Moralische oder politische Demokratie

Werbung
1
Moralische oder politische Demokratie
Worauf kann die globale Umweltvorsorge bauen?
Anton Leist
Nicht wenige halten die globale Umweltpolitik für eine zukünftige Antriebskraft für
Demokratie, auszugehend insbesondere vom Westen. Diese Erwartung beruht auf der
Basis eines kosmopolitisch-moralischen Begriffs der Demokratie. In diesem Artikel
wird dafür plädiert, dass ein solches Verständnis in Sackgassen führt und durch eine
genuin politische Konzeption ersetzt werden sollte. Aufgrund der überwiegend nur
abstrakt zu beurteilenden Gefahren benötigt die Umweltvorsorge eine politische
Demokratie sogar noch eher als viele andere Politikziele.
Schlüsselwörter: moralischer Kosmopolitismus, Bedingungen von Gerechtigkeit,
deliberative Demokratie, agonistische Demokratie, internationale Umweltpolitik
Abstract Englisch
Quite a few think of global environmental politics as a future driving force for
democracy, meant especially to spring from the West. Basic to this expectation is a
cosmopolitic and „moral“ concept of democracy. This article claims that the moral
concept of democracy leads to dead ends of policy and that it should be substituted by
a genuinely „political“ idea of democracy. Due to its inherent abstractness
environmental policy is even more than other political fields in need of a political
democracy.
Keywords: moral cosmopolitism, conditions of justice, deliberative democracy,
agonistic democracy, international environmental politics.
2
Viele Philosophen sind der Meinung, dass die Moral letztgültige Gründe für Rechte und
Pflichten unter allen Menschen liefere. Die Moral bildet für siedas Fundament der Politik,
idealerweise würde die Politik das realisieren, was die Moral fordere. Nach Ansicht vieler
Politiker hingegen spielt die Moral im Rahmen der Politik eine untergeordnete Rolle. Bestärkt
werden sie dadurch, dass unter den meisten Bürgern kein hinreichend starker moralischer
Konsens herrscht, und zudem durch die Erfahrung, dass die moralischen Überzeugungen,
selbst wo sie vorherrschen, nicht sonderlich wirksam sind. Nicht zuletzt die Umweltgüter
benötigen als öffentliche Güter die Koordination mit je anderen Akteuren anhand von nichtmoralischen, nämlich sozialen Normen und Institutionen. Mit moralischen Überzeugungen
lassen sich diese Normen nicht ersetzen, und allein durch Moral kämen sie erst gar nicht
zustande.
Der Gegensatz zwischen moralisch argumentierenden Philosophen und politischen
Demokraten schien früher schon einmal überwunden, weil im demokratischen Denken Moral
und demokratische Prozeduren kaum voneinander zu trennen waren. Inzwischen heben aber
viele Herausforderungen an die Politik, vor allem diejenigen der Umwelt, einen Kontrast von
Moral und Politik immer deutlicher hervor. Umweltherausforderungen wie der Klimawandel
haben im 21. Jahrhundert ein transnationales, globales Ausmaß angenommen, und ohne eine
entsprechend transnationale Kooperation sind ihre Auswirkungen nicht zu kontrollieren. Die
Visionen von Moral und Politik, wie diese Aufgabe zu lösen sein wird, fallen aber
auseinander. Unklar ist vor allem, ob der normative Maßstab unter den Völkern direkt in einer
räumlich unbegrenzten Moral bestehen kann, oder ob die transnationale Politik anderen –
insbesondere eigenständig politischen – Gesichtspunkten folgen muss.
