Besser geht`s nicht

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Die Zwangsstörung
Ulrich Seidl
Übersicht
1.
2.
3.
4.
Einführung
Diagnose und Differentialdiagnose
Ätiologie und Konzepte
Therapie
Einführung
Zentrale Merkmale
1. Innerer Drang, bestimme Dinge zu denken oder zu tun
2. Widerstand gegen die Gedanken bzw. gegen die Ausführung
der Handlung
3. Einsicht in die Sinnlosigkeit der Gedanken und Handlungen
4. Erhebliche Belastung bzw. Beeinträchtigung
Zwangsgedanken (obsessions)
... sind Bewusstseinsinhalte, über die der Patient keine Kontrolle
besitzt und deren Inhalt beim Patienten Angst, Unruhe und
Erregung auslöst. Der Patient vermag sich diese Gedanken
zumeist nicht zu erklären und erlebt sie als sehr störend und
sinnlos; erfolglos versucht die betroffene Person, Widerstand
zu leisten. Die Gedanken werden jedoch als eigene Gedanken
erlebt, selbst wenn sie als unwillkürlich und häufig als
abstoßend empfunden werden.
• Zwanghaftes Zweifeln
• Zwanghafte Impulse
• Zwanghafte Vorstellungen und Bilder
Arten von Zwangsgedanken
• Aggressive Zwangsgedanken
• Zwangsgedanken, die sich auf Verschmutzung beziehen
• Zwangsgedanken mit sexuellem Inhalt
• Zwangsgedanken, die sich auf das Sammeln und das
Aufbewahren von Gegenständen beziehen
• Zwangsgedanken mit religiösen oder solchen Inhalten, die
ein schlechtes Gewissen erzeugen
• Zwangsgedanken, die sich auf Symmetrie oder
Genauigkeit beziehen
• Zwangsgedanken im Bezug auf den eigenen Körper
Zwangshandlungen (compulsions)
... sind üblicherweise beobachtbar und stellen
zumeist exzessive Wiederholungen alltäglicher
Verhaltensausschnitte dar. Sie verlaufen zumeist
stereotyp und bekommen den Charakter von
Ritualen.
Arten von Zwangshandlungen
• Reinigungs-Wasch-Zwänge
• Kontrollzwänge
• Wiederholungszwänge
• Zählzwänge
• Ordnungszwänge
• Sammel- und Aufbewahrungszwänge
Epidemiologie und Verlauf
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zählt zu den häufigsten psychiatrischen Störungen
Lebenszeitprävalenz 1,9%- 3,3%
doppelt so verbreitet wie Schizophrenien
Prävalenz in verschiedenen Kulturen ähnlich hoch
Männer und Frauen etwa gleichhäufig betroffen
Männer im Schnitt fünf Jahre früher betroffen
familiäre Häufung
Beginn schleichend, zumeist Adoleszenz oder frühes
Erwachsenenalter (Durchschnittsalter ca. 22 Jahre)
• 7,0-7,5 Jahre nach Erkrankungsbeginn erster Kontakt mit
einer therapeutischen Einrichtung
Komorbidität
(Lebenszeitprävalenz)
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Major Depression
Einfache Phobie
Sozialphobie
Ess-Störung
Alkoholabusus/Abhängigkeit
Panikstörung
Gilles-de-la-Tourette-Syndrom
67%
22%
18%
17%
14%
12%
7%
Diagnose
und Differentialdiagnose
Zwangsstörung F 42
A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder
beides) an den meisten Tagen über einen Zeitraum von
mindestens zwei Wochen.
B. Die Zwangsgedanken (Ideen oder Vorstellungen) und
Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgenden Merkmale:
(1) Sie werden als eigene Gedanken/Handlungen von den
Betroffenen angesehen und nicht als von anderen
Personen oder Einflüssen eingegeben.
(2) Sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm
empfunden, und mindestens ein Zwangsgedanke oder eine
Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig
anerkannt.
(3) Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten (bei lange
bestehenden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen kann der
Widerstand allerdings sehr gering sein). Gegen mindestens einen
Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig
erfolglos Widerstand geleistet.
(4) Die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer
Zwangshandlung ist für sich genommen nicht angenehm (dies
sollte von einer vorübergehenden Erleichterung von Spannung
und Angst unterschieden werden).
C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und
Zwangshandlungen und werden in ihrer sozialen oder
individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den
besonderen Zeitaufwand.
D. Die Störung ist nicht bedingt durch eine andere psychische
Störung, wie Schizophrenie und verwandte Störungen (F2)
oder affektive Störungen (F3).
