1 AKE Innsbruck 2007 Dr. Jörg Niewöhner, Labor - AKE

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AKE Innsbruck 2007
Dr. Jörg Niewöhner, Labor: Sozialanthropologie und Lebenswissenschaften, Institut für
Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin
Lokale Biologien
Ende der 1970er Jahre beginnt man sich in der Anthropologie für das Phänomen der
Menopause zu interessieren (Lock 1998). Wie in der Anthropologie üblich, wählen viele
Studien einen kulturvergleichenden Ansatz. Schnell zeigt sich, dass in verschiedenen
Ländern unterschiedliche Symptome berichtet werden und dass die Einstellungen gegenüber
diesem Phänomen stark variieren. So berichten westliche Frauen bspw. von Hitzewallungen,
die in Japan, wo das Konzept des kônenki den Symptomkomplex beschreibt, weitgehend
unbekannt sind. Hier herrscht stattdessen z.B. eine Steifheit in den Schultern vor.
In der Anthropologie wird nun für gewöhnlich argumentiert, dass diese Differenzen durch
Unterschiede
in
Veränderungen,
der
subjektiven
die
mit
der
Erfahrung
zu
erklären
Menopause einhergehen,
seien.
seien
Die
biologischen
demnach universell.
Unterschiedliche Symptomatiken entstünden als Artefakte des Berichtens von Symptomen,
die durch Sprache, kulturell geprägte Erwartungen, soziale Rollenverständnisse oder Bildung
zu erklären seien.
Dieses
Erklärungsmuster
korrespondiert
in der internationalen
Anthropologie mit einer klaren Rollenverteilung, die sich auch in der Methodologie des Fachs
widerspiegelt. Auf
der einen Seite beforschen die biologischen AnthropologInnen
Unterschiede zwischen Populationen auf der Ebene von Physiologie. Ihre Methoden sind auf
die Vermessung des Materiellen oder des Natürlichen gerichtet. Auf der anderen Seite
arbeiten die KulturanthropologInnen an einem Verständnis von kultureller Differenz. Dazu
werden Methoden in Anschlag gebracht, die auf die Erfassung des Symbolischen bzw.
Semiotischen, d.h. des Kultürlichen, gerichtet sind. Man fragt danach, wie in einem
bestimmten Kontext Sinn oder Bedeutung beigemessen bzw. hergestellt wird.
Treten wir für einen Moment einen Schritt zurück: Der französische Wissenschaftsphilosoph
Bruno Latour argumentiert in seinem 1995 erschienen Buch „Wir sind nie modern gewesen“,
dass es für die heutige Moderne konstitutiv sei, Natur und Kultur als klar voneinander
getrennte Phänomene anzusehen und zu verstehen (Latour 1995). Er spricht von
Reinigungsarbeit,
die
verrichtet
werden
müsse,
um
diese
Trennung
sauber
aufrechtzuerhalten. Grenzüberschreitungen, also Vermischungen von Natur und Kultur,
würden oftmals zu heftigen Irritationen führen. Latour pointiert hier sicherlich, aber wenn ich
mir die hitzigen Debatten zum Thema „freier Wille“ der letzten Monate vor Augen führe, so
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komme ich nicht umhin, die Scharmützel zwischen Philosophie und Neurowissenschaften in
der Tat als eine Art Reinigungsarbeit zu begreifen, die Deutungshoheiten klärt und
Untersuchungsobjekte abgrenzt. Latour, und mit ihm viele andere, sehen den Beginn dieser
Entwicklung in der kartesianischen Trennung von Körper und Geist (Scheper-Hughes & Lock
1987). Eine Trennung, die für uns so fundamental geworden ist und die sich in disziplinären
Denkstilen der Wissenschaften, in Politik und Wirtschaft wie in den meisten Bereichen des
öffentlichen Lebens in mannigfaltigster Weise derart manifestiert hat, dass wir sie gemeinhin
gar nicht mehr wahrnehmen.
Dieser kurze Exkurs soll uns vor Augen führen, dass die Trennung in eine biologische und
eine symbolische Menopause nicht lediglich ein Phänomen der Menopause selbst und auch
nicht der Anthropologie oder der 80er und 90er Jahre ist, sondern dass es sich hier um eine
historisch wie gesellschaftlich tief verwurzelte Verfasstheit handelt. Wenn wir also beginnen,
darüber nachzudenken, ob und wie es sinnvoll sein könnte, die Dichotomie von Biologie und
Kultur nicht bereits im Forschungsdesign und in den Methoden zu reproduzieren, so
begeben wir uns genau in diesen so argwöhnisch beäugten Grenzbereich.