Moralischer Kosmopolitismus. Zu den fatalen Wirkungen des Klimawandels gehört,
dass er dabei ist, die bereits bestehende globale Ungleichheit zu verschärfen. 1 Ausgedrückt in
blanken Zahlen: 1,37 Milliarden Menschen, etwa 25 Prozent der Weltbevölkerung vor allem
in südlichen Ländern, kommen täglich mit weniger als 1,25 Dollar aus. 2,56 Milliarden, etwa
50 Prozent, mit weniger als zwei Dollar. Die 15 Prozent Bewohner der einkommensstarken
westlichen Länder verfügen dagegen über ein Durchschnittseinkommen pro Tag von 75
Dollar. 2 Unstrittig drücken diese Zahlen eine extreme soziale Ungleichheit aus, die von den
zu erwartenden Folgen des Klimawandels voraussichtlich noch verstärkt werden wird.
Diese Umstände fordern eine moralische Reaktion geradezu heraus, nicht nur von den
Philosophen, sondern auch spontan von vielen Bürger im Alltag. Die sozialliberalen, Freiheit
und Wohlfahrt verteidigenden Philosophen sind in ihrer Reaktion jedoch gespalten. Eine
Teilgruppe unter ihnen hat eine Doktrin des „moralischen Kosmopolitismus“ zu entwickeln
begonnen, die sie auf internationalen Foren vertritt. Der amerikanische Philosoph Henry Shue
ist ähnlich wie der deutsche Philosoph Thomas Pogge der Meinung, dass alle Menschen
weltweit ein Recht auf ein soziales Minimum haben, das von den im globalen Maßstab besser
Gestellten ungeachtet nationaler Grenzen realisiert werden sollte. 3 Viele angelsächsische und
deutschsprachige Philosophen schließen sich dieser oder einer ähnlichen Forderung an. Einer
3
anderen Gruppe sozialliberaler Philosophen fällt es gerade in moralischer Hinsicht schwer,
diesen Forderungen zu folgen. Die Moral scheint ihnen keine hinreichende Grundlage für
transnationale Beziehungen zu sein. 4
Aus historischer Perspektive sind die Forderungen der ersten Gruppe „westlicher“
Philosophen nachvollziehbar, verteidigen sie doch nichts anderes als die in Europa geborene
Idee eines moralischen Vorrangs des Weltbürgertums vor lokalen politischen Pflichten, wie
sie Diogenes von Sinope bereits im 4. Jahrhundert vor Christus entwickelt hat. 5 Andererseits
ist auch Philosophen klar, dass sie in der gegenwärtigen Welt unterschiedlicher
Glaubenssysteme und kontroverser Ideologien international nicht einfach an das Faktum des
Menschseins erinnern können, um damit Staaten in Bewegung zu setzen. Auf der Suche nach
einer möglichst schlanken „moralischen Strategie“ war Pogge vermutlich am
erfindungsreichsten. Seiner Meinung nach reicht es aus, an das weithin geteilte „negative
Prinzip“ des Schadenvermeidens zu appellieren. So verhinderten die westlichen Länder durch
ihre protektionistische Wirtschaftspolitik gleiche Chancen der Entwicklungsländer auf dem
Weltmarkt und beteiligen sich an der Ausbeutung ressourcenstarker Entwicklungsländer,
indem sie mit deren korrupten, nicht-demokratischen Eliten kooperierten. Pogge ist der
Meinung, dass allein aufgrund dieser Verstöße gegen die negativen Rechte der global Armen
positive Gerechtigkeitsforderungen entstehen, die von den reichen westlichen Ländern
beglichen werden müssen.
