Vorwort zur zweiten Auflage - Konrad Lorenz Forschungsstelle

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Vorwort zur zweiten Auflage
Tierisches und menschliches Verhalten ist nicht nur für eine Hand voll
Experten im Elfenbeinturm der Wissenscha�en interessant. Die Zukun�
der Menschheit wird auch davon abhängen, uns klar selbst zu erkennen.
Kriege, Überbevölkerung, Kriminalität und Terrorismus, die Irrwege des
Umgangs mit der Energie, die Auswüchse von Globalisierung und neoliberalen Wirtscha�ens, das alles sind Symptome und Folgen individuellen
Handelns und gesellscha�licher Zustände. Passend zu einer zunehmenden
Veroberflächlichung von Politik und Gesellscha� übt man sich generell in
Symptombekämpfung, ansta� die Ursachen zu suchen und an den gesellscha�lichen Wurzeln zu sanieren. Dass man weltweit zu glauben scheint, mit
Polizei, Militär und Gefängnissen mehr Sicherheit schaffen zu können, ist
schlagender Beleg für diese These. Die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie
sind sicherlich kein Wundermi�el, können aber doch stimmige Diagnosen
und Lösungsansätze bieten.
Denn nicht guter Wille allein wird die Biosphäre erhalten, eine richtige
Diagnose ist unverzichtbar. Wenn ein Arzt sich wider besseres Wissen weigerte, die unbequeme Diagnose Krebs zu stellen, dann hielten wir das für
verbrecherisch. Idealisten, Ideologen und Moralapostel aber verkünden
weiter ihre spekulativen Utopien vom Menschen, trotz ihres ausnahmslosen
Scheiterns in der Vergangenheit.
So war in der Erstausgabe (Piper 1995) zu lesen. Nun sind acht Jahre in
den Naturwissenscha�en eine kleine Ewigkeit. Natürlich wandelten sich
Fach und Fokus des Autors. Daher erscheint diese zweite Auflage in aktualisierter Überarbeitung. Nicht dass sich an der im Eingang gestellten
Diagnose etwas geändert hä�e, nicht dass sich die Menschen oder »die Welt«
grundlegend geändert hä�en, nicht dass die »8 Todsünden der zivilisierten
Menschheit« (Lorenz 1973a) unaktuell geworden wären. Die Zugänge der
Verhaltensbiologen veränderten sich seit 1973 grundlegend. Und auch seit
1995 blieb die Wissenscha� nicht stehen.
Seit Darwin (1859), also seit mehr als 140 Jahren, ist nicht daran zu rü�eln,
dass wir Menschen zoologisch zu den Primaten (den »Herrentieren«, also
den Affen und Menschenaffen) gehören. Aber erst im Verlauf der letzten
30 Jahre entwickelten die Verhaltenswissenscha�en tragfähige Erklärungen
für tierisches und menschliches Verhalten aus den Wurzeln der Evolution.
Grundlage dafür ist der für alle Individuen geltende Zwang zum ökonomischen Umgang mit Ressourcen und den Artgenossen, welcher dem biologischen Imperativ entspringt, die eigene Fortpflanzung zu optimieren, jenseits
allen Wollens und zunächst unabhängig von Ethik und Moral. Das »Prinzip
Eigennutz« löste den ohnehin philosophisches Ideal gebliebenen Altruismus,
also das Streben nach Gemeinwohl als konzeptuelle Grundlage für individuelles Verhalten und als Urgrund für den evolutionären Wandel ab (Wilson
1975, Wickler und Seibt 1977).
Die Verhaltensforschung war und ist eine eminent politische Wissenscha� auf
schwieriger Gratwanderung zwischen politisch-gesellscha�licher Relevanz,
8
Vorwort zur zweiten Auflage
Anbiederung und Missbrauch. So wurde schon Darwin vor den Karren des
Sozialdarwinismus gespannt, Pawlow und Skinner mussten zur Stütze eines
konformen Menschenbildes in so gegensätzlichen Gesellscha�ssystemen,
wie dem Sovietstaat und der US-Demokratie herhalten. Schließlich geriet die
Biologie zu einer der wichtigsten Stützen der NS-Ideologie, für Rassenwahn
und »Ausmerzung unwerten Lebens«. Und noch 60 Jahre danach sind
Scha�en geblieben.
Verständlich die besonders in Mi�eleuropa immer noch verbreitete Skepsis
bezüglich der Verbindung zwischen Erkenntnissen der Biologie, menschlichem Verhalten und Gesellscha�. Genetiker und Molekularbiologen, vor allem aber Verhaltenswissenscha�ler sollte diese Vergangenheit immer an ihre
Verantwortung erinnern. Trotzdem: Das evolutionäre Gewordensein auch
des Menschen wurde nicht von Ideologen erfunden. Menschen entstanden
wie alle Tiere im Verlauf der Evolution. Wir haben uns damit auseinanderzusetzen, denn es wäre absurd, in einer Zeit, in der die Menschheit in rascher
Abfolge in immer he�igere Krisen schli�ert, aus ideologischen Gründen die
evolutionäre Basis für das Verhalten des Menschen auszublenden.
Natürlich hat es sich auch unter den Verhaltensbiologen herumgesprochen,
dass Menschen und Tiere trotzdem nicht bloß die egoistischen Sklaven
ihrer Gene sein müssen. Dafür sorgt das menschliche Gehirn und unsere
Neigung, friedlich in Kleingruppen zu leben (Chance 1988). Aber auch
Gehirn, soziales Verhalten, Verstand, Bewusstsein, ja selbst unsere Neigung
zur Selbstreflektion durch Philosophie und Religion fielen nicht einfach vom
Himmel, sondern entstanden als überlebensfördernde kognitive Werkzeuge
im Verlauf der Evolution (Lorenz 1978, Riedl 1981a). Gerade auf Basis dieses
Verstandes definieren wir Menschen uns so gerne als Kulturwesen und sind
blind, ja abweisend-ignorant gegenüber unserer biologischen Herkun�. Aber
Natur und Kultur sind kein Gegensatzpaar; es geht heute vielmehr darum,
die biologische Basis der Kulturentstehung zu verstehen.
Im Buch möchte ich mich mit jener Wissenscha� auseinandersetzen, die es
als Einzige versucht, tierisches und menschliches Verhalten im evolutionären
Zusammenhang zu erklären. Da sich Soziologie und Psychologie nur auf den
Menschen konzentrieren, fehlt ihnen schlicht die vergleichende Perspektive
und daher die evolutionäre (Außen-)Sicht für menschliches Verhalten. Diese
Feststellung gilt trotz Erstarken der »evolutionären Psychologie«, vor allem
in den USA. Ein zunehmender Verlust der vergleichenden Perspektive könnten die allzu sehr mensch-zentrierten Ansätze wieder in jene alte Sackgassen
führen, gegen die besonders Konrad Lorenz in den 1930er Jahren antrat.
Konrad Lorenz und die Folgen
Die Erfahrungen als Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle für Ethologie
in Grünau im oberösterreichischen Almtal ließen meinen Beschluss reifen,
dieses Buch zu schreiben. Aus vielen Kontakten mit allen Schichten der
Bevölkerung und mit vielen Vertretern der Medien wurde klar, wie groß
das öffentliche Interesse an der Verhaltensforschung und an Konrad Lorenz
Konrad Lorenz und die Folgen
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noch immer ist. Diesem Interesse steht aber ein meist nur recht bescheidener
Informationsstand gegenüber. Dies nährt selbst bei Interessierten manch
seltsames Missverständnis. So sieht man Verhaltensforscher noch immer
gerne als Leute, welche verträumt an romantischen Orten das muntere
Treiben von putzigen Tierchen belauschen, darob einerseits verzückt über die
Harmonie in der Natur sinnieren und andererseits düster über die menschliche Bosheit und Unvernun� lamentieren. Am Zustandekommen dieses
Gartenlaubenklischees waren Konrad Lorenz und jene, die sein spätes Image
prägten, nicht ganz unbeteiligt. Wo Information nicht klar genug durchdringt,
schaffen Medien und Meinungsmacher gemeinsam mit ihren Konsumenten
sta� dessen eben ihre eigenen Klischees. Ungeachtet der Fakten bestimmt das
Image, also die eigentlich relevante Wahrheit in den Köpfen der Menschen,
unser Handeln. Diese kann man entweder erfüllen, oder man kann versuchen,
gegenzusteuern; auch ein Ziel dieses Buches.
Das Bild der Verhaltensforschung ist in der deutschsprachigen Öffentlichkeit
noch immer durch Konrad Lorenz geprägt. Er war schon zu Lebzeiten ein
Mythos und einzigartig populär. Daher ist für uns, die wir versuchen, durchaus in seiner Tradition moderne Verhaltenswissenscha�en zu betreiben, diese
Aufgabe einfach und schwierig zugleich. Einfach, weil der Name Lorenz immer noch einen guten »Trade mark« darstellt, trotz aller Mäkelei an seiner
Theorie (Zippelius 1992a,b) und trotz seiner immer wieder thematisierten
»braunen Flecken« (Föger und Taschwer 2002; Kotrschal u. a. 2001b); schwierig, weil dem Erbe von Konrad Lorenz wohl niemand neutral gegenübersteht.
Das kann zu solch absurden Auswüchsen führen, dass Verhaltensbiologen
allesamt eine (politisch) »rechte« Gesinnung angehängt wird.
Wir sind nicht die Gralshüter der Lorenzschen Tradition. Aber wir stehen zum
vergleichenden, naturwissenscha�lich-evolutionären Ansatz der Erforschung
von Verhalten. Nicht alle Erkenntnisse überdauerten, die ethologische Theorie
entwickelte sich dynamisch weiter und erlebte mit dem Paradigmenwechsel
von der Gruppen- zur Individualselektion sogar eine regelrechte Revolution.
Lebendige Wissenscha� bleibt eben nicht stehen. Nüchtern betrachtet, war
Konrad Lorenz weder der »Vater der Vergleichenden Verhaltensforschung«,
noch stellte er die Ethologie rechtzeitig auf ein tragfähiges evolutionäres
Fundament. Dies überließ er grollend den Öko-Ethologen und Soziobiologen.
Trotzdem, das Gesamtgebäude blieb intakt und steht heute stärker denn je.
Manche der »klassischen« Konzepte der Ethologie gewinnen gerade in der
modernen Verhaltensbiologie wieder an Bedeutung. Lorenz ist zwar nicht
Haup�hema dieses Buches, wird aber wiederholt Ausgangspunkt und
Eckpfeiler für Ausflüge in die merkwürdig mäandrierenden Muster wissenscha�licher Moden sein, aber auch für die Diskussion, wie »objektiv« von
konkreten Menschen betriebene Wissenscha� denn eigentlich sein kann.
Noch immer löst Lorenz Kontroversen aus. Auch ein Zeichen dafür, dass er
Wichtiges zu sagen ha�e.