F 42.0
F 42.1
F 42.2
F 42.8
F 42.9
vorwiegend Zwangsgedanken und Grübelzwang
vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale)
Zwangsgedanken und -handlungen, gemischt
sonstige Zwangsstörung
nicht näher bezeichnete Zwangsstörung
Zwangsstörung 300.3
A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen:
Zwangsgedanken, wie durch (1), (2), (3) und (4) definiert:
(1) Wiederkehrende und anhaltende Gedanken, Impulse oder
Vorstellungen, die zeitweise während der Störung als
aufdringlich und unangemessen empfunden werden und
die ausgeprägte Angst oder Unbehagen hervorrufen.
(2) Die Gedanken, Impulse oder Vorstellungen sind nicht nur
übertriebene Sorgen über reale Lebensprobleme.
(3) Die Person versucht, diese Gedanken, Impulse oder
Vorstellungen zu ignorieren oder sie zu unterdrücken,
oder sie mit Hilfe anderer Gedanken oder Tätigkeiten zu
neutralisieren.
(4) Die Person erkennt, dass die Zwangsgedanken, -impulse, oder
Vorstellungen ein Produkt des eigenen Geistes sind (nicht von
außen auferlegt wie Gedankeneingebung).
Zwangshandlungen, wie durch (1) und (2) definiert:
(1) Wiederholte Verhaltensweisen (z.B. Händewaschen, Ordnen,
Kontrollieren) oder gedankliche Handlungen (z.B. beten,
zählen, kontrollieren), zu denen sich die Person als Reaktion auf
einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu
befolgenden Regeln gezwungen fühlt.
(2) Die Verhaltensweisen oder die gedanklichen Handlungen
dienen dazu, Unwohlsein zu verhindern oder zu reduzieren oder
gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen; diese
Verhaltensweisen oder gedanklichen Handlungen stehen jedoch
in keinem realistischen Bezug zu dem, was sie zu neutralisieren
oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben.
B. Zu irgendeinem Zeitpunkt der Störung hat die Person erkannt,
dass die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen übertrieben
oder unbegründet sind.
C. Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen verursachen
erhebliche Belastung, sind zeitaufwendig (benötigen mehr als
1 Stunde pro Tag) oder beeinträchtigen deutlich die normale
Tagesroutine der Person, ihre beruflichen Funktionen oder
üblichen Aktivitäten und Beziehungen.
D. Falls eine andere Achse I-Störung vorliegt, so ist der Inhalt der
Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen nicht auf diese
beschränkt.
E. Das Störungsbild geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung
einer Substanz (z.B. Droge, Medikament) oder eines
medizinischen Krankheitsfaktors zurück.
Differentialdiagnostische
Überlegungen
•
•
•
•
•
Angststörungen
Depression
Schizophrenie
Zwanghafter Persönlichkeit
Hirnorganischen Störungen und
neurologischen Erkrankungen
Unterscheidungsmerkmale von
Zwangsstörung vs Schizophrenie
Der Drang kommt von der
Person selbst, d.h. von innen
Gedanken werden
eingegeben, eine Stimme
sagt mir: "Tu X..."
"Ich will das gar nicht tun,
ich versuche mich zu
wehren."
"Ich muss das tun, das ist mir
aufgetragen..."