Margaret Lock, eine der herausragenden Medizinanthropologinnen der letzten 25 Jahre, hat
es sich wie keine Andere zur Aufgabe gemacht, diesen Grenzbereich zu besiedeln und sich
darin wohlzufühlen. Ihre wegweisenden Arbeiten zu Menopause in Japan und Kanada haben
von Anfang an die Idee eines biologisch universellen Phänomens problematisiert (Lock
1982; 1986a; b; 1995). Lock arbeitete mit dem Konzept der menopausal experience, d.h. der
Frage, wie Menopause in verschiedenen Kontexten erlebt wird. Dieser Ansatz zieht nicht
schon im Design eine deutliche Trennung zwischen Biologie und kulturellem Kontext ein.
Zwar hat Lock den Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere auch in biologischen Laboren
zugebracht. Ihre methodischen Kompetenzen liegen allerdings eindeutig auf dem Gebiet der
Kulturanthropologie, d.h. klassischer Feldforschung, teilnehmender Beobachtung und
Interviews. Ihre Version der erlebten Menopause schloss daher zu Beginn ihrer Arbeit zwar
biologische Unterschiede theoretisch mit ein, produzierte aber eine dichte Beschreibung auf
der Ebene von Sprache und Symbolik. Parallel dazu wurde selbstverständlich in den
Naturwissenschaften untersucht, welche der Unterschiede in den berichteten Symptomen
„realer“ Natur sind, d.h. inwiefern biologische Parameter zwischen verschiedenen
Populationen variieren. Zumeist im Kontext national vergleichender Studien wurden
hormonelle Faktoren, BMI, Alter und andere identifiziert.
Gemeinsam mit den Grenzgängerinnen Melissa Melby und Patricia Kaufert, beides
biologisch orientierte Medizinanthropologinnen, hat Lock sich in den letzten Jahren die
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breitgefächerte
und
unübersichtliche
Literatur,
die
aus
den
oben
skizzierten
Forschungsstrecken entstanden ist, noch einmal vorgenommen (Melby et al 2005). Dabei
legen sie ihrer Analyse das Konzept der local biology, also der lokal spezifischen Biologie,
zugrunde (Lock 2005; Lock & Kaufert 2001). Dieses verweist zum einen auf die Dialektik
zwischen und die Interdependenz von Biologie und Kultur. Zum anderen betont es die
Plastizität biologischer Konstellationen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Ernährung macht
deutlich, was mit diesem Konzept gemeint ist:
Das japanische Symptommuster des kônenki unterscheidet sich in den 80er Jahren
wesentlich deutlicher von einem nordamerikanischen, als dies heute der Fall ist. Man
beobachtet eine Verschiebung des japanischen Musters, die als Verwestlichung interpretiert
wird. Zu einem Teil lässt sich dies biologisch erklären, da eine Veränderung der Ernährung
die Sojaaufnahme in Japan und damit auch die Isoflavonaufnahme reduziert und die
Hormonbalance in Richtung Nordamerika verschoben hat. Zwar ist die Datenlage für eine
exakte Quantifizierung dieses Effekts noch ungeeignet, aber die Erklärung scheint plausibel.
Allerdings unterscheidet sich das heutige japanische Symptommuster weiterhin deutlich von
Japanerinnen, die in den USA leben.
Parallel zu einer Veränderung von Essgewohnheiten kommt es in Japan in den 90er Jahren
zu einer Medikalisierung von kônenki durch extensive Berichterstattung in der Presse
(Kaufert & Lock 1997). Kônenki wird jetzt erstmals als ein medizinisches Phänomen
diskutiert, das mit hormonellen Verschiebungen zu tun hat und das daher Hitzewallungen
und Reizbarkeit mit sich bringt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass japanische Frauen
diese Symptome nun vermehrt angeben, das Muster sich also dem nordamerikanischen
annähert. Kulturelle Veränderungen führen hier also zum einen zu biologischen
Veränderungen, zum anderen aber auch zu einer veränderten Selbstwahrnehmung und
einer anderen Art über Körperlichkeit zu berichten.