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Vorwort zur zweiten Auflage
Entwicklungsskizze
Es sollen in diesem Buch verschiedene Geschichten erzählt werden: Von der
Tierpsychologie, und deren Weg in die Ethologie, von der Weiterentwicklung
in die Soziobiologie und Öko-Ethologie und von deren gegenwärtigen,
manchmal recht seltsam anmutenden Verzweigungen bis in die Niederungen
menschlicher Spermakonkurrenz. Wissenscha� wird an konkreten Orten und
in den Köpfen von Menschen aus Fleisch und Blut gemacht. In ihrem Streben
nach Perfektion sind alle Wissenscha�ler fehlbar und müssen Kompromisse
eingehen. Es war Karl Popper, der in Gegenposition zu den Positivisten darauf
hinwies, dass Naturwissenscha� fehlbar sein muss. Unsere Ergebnisse sind nie
sterile Perfektion, unumstößliche Wahrheit; sie entstehen im Spannungsfeld
zwischen menschlicher Wahrnehmung und Kommunikation und disziplinierender Methodik. Auch darum soll dieses Buch auch von Menschen, Tieren
und deren Zusammenwirken an unserer Grünauer Forschungsstation handeln. Solche Beispiele sollen es erleichtern, den Wandel in der internationalen
Verhaltensforschung nachzuvollziehen.
Die naturwissenscha�liche Forschung boomt und die »weißen Flecken« in
unserer Kenntnis von den Vorgängen in der Natur werden kleiner. Aber ist
deswegen alles ausgeforscht? Keineswegs! Verblüffend, wie scheinbar geringfügige Paradigmenwechsel eine volle, neue Drehung der Wissenscha�sspirale
verursachen, so etwa der Wechsel von der noch von Konrad Lorenz und Niko
Tinbergen vertretenen Gruppenselektion zur Individualselektion von William.
B. Hamilton, Richard Dawkins und Edward O. Wilson. Dieser Paradigmenwechsel führte zu einer völlig neuen, o� verblüffenden Sicht bereits bekannter Dinge und zu einem beinahe beängstigendem Erklärungspotential
der evolutionären Verhaltensbiologie. Es wäre aber gefährlich, in sa�er
Zufriedenheit anzunehmen, dass wir nun die Welt erklärt hä�en. Im ständigen Spiralprozess zwischen Theoriebildung und deren Überprüfung durch
Daten sind neue Annäherungen an die Wirklichkeit zu erwarten, die wir jetzt
noch nicht vorhersehen können.
Zweifellos, mit zunehmender Einsicht in die komplexen biologischen Systeme werden die Erklärungen der Welt nicht gerade einfacher. Damit müssen wir leben. Ist Musterbildung im Meer chaotischer
Information nicht eine Grundeigenscha� lebender Systeme? Die Essenz
der evolutionären Mechanismen liegt im Informationstransfer. In unserer
Informationsgesellscha� scheint Kulturinformation hart mit der genetischen
um diesen Transfer zu konkurrieren. Die Verhaltensmechanismen, die in der
Weitergabe beider Arten von Information zum Einsatz kommen, sind nahezu
identisch. Auch deswegen werde ich argumentieren, dass die besonders
von den Geisteswissenscha�en gepflegten Gegensätze zwischen Natur und
Kultur, zwischen Tier und Mensch völlig obsolet sind (vgl. Eibl-Eibesfeldt
1995).
Gleichzeitig aber sind dem naturwissenscha�lichen Erkenntnisdrang methodische und prinzipielle Grenzen gesetzt. Naturwissenscha� definiert
sich auch im Anrennen gegen solche Grenzen. Neue Durchbrüche ergeben
Noch einige Vorbemerkungen
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sich o� durch neue methodische Zugänge. Oder manchmal einfach durch
Kombination und Neubewertung bereits vorhandenen Wissens. Kümmerte
sich die Ethologie zunächst um das »arteigene Verhalten«, so liegt der
Fokus immer konsequenter auf dem Individuum, was sich in neuesten
Untersuchungen zur evolutionären Funktion von Persönlichkeit niederschlägt. Die Herausforderungen der Zukun� werden in den Kapiteln zu
den Brennpunkten der gegenwärtigen Verhaltenswissenscha�en diskutiert.
Bereitwillig gebe ich zu, dass Sichtweise und Themenauswahl subjektiv sind.
Möglicherweise blieben gerade die wichtigsten Zukun�sthemen unberücksichtigt. Wer weiß, was sind die Maßstäbe?
Noch einige Vorbemerkungen
Vor dem Blick in die Zukun� sollen die begrifflichen Schubladen der
Verhaltensforschung mit Inhalt gefüllt werden. Vieles hieran ist nicht neu,
nicht auf meinem Mist gewachsen. Aber so wie Recycling-Flaschen gleiche
Inhalte wieder und wieder transportieren, ist es auch mit geistigen Inhalten:
Sie müssen immer wieder neu verpackt und unter die Leute gebracht
werden, damit die Klu� zwischen Wissenscha� und der Öffentlichkeit
(also jenen Leuten, die unsere Forschung bezahlen) nicht zu groß wird.
Redundanz ist ein Grunderfordernis jedweder Öffentlichkeitsarbeit. Und
die hat die Verhaltensbiologie dringend nötig, will sie etwas erreichen. Aus
diesem Grund ist das Buch weniger für eine Handvoll ohnehin eingeweihter
Kollegen gedacht; vielmehr wünsche ich mir ein breites Publikum interessierter Leser, von denen ich bereits viele als Besucher unserer Station kennenlernen dur�e. Daher ist der Stil dieses Buches nicht rein wissenscha�lich,
und Rhythmuswechsel zwischen erzählerischen und eher theoretischen
Teilen sind beabsichtigt. Im Interesse der Lesbarkeit wird einige Fach- und
Hintergrundinformation in Exkursen ausgeführt, die man lesen kann, aber
nicht unbedingt muss. Diese Exkurse sind durch unterschiedlichen Satz
kenntlich.
Fachjargon wurde weitgehend vermieden, bzw. in einem Glossar am Ende des
Tex�eils erklärt. Und manch scheinbare sprachliche Vermenschlichung tierischen Verhaltens dient der Umschreibung komplexerer Sachverhalte. Wenn
es etwa heißt, ein Tier könne zwischen alternativen Strategien »wählen«, oder
es »treffe Entscheidungen«, dann ist eine evolutionäre Voreinstellung, nicht
unbedingt eine kognitive Leistung bzw. rationales Abwägen gemeint. Und
wenn ich über »Tiere« schreibe, dann sind in der Regel auch die »Menschen«
gemeint; umgekehrt steht »Mensch« nicht für »Krone der Schöpfung«, sondern für eine der vielen Arten von Wirbeltieren. Anthropozentrismus, also
das Hervorheben der Einzigartigkeit des Menschen und allzu menschenzentrierte Forschung war immer schon erkenntnishemmend.
Eine letzte Vorbemerkung betri� die Bezeichnung für das Gesamtfach. Die
deutschen Begriffe »Verhaltensforschung« oder »Verhaltensbiologie« schließen alle Arbeitsrichtungen ein und eignen sich daher recht gut als Überbegriff.
Dasselbe tri� auf die anglo-amerikanische Bezeichnung »animal behaviour«
zu. Der Begriff »Ethologie« war lange Zeit der Lorenz-Tinbergenschen
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Vorwort zur zweiten Auflage
Richtung vorbehalten und wurde abgrenzend vor allem gegenüber dem
Behaviorismus, später auch gegenüber der Soziobiologie gebraucht. Heute
wird »Ethologie« vielfach für das Gesamtfach verwendet (Barlow 1989), so
auch in diesem Buch. Wo der Begriff im historischen Sinne, also abgrenzend
verwendet wird, ist dies erkennbar.
Dank
Dass dieses Buch entstehen konnte, ist vor allem auf den Fortbestand
der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle für Ethologie im Almtal zurückzuführen. Darum ist es eine angenehme Pflicht, allen jenen zu danken, die
ihren Teil dazu beitrugen, dass diese kleine, aber einzigartige Einrichtung
samt ihrer freilebenden Graugansschar auch über den Tod von Konrad
Lorenz im Jahre 1989 nicht nur weiterbestehen, sondern sich über die
Jahre recht produktiv entwickeln konnte. Zu nennen sind der damalige
Landeshauptmann von Oberösterreich, Dr. Josef Ratzenböck, sowie sein
Nachfolger, Landeshauptmann Dr. Josef Pühringer, Dr. Erhard Busek, Ernst
August, Prinz von Hannover, die Vertreter der Herzog-von-CumberlandSti�ung und dem Cumberland Wildpark, anfangs Dipl. Ing. Karl Hüthmayr
und nun schon seit vielen Jahren Dipl. Ing. Harald Lindner und Mitarbeiter.
Dank an das Zoologische Institut der Universität Wien und dem Inhaber des
Lehrstuhles für Ethologie, o. Prof. Dr. John Di�ami für das Abstellen zweier
Mitarbeiter (K. Kotrschal und J. Hemetsberger) nach Grünau und für die gute
Zusammenarbeit. Projekte wurden von der Österreichischen Nationalbank
(OeNB) und dem Fonds zur Förderung der wissenscha�lichen Forschung
in Österreich (FWF) finanziert. Ein herzliches Dankeschön den Mitgliedern
des Trägervereins, die unsere Arbeit jährlich mit einem nicht unbeträchtlichen Obulus unterstützen, sowie der Gemeinde Grünau, für welche die
Forschungsstelle auch als touristischer Imageträger fungiert. Großen Dank
vor allem auch unserem Sponsor, der Firma Mayr Schulmöbel.
Viele Studenten, die hier nicht namentlich genannt werden können, halfen
uns ganz entscheidend mit ihrem Enthusiasmus und ihrer Einsatzfreude.
Ihnen verdanken wir unsere Produktivität. Schließlich möchte ich meiner
Frau Rosemarie und meinen Kindern Katharina und Alexander für ihre
Geduld und für ihren Rückhalt danken.
Allen diesen Personen und Institutionen ist dieses Buch gewidmet.
13
Ziele und Fragen der modernen Verhaltensforschung:
Von den Mechanismen zur evolutionären Funktion
Warum Verhalten? Viele Fragen – einige Antworten
Warum träumen wir? Warum schlagen wir am Morgen die Augen auf?
Warum stehen wir nach dem Aufwachen auf oder bleiben liegen? Diese
Fragen sind nur vordergründig trivial. Wenn etwa ein Choleriker seinen
regelmäßigen Wutanfall bekommt, so erklären das die Psychologen und
Sozialwissenscha�ler wohl vor allem aus seiner aktuellen Reizsituation und
seinem gegenwärtigen und früheren (sozialen) Umfeld. Den Physiologen
werden die Geschlechts- und Stresshormonwerte sowie der Blutdruck interessieren, einen Verhaltensgenetiker wahrscheinlich die Verbreitung innerhalb
der Verwandtscha� und die Erblichkeit der mangelnden Impulskontrolle.
Die klassischen Ethologen gingen erst mal daran, die Form dieses Wutanfalls
genau zu beschreiben und seine Auslöser und Motivationsabhängigkeit bzw.
seine Abhängigkeit von physiologischen Faktoren zu untersuchen. Dann würden die Ethologen die Ausdrucksformen von Wut innerhalb unserer nächsten
Verwandten, der Menschenaffen, vergleichen, eine Stammesgeschichte des
Wutanfalls rekonstruieren und schließlich über den Anpassungswert dieses
Verhaltens spekulieren. Die Öko-Ethologen und Soziobiologen hingegen
suchten gleich nach Wegen, den Anpassungswert tatsächlich nachzuweisen, und stellten die Frage nach der Fitnessrelevanz (gemessen in Zahl von
Nachkommen) der Wutanfälle.