Das von Pogge angesprochene Ausmaß des Schädigens zwischen den Staaten ist begrifflich
und empirisch jedoch nicht überzeugend. Inwiefern die Starken die Schwachen schädigen,
indem sie ihre Chancen verringern, ist ohne eine bereits unterstellte moralische Gleichheit
nicht klar. Außerdem sind die Starken nicht durchweg die historische Ursache für den
Zustand der Schwachen, etwa wenn deren Religion Demokratie verhindert und Diktaturen
Vorschub leistet. Und inwiefern die Kooperation mit korrupten Eliten mehr Übel als Gutes
verursacht, wirft historische Fragen auf, die vermutlich umstritten bleiben. Um diesen
empirischen Meinungsstreit möglichst zu umgehen, versucht Pogge in seiner Argumentation
vorrangig normativ zu überzeugen. Dabei stößt er jedoch auf eine Reihe von Bedingungen,
die es erschweren, die Moral unter Individuen einfach auf Gesellschaften im internationalen
politischen Raum auszudehnen. 6
Gerechtigkeit nicht ohne Voraussetzungen. Die moralischen Kosmopoliten
übersehen nämlich leicht, dass ethische Forderungen an die Politik ein Resultat bereits
errungener institutioneller Voraussetzungen sind und ihren Sinn nur innerhalb dieser
Voraussetzungen gewinnen. Zu ihnen gehören Institutionen der ökonomischen Kooperation,
des rechtlichen Zwangs und eine einigende Kultur. Sehen wir zu, wie diese drei Bedingungen
ineinander greifen. 7
Regelmäßige Pflichten gegenüber Unbekannten wird man nicht auf sich nehmen, wenn dies
nicht zum gegenseitigen Nutzen in einer mehr oder weniger abgeschlossenen Gesellschaft
4
geschieht. Von Pflichten ohne eigenen Nutzen sind die meisten Menschen überfordert, sodass
regelmäßige Pflichten nur in einem System der Kooperation realistisch sind (erstens). Weil
selbst dann der individuelle Nutzen nicht proportional oder auch nur klar taxierbar sein wird,
müssen die Regeln des Kooperierens rechtlich geordnet und gesichert werden. Auch sich
politisch aneinander zu binden, erfordert bereits Zwang (man könnte sich immer auch anders
binden), der als legitim begründet werden muss. Gerechtigkeit und Zwang gehen dabei eine
enge Bindung ein (zweitens). Rechtlicher Zwang und Gerechtigkeit wären aber nicht effektiv,
könnten sie sich nicht auf ein gemeinsames kulturelles Vorverständnis stützen. Kooperation
setzt legitimen Zwang, und legitimer Zwang setzt geteilte Kultur voraus (drittens).
Deliberative versus agonistische Demokratie. Als empirisches Beiwerk der Politik
werden diese drei institutionellen Bedingungen von den moralischen Kosmopoliten durchaus
wahrgenommen. Weil sie jedoch an die allgemeine menschliche Vernünftigkeit glauben,
halten sie die inner- wie auch die international einigende Wirkung der Moral für stark genug,
die unterschiedlichen Meinungen und Interessen der Bürger zu harmonisieren. Im
internationalen Raum herrscht allerdings nur eingeschränkt Kooperation, nur für schwerste
Verstöße gegen „Menschenrechte“ gibt es juristische Strafen, während die rechtlichen
Grundlagen für eine anspruchsvollere gemeinsame Politik fehlen. Schließlich fehlt
offensichtlich auch die kulturelle Homogenität. Wenn manche „deliberativen Demokraten“
dennoch der Meinung sind, es könnte eine internationale Demokratie geben, so beruht das auf
einem tiefen Glauben an eine allgemeine menschliche Vernünftigkeit.
Ein Demokrat, der diesen stoisch-kosmopolitischen Glauben nicht teilen kann, neigt eher zu
der von der belgischen Philosophin Chantal Mouffe „agonistische Demokratie“ genannten
Position. 8 Wenn wir den Glauben an wesentliche Vernünftigkeit aufgeben, tritt das reale
Phänomen des moralischen Pluralismus unverstellter in den Vordergrund, und es scheint nicht
mehr plausibel, dass die in ihren Interessen uneinigen Bürger gerade durch eine universelle
Moral geeint werden sollten. Geeint werden sie vielmehr immer nur durch den Nutzenvorteil
der Kooperation, den legitimen rechtlichen Zwang und die Gewohnheiten der gemeinsamen
Kultur – vorzugsweise innerhalb einer Gesellschaft. Innerhalb dieser Trias muss die jeweils
am schwächsten wirkende Bedingung durch die Stärke der jeweils anderen ausgeglichen
werden, die Moral dürfte – sofern überhaupt – am Ende nur bespiegelnd hinzutreten.
