unter
Ungewissheit solange zulässt, bis die ersten Schadensfälle eingetreten
sind, oder man gar so lange abwartet, bis man die Eintrittswahrscheinlichkeit über statistische Häufigkeitsanalysen ermitteln kann. Ist auf
Grund einer Folgenabschätzung denkbar, dass ein Recht anderer missachtet wird, muss dieses Recht geschützt werden. Um ein willkürliches
Vetorecht gegen Neuerungen zu unterbinden, kann „denkbar“ nicht einfach heißen, dass jedes beliebige Schadenszenario relevant ist; eine mögliche Missachtung von Rechten muss plausibel dargelegt werden.
Was ist, wenn diese Plausibilität vorliegt? Um von einer zumutbaren
Gefährdung eines Rechts sprechen zu können, muss es für den Einzelnen rational sein, einer Risikoaussetzung zuzustimmen. Kann noch keine Aussage über die Eintrittswahrscheinlichkeit getroffen werden, ist
dies natürlich nicht möglich. Die Risikoexposition bleibt damit solange
unzulässig, bis der Risikoexponent nachweisen kann, dass das Risiko zumutbar ist. Um dies tun zu können, muss er freilich nachweisen können,
wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Rechtsmissachtung ist.
Würde man ihm diese Möglichkeit nicht einräumen, wären nahezu alle
Neuerungen prinzipiell moralisch verboten.
Der Risikoexpositeur hat zwei in der Praxis meist miteinander verwobene Optionen. Er kann Sorgfaltsmaßnahmen vorschlagen und erproben, welche den Schadenseintritt verhindern oder ihn unwahrscheinlich
werden lassen. Zudem kann er seine Neuerung in eingegrenzten Szenarien erproben, welche eine Missachtung von Rechten ausschließt, aber
doch neues Wissen über die Eintrittswahrscheinlichkeit in größeren Szenarien generiert. Schritt für Schritt darf er also seine Neuerung erproben
und hat auf diesem Wege zu ermitteln, ob das Risiko anderen zumutbar ist oder nicht. Je nach technischer Anwendung sind unterschiedliche
9 Hier haben wir das Feld der Ungewissheit. Die im Folgenden erörterten Punkte
werden in der Diskussion auch als Anwendung des Vorsorgeprinzips (Precautionary
Principle) aufgefasst. Vgl. hierzu auch Rath 2011, 119 – 124 sowie allgemein Harremoeës et al. 2002.
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Schritte zu bedenken, bei grüner Gentechnik etwa der Weg von toxikologischen Tests im Labor über das Gewächshaus bis hin zu Freisetzungsversuchen. Die Frage, ob ein Schritt weitergegangen werden darf, kann
nur durch Antworten auf eine Frage entschieden werden: Im jeweiligen
Experiment muss nachgewiesen werden, dass die Missachtung eines moralischen Rechts auszuschließen ist oder zumindest im oben genannten
Sinne als sehr unwahrscheinlich zu betrachten ist. Letztlich gelingt dies
nur, wenn in jedem einzelnen Schritt die Hypothese geprüft wird, dass
ein Schadenseintritt wahrscheinlich ist.
Ein solch schrittweises Vorgehen ist auch aus der Medikamentenprüfung bekannt. Allerdings gibt es einen zentralen Unterschied. Die hier
eingeforderte Risikoforschung befasst sich ausschließlich mit der Risikoexposition, die Medikamentenforschung sucht erwünschte wie unerwünschte Wirkungen zu ermitteln. Dies hat einen einfachen Grund:
Sei es, ob Medikamente in informierter Zustimmung, gemäß dem mutmaßlichen Willen oder in stellvertretender Einwilligung genommen
werden, es liegt stets eine Umwandlung in ein privates Risiko vor. Genau
dies geschieht aber immer in einer Chancen-Risiken-Analyse. Stellvertretend haben etwa Eltern zu entscheiden, ob die Chancen eines neuen
Krebsmittels die damit verbundenen Risiken übersteigen. Wir können
dies noch allgemeiner formulieren: Besteht eine Fürsorgebeziehung,
so hat der Fürsorgende das für den anderen Gute zu intendieren. Dies
schließt ein, dass die Zufügung auch hoher Risiken gerechtfertigt werden kann, wenn dem Objekt der Fürsorge dadurch noch höhere Chancen eröffnet werden. Wichtig ist jedoch, dass selbst die Verantwortung
von Eltern nicht einfach in der Art beschrieben werden darf, dass Eltern
einen unparteiischen Standpunkt einzunehmen haben, in dem sie das
Gesamtwohl ihrer Kinder zu maximieren haben. Schon gar nicht gilt
dies für Situationen, in denen außerhalb von Fürsorgebeziehungen andere einem Risiko ausgesetzt werden. Hier verbieten Autonomie- und
Freiheitsrechte sogar, bilateral das für den anderen Gute zu erzwingen.
Nicht Chancen für andere, sondern allein die Risiken sind in den Blick
zu nehmen.
Risikoexponierendes Handeln ist nicht prinzipiell untersagt. Es ist
aber auch nicht an Zustimmung gebunden. Vielmehr dürfen prima facie
andere Personen ohne ihre Zustimmung einem Risiko ausgesetzt werden, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Entscheidend für die
Zulässigkeit einer Risikoexposition ist, dass allgemeine Sorgfaltsgesichtspunkte berücksichtigt werden. So müssen die möglichen Auswirkungen
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Risiko, Ethik und die Frage des Zumutbaren537
bedacht, mögliche Gefahrenquellen weitgehend entschärft, Warnungen
ausgesprochen oder Gefahren umgangen werden. Und zugleich muss
jene besondere Sorgfalt an den Tag gelegt werden, die dem jeweiligen
Risiko angemessen ist, d. h. die dafür sorgt, dass es auf ein zumutbares
Maß verringert wird. Dies ist der Fall, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit, dass ein Recht missachtet wird, durch das Ergreifen von entsprechenden Risikominderungsmaßnahmen unter eine für das jeweilige
Recht spezifische Eintrittswahrscheinlichkeit zu liegen kommt.
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Thompson, Judith 1986: Imposing Risks, in: dies., Rights, Restitution, and Risk,
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Williams, Bernard 1984: Ethischer Zufall, Aufsätze 1973 – 1980, Frankfurt.
Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 67 (2013), 4
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