So theoretisch dieses Beispiel auch scheinen mag: Ähnliches erhob unlängst der
englische Primatologe R. Dunbar anhand von Wikingersagas. Er fand, dass in
der Mordgesellscha� der Wikinger in Familien mit einem »Berserker« (triebha�-gewal�ätiger Kämpfer) signifikant mehr junge Männer überlebten, weil
Nicht-Berserkerfamilien aufgrund der vom Berserker ausgehenden Gefahr
eher bereit waren, ansta� Blutrache zu üben, eine Kompensationszahlung von
Seiten der Berserkerfamilie zu akzeptieren. Daher überlebten mehr männliche
Mitglieder einer Berserkerfamilie. Aber das nur nebenbei.
Alle diese Fragen und Ansätze beleuchten jede für sich nur einen Teilbereich. Will man Verhalten möglichst vollständig erklären, dann braucht
man alle Ebenen. Im Lichte dieser schlichten Erkenntnis scheint der alte
Kompetenzstreit um die Exklusivlizenz zur Erklärung menschlichen Verhaltens zwischen Ethologen und Psychologen lächerlich, es sei denn, man
sieht den Menschen als abgehoben von seinen tierischen Verwandten, ohne
Wurzeln in der Evolution.
Warum Vögel singen: Physiologie
Ein klassisches Beispiel zur Verdeutlichung des Prinzips der unterschiedlichen Erklärungsebenen (Tinbergen 1963, Exkurs 1,2) stellt der Vogelgesang
dar (Krebs und Davies 1993). Es ist bekannt, dass die Männchen vieler
Vogelarten vor allem im Frühling singen. Sie tun dies, weil ihr Blutspiegel an
männlichem Geschlechtshormon im Frühjahr ansteigt. Das passiert, weil es
14
Ziele und Fragen der modernen Verhaltensforschung
eine innere Jahresuhr gibt, welche dem Organismus mi�eilt, wann Frühling
ist. Diese innere Uhr wird über den Lichtrhythmus, die Temperatur und andere sogenannte »Zeitgeber« feinjustiert. Dies wäre die physiologische oder
funktionelle, in der englischen Fachliteratur auch »proximat« (naheliegend,
unmi�elbar) genannte Erklärungsebene.
Warum Vögel singen: Selektionswert, Fitness
Mehr noch als die Frage, was Verhalten unmi�elbar verursacht, interessiert
uns meist dessen Funktion. Es ist zwar schön und auch notwendig zu wissen,
warum ein Vogel singt, noch mehr wird im allgemeinen aber das Wozu interessieren, was der Vogel also damit bezweckt. Angenommen, er singt nicht
nur zu seinem eigenen Vergnügen (obwohl es sicherlich eine berechtigte
Arbeitshypothese darstellt, den Lustgewinn durch die Ausführung einer
Triebhandlung als eigentliche Motivation, also als physiologische Ursache
vieler Verhaltensäußerungen anzunehmen, und dies nicht nur im sexuellen
Bereich), dann gibt es sicher einen Empfänger, bei dem der Gesang etwas
bewirken soll. Das können Reviernachbarn oder andere, zufällig vorbeikommende Artgenossen sein, denen mitgeteilt wird, dass dieses Territorium
besetzt ist. Vogelgesang zählt zu den komplexen Signalen und dient der
Artunterscheidung, der Balz und der Revierabgrenzung.
Der Gesang des Vogelmännchens ist zunächst nicht an artfremde Nachbarn
gerichtet. Der Revierinhaber signalisiert vielmehr in Richtung anderer
Individuen seiner eigenen Art. Hier wird bereits ein geänderter Schwerpunkt
der modernen im Vergleich zur klassischen Ethologie erkennbar: Das
Individuum und seine Strategien, sein Verhaltensspielraum als Reaktion auf
bestimmte Umweltbedingungen spielen die Hauptrolle in der Entstehung
von Verhalten. Der noch von Konrad Lorenz gepflegte Mythos vom
»Arterhaltungswert« von Verhalten konnte nicht bestätigt werden. Die
»Arterhaltung« gilt als Nebeneffekt egoistischer Strategien. Denn überleben
die Individuen, dann überlebt natürlich auch die Art, es sei denn, artinterne
Konkurrenz- und Wahlmechanismen fördern ausgesprochen überlebenshinderliche Strukturen, wie etwa das Geweih des ausgestorbenen Riesenhirsches,
und treiben damit die Art in eine evolutionäre Sackgasse. In der Frage ob
Gesang der Arterkennung oder innerartlichen Funktionen dient, geht es
nicht um semantische Spitzfindigkeiten. Tatsächlich kommt es darauf an,
wie Evolution funktioniert, wo die Selektion ansetzt. Überwiegend ist dies
das Individuum, nicht die Gruppe, denn Tiere verhalten sich grundsätzlich
nicht »zum Besten der Art«, sondern egoistisch. Dieses Thema wird uns im
Folgenden noch intensiver beschä�igen.
Natürlich soll auch den Weibchen durch Gesang signalisiert werden, dass es
hier ein gutes Revier mit tollem Besitzer gibt, dem es ein Anliegen wäre, ihre
Eier zu befruchten und die gemeinsamen Jungen großzuziehen. Und da gibt
es noch die Fressfeinde, denen gegenüber ein singender Vogel seinen Standort
schwer geheimhalten kann. Jedes Verhalten hat also Nutzen und Kosten, und
die Gesamtbilanz wird in der Währung der wieder reproduktionsfähigen
Nachkommen gemessen; sie tragen die Linie weiter, bringen die Gene in die
Warum Verhalten? Viele Fragen – einige Antworten
15
nächste Generation. Auf dieser evolutionären Erklärungsebene zeigt also
Verhalten seinen eigentlichen Überlebenswert, ist Mi�el zum Zweck des
Fortbestands der eigenen Gene in kün�igen Generationen. Verhalten ist daher sowohl Eintri�skarte ins Spiel der Evolution, bestimmt den Spieleinsatz
und natürlich auch Strategie und Taktik. In der englischen Fachliteratur wird
die evolutionäre Erklärungsebene auch »ultimat« (letztlich) genannt.
Exkurs 1: Die verschiedenen Ebenen der Untersuchung von
Verhalten. Tinbergens vier Fragen (1963)
Trotz fachlicher und sogar persönlicher Kontroversen in der Vergangenheit, besonders zwischen +klassischen* Ethologen und Öko-Ethologen/Soziobiologen,
stehen die unterschiedlichen Richtungen der Verhaltensbiologie nicht im
Widerspruch. Sie stellen vielmehr einander ergänzende, kohärente Ebenen der
Erklärung von Verhalten dar.
Frage
nach
Untersuchungsebene
Forschungsrichtung
Hauptvertreter
1. WOZU?
dem Überlebenswert
Evolution/
Anpassung
Öko-Ethologie, Soziobiologie
(evolutionäre Psychologie)
Hamilton, Lack,
Wilson, etc.
2. WIE?
den Mustern und
Mechanismen von
Verhalten
Form, Anatomie,
Physiologie,
Psychologie
»klassische« Ethologie,
Verhaltensphysiologe,
Neuroethologie
Loeb, Pawlow, v.
Frisch, Lorenz,
Beach, v. Holst,
Huber, etc.
3. WOHER?
der individuellen
Entwicklung von
Verhalten
Ontogenie
»klassische« Ethologie,
Verhaltensphysiologe,
Entwicklungspsychologie,
div. Lerntheorien
Heinroth,
Whitman, Pawlow,
Lorenz, Piaget,
Thorndike,
Skinner, etc.
4. WOHER?
dem
evolutionären
Wandel
evolutionäre
Geschichte
Vergleichende Verhaltensforschung, div. taxonomische
Methoden, einschl. vergleichende Genetik
Whitman,
Heinroth, Lorenz,
etc.
Warum Vögel singen: Individualentwicklung
Vögel singen nur dann, wenn die Reifung der für ihren Gesang zuständigen Gehirnzentren ungestört verlief. Manche groben Gesangsstrukturen
entspringen vorwiegend genetischen Dispositionen (Marler 1984), das sind
die erblichen Grundkomponenten des arteigenen Gesangs. Die Feinheiten
oder gar lokale Dialekte werden aber gewöhnlich erlernt und nach Art von
Kulturtraditionen weitergegeben. Wobei natürlich auch die Bereitscha� für
diese Lernleistung erblich ist. O� lange bevor der Jungvogel selber singt,
hört er einen Tutor, meist seinen Vater. Ein Muster dieses Gesanges prägt
sich seinem Gehirn ein, mit dem er später, während der Übungsphase, seinen eigenen Gesang vergleicht und vervollkommnet (Immelmann 1969, Ten
Cate 1989). Generell entstehen alle Merkmale lebender Organismen während
Ziele und Fragen der modernen Verhaltensforschung
16
der Individualentwicklung im ständigen Austausch zwischen Genen und
Umwelteinflüssen.
Exkurs 2: Fragen und Forschungsansätze in der Ethologie
Die Geschichte der biologisch-naturwissenschaftlichen Erforschung von Verhalten lässt sich bis Aristoteles zurückverfolgen. Systematisch und kontinuierlich
entwickelt wurden diese Wissenschaften erst, als Darwin eine akzeptable evolutionstheoretische Basis schuf. Einige Richtungen der frühen verhaltensbiologischen Forschung sind im Text behandelt. In der folgenden Tabelle sind einige
der bedeutendsten zusammengestellt.
Tabelle 1: Die Hauptrichtungen der Erforschung tierischen Verhaltens. Die
Richtungen überlappen natürlich zeitlich, manche, wie Öko-Ethologie und
Soziobiologie, auch im Konzept. Die Zeitrahmen sind großzügig gewählt; auch
manche der Exponenten können mehreren Richtungen zugeordnet werden.
Zeit
Disziplin
Hauptvertreter
vorwiegende
Ansätze
Fragestellungen
1850–1940
Tierpsychologie
Heinroth, Morgan,
etc.
deskriptiv
Intelligenz, einsichtiges oder
instinktives Verhalten
1880 bis
heute
Behaviourismus
Skinner
experimentell
Lernmechanismen
1900 bis
heute
Ethologie
Whitman, Heinroth, deskriptiv, indukLorenz, Tinbergen, tiv-experimentell,
v. Frisch, etc.
Modelle
1900 bis
heute
Verhaltensv. Holst, v. Frisch,
physiologie,
Ewert, Beach, etc.
Neuroethologie,
Verhaltens-endokrinologie, etc.
1950 bis
heute
Humanethologie
Eibl Eibesfeldt, etc. wie Ethologie
1950 bis
heute
Evolutionäre
Erkenntnistheorie
Lorenz, Riedl, etc.
deskriptiv-deduktiv adaptive Funktion und Evolution
von Gehirn und kognitiven
Leistungen
1950 bis
heute
Öko-Ethologie
Tinbergen, Lack,
Hamilton, Wickler,
etz.
experimentell
deduktiv
Ökonomie und Anpassungswert
von Verhalten
1975 bis
heute
Soziobiologie
Wilson, Dawkins,
etc.
deskriptiv und
experimentell
evolutionäre Funktion von
Sozialleben
1980 bis
heute
ethologische
Kognitionsforschung
Griffin, Kamil,
Kacelnik, Clayton,
etc.
deskriptiv und
experimentell
Funktionen und Anpassungswert
kognitiver Leistungen,
Modularität, (soziales) Lernen,
Traditionsbildung
experimentell
Form und v.a. proximate
Funktion, Verhalten als stammesgeschichtliches Merkmal
physiologische Basis von
Verhalten
menschliches, vorw. nichtverbales Verhalten, Universalien,
evolutionäre Strategien
Warum Verhalten? Viele Fragen – einige Antworten
17
Tabelle 2: Die folgende Liste entspricht etwa jener Auswahl an einführender
Literatur, wie ich sie Studenten im Rahmen der Einführungsvorlesung in die
Verhaltensbiologie empfehle. Sie soll hier Hilfe für die Auswahl weiterführender
Lektüre sein.
