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Priv.-Doz. Dr. phil habil. Harald Seubert,
Paul Ricoeur, Gedächtnis Geschichte, Vergessen. Vergebung II. Vorlage.
Sitzung 29. 5. 06, 9-11.00 Uhr
III. Ricoeur geht in seiner Rekonstruktion der ‚Odyssee des Geistes der Vergebung’ von der
Schwierigkeit aus, die die Korrelationen der Vergebung aufwerfen: Sie stellt sich zwischen
einer Ordnung des Austauschs, der bilateralen Beziehung zwischen der Bitte um Vergebung
und ihrer Gewährung, und der vertikalen Differenz zwischen beiden Akten.
Hier stellen sich Fragen, ja Dilemmata der Art: „Muss der, der die Vergebung ausspricht,
auch der sein, der verletzt wurde?“; muss man von dem Schuldigen ein Bekenntnis erwarten
(Jankélévitchs Diktum: ‚Haben sie (sc. die NS-Mörder) uns jemals um Verzeihung gebeten?’)
und: inwieweit können stellvertretende institutionalisierte Reue- und Vergebungsakte
Bindekraft haben (Inkognito der Vergebung). Dabei ist auch zu fragen, wie weit der Kreis der
Opfer gefasst sein kann.
III.1. Jene Dilemmata der Vergebung sollen durch eine Analogie mit der ‚Ökonomie’ der
Gabe aufgeklärt werden. Dabei destruiert Ricoeur, im Rückgriff auf Marcel Mauss (und in
Rehabilitierung von dessen rein deskriptiver Methode gegenüber der Kritik von Lévi-Strauss)
die Auffassung, dass die Gabe notwendigerweise ein einseitiger Akt sein müsse. Die
Ökonomie der Gabe äußert sich, wie Mauss zeigte, vielmehr als eine archaische, nichtkommerzielle, nicht kalkülhafte Form des Tauschs (S. 735) in der Trias von GebenEmpfangen-Erwidern.
III.2. Die Analogie zwischen dem Sprechakt der Vergebung und der Zirkularität der Gabe hat
jedoch eine Grenze, die die Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen Entgelten und
Vergeben legt: Die Gabe häuft weitere Schuld an. Vergebung hat hingegen eine elementare
Symmetrie wiederherzustellen (vgl. Hegel, PhdG.: Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse
und seine Verzeihung). Ricoeur bringt hier das „radikale“, hyperbolische Gebot der
Feindesliebe ins Spiel. Sie beruht nicht auf der Form von Geben und Zurückgeben, sondern
von Geben und reinem Empfangen. Weshalb bedarf es dieser (in den Evangelien evozierten)
Hyperbolik? Da nur auf diese Weise der vertikale Abstand überbrückt werden kann, der sich
im Vergebungsakt einstellt: „ein Intervall zwischen dem Hohen und dem Tiefen, zwischen der
höchsten Höhe des Geists der Vergebung und dem Abgrund der Schuld“ (S. 749).
In diesem Zusammenhang erörtert Ricoeur exemplarisch Leistung, Intention, aber auch
Schwierigkeiten und Abgründe des Prozesses der ‚Truth and Reconciliiation Commission’ in
Südafrika, der die „Straflogik der großen Kriegsverbrecherprozesse“ zu durchbrechen
unternahm.
Die (scheinbare?) Inkommensurabiltät zwischen der bedingten Bitte um Vergebung und der
unbedingten Vergebung führt auf die Frage nach der ‚Kraft’ (dynnamis; potentia), die zu dem
Akt der Vergebung befähigt. Diese nötigt nach Ricoeurs Auffassung zugleich zu der
„Rückbesinnung auf sich selbst“.
IV.1. Ricoeur spitzt das Problem in Rekurs auf Jankélévitch zu: Unterscheidet er doch zwei
einander entgegengesetzte Unmöglichkeiten, die sich im Akt der Vergebung stellen: Die
Einsicht in Unwiderruflichkeit und Unumkehrbarkeit (745, FN 42).