Unsere moderne Art nach einer biologischen Grundlage zu fragen und Kultur lediglich als
Epiphänomen zu betrachten, scheitert im Fall der Menopause, da uns keine zufrieden
stellende biologische Definition gelingt, mit der wir die biologische Menopause von der
erlebten, kultürlichen Menopause separieren können. Selbstverständlich könnten wir
beginnen, einen biologischen Kriterienkatalog festzulegen, der Menopause für bestimmte
Populationen über Hormonspiegel, BMI, Alter etc. festlegt. Wir könnten auch einen
kulturellen Kriterienkatalog aufstellen, der Menopause für bestimmte Gruppe über Sprache,
kulturelle Praxen, Artefakte etc. definiert. Beides würde der menopausal experience nicht
gerecht. Es hilft uns nicht, nach einer Essenz der Menopause in Biologie oder Kultur zu
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suchen, denn, wenn wir schon eine Essenz benötigen, so ist sie in der dynamischen
Interdependenz der beiden zu suchen.
Inwiefern kann uns nun das Konzept der local biology im Kontext von Ernährung, Krankheit
und Nutrigenomik nützlich sein? Kardiovaskuläre Erkrankungen sind Phänomene, deren
Definition heutzutage den MedizinerInnen obliegt. Zwar werden Definitionen immer wieder
debattiert und überarbeitet, aber prinzipiell sind diese Erkrankungen messbar und damit vor
allem biologische Ereignisse. Zu Fragen, wie sie erlebt werden scheint unnötig, denn wir
können objektiv bestimmen, wann bspw. ein Herzinfarkt vorliegt und wann nicht. Gleiches gilt
für die verschiedenen Risikomarker, die seit den 1950er Jahren etabliert wurden. Ein
metabolisches Syndrom, zum Beispiel, lässt sich mit Waage, Maßband und Blutbildanalysen
erkennen.
Nun müssen wir drei Ebenen auseinanderhalten: zum einen, wie biologisch klar definierte
nosologische Einheiten angesichts zunehmender Komplexität überhaupt zustande kommen,
wie sie stabilisiert werden und welche Vorannahmen dafür wesentliche Rollen spielen
(Aronowitz 1998; Hacking 1990; Young 1995); hier bewegen wir uns in den wichtigen
Bereich der empirischen Wissenschaftsforschung und der Wissenschaftsgeschichte, den ich
in diesem Kontext aber ausklammern möchte; zweitens, wie vor dem Hintergrund dieser klar
definierten nosologischen Einheiten Symptome erlebt werden und, zum dritten, wie sich
diese erlebten nosologischen Einheiten zum Konzept einer local biology verdichten.
Den zweiten Punkt, das Erleben der Symptome, möchte ich nur kurz anschneiden: Die
Tatsache, dass Frauen aufgrund kultureller Prägungen Herzinfarktsymptome anders
berichten als Männer, führt dazu, dass Rettungsdienste im Fall von Herzinfarkten bei Frauen
signifikant später am Einsatzort eintreffen als bei Männern (Maier et al 2004). Dies hat
massive biologische Konsequenzen. Gleiches gilt für Übergewicht in kulturellen Kontexten, in
denen Dick-sein positiv konnotiert ist oder für Magersucht in westlichen Gesellschaften, in
denen dünn sein ein wichtiger Statusmarker geworden ist. Hier werden direkte feedback
Effekte zwischen Körper und Kultur sichtbar. Die kulturell wie institutionell geprägte Eigenund Fremdwahrnehmung der Körper verändert sowohl diese Körper wie auch die Kultur, in
der sie sich bewegen. Der kanadische Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking spricht von
looping Effekten und betont damit die Rolle von medizinischen Klassifikationen in diesem
Kontext (Hacking 2006). Wenn aktuelle Kriterien für das metabolische Syndrom 90% der
über 50-Jährigen eines norwegischen Bezirks als at risk klassifiziert, muss die Frage erlaubt
sein, ob wir die Konsequenzen dieser medizinischen Praxis ausreichend im Blick haben
(Westin & Heath 2005). Dies verweist auch auf eine wichtige Unterscheidung zwischen
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Körper als Material und Biologie als Bios Logos, d.h. als wissenschaftliche Praxis durch die
wir Körper auf eine spezifische Art und Weise wahrnehmen können.
Der letzte Punkt, der Bezug zwischen erlebter nosologischer Einheit und local biology, ist
zentral und bringt mich erstens näher an die Nutrigenomik und zweitens zum Schluss. Artikel
zu Nutrigenomik, und ich hoffe, Sie verzeihen mir diese Bemerkung, zeichnen sich für HalbAußenstehende z.Z. vor allem dadurch aus, dass sie über hochspezifische Phänomene
berichten, deren Bedeutung nur noch für wenige Spezialisten nachzuvollziehen sein dürfte.