Sachgebiet
Verfasser
Sprache
Bemerkungen
gesamte Ethologie
Alcock (1996)
deutsch
Schwerpunkt auf evolutionären Aspekten
Franck (2000)
deutsch
knappe Gesamtdarstellung mit
klassischem Schwerpunkt und Beispielen aus
der Forschung
Manning und StampDawkins (1992)
englisch
knappe, aber umfassende Einführung
McFarland (1989)
deutsch
Schwerpunkt auf klassisch-mechanistischen
Aspekten
Eibl Eibesfeldt (1999)
deutsch
das wohl detaillierteste Lehrbuch der vergleichenden Verhaltensforschung
Immelmann (1983)
deutsch
etwas konservativer Einführungstext
Lamprecht (1972)
deutsch
sehr knappe, verständliche Einführung
Lorenz (1978)
deutsch
Lorenzscher Klassiker, Vorkenntnisse günstig
Tinbergen (1979)
deutsch
Klassiker, Vorkenntnisse erforderlich
Verhaltensbiologie des
Kindes
Hassenstein (1987)
deutsch
klassische Ethologie der Verhaltensentwicklung des Kindes
Verhaltensphysiologie
Bischof (1989)
deutsch
Neuroethologie
Verhaltensökologie,
Soziobiologie
Krebs und Davies
(1997)
englisch,
deutsch
präzise und verständlich, der beste
Einführungstext
Krebs und Davies
(1993)
englisch
aktuelle zentrale Probleme im Überblick
Voland (2000)
deutsch
knappe, intensive Einführung in die
Soziobiologie einschließlich Mensch
Griffin (1985)
deutsch
gut lesbare, teils eigenwillige
Beispielsammlung
Verhaltensbiologie Mensch Eibl Eibesfeldt (1995)
deutsch
umfassendendstes Lehrbuch der klassischen
Humanethologie
Verhalten Mensch
Grammer (1993)
deutsch
Humanethologie, Biologie der Liebe
Lorenz (1992)
deutsch
das »russische Manuskript«, geschrieben
1944-1948
Übungsbeispiele
Kotrschal (2000)
deutsch
Sammlung von 26 einfachen Beispielen
für ethologische Übungen für Schüler und
Studenten
Wörterbuch
Verhaltensbiologie
Immelmann (1982)
deutsch
Wörterbuch der v.a. klassischen Ethologie
Methoden, Planung
Lamprecht (1999)
deutsch
Praktischer Leitfaden, Planung bis
Publikation der Ergebnisse
Methoden
Martin und Bateson
(1993)
englisch
knappe, verständliche Einführung in die
quantitativen Methoden der Ethologie
»klassische« Ethologie,
vergleichende
Verhaltensforschung
Biologie der Kognition
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Ziele und Fragen der modernen Verhaltensforschung
Warum Vögel singen: evolutionäre Geschichte
Schließlich produziert der Vogel seinen arteigenen Gesang, weil Generationen
vor ihm bereits so sangen und dieser Gesang sich sehr wahrscheinlich von einfachen Lauten zur heutigen, komplexen Folge von Tonstrukturen entwickelte.
Die evolutionäre Geschichte hängt zwar mit der oben erwähnten funktionellen
Erklärungsebene von Selektionswert und Fitness zusammen, ist aber nicht
mit ihr identisch. Die Frage nach der Funktion von Verhalten zielt gleichzeitig
in Richtung Motor und Mechanismus der Evolution. Hingegen beschä�igt
sich die Erklärungsebene der evolutionären Geschichte mit deren Ergebnis.
Alle Erklärungsebenen sind nötig
Ein Forschungsansatz auf mehreren Ebenen und, damit eng verschränkt, das
Abwägen von Alternativhypothesen ist in der modernen Ethologie nicht nur
erlaubt, sondern gefordert. Es gibt Beispiele aus der Geschichte der Verhaltenswissenscha�en für die schlimmen Folgen der Vernachlässigung von Erklärungsebenen. Das tri� paradoxerweise für die Ebene des Überlebenswertes in der
klassischen Ethologie zu. Dieser wurde gemeinhin als gegeben angesehen weil
es eben als sonnenklar galt, dass Verhalten zum »Besten der Art« zu sein hä�e.
Die Soziobiologie und Öko-Ethologie hingegen vernachlässigten o� genug die
physiologischen Grundlagen und Mechanismen von Verhalten im Streben nach
der Erforschung des Überlebenswertes; Verhaltensweisen wurden o� als »black
boxes« behandelt, einfach als gegeben angesehen. Mit einem bestimmten Reiz
konfrontiert, produzieren Individuen eben bestimmte Verhaltensreaktionen;
nicht gefragt war, das Wie, also etwa was sich dabei im Körper abspielt. Erst in
jüngster Zeit setzt sich vermehrt die Einsicht durch, dass ein zu reduktionistischer
bzw. dogmatischer Ansatz zum Stillstand im Erkenntnisgewinn und sogar zu falschen Erklärungen von Ursachen führen kann.
So beschä�igten sich evolutionäre Erklärungsmodelle, etwa zur optimalen
Nahrungswahl, ausschließlich mit den Auswirkungen von Verhalten. Diese
Modelle können aber große Fragezeichen hinterlassen. Denn wie schaffen es Tiere eigentlich, Nahrungsdichten abzuschätzen, Partner zu finden,
Fressfeinden zu entgehen? Erst seit etwas mehr als einem Jahrzehnt beschwörten eine Anzahl von Autoren (z. B. Barlow 1989, 1991, Stamp-Dawkins
1989, Stamps 1991) eine »neue Synthese« zwischen der Öko-Ethologie und
Soziobiologie und ihrer 30 Jahre geringgeschätzten Mu�er, der klassischen
Ethologie.
Individuen müssen nicht nur Entscheidungen im ökologischen Rahmen
treffen, z. B., ob es geraten ist, ein gewissens Fressfeindrisiko einzugehen
und auf Nahrungssuche zu gehen, oder eher sicher zu Hause, und folglich
hungrig zu bleiben. Wenig überraschend fand man darüber hinaus auch, dass
sich Individuen nicht immer optimal (z. B. bezüglich ihrer Energieeffizienz)
verhalten können, weil sie nicht immer über alle nötigen Informationen
verfügen. Woher sollte etwa eine Amsel wissen, dass sie sich auf einem
Wiesenstück mit maximaler Regenwurmdichte befindet, wenn sie nicht gelegentlich mit angrenzenden, weniger dichten Flächen vergleicht? Zudem
gibt es Beschränkungen der Wahrnehmung und die Gehirne von Tieren und
Warum Verhalten? Viele Fragen – einige Antworten
19
Menschen entwickelten sich im Überlebenszusammenhang als »ratiomorphe
Apparate«, wie es R. Riedl einst ausdrückte. Rationales Denken ist uns und den
anderen Tieren nicht in die Wiege gelegt, es muss mühsam gelernt werden.
So war zunächst auch die Überraschung von Wirtscha�swissenscha�lern
groß, dass sich die Akteure am Markt nicht nur nach den Vorhersagen der
Spieltheorie richteten, also keine perfekt rationalen Spieler waren. Menschliche
Regungen verhindern o� die Gewinnmaximierung. Seltsam, denn wo sonst
sollte absolut rational gehandelt werden, wenn nicht in der Wirtscha�? Schuld
daran sind die psychisch-evolutionären Voreinstellungen, die Menschen im
Spannungsfeld von Kooperation und Konkurrenz dazu anhalten, in bestimmter Weise miteinander umzugehen. Das Zusammenleben unter Bekannten
und Freunden ist letztlich auf Nachhaltigkeit und Gegenseitigkeit angelegt,
nicht auf schnelles »Abräumen« um jeden Preis. Darum bereitet es uns nicht
nur Freude, zu nehmen, sondern auch zu geben, darum versuchen wir, unser
Ansehen, unser »Gesicht« und das unserer Partner zu bewahren. Und wenn
Partner diese Spielregeln verletzen, sind wir empört, beleidigt, versuchen
zu bestrafen, können entweder vergeben oder brechen den Kontakt ab. All
dies ist nicht rational im Sinne der Spieltheorie. Wir sind eben nicht darauf
angelegt, in jedem »Spiel«, (also in jeder Interaktion bei der es um geben und
nehmen geht) unter Optimierung des Verhältnisses zwischen Einsatz und
Gewinn zu triumphieren. Emotionen und Nachhaltigkeit bestimmen unser
Handeln, unser Zusammenspiel, von Kleinkindern in der Sandkiste genauso,
wie von Konzernbossen bei der Fusionierung von Großfirmen. Rational (also
rücksichtslos) »ausgenommen« werden (wenn überhaupt) Lau�undscha�en
oder einmalige Partner. Belege für diese Hypothese liefern etwa manche
Gastronomiebetriebe im Strom des Massentourismus. Die Nobelpreise für
Wirtscha� 2002 wurden übrigens für diese Einsichten vergeben.
Auch die neuen Richtungen der Soziobiologie und Öko-Ethologie sind
ihrer pubertären Phase längst entwachsen, die Synthese mit der Arbeit
der Gründergeneration ist eben im Entstehen. Und das nicht etwa aus
Sentimentalität oder Pietät den Altvorderen gegenüber, sondern allein aus
der Einsicht, dass neue Durchbrüche, die wissenscha�lichen Revolutionen
(Kuhn 1981), nur durch Integration, nie durch Ausgrenzung entstehen.
Wissenscha� insgesamt ist wie die Evolution ein Stufen- und Spiralprozess,
mit gelegentlichen revolutionären Sprüngen, wie etwa durch C. Darwin, der
die Basis für eine allgemein gültige Evolutionstheorie schuf, oder durch die
Ideen von W. Hamilton, der mit seinem Konzept der »inklusiven Fitness«
viele verbliebene Grundprobleme von Ethologie und Evolutionstheorie mit
einem Schlag löste.
Für den Fortgang der Wissenscha� sind die Bewegung einer Amöbe oder das
Wachstum eines Baumes brauchbare Bilder. Viele Spezialisten treiben ihre
Richtungen in relativer Isolation voneinander voran. Langsam tasten sich
feine Pseudopodien der Amöbe voran, bis ihr Plasma an einer bestimmten
Stelle wieder massiv austri� und so wie eine wissenscha�liche Revolution
die Richtung der Bewegung bestimmt. Die Triebspitzen des Baumes der
Wissenscha� wachsen rasch, meist durch die genialen Leistungen weniger
20
Ziele und Fragen der modernen Verhaltensforschung
Wissenscha�ler, viel stärker aus als andere und bilden so neue tragfähige
Äste für weiteres Spezialistentum. Dass Spezialisten (also jene, die von immer
weniger immer mehr wissen) und Generalisten (jene, die von immer mehr
immer weniger wissen; so es letztere in den modernen Naturwissenscha�en
überhaupt noch gibt) dazu neigen, einander gering zu achten, ist unvernün�ig und entspringt einer Froschperspektive, welche uns die Leistungen
und die Bedeutung der jeweils anderen Seite verkennen lässt. Könnte es
daran liegen, dass die Spezialisten immer weniger vom Gesamtfach wissen
und sich daher auf Querkontakte nicht mehr einlassen wollen, während die
Generalisten mangelndes Detailwissen gelegentlich mit Arroganz we�zumachen trachten?