Die Demokratie kommt nicht ohne einen abgrenzbaren demos aus, ein Volk ist nicht beliebig
konstruierbar und bildet die Voraussetzung der Politik. Wenn wir öffentlich moralisch
argumentieren, so unter der kulturellen Voraussetzung eines politischen Gemeinwesens. Mit
moralischen Argumenten können wir die Details innerhalb des Gemeinwesens zu ordnen
versuchen, tendenziell bedrohen wir dabei aber diese Voraussetzungen selbst. Da zu
moralischen Argumenten ihre Universalität hinzugehört, lassen sie kaum zu, zwischen
Bürgern und Nicht-Bürgern zu unterscheiden. Wenn moralische Argumente die drei
Bedingungen der gemeinsamen Kooperation, des rechtlichen Zwangs und der kulturellen
Homogenität nicht beachten, müssen sie Ausländern denselben Status einräumen wie den
5
Bürgern, und lösen damit die Grenzen des Demos auf. In diesem Sinn bedrohen sie die
demokratische Politik.
Diese Bemerkungen lassen sich auch so zusammenfassen, dass sich eine Gesellschaft die
Moral nur deshalb leisten kann, weil sie durch einen gemeinsamen Nutzen, durch Zwang und
gemeinsame Kultur ermöglicht wird. Die Kosmopoliten pflegen die Illusion, das Gegenteil
anzunehmen – dass Nutzen, Zwang und Kultur die Moral nur behinderten. Deshalb haben sie
auch keinen Sinn dafür, dass Gesellschaften untereinander eher zu Gegnerschaften als zu
Konsensen tendieren, und dass kontrollierte Gegnerschaften in der Realität vorteilhafter sind
als konsensuelle Gemeinschaften, die nur auf dem moralischen Reißbrett existieren. Ob es
innernational mehr als eine kompromissfähige Demokratie geben kann – einen, mit Rawls
gesprochen, „übergreifenden Konsens“ –, ist empirisch gesehen weitgehend unklar; für mehr
als Kompromisse, also kontrollierte Gegnerschaften, im internationalen Raum spricht
hingegen wenig.
Konflikt zwischen innen und außen. Im Allgemeinen stoßen moralisch motivierte
Erweiterungen der nationalen Demokratie immer auf zwei Probleme: auf das Problem der
mangelnden politischen Legitimation bloß moralisch motivierter Aktionen und auf das
Problem des Nullsummen-Verhältnisses zwischen nationaler und transnationaler
Legitimation. Beides sei näher erläutert. 9
Kosmopoliten sehen internationale Foren, NGOs, Menschenrechtsgruppen und andere
Aktivisten der globalen Zivilgesellschaft gern als demokratische Repräsentanten der
(national) Betroffenen. Was aber verleiht diesen Gruppen einen demokratischen Status?
Einige von ihnen vertreten schlicht partikulare Interessen, andere sind ethisch motiviert.
Keine der Gruppen ist demokratisch gewählt und allen fehlt die zentrale politische
Eigenschaft, bindende Entscheidungen innerhalb stabiler Institutionen herbeiführen und
längerfristig verantworten zu müssen. Ohne solche Entscheidungen müssen Konflikte, wie sie
international sicher nicht geringer sind als innernational, nicht politisch ausgetragen werden.
Die Kosmopoliten müssen ihre Ideale nicht in die agonistische Politik umsetzen und können
sie deshalb nur parteilich äußern.
Das Nullsummen-Problem würde sichtbar, wenn tatsächlich international entscheidungsfähige
Institutionen geschaffen wären, die Nationalbürgern Rechte unabhängig von deren
Verfassungsrechten zusprächen. Kosmopoliten verteidigen oft eine Idee von universellen
Menschenrechten, um auf diese Weise nationale Rechtsverstöße anzuprangern. Globale
Rechte, gäbe es für sie Institutionen, müssten jedoch die nationalen Institutionen (Parlamente,
Gerichte) außer Kraft setzen. Ein grundsätzliches Problem eines solchen Prozesses wäre, dass
sie weniger demokratisch legitimiert sein könnten wie die national geschaffenen Rechte.