Patient distanziert sich von
den Inhalten
(ich-dyston)
Patient identifiziert sich mit
den Inhalten
(ich-synton)
Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
Ein tiefgreifendes Muster von starker Beschäftigung mit Ordnung,
Perfektion und psychischer und zwischenmenschlicher Kontrolle
auf Kosten von Flexibilität, Aufgeschlossenheit und Effizienz. Die
Störung beginnt im frühen Erwachsenenalter und zeigt sich in
verschiedenen Situationen. Mindestens 4 der folgenden Kriterien
müssen zutreffen:
• beschäftigt sich übermäßig mit Details, Regeln, Listen, Ordnung,
Organisation oder Plänen, so dass der wesentliche Gesichtspunkt
der Aktivität dabei verloren geht
• zeigt einen Perfektionismus, der die Aufgabenerfüllung behindert
• verschreibt sich übermäßig der Arbeit und Produktivität unter
Ausschluss von Freizeitaktivitäten und Freundschaften
• ist übermäßig gewissenhaft, skrupulös und rigide in Fragen
von Moral, Ethik und Werten
• ist nicht in der Lage verschlissene oder wertlose Dinge
wegzuwerfen, selbst wenn sie nicht einmal Gefühlswert
besitzen
• delegiert nur widerwillig Aufgaben an andere oder arbeitet
nur ungern mit anderen zusammen, wenn diese nicht genau
die eigenen Arbeitsweise übernehmen
• ist geizig sich selbst und anderen gegenüber; Geld muss im
Hinblick auf befürchtete zukünftige Katastrophen gehortet
werden
• zeigt Rigidität und Halsstarrigkeit
Ätiologie und Konzepte
Biologische Grundlagen
• Zwangsstörungen vermehrt nach
– leichten SHT
– entzündlichen Hirnerkrankungen
• gehäuft neurologische soft signs
• Wirksamkeit von SSRI
• EEG-Befunde
– Theta-Aktivität, steile Wellen
– EKP: verkürzte P300-Latenz nach Schachbrett
Biologische Grundlagen
• Strukturelle MRT: vergrößerte Ventrikel,
vermindertes Volumen des N. caudatus
• Funktionelle Bildgebung: Auffälligkeiten
u.a. im orbitofrontalen Kortex, Thalamus,
Striatum, Pallidum
• Genetik: Konkordanz bei
– eineiigen Zwillingen: 53-87%
– zweieiigen Zwillingen: 22-47%
Zwei-Faktoren-Modell
von Mowrer
• 1. Schritt: klassische Konditionierung:
– Neutraler Stimulus, z.B. verschmutzte Klinke
– Aversiver Reiz, z.B. emotionale Belastung in
der Familie
– Konditionierter Stimulus (Schmutz)
– Konditionierte Reaktion (Angst, Anspannung)
Zwei-Faktoren-Modell
von Mowrer
• 2. Schritt: operante Konditionierung:
– Verhaltensweisen beenden oder umgehen die
unangenehme Situation
• Flucht
• Vermeidung
• Rituale
– Vorübergehende Reduktion von Angst und
Spannung
– Dadurch negative Verstärkung
Zwei-Faktoren-Modell
von Mowrer
• Kritikpunkte:
– Nicht unmittelbar auf den Alltag übertragbar
– Individuell oft keine Konditionierung
nachweisbar
– Hauptsächlich auf Zwangshandlungen bezogen
– Alle denkbaren Handlungen müssten gleich
häufig Bestandteil von Zwängen sein
Zentrale Merkmale im Kognitiven
Zwangsmodell von Salkovskis
(nach Salkovskis & Kirk, 1996)
• Vermeidung von Objekten oder Situationen, die
Zwangsgedanken auslösen könnten
• aufdringliche Kognitionen (zwanghafte Gedanken, Vorstellungen
oder Impulse)
• Bewertung des Vorkommens und des Inhalts der aufdringlichen
Kognitionen aus der Perspektive eines übersteigerten
Verantwortungsgefühls
• Neutralisierung (zwanghafte Verhaltensweisen und
Gedankenrituale; Versuche, die unerwünschten Kognitionen zu
unterdrücken)
• Unbehagen (Angst, Depression oder eine Mischung aus beiden)
Kognitives Zwangsmodell von Salkovskis
Rückkopplungsschleifen
aufdringlicher
Gedanke
...ein Bestandteil
des "normalen"
Gedankenablaufes
Bedeutung
Discomfort
Neutralisieren
"Gedanke ist
fürchterlich"
Unruhe, Erregung,
Handlungsbedarf
Neutralisieren
Beispiele für „normale“ aufdringliche Gedanken
• Der Impuls, jemanden zu verletzen oder zu schaden.
• Der Impuls/Gedanke, etwas Schmutziges oder absolut Unpassendes
zu sagen.
• Der Gedanke, dass einer nahestehenden Person etwas zustoßen
könnte.
• Der Impuls, das Auto zusammenzufahren.
• Der Impuls, Haustiere anzugreifen oder zu töten.
• Der Gedanke: Ich wünschte er/sie wäre tot.
• Der Gedanke, man könnte plötzlich ausrasten und um sich schlagen.
• Der Impuls, sexuelle Praktiken auszuüben, die ungewöhnlich sind.
• Der Impuls, andere anzugreifen oder zu bestrafen.
• Die Vorstellung, dass eine Katastrophe passieren könnte.