Genau daran setzt eine sehr gewichtige Kritik der modernen Naturwissenscha�en an: Die Erkenntnisfelder wachsen nebeneinander, nicht miteinander,
Integration wird immer schwieriger und unüblicher. Was Wunder, dass
Pessimisten den modernen Wissenscha�sbetrieb mit einiger Berechtigung als
einen neuen »Turmbau zu Babel« sehen.
21
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit:
Wissenschaft und Ideologie
Wer bestimmt, was geforscht wird? Tradition
Wir werden o� gefragt, ob denn an den Graugänsen überhaupt noch was
zu erforschen sei. Erschöp�e die Ethologie sich nur in der Beschreibung
und Katalogisierung von Verhaltensweisen, dann wäre diese Frage berechtigt; Graugänse und andere Entenvögel hä�en tatsächlich ausgedient, denn
dieser Bereich wurde in der Vergangenheit weitgehend abgedeckt (Fischer
1965, Heinroth 1910, Lorenz 1941, 1988). Trotzdem: Immer noch bildet das
aufwändige Katalogisieren und Vergleichen von Verhaltensweisen die
unentbehrliche Basis für die Bildung von Hypothesen (Lorenz 1992). Ein
solches »Ethogramm« besteht aus Beschreibungen von Form und Ablauf
von Bewegungen, ist eine Inventarliste aller bei einer Art möglichen Verhaltensweisen. Es bildet daher eine wichtige Grundlage für weiterführende
Fragen, nicht mehr und nicht weniger. Dies gilt aber generell für jedwede
Muster, seien es nun Ethogramme oder räumlich-zeitliche Verbreitungen,
Populationsdichten oder Ernährungsweisen. Dies alles ist Vorfeldarbeit, eine
Art »monitoring«, die Basis für die eigentliche naturwissenscha�liche Arbeit,
welche sich mit Ursachenzusammenhängen befasst. Dies gilt natürlich auch
für unsere eigene, sich ständig weiterentwickelnde Arbeit an der Konrad
Lorenz Forschungsstelle. Ob Graugänse, Raben, Waldrappe oder Wachteln:
Es beschä�igen uns die Zusammenhänge zwischen Umwelt, Hormonen
und Sozialverhalten, bis hin zu scheinbar so abgehobenen Fragen, wie
Eltern über Hormone und »Erziehung« die Persönlichkeitsentwicklung ihrer
Nachkommen beeinflussen. Es wäre heute natürlich weder sinnvoll, noch
möglich, Verhaltensforschung im Stile der 50er Jahre zu betreiben.
Wer bestimmt, was geforscht wird? Kollegen, Geld und Moden
Wissenscha�liche Arbeit ist von der Interaktion mit Fachkollegen abhängig. Gute Kommunikation ist daher unverzichtbar, etwa im Zuge von
Diskussionen bei diversen Kongressen. Ein anderes tragendes Element der
modernen Wissenscha� ist das Peer-Review-System. Dies bedeutet, dass
Kollegen (peers) anonym Projektanträge und Publikationsentwürfe begutachten und mit ihrem Urteil entscheidend mitbestimmen, ob ein Projekt
finanziert, ein Manuskript von einer guten Fachzeitschri� angenommen
wird, oder nicht. Nur so gelingt es, das hohe Niveau in der internationalen Forschung zu halten. Fehlerha�e Ansätze, mangelha�e Daten, falsche
Analysen und überzogene Interpretationen werden so ausgeschieden. Gute
Journale gehen dabei äußerst strikt vor, es werden tatsächlich 50–90 % der
eingereichten Manuskripte abgelehnt.
Der Markt für wissenscha�liche Ergebnisse ist genauso durch Angebot und
Nachfrage bestimmt wie der Markt für Fahrräder oder Kaugummi. Ja sogar
in einem noch höherem Maß, denn Analoga zu staatlichen Regulierungen
oder Kartellabsprachen existieren nicht. Je höher die Ablehnungsrate eines
22
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Publikationsorgans, desto höher seine Qualität. Dies bestimmt das Verhältnis
von Marktwert eines Ergebnisses zum Marktwert eines Journals. Je mehr
Autoren also in einer bestimmten Fachzeitschri� publizieren wollen, desto
höher können Ansprüche und Ablehnungsraten dieses Journals gehalten
werden, desto höher wird aber auch die Aufmerksamkeit sein, die ein
dort publizierter Artikel unter Fachkollegen genießt. Als »wissenscha�liche Publikation« wird daher zu Recht ausschließlich anerkannt, was den
Peer-Review-Prozess erfolgreich durchlief. Denn nur so kann ein hoher
Standard gewahrt werden. Auch seriöse Wissenscha�sjournalisten sollten
nur Ergebnisse akzeptieren, die bei einer seriösen Fachzeitschri� bereits zum
Druck angenommen wurden. Denn dies verhindert, dass sich der (hoffentlich
immer vorhandene) begeisterte Optimismus von Forschern in Irreführung
der Öffentlichkeit mi�els einer journalistischen Seifenblase verwandelt.
Umgekehrt tun seriöse Wissenscha�ler gut daran, mit den Medien partnerscha�lich zusammenzuarbeiten, aber ihre Ergebnisse erst dann anzubieten,
wenn diese von einem guten Journal zum Druck angenommen wurden. Dies
minimiert nicht nur das Risiko, sich zu blamieren; Spitzenjournale, wie etwa
»Science« oder »Nature« verweigern die Annahme selbst der spannendsten
Ergebnisse, wenn diese zuerst die Runde durch den Boulevard machten. Zu
Recht, denn ein Präjudizieren des Peer-Review-Systems, der höchsten Instanz
für Qualität in der internationalen Wissenscha�, bleibt inakzeptabel.
Selbst in engen Fachgebieten wird heute mehr publiziert, als man zu lesen
imstande ist. Vielfach überfliegt man selbst als aktiver Wissenscha�ler nur
noch Zusammenfassungen. Es ist nicht mehr möglich, selber die Qualität
jedes relevanten Artikels zu prüfen. Deswegen muss man sich auch auf die
kritische Vorauswahl guter Journale (und ihrer Gutachter) verlassen können.
Natürlich kann man auch in der »Afiesler Monatsschri�« oder in den gewöhnlich kaum qualitätskontrollierten Annalen irgend eines Museums wichtige Erkenntnisse verstecken. Damit erspart man sich zwar die zuweilen mühsame Auseinandersetzung mit den Gutachtern, solche Ergebnisse werden
allerdings weder wahrgenommen, noch fördern sie die eigene Karriere. Den
Weg des geringsten Widerstands beim Publizieren zu gehen, ist beinahe so
unwirksam, wie Ergebnisse gleich im Schreibtisch liegenzulassen. Wie in der
Wirtscha�, kommt es auch in der Forschung nicht nur darauf an, ein Produkt
herzustellen, man muss es auch verkaufen. Denn nicht publizierte Ergebnisse
existieren nicht; es ist, als hä�e die zugrundeliegende Forschungsarbeit nie
sta�gefunden. So einfach ist das.
Dieses System aus Forschen und recht reglemetiertem Publizieren sichert
zwar einerseits die Qualitätsstandards, kann andererseits die Ausbreitung
neuer Ideen behindern, kann aber Substantielles sicherlich nicht verhindern:
Alfred Wegeners Kontinentaldri�theorie oder Lynn Margoulis‘ erweiterte
Symbiontentheorie zur Erklärung der Entstehung vielzelliger Lebewesen mit
echtem Zellkern, sowie Amoz Zahavis Handicap-Theorie (1984, 1997) zur
Erklärung der Evolution von Signalen sind nur einige Beispiele von vielen für
erfolgreiche Ideen, die zunächst von der Kollegenscha� recht skeptisch aufgenommen wurden. Aus heutiger Sicht ist es geradezu beschämend, dass all
Wer bestimmt, was geforscht wird? Kollegen, Geld und Moden
23
diese revolutionären Ideen zunächst vom wissenscha�lichen Establishment
abgetan, ihre Urheber verlacht wurden.
Man mag bedauern, dass der Spießrutenlauf durch die kollegiale Kontrolle
den naturwissenscha�lichen Prozess verlangsamt und so manch unkultiviertes Genie scheitern lässt. Aber das ist durchaus gewollt, wirkt es doch einer
allzu raschen Veränderung von Konzepten entgegen und führt zu einer gewissen Pufferkapazität gegen Unreflektiertes. Das Peer-Review-System macht
Wissenscha� im positiven Sinne konservativ. Scharlatane sind mi�elfristig
chancenlos. Klar, dass dieses System seinen Preis hat. So setzen sich dadurch
neue Ideen ebenso schwer durch, wie sich manche Irrtümer beharrlich halten.
Lehrbuchautoren sind weiter ungeliebte, aber leider notwendige Komponente
im System. Denn sie sorgen für zusätzliche Trägheit. Und sie verfügen auch
dadurch über eine kaum zu überschätzende Macht und Verantwortung, dass
sie die Filter zwischen dem aktuellen Wissenscha�sgeschehen und einer
neuen Generation heranwachsender Wissenscha�ler sind. Tatsächlich finden sich einerseits zahlreiche Beispiele von jahrzehntelang mitgeschleppten
Irrtümern, wie gerade am Beispiel der »klassischen« Ethologie zu zeigen ist
(Exkurs 3,4). Andererseits kann nur verwundern, wie lange es o� dauert bis
»gesichertes Wissen« endlich Eingang in ein Lehrbuch findet. Schließlich
ist es tabuisierte Tatsache, dass auch wissenscha�liche Seilscha�en und
Chauvinismen bestimmen, welche Ergebnisse und Forscher durch Aufnahme
in ein verbreitetes Lehrbuch quasi in den »Adelsstand« erhoben werden und
welche nicht.
Exkurs 3: Schlüsselkonzepte der modernen Verhaltensbiologie
Auf folgenden Schlüsselkonzepten beruhen die heute bedeutendsten Disziplinen
der Verhaltensbiologie, die »klassische« Ethologie, Öko-Ethologie und Soziobiologie.
1. »Klassische« Ethologie (»klassisch« bezieht sich auf die u.a. von Konrad
Lorenz, Erich v. Holst und Karl v. Frisch vertretene mechanistisch-physiologische Richtung im Gegensatz etwa zur evolutionär-adaptiv orientierten ÖkoEthologie): Basierend auf Otis Whitman, Wallace Craig und Oskar Heinroth
schufen Konrad Lorenz (1978) und Niko Tinbergen (1953a) ein Theoriensystem,
das auch heute noch in seinen Grundzügen gültig ist (vgl. Exkurs 4).
Wie Vergleiche herkunftsgleicher (homologer) Verhaltensweisen zwischen Arten
zeigen, wandeln sich Verhaltensmerkmale im Verlauf der Evolution genauso, wie
körperliche Merkmale. Verhalten muss daher genetisch erblich sein, es »mendelt« (nach den Erbgesetzen von G. Mendel) meist, bildet sich also bei Hybriden
in der Fl-Generation intermediär aus. Die genetische Basis für Verhalten ist
auch durch die Zwillingsforschung beim Menschen zu belegen (Bouchard u. a.