Denn wie immer man sich eine global-demokratische Legitimation vorstellt, sie könnte nur
erheblich indirekter sein wie die nationale. Hält man die Kooperations- und die
Gemeinschaftsbedingung als relevant für den Demos, so sind transnational-demokratische
6
Abstimmungen, sofern es sie in bestimmtem Ausmaß (etwa in der EU) bereits gibt, weniger
demokratisch legitime Abstimmungen wie die nationalen. Die stark ökonomisch motivierte
und schwach moralisch verklärte Einigung Europas ist für einen solchen Vorgang ein
anschauliches Beispiel. 10
Eine demokratische globale Politik ist deshalb nicht denkbar, wenn unter „globaler
Demokratie“ die Legitimation durch transnationale Versammlungen und Kollektive gemeint
ist. Die Aktivitäten der globalen Zivilgesellschaft sind entweder interessengesteuerte oder
moralische, nicht aber politische. Sofern es eine globale Umweltdemokratie geben kann, so
bestenfalls eine zwischen nationalen Demokratien, nicht jenseits von ihnen.
Von der globalen zur lokalen Umweltdemokratie. Wer die soweit entwickelte
Skepsis gegenüber der Wirksamkeit einer globalen Zivilgesellschaft teilt, wird in den
kosmopolitischen Entwürfen eher ein Problem sehen als die gedankliche Arbeit an einer
Hoffnung. Allerdings ist gerade im Kontext der globalen Umweltpolitik nicht nur
verständlich, warum vielen der Appell an Gerechtigkeit als unausweichlicher Bestandteil
jedes künftigen Klimaregimes gilt, sondern auch, warum beim aktuell vollständigen Versagen
der internationalen Politik moralische Argumente als die einzig mögliche Rückzugsposition
erscheinen. 11 Aber so verständlich der Trost durch die Moral auch ist, die ökonomiediktierte
Verweigerung der Großen, sich auch nur auf schwache CO2-Auflagen festzulegen, erweist
moralisch motivierte Appelle als einen müßigen Zeitvertreib. Die intellektuelle Koalition
zwischen Europäern und amerikanischen Ostküstenbewohnern reicht selbst unter einer USdemokratischen Regierung nicht aus, um die amerikanische Position auch nur wenig zu
ändern.
Aus der Sicht des geschilderten politischen Standpunkts entwickelt die Umweltpolitik
innerhalb des gesamten Politikszenarios deshalb eine so geringe Eigendynamik, weil die
Umweltvorsorge in der Regel nur rationale und kaum emotionale Identifikationsziele zulässt.
Zukünftige Generationen jenseits von Kindern und Enkeln, quantifizierte Risikograde und
globale Folgen sind nur rational, nicht emotional zugängliche Konstrukte. Da die Politik eine
Identifikation mit einem Gemeinwesen benötigt, können solche unausweichlich rationalen
Umweltziele bestenfalls sekundärer Bestandteil bereits gelingender Politik und nicht originäre
Quellen der Politik sein. Sichtbar wird dieses Defizit am stärksten, wenn die globale Politik
vorrangig von ökonomischen Interessen geleitet wird, eine Konstellation, in die sich die CO2bedrohten kleinen Länder zu fügen scheinen. Global wird eine demokratische Klimapolitik
deshalb nicht die Sprengkraft entwickeln, die sich die Kosmopoliten – und generell viele
Europäer – überwiegend wünschen.