Referenzautorin für die Freilegung von ‚Vergebung und Versprechen’ (IV. 1.) ist zunächst
Hannah Arendt, mit deren Hilfe zugleich die Begrenztheit einer Vergebung im politischen
Raum markiert wird. Menschliches Handeln ist in unübersehbare Pluralitäten verstrickt,
woraus eine untilgbare Ungewissheit resultiert. Als Möglichkeiten originären, authentischen
Handelns begreift Arendt daher „das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten“, und
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die Fähigkeit zu verzeihen. Im Unterschied zu Arendt, die explizit von einer Symmetrie von
Vergeben und Versprechen ausgeht, aber zugleich in enger Zwiesprache mit ihrer Einsicht in
den ‚weltlosen’ Charakter der Liebe hält Ricoeur fest, dass der Akt des Versprechens in
Handlungspluralität eintrete und damit auch in den politischen Raum gehöre, anders die
Vergebung. Ihre Institutionalisierung (katholisches Bußsakrament) müsse scheitern. Man
erinnert sich an das von Ricoeur mehrfach bemühte Bonmot K.-M. Kodalles, wonach
Institutionen nicht vergeben könnten. Sie dürfen es auch nicht: geht es doch hier um die
elementare Frage einer Verwirklichung menschlicher Glückseligkeit (Eudaimonia-Heil) auf
Kosten der Freiheit (Dostojevskijs Großinquisitor). Mit Arendt gewinnt Ricoeur von hier her
einen Begriff der Liebe im Sinne der philia politiké, (vgl. die agape der Apostel): eine
intelligible Freundschaft ohne Intimität
IV. 2. Vergebung konkretisiert sich nach Ricoeurs Auslegung auf die Frage, wie die Schuld
(dette) von der Last des Schuldigseins (culpabilité) zu entbinden sei und wie auf diese Weise
das Phänomen der Schuld offengelegt werden kann. In diesem Kontext geht es, in
Unterscheidung gegenüber der öffentlichen Ersatzhandlung eines ‚Incognito der Vergebung’,
um die Offenbarung des ‚Wer’ der Handlung; konzentriert auf das ‚befreiende’ Wort: „Du
bist besser als deine Taten“ (S. 759).
Hier stellen sich offensichtlich Fragen, die Ricoeur im Anschluss an N. Hartmann und J.
Derrida expliziert: Kann zwischen Handlung und Handelndem unterschieden werden?
Ricoeur setzt die Entkoppelung nicht im Subjekt an, wie Derrida (und dies aus guten
Gründen, da, wie Derrida selbst bemerkt, auf diese Weise die Subjektidentität zwischhen
Schuldigem und demjenigen, der die Vergebung empfängt, aufgesprengt würde!) sondern in
der Handlung: als modaltheoretische (dynamis-energeia) Unterscheidung der Ausführung
einer Handlung vom Vermögen, womit die Moralität des Subjektes durch seine schuldhafte
Verstrickung in den Weltlauf nicht erschöpft ist. Damit, und in der korrelierten Koppelung
von Vergebung und Reue, werde ein Akt höchsten Vertrauens ausgesprochen (Vgl.
insbesondere S. 755, FN. 54: neuplatonische und biblische Reue- und Umkehrkonzeptionen).
Ricoeur zielt also auf eine Anthropologie des ‚fähigen Menschen’ und, in der Folge früherer
Arbeiten (Ende von soi-même comme und autre) auf die Präferenz des Dynamis-Seins vor der
Substanzialität; eine Position, die er in einer Relektüre des Ansatzes der Kantischen
Religions-Schrift und damit implizit des ‚articulus stantis et cadentis ecclesiae’ der
Rechtfertigungslehre zu bewähren sucht. Der Hang zum radikal Bösen kontrastiert der
bleibenden Anlage zum Guten; wobei Ricoeur Kants Religionsschrift als Auslegung der
metapolitischen Institutionen der Kirche und der historisch bezeugten Buchreligionen deutet.
Indessen: die Relektüre zeigt zweierlei: zum einen, dass die Entbindung der Vergebung und
die Bindung des Versprechens einander erfordern, aber, zum anderen, nur para-dox,
keinesfalls i. S. einer wohlbestimmten transzendentalen oder spekulativen Ordnung aussagbar
sind. Ihre Verbindung führt auf eine Grammatik des Optativs, und damit (nach den
methodischen Durchgängen von Phänomenologie-Epistemologie- Hermeneutik) auf eine
Eschatologie des Gedächtnisses, die letztlich zu einer Relektüre des Unterfangens unter der
Perspektive der Erfüllung eines „glücklichen Gedächtnisses“ Anlass gibt.
V. Damit ist der „Leitstern“ der Phänomenologie des Gedächtnisses thematisch gemacht: das
glückliche Gedächtnis zielt auf die Gewinnung einer Treue zum Vergangenen, die nicht
Faktum, sondern Versprechen oder Wunsch ist. Der „Epilog des Epilogs“, die Rückbesinnung
auf den durchlaufenen Weg, hebt deshalb das Wiedererkennen als das „kleine Wunder des
Gedächtnisses“ hervor (erstmals in Bergson-Auseinandersetzung, S. 660 ff.): Ricoeur spricht
von der Evidenzgewissheit der Rekognition, die „im Wiedererkennen des eigenen Selbst“ (S.