Von dieser molekularen Ebene geht es dann ohne Übergang im nächsten Satz zu der
These, dass man dadurch bald individuelle Risikoprofile bzw. Präventionsmaßnahmen wird
erstellen können. Es ist klar und nicht weiter von Interesse, warum papers mit diesen letzten
Absätzen schließen. Interessant ist jedoch zu überlegen, wie man das Molekulare mit dem
Phänotyp zu verbinden gedenkt. Hier geht es, so scheint es mir, letztlich weniger um
Individualisierung, sondern um die Aufgabe, Subpopulationen zu identifizieren, die im
Hinblick auf relevante Biomarker eine ausreichende Homogenität aufweisen.
Das Konzept der local biology signalisiert nun, dass diese Biomarker eine kulturelle Spezifik
aufweisen. Gerade hier ist die Nutrigenomik als eine junge Wissenschaft, die epigenetische
Erkenntnisse bereits in systembiologische Ansätze einbaut, auf einem interessanten Weg,
da die kulturelle Spezifik sowohl des Nährstoffangebots als auch der genetischen
Ausstattung mitgedacht wird. Hier ist es nun allerdings wichtig, den Kulturbegriff ein wenig zu
differenzieren. In den allermeisten Studien wird Kultur entweder mit Nationalität gleichgesetzt
oder über das Konzept der Ethnie mit einer spezifischen Physiologie/Genetik verbunden.
Dieser Ansatz erwächst vor allem aus einer verständlichen Forschungspragmatik und
notwendigem methodischen Reduktionismus. Kultur im sozialanthropologischen Sinne
bezeichnet jedoch zum einen den hochgradig ausdifferenzierten sozialen Alltag in einem
bestimmten Raum, z.B. einer Region, einer Metropole oder einer Organisation. Gerade im
urbanen Raum, der durch seine hohe Dichte und Durchmischung unterschiedlichster
Lebensformen quasi als ein Labor für gesellschaftlichen Wandel betrachtet werden kann,
gelten ethnische Zugehörigkeiten nur noch bedingt als relevante Parameter. Zum anderen
bringt ein sozialanthropologischer Kulturbegriff auch eine historische Tiefenschärfe mit sich,
der Alltagspraxis immer auch in einem zeitlichen Kontext versteht.
Die Forschungsstrecke, die sich nun anbietet, erweitert die bisherigen Ansätze auf zweifache
Art und Weise. Erstens, die bereits von Vielen geforderte stärkere und präzisere
Ausdifferenzierung von
Phänotypen sollte
auch
bedeuten,
ein
Methodenrepertoire
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aufzubauen, das soziale, kulturelle, räumliche und zeitliche Spezifik mitdenken und
beobachten kann (Ordovas & Corella 2004). Zweitens, und brisanter, kann es meines
Erachtens nicht mehr darum gehen, ätiologische Modelle und Interventionen auf
Populationen auszurichten, die lediglich über bestimmte Biomarker charakterisiert werden.
Denn die zunehmende Ausdifferenzierung unseres Wissens über biologische Prozesse trägt
nicht zu Erklärungsmodellen bei, die von kulturellem bias gereinigt wären, sondern, im
Gegenteil, produziert immer mehr Verweise auf die Notwendigkeit einer komplexen
Integration kulturell dominierter Phänomene (Griesemer 2002; Jablonka & Lamb 2006). Das
wachsende
molekulare
Verständnis
biologischer
Prozesse
produziert
also
keinen
hermetischen biologischen Körper, der durch die Haut als last line of defense begrenzt und
geschützt ist, wie es Arthur Bentley bereits in den 1940ern problematisierte (Bentley 1941).
Stattdessen stellt bspw. ein Methylierungsmuster eine Verbindung her zwischen einer
spezifischen molekularen Konstellation in einem Patienten und der Nahrungsversorgung
seiner Urgroßmutter, d.h. einem Phänomen, das mittels biologischer Methoden allein gar
nicht erfassbar ist (Kaati et al 2002). Hier geht es also nicht um eine Verschiebung innerhalb
eines Modells linearer Kausalität, sondern um die komplexen Interdependenzen und
Rückkopplungseffekte zwischen verschiedenen Faktoren, die mittels biologischer oder sozial
und kulturwissenschaftlicher Instrumentarien sichtbar und verständlich gemacht werden
können (Fox Keller 2006). Wissenschaftstheoretisch begeben wir uns hier von einem
statischen Denken in Strukturen und Funktionen in Richtung prozessorientierter Ansätze
(Whitehead 1968).