Demokratische Hoffnungen gelten häufig auch der lokalen Politik, soweit sie von lokalen
NGOs getragen wird. NGOs, nichtstaatliche Interessengruppierungen, lassen sich nicht
pauschal als demokratisch förderlich einstufen, und das nicht nur, weil sie teilweise eher
ökonomische Effektivität als politische Ziele verfolgen (Worldbank, WTO). Ein großer Teil
7
der kleinen NGOs, vor allem in Drittweltländern, versteht sich als Vertreter moralischer und
nicht politischer Ziele. Das ist für diejenigen NGOs plausibel, die in demokratisch
unterentwickelten Staaten in Opposition zur gewählten Regierung stehen und ihre Ziele den
staatlichen Zielen entgegensetzen oder mindestens nicht unterordnen können. Dennoch tragen
Staaten und deren Repräsentanten häufig (selbst im undemokratischen Fall) deutlich
politischere Züge als NGOs. NGOs sind keiner Gesamtbevölkerung rechenschaftspflichtig
und nicht prozedural legitimiert.
Es verwundert deshalb nicht, dass die politische Funktion von NGOs in der Realität stark
korreliert mit den politischen Verhältnissen, in denen sich ein Land befindet. 12 Während sie
in oligarchischen Staaten Kontrollfunktionen gegenüber Regierungen übernehmen können
oder in ungefestigt demokratischen Staaten eine die Demokratie unterstützende Funktion, sind
sie in neoliberal ausgerichteten Entwicklungen auch als Sekundanten Demokratie
blockierender Kräfte wirksam. NGOs sind immer Teil der Kultur, in der sie entstehen,
ethnische Konflikte finden sich in ihnen ebenso wieder wie in der Gesellschaft. Manche ihrer
charismatischen Führer fordern Gefolgschaft und keineswegs demokratische Partizipation.
Freilich: Wären nicht sozialliberale NGOs, getragen von einem Ethos der Menschenrechte,
von diesen Tendenzen gefeit? In der Theorie ja, in der Praxis erklärt hingegen ihre mangelnde
politische Konstitution ihre Tendenz, entweder in einer kosmopolitischen Protesthaltung zu
gerinnen oder sich der neoliberalen Dienstbarkeit zu unterwerfen. Moral und Ökonomie sind
die externen Alternativen zur Politik, und wenn sich lokale Bewegungen nicht klar mit einem
politischen Programm verbinden, bleiben sie auf die eine oder andere Weise in einer der
Demokratie hinderlichen moralischen oder ökonomischen Sackgasse stecken. Positiv
gewendet heißt das auch, dass im Fall des Konflikts zwischen einer entstehenden Demokratie
und Menschenrechten die Demokratie wichtiger ist als die Menschenrechte. Blickt man auf
die nicht-westlichen Staaten nicht unter dem speziellen Ideal der europäischen Synthese von
Demokratie und Menschenrechten, kann man sich in einem solchen Konflikt (etwa angesichts
Chinas) zwischen Demokratie und Menschenrechten entscheiden, und es ist klar, dass dann
die politische Perspektive vor den unrealistischen Mahnungen der Menschenrechte den
Vorzug haben sollte.
Autor
Anton Leist, Jg. 1947, Studium der Philosophie, Soziologie und Germanistik in München
und Frankfurt. Professor für Ethik an der Universität Zürich und Leiter der Arbeits- und
Forschungsstelle für Ethik. Schwerpunkte ökologische Ethik, ökologische Demokratie. EMail: [email protected]
Anmerkungen
8
1
Ebenso gilt das für viele andere globale Umweltprobleme, wie den Verlust an Biodiversität,
die Folgen des internationalen Giftmülltransports, die Verschmutzung der Meere und die
Überfischung. Der Klimawandel hat bereits jetzt zahlreiche lokale Probleme zur Folge, wie
Wasserknappheit und Bodenerosion. Manche lokalen Probleme sind die Folge des global
wirksamen Drucks auf nationale Ökonomien, insbesondere auf die Landwirtschaft in
Drittweltländern.
2
Die Zahlen gelten für 2005. Sie sind kaufkraftbereinigt, berücksichtigen aber nicht die
bestehenden Vermögen, wodurch sich die Asymmetrie noch erhöht.
