Die frühe Entwicklung des Gehirns

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SCHWEIZERISCHE HIRNLIGA
LIGUE SUISSE POUR LE CERVEAU
LEGA SVIZZERA PER IL CERVELLO
Inhalt Nr. 1/2017
Editorial2
Schlaf und Schlafstörungen –
ein kleines Mysterium
3+6
Die Hirnforschung in
der Schweiz
4–5
Das alternde Gehirn:
Der Weg zur Demenz? 7–8
Die frühe Entwicklung
des Gehirns
Vorschau8
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Dr. Mona Spiridon (Universität
Genf), Dr. Anouchka Pickenhagen
(Universität Genf) und Dr. Ulrike
Toepel (Universität Lausanne)
Schweizerische Hirnliga
Postgasse 19, Postfach
CH-3000 Bern 8
Spendenkonto PC 30-229469-9
Die Entwicklung des Gehirns beginnt
im Mutterleib und dauert bis zum
Lebensende an. Die einschneidendsten Veränderungen spielen sich aber
in der Kindheit und Jugend ab. Bereits
vor der Geburt sind die Nervenzellen
gut entwickelt. Zwei Wochen nach
der Empfängnis bildet sich das sogenannte Neuralrohr. Daraus gehen das
Gehirn und das Rückenmark hervor.
Nach der Geburt knüpfen die Nervenzellen laufend neue Verbindungen, ihr
Netzwerk verdichtet sich.
1
Das Gehirn 1/2017
Ein formbares Gehirn
Diese Verknüpfungen zwischen den
Nervenzellen verändern sich, wenn
wir etwas mit unseren Sinnen wahrnehmen, mit unseren Mitmenschen
sprechen und Emotionen erleben.
Das Phänomen wird auch als «Plastizität des Gehirns» bezeichnet. Diese Fähigkeit bleibt das ganze Leben
lang erhalten – vom Embryo bis ins
Erwachsenenalter. Besonders «plastisch» oder formbar ist das Gehirn in
den «kritischen» Phasen der kindlichen Hirnentwicklung. Das sind die
Zeiten, in denen es uns besonders
gut gelingt, bestimmte Fähigkeiten
zu lernen. So gibt es beispielsweise
ein kritisches Zeitfenster dafür, sich
Editorial
Die «Woche des Gehirns» wird 20!
Liebe Leserin, lieber Leser
1990 rief George Bush senior in den
USA die «Dekade des Gehirns» aus.
Sie brachte leider nicht die erhofften
revolutionären Erfolge, dafür eine
wichtige Erkenntnis: wie wichtig es
ist, die Öffentlichkeit über die Hirnforschung zu informieren. Sechs Jahre später gründete die amerikanische
Dana Foundation die «Woche des
Gehirns».
Im März 1998 fand sie in der Schweiz
zum ersten Mal statt. Es war ein absolutes Novum zu sehen, wie Forscher
ihren Elfenbeinturm verliessen und zur
Öffentlichkeit sprachen, in die Schulen
gingen und Schüler in ihre Labore einluden. Seit 20 Jahren schon hören und
sehen Sie jedes Jahr die Fortschritte im
Bereich der Neurowissenschaften. Sie
erfahren, wie dieser Fachbereich nach
und nach mehr über das Gehirn herausfindet und seine Erkrankungen besser
versteht. Jene auch besser behandeln
zu können, ist das erklärte Ziel der
Forschung.
Unsere Programmbeilage zeigt Ihnen
die Vielfalt an Forschungsprojekten in
der Schweiz. Die Sonderausgabe von
«das Gehirn» steht ganz im Zeichen
des Jubiläums und lässt Sie wissen,
woran die Hirnforscherinnen und
Hirnforscher arbeiten. Ein ausführliches Programm der Veranstaltungen
in den verschiedenen Schweizer Städten finden Sie auf unserer Internetseite
www.hirnliga.ch.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei
der Lektüre!