Diese Pfade in die black box zwischen Genom und Phänotyp werden nicht nur in der
Nutrigenomik hauptsächlich mit der epidemiologischen Machete geschlagen. Epidemiologie
hat allerdings eine Tendenz entweder upstream auf soziale und materielle Bedingungen oder
downstream auf biologische Konstitutionen zu fokussieren (Charlesworth et al 2004). Die
intersubjektive Ebene, das Erlebte, der Alltag spielen eine geringe Rolle. Dabei spielen sich
hier die elementaren und alltäglichen Vermittlungsprozesse ab, die Biologisches mit
Kulturellem verweben. Konzepte wie Scham, Demütigung oder Mitgefühl sind wichtige
Parameter, die bisher als biokulturelle Phänomene nur völlig unzureichend untersucht
wurden.
Dieses Zitat stammt von einem 30-jährigen Arbeitslosen, der sich im Wartesaal des
Sozialamts einen Platz sucht (Charlesworth et al 2004):
„ Da waren halt so Stühle gewesen neben dieser eingebildeten Tussi, dünn, attraktiv, middle
class. Und ich so: Neben der sollst Du nicht sitzen. I hab’ mich plötzlich unförmig gefühlt,
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übergewichtig. Ich habe angefangen zu schwitzen, angefangen zu stümpern, rumzurutschen.
Ich dachte nur: ‚Nein, da setz’ ich mich nich hin. Das wär für die ja krass peinlich.’ [...] Das is
dann wie ne Barriere, die sagt ‚Hör mal zu low life, wehe Du kommst mir zu Nahe. [...] Wir
bezahlen dafür, dass wir nicht neben Dreck wie Dir sitzen müssen.’ [...] Natürlich sind die
fuck all, die haben nix, aber da is so ne Atmosphäre um die rum. Die haben das richtige, den
Körper, die Klamotten un alles, das Selbstvertrauen, die Attitude, verstehst Du? Wir haben‘s
nicht, wir können es nicht haben. Wir kommen rein wie ein geprügelter Hund, schlurfen mit
den Füssen, wenn wir rein kommen. Du fühlst Dich, als wollste Dich verstecken.“
(Übersetzung des Autors)
Ich denke, dieses Zitat zeigt sehr gut eine komplexere Art der Verzahnung von Biologie und
Kultur, die im bisherigen Methodenspektrum nicht sichtbar wird. Die permanent empfundene
Demütigung der sozialen Differenz, oder medizinischer formuliert, der chronische soziale
Stress, produziert akute und wohl auch langfristige physiologische Effekte (McEwen 2000).
Und hier zeigt sich auch eine politisch-moralische und wenn Sie wollen ethische
Komponente der derzeitigen Forschung. Sie macht bestimmte Dinge sichtbar aber sie
verdeckt andere.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Das Konzept der lokalen Biologie oder, spezifischer
formuliert, des lokalen oder situierten Bios wendet sich gegen Forschungsansätze, die eine
markante Trennung zwischen Biologie und Kultur reproduzieren. Es unterstreicht die
komplexe Interdependenz von Kultur und Biologie und betont die Plastizität des Bios. Die
Nutrigenomik, bzw. die Ernährungswissenschaften im weitesten Sinne, bieten meines
Erachtens einen guten Ansatzpunkt neue Wege auszuprobieren, da zum einen auf der
naturwissenschaftlich-medizinischen Seite durch Epigenetik, (epi)genetische Epidemiologie
und Systembiologie die Ansätze für ein komplexeres und dynamischeres Verständnis von
Biologie Fuß fassen. Zum anderen, aus sozialanthropologischer Sicht, stellt Ernährung eine
hochgradig kulturell geprägte Praxis dar, die immer auch soziale Differenzen, materielle
Bedingtheiten und Körperkonzepte reflektiert.
Abseits des disziplinären Forschungsalltags wird es also darum gehen, innovative
Forschungsdesigns auszutüfteln und durchzusetzen, die diese Anfänge einander annähern
können und die mit den entstehenden Interdependenzen umgehen können. Dabei stehen
zum einen biographische und intergenerationale Aspekte im Vordergrund (Langzeitstudien).
Zum anderen gilt es in Querschnittstudien entweder kulturelle Differenz in experimentelle
Designs zu integrieren oder experimentelle set-ups in die jeweiligen Alltage zu tragen. Auch
eine kulturelle Erweiterung einer epigenetischen Epidemiologie stellt keine leichte
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Herausforderung dar. Letztlich muss sowohl der Suche nach systematischen Mustern als
auch den Spezifika lokaler Kontexte Aufmerksamkeit zu teil werden.
Vielen Dank.
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