Kognitives Zwangsmodell von Salkovskis
Rückkopplungsschleifen
aufdringlicher
Gedanke
...ein Bestandteil
des "normalen"
Gedankenablaufes
Bedeutung
Discomfort
Neutralisieren
"Gedanke ist
fürchterlich"
Unruhe, Erregung,
Handlungsbedarf
Neutralisieren
Funktion der Zwänge
• die zentralen Bedingungen, die zur Aufrechterhaltung der
Zwangserkrankung beitragen:
a) angstreduzierende Funktion
(Rituale verhindern Erfahrung, dass aversive
Konsequenzen auch ausbleiben, wenn das Ritual
unterbleibt)
b) Aspekte des Selbstregulationssystems
(Gedanken, Bewertungen, Befürchtungen etc.)
Intrapsychische Funktionalitäten:
• Schutz vor dem Erleben einer stark aversiven Emotion
(Angst/Unruhe, Spannung, tiefe Trauer, ohnmächtige Wut,
Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Versagenserleben etc.)
• auch Copingversuche für andere Defizite
1) Zwänge als mißglückter Kompensationsversuch für eine generelle
tiefgehende Verunsicherung bzw. Selbstwertproblematik
2) Zwänge als Schutz davor, depressiv zu werden
3) Zwänge als dysfunktionale Regulationsmechanismen bei sozialen
Defiziten
Interpersonelle Funktionalität:
• Regulierung der Beziehung zu nahestehenden Menschen
1) Zwänge können dazu dienen, nahe Bezugspersonen auf
Abstand zu halten, um die Respektierung der persönlichen
Integrität zu erzwingen
2) Zwänge können ein Ventil für unterdrückte Aggressionen
sein
Therapie
Behandlung von Zwangsstörungen
Als Methode der Wahl bei der Behandlung von Zwängen gilt die
Konfrontation und Reaktionsverhinderung
(exposure and response prevention")
1) Der Patient wird mit derjenigen Situation konfrontiert, die seine
Zwangsrituale auslöst (z.B. Schmutz bei einem Waschzwang).
Gleichzeitig wird verhindert, dass das übliche Vermeidungsritual
durchgeführt wird (z.B. Reinigung)
2) Der Patient erlebt in der Konfrontation mit der problematischen
Situation, dass eine Reduktion der Angst (Unruhe, Unsicherheit)
im Laufe der Zeit eintritt, ohne dass das Ritual (die neutralisierende
Handlung) durchgeführt wird.
3) Das Ziel muss darin bestehen, aufdringliche Gedanken erleben zu
können, ohne sich von ihnen stören zu lassen.
Zwangsbehandlung
• Aufbau einer therapeutischen Beziehung
• Motivations- und Zielklärung
• Problembezogene Informationserfassung und
Verhaltensanalyse
• Vermittlung eines plausiblen Erklärungsmodelles
• Exposition mit Reaktionsverhinderung
• kognitive Interventionen
Kognitive Besonderheiten
1) Zwangspatienten haben ein überzogenes Verantwortungsgefühl
2) Zwangspatienten überschätzen die Gefährlichkeit, den
negativen Ausgang, und sie katastrophisieren die Konsequenzen
von (zukünftigen) Ereignissen
3) Zwangspatienten tendieren zu überhöhten Schuldgefühlen
gegenüber negativen Ereignissen, die mit ihrer Verantwortung
in Verbindung stehen
4) Zwangspatienten haben ein überhöhtes Bedürfnis nach
Gewissheit
5) Zwangspatienten sind in ihren Handlungen unentschlossen und
zweifeln an ihren Entscheidungen
Beziehungsgestaltung
• Zwangspatienten gelten allgemein als "schwierig"
• die Hälfte erfüllt auch die Kriterien einer oder mehrerer
Persönlichkeitsstörungen
• interaktionell sind vor allem die Patienten schwierig, die Defizite
in der Regulierung von Nähe/Distanz einerseits und
Dominanz/Unterwerfung andererseits haben
(Aggressivität, Feindseligkeit und Ablehnung gegenüber dem
Therapeuten -Wunsch nach Akzeptanz, Unterstützung und
Abhängigkeit)
• des weiteren Patienten, die sich infolge einer übermäßigen
Sensibilisierung gegenüber jeder Art von Beschneidung der
Autonomie in Machtkämpfe verwickeln, d.h. jede Art von Druck
seitens des Therapeuten wird zu wütenden Gegenreaktionen
führen
Therapieschwerpunkte
•
•
•
•
•
Behandlung des Zwangs
Veränderung dysfunktionaler Einstellungen
Beeinflussung interaktioneller Bedingungen
Aufbau alternativer, positiver Aktivitäten
Weitere Problembereiche
(als Prädisposition zugrunde liegend oder
Folge)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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