1990). Daher sind die in der Stammesgeschichtsforschung für morphologische
Merkmale verwendeten Homologiekriterien anwendbar (Lorenz 1978), und
Verhaltensweisen sind genauso brauchbar zum Herstellen verwandtschaftlicher Beziehung, wie körperliche Merkmale. Der Schwerpunkt der klassischen
Ethologie liegt daher auf dem artspezifischen Verhalten (Instinkthandlungen,
24
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Erbkoordinationen, »angeborene« Verhaltensweisen), also klar ansprechbaren, relativ stereotypen motorischen Mustern, deren innerartliche Variabilität
geringer ist als die zwischenartliche. Daher kann man auch Verhaltenskataloge
(Ethogramme) für einzelne Arten erstellen.
Es ist die Modellvorstellung der klassischen Ethologie, dass alles Verhalten
motivationsgesteuert mit Appetenz(Such)handlungen beginnt (Suche
nach bestimmten Reizkonstellationen) und nach Kontakt mit spezifischen
Auslösern (den »Schlüsselreizen« der frühen Ethologie) zum Ablauf der
Endhandlung, einer »Erbkoordination«, führt (Abbildung 1). Einer der konzeptuellen Hauptunterschiede zwischen Erbkoordination und Reflex wäre, dass
Erbkoordinationen auch »spontan«, gemäß dem Lorenzschen psychohydraulischen Triebmodell (Kotrschal u. a. 2001b, Lorenz 1978), nach Aufstau der spezifischen Handlungsbereitschaft (»aktionsspezifische Energie«) ablaufen können.
Erbkoordinationen weisen eine stereotype und eine Taxis- (Zielorientierungs)ko
mponente auf, welche die stereotype Triebbewegung so steuert, dass sie auch
ihre Funktion erfüllen kann (z. B. dass im Zuge der instinktiven Eirollbewegung
der Graugans das Ei im Nest und nicht irgendwo daneben landet: Lorenz und
Tinbergen 1939). Auslösemechanismen (AM) können »angeboren« (AAM, z. B.
löst ein felliges Tier in Hundegröße Flucht auch bei naiven Graugänsen aus) oder
»erworben« (EAM, z. B. die fluchtauslösende Wirkung eines sonst vertrauten
Menschen auf Graugänse, nachdem dieser vor aller Augen ein Individuum zur
Beringung fing und dadurch zum Gegenstand von »Mobbing-Lauten« wurde) sein
oder in der »Instinkt-Dressur-Verschränkung« entstehen (EAAM). Durch Lernen
kommt es zu einer flexibleren Kombinierbarkeit der Bausteine des Verhaltens,
der Erbkoordinationen. Organismen mit »geschlossenen« Programmen zeichnen sich durch eine weitgehende Vorangepaßtheit des Verhaltens aus (durch
Lernen kaum modifizierbar), solche mit »offenen« Programmen sind weitgehend
lernfähig. Die Evolution stattete also Erstere vor allem mit auf Artniveau angepasster Reaktionsfähigkeit an die (meist stabile) Umwelt aus, die Zweiteren mit
entsprechenden Lernfähigkeiten, um Individuen an eine meist variable Umwelt
anzupassen. Die Lern- und Reizunabhängigkeit (d. h. ihre »angeborene« Natur)
und die Möglichkeit der Spontaneität der Erbkoordinationen wurde bereits in den
1950er Jahren durch Erich von Holst über den physiologischen Nachweis des
Vorhandenseins von Mustergeneratoren im Zentralen Nervensystem bestätigt.
Die Lorenz-Tinbergensche Verhaltenstheorie wurde teils mit Recht als zu
starr kritisiert (Exkurs 4), musste in Details revidiert werden (Zippelius 1992a,
Lamprecht 1993b) und gilt als historischer Entwicklungsschritt. Sie bildet aber
nach wie vor eine geeignete theoretische Basis und vor allem ein sehr anschauliches Denkmodell für die mechanistische Verhaltensbiologie. Nicht zuletzt war
und ist sie eine fruchtbare Basis für die Verhaltensphysiologie. In der modernen
Ethologie werden die eher kybernetischen klassischen Funktionsmodelle zunehmend durch direkte physiologische (z. B. über Funktionen von Nervensystemen
und Hormonen) ersetzt. »Zwischenvariable«, etwa der Begriff der »Motivation«,
werden dadurch entbehrlich. Die Konzentration auf das »artspezifische
Verhalten« mag dazu beigetragen haben, auf der Ebene der evolutionären
Funktion (Exkurs 1) den »Arterhaltungswert« von Verhalten zu betonen. Dieser
gruppenselektionistische Ansatz ist nach gegenwärtigem Wissensstand für die
Wer bestimmt, was geforscht wird? Kollegen, Geld und Moden
25
Abbildung 1: Schematische Darstellung der wichtigsten Elemente zweier
historischer Theorien für die Erklärung von Verhalten, der Pawlowschen
Reflexke�entheorie (oben) und der daraus hervorgegangenen LorenzTinbergenschen Theorie der +klassischen* Ethologie (unten). Organismus-interne Prozesse sind innerhalb der gepunkteten Zone dargestellt. Die Pfeile
zeigen das Gefüge von Kausalzusammenhängen und Kopplungen, wobei ein
+ eine fördernde, ein – eine hemmende Wirkung bedeutet.
evolutionäre Wirkung von Verhalten weitgehend unbedeutend und wurde durch
das Prinzip der Individualselektion (siehe unten) ersetzt.
2. Ökoethologie: Ihr Schwerpunkt liegt nicht auf den Verhaltensmechanismen,
wie in der »klassischen« Ethologie (siehe oben), sondern auf deren
Überlebenswert und der Auswirkung auf die Fitness (Krebs und Davies 1993),
also auf evolutionärer Ebene. Die Einheit der Selektion ist das Individuum, das
Maß für Fitness und evolutionären Erfolg ist die Zahl der wieder reproduktiv aktiven Nachkommen. Da für alle Individuen Zeit und Energie limitiert sind, steht nur
ein beschränktes Ausmaß an Ressourcen für die Produktion von Nachkommen
zur Verfügung. In der Ressourcennutzung überlegene Individuen haben ein
höheres Reproduktionspotential und daher eine potentiell höhere Fitness.
Verhaltensstrategien variieren individuell entsprechend den herrschenden
ökologischen Randbedingungen in ständiger Interaktion zwischen Genen und
Umwelt. Es sind daher immer manche Individuen einer Population effizienter
als andere.
Wie Wirtschaftsbetriebe am freien Markt sind daher Tiere gezwungen, ökonomisch optimale Entscheidungen zu treffen (Exkurs 7). Da Tiere aber meist nicht
im Besitz aller relevanten Informationen sind und zudem nicht immer frei, opti-
26
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
mal zu handeln (eingeschränkt etwa durch Konkurrenten, Räuber usw.), liegen
sie in ihren Entscheidungen meist nahe, selten aber exakt am theoretischen
Optimum. Individuelle Unterschiede in der Effizienz der Ressourcennutzung
führen zu unterschiedlichen Möglichkeiten, in Nachkommen zu investieren,
und damit zu Fitnessunterschieden zwischen Individuen. Die evolutionär
relevante Konkurrenz um Ressourcen findet daher primär innerartlich, nicht
aber zwischen den Arten statt. Mechanismen sind etwa Ausbeutungs- und
Interaktionskonkurrenz, der Ausschluss anderer, Territorialität.
3. Soziobiologie: Ihr Fokus liegt auf den evolutionären Auswirkungen von
Verhalten. Die Konzepte der Ökoethologie (siehe oben) gelten auch für die
Soziobiologie, erweitert um einen starken Bezug zu sozialen Interaktionen.
Das basale Konzept der Soziobiologie ist die »inklusive Fitness« (Gesamtfitness
oder Gesamteignung; Hamilton 1964, Wilson 1975). Dabei geht es darum, möglichst viele eigene Allelvarianten der Gene in die nächste Generation zu bringen.
Es ist unerheblich, ob dies in Form eigener Nachkommen geschieht, oder in
Form der Förderung des reproduktiven Erfolgs (naher) Verwandter, welche
proportional zu ihrem Verwandtschaftsgrad natürlich ebenfalls Träger der eigenen Allele sind. Das Maß für Fitness und evolutionären Erfolg ist die Frequenz
der eigenen Gene in den wieder reproduktiv aktiven Nachkommen, in die man
investierte, unabhängig davon, ob dies eigene Nachkommen oder jene von
Verwandten waren. Daher bestimmt der Verwandtschaftsgrad maßgeblich die
Kooperationsbereitschaft. Wie John Maynard-Smith es einmal sinngemäß ausdrückte, würde er sich entweder für zwei eigene Kinder oder zwei Geschwister
aufopfern (Anteil der eigenen Gene 50 %), oder aber für vier Halbgeschwister,
vier Enkel (25 %) oder acht Nichten/Neffen.
William Hamilton begründete zunächst mit dem Konzept der Gesamtfitness,
warum die meisten Weibchen sozialer Insektenstaaten als Arbeiterinnen
besser daran tun, für ihren Verwandtenklan zu sorgen, als selber zu reproduzieren. Denn sie sind aufgrund von Besonderheiten im Vermehrungsmodus
mit ihren Schwestern stärker verwandt, als sie es zu eigenen Nachkommen
wären. Es kann daher unter Umständen einen stärkeren Gewinn für die eigene
Gesamtfitness bedeuten, die erfolgreiche Reproduktion Verwandter (als Helfer,
meist der Eltern) zu unterstützen, als geringen eigenen Reproduktionschancen
hinterherzulaufen. So verwundert nicht, dass (selber bereits postreproduktive)
Großeltern an Ausstattung und Erziehung ihrer Enkel mitwirken und damit
über die Förderung von deren zukünftigem Reproduktionspotential letztlich
ihre eigene Gesamtfitness erhöhen. Dies gilt übrigens auch noch heute, nach
dem offensichtlichen Zerfall der Großfamilie, denn in keine anderen Verwandten
wird mehr investiert als in Enkel. Der Fokus der Soziobiologie liegt daher auf
dem adaptiven Wert von Verhalten, insbesondere auf Kooperation (zwischen
Verwandten oder auf Gegenseitigkeit) und Konflikten, auf der Fitnessrelevanz
sozialer Interaktionen, etwa der Partnerwahl.
Soziobiologie und Ökoethologie stellen auf der Basis der Individualselektion ein
recht geschlossenes Theoriegebäude zur evolutionären Erklärung tierischen und
menschlichen Verhaltens dar. Das grundlegende Konzept der gesamten modernen Biologie ist die Individualselektion; der in der älteren Literatur häufig auftauchende Terminus des »Arterhaltungswerts« von Merkmalen, einschließlich des
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
27
Verhaltens, ist dagegen missverständlich. Tiere wie Menschen konkurrieren innerhalb von Populationen miteinander, möglichst viele ihrer eigenen Gene in die
nächste Generation zu bringen (»inklusive Fitness«, siehe oben), und sind nur
nach Maßgabe des Verwandtschaftsgrades oder auf Basis von Gegenseitigkeit
»altruistisch« (selbstlose Hilfe an andere bis hin zur eigenen Aufopferung).
Genereller »arterhaltender« Altruismus ist evolutionär nicht stabil (Fisher 1930).