Dr. Béatrice Roth
Vorstand Schweizerische Hirnliga
Entwicklungsstörungen
wie Autismus erschweren
es den betroffenen
Kindern, Gesichtsausdrücke oder Emotionen
einzuordnen.
Quelle: iStockphoto
eine Sprache akzentfrei anzueignen.
Grundsätzlich gilt: Je später man eine
Sprache erlernt, desto unvollkommener wird man sie beherrschen.
Die Kehrseite der Medaille
Die Plastizität des Gehirns kann auch
zum Problem werden, etwa in einem
schädlichen Umfeld. Vor allem in
den ersten Lebensjahren kann ununterbrochener und quälender chronischer Stress das Gehirn nachhaltig
schädigen. Ein weiteres Beispiel für
negative Auswirkungen von Plastizität sind Phantomschmerzen nach der
Amputation einer Gliedmasse. In der
Schweiz beschäftigen sich verschiedene Forschungseinrichtungen mit der
Plastizität des Gehirns von gesunden
Kindern und solchen, deren neuronale
Entwicklung beeinträchtigt ist – etwa
wegen einer Frühgeburt, vor- oder
nachgeburtlichem Stress oder genetischen Abweichungen.
Emotionen wollen gelernt sein
In dem Masse, in dem sich das Gehirn
aufbaut und wandelt, entwickelt das
Kind gedankliche, emotionale und soziale Kompetenzen. Schon sehr bald
bilden sich Fähigkeiten aus, die es ihm
erlauben, seine Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen und zu regulieren. Gesichtsausdrücke erkennt ein
Kind ab dem ersten Lebensjahr. Mit
sieben Monaten ist es bereits in der
Lage, zwischen bestimmten Gefühlen
zu unterscheiden. Was ist Wut, wie
äussert sich Trauer? Ab einem Alter
von zwei Jahren vermag ein Kind
gewisse Emotionen einzuordnen: Es
versteht, dass wir Gefühle nicht immer gleich stark erleben, und dass sie
unterschiedliche Ursachen haben. Im
Schulalter entwickelt es dann nach
und nach Strategien, um seine Emotionen zu regulieren. Es lernt zum
Beispiel, Frustration auszuhalten. Wie
2
Das Gehirn 1/2017
die emotionalen entfalten sich auch
die sozialen Kompetenzen mehr und
mehr. Sie erlauben es dem Kind, anderen Menschen Absichten, Meinungen
und Wünsche zuzuschreiben. Im Alter
von drei Jahren versteht ein Kind,
dass verschiedene Menschen verschiedene Dinge wollen oder fühlen können. Mit vier bis fünf Jahren begreift
es, dass Menschen nach ihren eigenen
Weltbildern handeln, auch wenn ihre
Gedanken nicht immer mit der Realität von anderen übereinstimmen.
Forschung von der Zelle bis
zum Menschen
Wie Kinder sich diese Kompetenzen
aneignen, wirkt sich darauf aus, wie
sie später ihre Rolle in der Gesellschaft wahrnehmen. Diese Zusammenhänge interessieren auch die
Hirnforschung in der Schweiz. In der
Genferseeregion wird vor allem daran gearbeitet, zu verstehen, wie sich
emotionale und soziale Kompetenzen
auf die schulische Leistung und das
Sozialverhalten auswirken. Die Erforschung dieser Kompetenzen ermöglicht ein genaueres Verständnis von
Entwicklungsstörungen wie z. B. dem
Autismus. Autistische Kinder haben
generell Mühe, die Absichten anderer
Menschen zu verstehen und Gefühle
auszudrücken und zu regulieren. Die
Forschung geht auch der Frage nach,
welche zellulär-molekularen Mechanismen die Gehirnentwicklung begleiten oder Entwicklungsstörungen bzw.
-verzögerungen zugrunde liegen.
Kinder lernen, Gefühle zu unterscheiden, zu deuten und zuzulassen.
Frustration auszuhalten fällt
bis ins Schulalter hinein nicht leicht.
Quelle Titelseite: iStockphoto
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