762) kulminiere und die die mnemonische Orientierung in ihrer dreifachen Referenz auf das
Selbst, die Anderen und die Nahen in die Dialektik von Bindung und Entbindung stelle (S.
763). Dieses glückliche Gedächtnis erweist sich zugleich als Voraussetzung dafür, dass die
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Verbindung von „Erinnerungsarbeit und Trauerarbeit“ unter einer Prolepsis des Vertrauens
stehen kann.
V.2. Entspricht, so fragt Ricoeur, dem glücklichen Gedächtnis eine unglückliche Geschichte?
So könnte es scheinen, weil „das Wahrheitsprojekt“ der Geschichte ohne die Evidenz des
Wiedererkennens auskommen muss. Es entsteht also zwischen Gedächtnis und
Wiedererinnerung eine Kluft, die sich bereits auf der Ebene des archivierten Gedächtnisses
(S. 223ff.) einstellt und sodann innerhalb der explikativen Geschichte (S. 281-361) vertieft.
Wenn das Gedächtnis selbst zum Gegenstand der Geschichtsschreibung wird, scheint diese
Kluft ihr dramatischstes Ausmaß erreicht zu haben (vgl. S. 591 ff.). Ricoeur zeigt noch einmal
nachdrücklich in Rückschau auf den zweiten Teil seines Dreimasters, dass das Verhältnis (ein
Wettstreit?) zwischen Gedächtnis und Geschichte epistemologisch nicht entschieden werden
kann, sondern allenfalls phronetisch : durch den Leser der historiographischen Werke, der
zugleich besonnener Bürger ist.
V.3. Kann aber dann rechtens von einem glücklichen Vergessen gesprochen werden? Ricoeur
misstraut dieser Redeweise, aufgrund der Verwobenheit von „auslöschendem“ und
„verwahrendem Vergessen“, schärfer: der dünnen Wand zwischen „Amnestie und Amnesie“
(S. 770). Die auf Klugheit gegründete Polis wird die Geschichte ihrer Entzweiung nicht
auslöschen, sondern sich des Dissenses erinnern.
Vergessen und Gedächtnis sind strukturell grundverschieden: Vergessen ist nicht ereignishaft
orientiert, sondern zuständlich. Dadurch wirkt es handlungsbestimmend, nach Ricoeur so,
dass aus ihm tragische Fehlgriffe weiterer Geschichte hervorgehen (S. 772). Obgleich es
Ricoeur, mit Nietzsche als „ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen“
denkt, kommt es nur kontrastiv gegenüber dem Gedächtnis zur Abhebung.
Positiven Einübungen in das Vergessen, einer ‚ars oblivionis’ (H. Weinrich) misstraut
Ricoeur vor diesem Hintergrund. Die Konstruktion einer Umkehrung der Mnemonik hat zum
Extrempunkt die Auslöschung von Erinnerung, mit der Gefahr der Verwüstung und
Destruktion (Bücherverbrennung).. Im Blick auf den von Marc Augé (Les formes de l’oubli),
aus afrikanischer Ritualpraxis gewonnenen Typus rituellen Vergessens zum Zweck, die
Aufmerksamkeit auf die Präsenz (des Vergangenen, Gegenwärtigen oder Künftigen) zu
richten, fragt Ricoeur, ob sich das Vergessen nicht, „indem es seine eigene Wachsamkeit
überlistet, selbst vergessen müsse“ (S. 775, vgl. auch den Verweis auf Proust. Es scheint hier
um eine Form von Epoché zu gehen).
Er schließt mit einem dritten Typus: einer höchsten Form des Vergessens, das, mit
Kierkegaard, als ‚Freiheit zur Sorge’ zu bestimmen wäre.
Textausschnitt/Detailproblem:
Ich empfehle zu genauer gemeinsamer Lektüre und Diskussion die Seiten 767 f, mit der
Verbindung von sépulture scriptuaire’ und „Wiederauferstehung des Vergangenen“ und der,
wie mir scheint, sehr originellen Interpretation der IX. Geschichtsphilosophischen These
Walter Benjamins.
Hieran kann sich in der Debatte die Frage anschließen, wie sich der eschatologischen Optativ
im ‚Epilog’ und Ricoeurs Buchprojekt insgesamt zueinander verhalten. Vor dieser Folie wird
über den Gang des Werkes und der Diskussion noch einmal Rechenschaft zu geben sein. Ich
werde dazu zum Abschluss meines Einführungsreferates einige zusammenfassende
Bemerkungen vortragen.
H.S.
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