Daher sind Tiere wie Menschen im Grunde nicht »am Überleben der Art« interessiert, sondern an kurzfristigen fitnessfördernden Vorteilen. Das »Überleben
der Art« ist daher Folge, nicht aber (evolutionäre) Ursache für Verhalten. Dass
das Prinzip Eigennutz (einschließlich Nepotismus) das Überleben der Art dermaßen gut gewährleisten kann, dass sich diese schließlich selbst gefährdet,
zeigt auch die weltweite menschliche Bevölkerungsexplosion. Diese Konzepte
der modernen Verhaltensbiologie gelten prinzipiell und uneingeschränkt auch
für den Menschen (Voland 2000).
Dank des »Peer-Review-Systems« findet Zweifelha�es kaum Eingang in die
entsprechenden Journale, ein Segen für die Wissenscha�ler, welche in der
Publikationsflut ohnehin beinahe ertrinken. Sie müssen darauf mit zunehmender Spezialisierung reagieren, ob sie es wollen oder nicht. Man kann diesen
Zustand als eines der Grunddilemmata der modernen Naturwissenscha�en
betrachten. Ganz parallel zu anderen Bereichen des Gesellscha�slebens, wie
in der Architektur oder der Mode, ist aber das Korse� des Stiles und der
Dogmen in der Wissenscha� um die Jahrtausendwende gelockert; Leuten, die
vorgeben, im Besitz irgendwelcher Wahrheiten zu sein, ist tief zu misstrauen.
Das Feld entwickelt sich parallel zur Gesellscha� in der wir leben, pluralistischer denn je zuvor. Dies gilt sogar für die Psychologie mit ihrer im Vergleich
zur Ethologie verwirrenden Vielfalt verschiedener Schulen und Theorien.
Man beginnt zu akzeptieren, dass es nicht eine einzig richtige Lehrmeinung
geben kann, sondern dass der Vielschichtigkeit von Verhalten und Psyche
eine »Vielfalt der Themen und Methoden« (Jü�emann 1992) entsprechen
muss. Das bedeutet jedoch nicht Beliebigkeit. Denn jedwede Aussagen zu
Natur und Leistungen des Menschen, sogar wenn sie Philosophie oder
Religion betreffen, sind nur dann haltbar, wenn sie mit den Erkenntnissen
zum evolutionären Fundament des Menschen (oder anderer Organismen)
logisch widerspruchsfrei in Übereinstimmung zu bringen sind.
Auf einem anderen Bla� steht, dass man von Seiten der Öffentlichkeit einfache, klare Antworten von der Wissenscha� erwartet, was nicht nur mit dem
wissenscha�lichen Prozess, sondern auch mit der angesprochenen Vielfalt der
Betrachtungsebenen unvereinbar ist (Exkurs 5). So war auch die Wissenscha�
vom tierischen Verhalten seit ihrem Entstehen einem beständigen Wandel
unterworfen, wovon das folgende Kapitel berichten soll.
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
Wie auch für gegenwärtige Kultur und politische Systeme der Fall, kann
man die moderne Ethologie nur aus ihrem geschichtlichen Werdegang
verstehen. Gerade am Beispiel der Verhaltensforschung ist der für jeden
28
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Wissenscha�szweig gültige lenkende Einfluss von bestimmenden Persönlichkeiten und der zwischen ihnen ausgetragenen, gelegentlich gar nicht so
fachlichen Fehden zu zeigen. Dies wird an den Beispielen der Verzahnung
von Forschung und Weltbild der jeweiligen Forscher besonders deutlich.
Detailliert würde solch ein geschichtlicher Überblick selbst im Falle einer jungen Wissenscha� wie der Ethologie Bände füllen. Die Aufgabe wird dadurch
erleichtert, dass es dazu Übersichtsartikel, etwa von Barlow (1989, 1991) und
Dewsbury (1989) oder Kotrschal u. a. (2001b) gibt. Diese Beiträge entstanden
aus dem Bedürfnis, die Position der Ethologie im letzten Jahrzehnt unseres
Jahrtausends neu zu bestimmen. Kurze Zusammenstellungen finden sich
auch bei Heinroth (1974) und Oeser (1992). Eine eingehende Darstellung
des Weges der Vergleichenden Verhaltensforschung, ihrer antithetischen
Entstehung aus Vitalismus und Mechanismus zeichnet Lorenz (1992). Eine
ausführliche deutschsprachige Bearbeitung dieses Themas aus neuerer
Sicht ist überfällig, kann aber auch hier nur ansatzweise geboten werden.
Immer noch fehlt in breiteren Kreisen, ja selbst in der nicht-ethologischen
Biologie-Kollegenscha� weitgehend das Verständnis für die gegenwärtigen
Zielsetzungen der Ethologie. Und wenn Lorenz im privaten Kreis das Wort
»Soziobiologe« gelegentlich als Schimpfwort gebrauchte, obwohl (oder gerade
weil) bereits Hinde (1966) eine Synthese zwischen der klassischen Ethologie
und der Soziobiologie anbahnte, dann ist dies erklärungsbedür�ig.
Im Prinzip lässt sich auch die Ethologie auf den »Adam aller Naturwissenscha�en«, auf Aristoteles zurückführen. Gräbt man nur ausdauernd genug, dann tauchen sowohl in Europa als auch in der Neuen Welt Leute in
den Tiefen der Geschichte auf, die sich schon lange vor uns für tierisches
Verhalten interessierten und darüber auch schrieben. Kurze, aber dichte
Zusammenstellungen der Urgeschichte der Verhaltensforschung finden sich
in der Einleitung zu G. Tembrocks »Grundlagen der Tierpsychologie« (1962)
oder im Beitrag von K. Heinroth zur »Geschichte der Verhaltensforschung«
im (trotz seines Alters empfehlenswerten) Sonderband von »Grzimeks
Tierleben« über Verhaltensforschung (1974).
Woher stammt das Interesse am Verhalten?
Tiere stehen nicht bewegungslos in der Landscha� rum und setzen wie
Pflanzen ihren Assimilationsfarbstoff dem Licht aus; sie sind heterotroph,
müssen also ihre Nahrung suchen oder erjagen und dabei verhindern, selber
gefressen zu werden. Sie müssen Partner finden, Nachkommen zeugen und
aufziehen, denn das ist schließlich die Essenz des evolutionären We�bewerbs
(Exkurs 11). Kurz, Tiere wie Menschen müssen sich verhalten. Darum beobachteten Menschen immer schon nicht nur das äußere Erscheinungsbild der sie
umgebenden Tiere, sondern die Gesamtheit ihrer Gestalt, einschließlich der
charakteristischen Bewegungen und Interaktionen mit ihrer Umwelt. Diese
Fähigkeit zur Tierbeobachtung machte in einer Zeit, da Menschen noch selber
jagten und von Beutegreifern bedroht waren, wahrscheinlich maßgebend den
Überlebenswert unseres sich rasch entwickelnden Erkenntnisapparates aus.
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
29
Wie weit man die Wurzeln der bewussten Tierbeobachtungen in die Tiefen der
Geschichte wachsen lässt und wo man die Grenze zu den unvermeidlichen
und überlebensnotwendigen Wahrnehmungen von Menschen in Kontakt mit
Tieren zieht, ist letztlich Geschmacks- und Definitionsfrage. Denn alle Tiere
erwarben im evolutionären Spannungsfeld zwischen fressen und gefressen
werden die Fähigkeit, die möglichen Absichten anderer schon im Ansatz zu
erkennen. Diese Fähigkeit nannte der wahrlich nicht zum Metaphysischen
neigende, große englische Verhaltensbiologe John Krebs einstens »mind
reading«. Er bezeichnete damit die entsprechende Reaktion auf zumindest
für unser Bewusstsein unterschwellige Reize. So etwa scheinen Gazellen zu
erkennen, ob ein vorbeischlendernder Löwe hungrig und auf Jagd, oder sa�
und ungefährlich ist. Gleichermaßen scheinen Graugänse in der Lage zu
sein zwischen einem nur vorbeifliegenden Steinadler und einem auf Jagd
zu unterscheiden. Dies zeichnet Tiere zwar als hervorragende Beobachter
aus, macht sie aber nicht schon zu Verhaltenswissenscha�lern. Denn ihre
Hypothesen bleiben implizit, während wissenscha�liche Hypothesen explizit
ausformuliert werden müssen, um als solche zu gelten.
So müssen wohl unsere steinzeitlichen Vorfahren im Rahmen ihrer Jagdund Tiergö�erkulturen durchaus genaue Tierbeobachtungen angestellt haben; über die Identifikation mit Tieren mag Gruppenbewusstsein, mögen
Religionen gewachsen sein (Hernegger 1976). Menschen, deren Überleben
von Jagd oder Tierhaltung abhängt, müssen das Verhalten ihrer Nutztiere
genau genug kennen, um es vorhersagen zu können und damit erfolgreich
zu sein. Es genügte ihnen also nicht, Tiere zu beobachten; sie mussten, um
zu Überleben, (bewusste oder unbewusste) Hypothesen über tierisches
Verhalten bilden. Die sichernde Beute verrät Aufmerksamkeit; ein nach oben
gereckter Hals der verharrenden Tiere muss also jedem Beutegreifer verraten, dass die prospektive Beute nun alarmiert ist. Daraus sollte die Einsicht
reifen, dass jede kleinste Bewegung von Seiten des Räubers die Flucht der
Beute zur Folge hä�e. Fehlinterpretationen durch den Raubfeind produzieren
Misserfolge, kosten eine Mahlzeit, der Beute kosten sie das Leben. Aber auch
dazu ist es nicht nötig, dass die zugrunde liegenden Hypothesen klar ausformuliert werden, Intuition reicht vollkommen.
Somit befanden sich unsere Vorfahren schon recht nahe am Kern der Naturwissenscha�en. Aber Beobachtungen werden erst dann zur Wissenscha�, wenn
sie Welt- und Gegenstandsbilder verändern oder bestätigen. Solche Bilder,
also Hypothesen und Theorien, werden im Bereich der Wissenscha� rational,
standardisiert und damit nachvollziehbar ausformuliert. Auf ihrer Basis kann
empirisch gearbeitet werden, sie stehen unter ständigem kritischen Beschuss
durch ganze Heere von Naturwissenscha�lern. Die zentralen Paradigmata
zu falsifizieren (Popper 1974) und damit die Theorie wieder ein Stückchen an
die Wirklichkeit (umgangssprachlich gemeint, eine Diskussion dieses Begriffs
würde hier viel zu weit führen) heranzubringen, stellt die Königsdisziplin der
Naturwissenscha� dar.
Diese charakteristische Verzahnung von Theorie und Empirie ist bislang
einer der wenigen, aus den Wurzeln der antiken griechischen Kultur entwi-
30
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
ckelten Wege zur rational-replizierbaren Erforschung der Gesetzmäßigkeiten
der Natur. An den wissenscha�stheoretischen Grundlagen, dem geistigen
Rüstzeug unseres Geschä�s änderte sich erstaunlicherweise seit Aristoteles
und D. Hume nur wenig. Die Tragfähigkeit des antiken Konzepts darf gerade
angesichts der Errungenscha�en der modernen Biologie bewundert werden.
Diese »gute alte« Wissenscha�stheorie brachte uns auf den Mond und erlaubte die Entschlüsselung des Genoms. Damit werden die Vorgänge in der
Natur zunächst beschreibbar, dann vorhersagbar und schließlich in ihren
Ursachenzusammenhängen erklärbar.