3
Shue, Henry (1999): Global Environment and International Inequality, in: International
Affairs 75, pp. 531–545; Pogge, Thomas (2002): World Poverty and Human Rights,
Cambridge. – Ein „Recht“ auf ein soziales Minimum geht über das übliche Verständnis der
freiwilligen Welthungerhilfe hinaus, insofern es eine längerfristige und einklagbare
Verbindlichkeit darstellt und nicht mehr freiwillig ist.
4
Zur ersten Gruppe gehören Joshua Cohen, Ulrich Beck, Charles Beitz, Sheila Benhabib,
Nancy Fraser, Jürgen Habermas, David Held, Martha Nussbaum und Peter Singer. Zur
zweiten Gruppe gehören eine Reihe weiterer angelsächsischer Philosophen wie John Rawls,
Samuel Freedman, David Miller, Thomas Nagel, Leif Wenar und Michael Walzer.
5
Zur Bedeutung der antiken Stoiker für Kants Konzeption der Menschenwürde und für sein
Ideal des Weltbürgertums – beides bis heute wirkungsmächtige Visionen – vgl.: Nussbaum,
Martha (1997): Kant and Stoic Cosmopolitanism. In: Journal of Political Philosophy 5, pp.
1–25
6
Für eine detailliertere Kritik an Pogge siehe auch Hayward, Tim (2005): Thomas Pogge’s
Global Resources Dividend: A Critique and an Alternative. In: Journal of Moral Philosophy 2,
pp. 299–314; (2008): On the Nature of Our Debt to the Global Poor. In: Journal of Social
Philosophy 39, pp. 1–19
7
Dabei folge ich: Miller, David (2009): Justice and Boundaries. In: Politics, Philosophy &
Economics 8, pp. 291–309
8
Mouffe, Chantal (2000): The Democratic Paradox, London (Kap. 4); (2007): Über das
Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt (Kap. 2); (2005): Eine
kosmopolitische oder eine multipolare Weltordnung? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie
53, S. 69–82
9
Siehe auch die ausführlichere Diskussion bei Chandler, David (2003): New Rights for Old?
Cosmopolitan Citizenship and the Critique of State Souvereignity. In: Political Studies 51, pp.
332–349
10
Der erhebliche Widerstand, den die EU-Bürger der Verlagerung von nationalen
Kompetenzen auf die EU-Bürokratie entgegensetzen, wird in der geringen Wahlbeteiligung
zu EU-Wahlen wie in der einzelstaatlichen Ablehnung der EU-Verfassung deutlich. Ohne
eine Top-down-Politik wäre die europäische Einigung nicht durchführbar, so, wie sie
realisiert wird, ist sie nicht ausreichend demokratisch. Siehe auch Dahl, Ronald (1999): Can
International Organizations be Democratic? A Skeptic’s View. In: I. Shapiro/C. HackerCordon (eds.): Democracy’s Edges. Cambridge.
11
Das aktuelle Versagen hat der Kopenhagen-Gipfel 2009 demonstriert. Siehe Dimitrov,
Radoslav (2010): Inside Copenhagen: The State of Climate Governance. In: Global
Environmental Politics 10, pp. 18–24. – Aufgrund der Nichtbeteiligung der USA, Chinas,
Indiens und Brasiliens wurde nicht einmal der minimalistische Vertrag über die 2-GradGrenze realisiert. Bereits die Erwärmung von weniger als 2 Grad wird eine Vielzahl von
9
Staaten in der nahen Zukunft schlechter stellen als andere, umso mehr die erwartbare
Erwärmung von 4 bis 7 Grad. Siehe zu Kopenhagen auch die Beiträge in der Zeitschrift
Capitalism, Nature, Socialism 21, Heft 1, 2010.
12
Für einen Überblick: Mercer, Claire (2002): NGOs, Civil Society and Democratization: a
Critical Review of the Literature. Ín: Development Studies 2, pp. 5–22.
Herunterladen