Verhalten zwischen Instinkt und Vernun�
Für eine Reihe griechischer Philosophen waren Beweggründe für Tierbeobachtungen die Suche nach der Seele, z. B. bei Thales von Milet, oder sogar die
Begründung der Abstammung des Menschen vom Tier (!), wie bei Anaximander.
Die Kontinuität der Antike mit der europäischen Geistesgeschichte der Neuzeit
erklärt, dass die wissenscha�lichen Tierbeobachtungen des Abendlandes aus
der idealistischen Tradition kommen. So ist auch die Dominanz der dominierenden Dualismen des Idealismus, des Leib-Seele-Problems, der Frage ob
Verhalten triebha� oder durch Einsicht gesteuert sei, oder die Abgrenzung
»des Tieres« vom Menschen in den Naturwissenscha�en der frühen Neuzeit
zu verstehen. Dies sind deduktionistische Chimären, bzw. Pseudofragen. Denn
lange vernachlässigten Wissenscha�ler Empirie und Induktion und klebten
sta� dessen, bedingt durch ihre philosophische Tradition, auf der Leimrute der
Spekulation (vgl. Lorenz 1992).
Bereits Aristoteles schilderte eine Fülle von Beobachtungen, zum Beispiel
über Balzverhalten und Vogelgesang oder über das Territorialverhalten von
Adlern. Er kam zum Schluss, dass tierisches Verhalten sowohl triebha�, als
auch zweckmäßig sei. Eine andere Gruppe von Denkern der Antike wird als
Atomisten bezeichnet. Sie führten Ursachen und Wirkungen in der Natur auf
die kleinsten Teile der Materie, die Atome, zurück. Sie folgerten, dass Tiere
und Menschen aus denselben Stoffen aufgebaut seien und deshalb auch
ihre Seelen gleich sein müssten. Dies führte unter anderem zu einer langen
Tradition der Vermenschlichung tierischen Verhaltens, welche bis in die
Tierpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts hineinwirkte und offenbar in der
»Hausverstandspsychologie« einiger kognitiver Ethologen seine Fortsetzung
findet (Griffin 1991). Der Grundstein einer von vielen Auseinandersetzungen
um die Antriebe des Verhaltens war gelegt, nämlich ob tierisches Verhalten
triebha�-zweckmäßig oder über einsichtiges Denken gesteuert sei. Mit Weltanschauung und gesellscha�lichem Hintergrund schwingt das Pendel bis
heute von einer Seite zur anderen. Die Verzahnung von Wissenscha� und
Ideologie war und bleibt ständiger Begleiter der Interpretation tierischen und
menschlichen Verhaltens.
Im Mi�elalter ha�en die Kleriker das Monopol auf Gelehrsamkeit; es wurde
fast ausschließlich deduziert. Aristoteles und andere Denker der Antike,
nicht aber die eigene Anschauung waren die Quellen naturwissenscha�licher
Erkenntnis, womit die empirischen Naturwissenscha�en im heutigen Sinne
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
31
nicht existierten. Trotz vieler Textstellen über tierisches Verhalten stammen daher keine wesentlichen Erkenntnisse aus dieser Zeit. Man zog es in scholastischer Manier vor, über Naturerscheinungen in den Schri�en der alten Griechen
nachzulesen, zu philosophieren und diskutieren, ansta� einfach nachzusehen.
Empirismus wurde als Mangel an Glauben und daher als Charakterschwäche
betrachtet. Der scholastische Diskurs darüber, ob Fliegen vier oder sechs Beine
hä�en, bedarf aus heutiger Sicht keines weiteren Kommentars.
In der Renaissance finden sich bereits Ansätze zu systematischen Beobachtungen und kongruenten Interpretationen von Verhaltensmechanismen, etwa
bei Julius Caesar Scaliger (um 1500). Die absolute Vorherrscha� des dogmatischen Denkens wurde brüchig; man dur�e auch wieder relativ öffentlich
darüber nachdenken, ob Tiere eine Seele hä�en, ob ihre Handlungen vernun�gesteuert oder automatenha� seien, wie es zum Beispiel René Descartes
oder Gomez Peireira taten. Man beobachtete vor allem wieder. Glisson schrieb
1623 in bemerkenswert genauer Art über die Beziehung zwischen Reiz und
Reaktion (Bewegung). Einen beinahe schon Lorenzschen Instinktbegriff
findet man bei Dilly (1691), den man heute wohl als Neuroethologen oder
Verhaltensphysiologen bezeichnen würde.
Relativ dicht werden Tierbeobachtungen in der Literatur der Au�lärung. Es
geht wieder vor allem um das Problem der Seele und der Abgrenzung des
Menschen vom Tier. Nebenbei bemerkt, ist der Ausdruck »das Tier« eigentlich
eine bis heute gebräuchliche Abstraktion für alles Nicht-menschliche, deren
Berechtigung durch den Behaviorismus auch wissenscha�lich untermauert
wurde. Denn für B. Skinner war der stammesgeschichtliche Hintergrund egal;
ob Taube, Ra�e oder Affe, alle verfügten über dieselben Lernmechanismen.
K. Lorenz dagegen kannte den Einfluss der Stammesgeschichte auf Verhalten
und Lernbereitscha�en; zum »Tier« bemerkte er, dass dieser Ausdruck eine
Erfindung von Menschen sei, welche nichts von Tieren verstünden; es gibt
schließlich nicht nur ein Tier und einen Menschen, sondern viele verschiedene. So soll er auch regelmäßig nachgefragt haben, wenn von »dem Tier« die
Rede war, was denn damit gemeint sei, Regenwurm oder Schimpanse.
William Harvey interpretierte etwa in der Mi�e des 17. Jahrhunderts Instinkte
als Zeichen des »gö�lichen Hauchs«. Auch in der Folge blieb der Instinktbegriff
besonders durch die Vitalisten, die ihn einer Erklärung weder für bedür�ig
noch für zugänglich hielten, stark metaphysisch besetzt. Heinroth verwendete
ihn daher gar nicht, Lorenz nur ungern (1992). Heute ist die Verwendung des
Instinktbegriffes vor allem wegen seiner umgangssprachlichen Unschärfe problematisch, es fehlt ihm aber seine frühere metaphysische Bedeutung.
Besonders wissenscha�lich tätige Geistliche, wie der Pfarrer Johann Friedrich
Zorn oder der Abbé von Condillac, betonten immer wieder Triebha�igkeit
und Zweckmäßigkeit (Teleologie) des Verhaltens, wohl auch deshalb, weil
sich diese Interpretation vorzüglich mit einem gö�lichen Willen als Ursache
vertrug. Auch hier zeigt sich die Anfälligkeit der Verhaltenswissenscha�en
für ideologisch motivierte Interpretationen. Dies wird von der damaligen
Gegenposition bestätigt. Denn was lag näher, als dass die Vertreter der
32
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
aufgeklärten Wissenscha�en, die Begründer des Zeitalters der Vernun�,
den Verstand als Basis für tierisches Verhalten heranzogen? Damit lagen sie nach unserem gegenwärtigen Wissen eher noch weiter daneben
als ihre zumeist klerikalen Opponenten. Eine der fatalen Folgen dieser
Theorie der Vernun�steuerung tierischen Verhaltens war eine weitgehende
Vermenschlichung der Tiere. Man schloss einfach vom Menschen auf die
Mitgeschöpfe. Wobei zu bemerken wäre, dass sich die Idee der reinen
Vernun�steuerung menschlichen Verhaltens als unhaltbar herausstellte, denn
vieles an unserem Verhalten ist triebha� und die menschliche Vernun� steht
massiv unter dem Pantoffel der Emotionen (Ciompi 1993).
Der bekannte Alfred Brehm, machte im 19. Jahrhundert mit seinem Werk
»Brehms Tierleben« diese Vermenschlichung derart populär und verankerte
sie so fest im Bewusstsein der Öffentlichkeit, dass sie auch heute noch, also fast
150 Jahre später, dort zu finden ist. Auch heute noch terrorisieren uns in der
populären Literatur das »hochmütige Kamel«, der »listige Fuchs«, der »stolze
Adler« und viele andere. Aber vielleicht bürden wir hier Brehm etwas zuviel
an Verantwortung auf. Ist es denn nicht eine typisch menschliche Eigenscha�,
Wahrnehmung und Selbsterfahrung ständig in unsere Umgebung zu projizieren? Das liegt wahrscheinlich daran, dass Auslöser auch bei uns Menschen
eine wichtige Rolle spielen (Grammer 1993). Wir übertragen die Bedeutung
menschlicher Mimik und Körperhaltung einfach auf Tiere. Natürlich ist des
Adlers Mimik kein Ausdruck von Stolz und Kühnheit, sondern Ergebnis der
Selektion von Schnabel und Überaugenwülsten im Zusammenhang mit seiner Lebensweise. Menschliche Wahrnehmung kann offenbar nicht anders. So
ist es zu erklären, dass der im Vergleich zu weniger verwegen dreinschauenden Tieren relativ »dumme und faule« Adler das Wappentier vieler Staaten
und Völker abgibt.
Wegen der unterschiedlichen Ansätze, Sichtweisen und Interpretationen der
Naturforscher nach der Au�lärung ist es müßig, genau entscheiden zu wollen, ab wann man die Tierpsychologie als exakte Wissenscha� gelten lassen
kann. Das hängt von den handelnden Personen ab, die zu unterschiedlichen
Zeiten durch unvoreingenommene Beobachtung oder auch durch sauber geplante Experimente die anthropomorphen Interpretationen ablösten, also die
philosophisch-deduktive Arbeitsweise durch eine eher naturwissenscha�lichinduktive ersetzten. Charles Darwin als wohl bedeutendster Naturforscher
aller Zeiten ist hier sicherlich an erster Stelle zu nennen. Im Allgemeinen
wurde dieser Schri� aber erst sauber von den »Materialisten« und
»Mechanisten« vollzogen. Damit sind jene Wissenscha�ler gemeint, die in bewusster Gegenposition zu metaphysischen Ansätzen (etwa dem Vitalismus)
naturwissenscha�lich an Verhalten herangingen, also darauf beharrten, dass
Verhalten auf materieller Basis, v. a. den physiko-chemischen Vorgängen im
Gehirn erklärbar sein muss. Pioniere waren K. Lorenz und seine Zeit- und
Kampfgenossen, aber auch seine Lieblingsfeinde, die Behavioristen.
Nach Erscheinen von Darwins Hauptwerk, der »Entstehung der Arten durch
natürliche Zuchtwahl« im Jahre 1859 hä�e eigentlich klar sein müssen, dass
mit dem Darwinschen Mechanismus der Selektion auch die Entstehung und
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
33
Funktion von Verhalten erklärbar ist. Aber dahin war noch ein langer Weg.
Darwin selbst war, wohl dem Zeitgeist entsprechend, Anhänger der klassisch-aufgeklärten Tierpsychologie, dass nämlich Tiere und Menschen dieselben Sinneseindrücke, Empfindungen, Leidenscha�en usw. hä�en, wenn
auch in unterschiedlichem Ausmaß. Dies entspricht in etwa auch dem modernen Mainstream. Eine weitere, wahrha� kuriose Station auf den verschlungenen Wegen zur modernen Verhaltensforschung war der sogenannte
Psycho-Lamarckismus. Instinkte wurden als zur Gewohnheit gewordene und
dann sich vererbende (darum Lamarckismus) Verstandeshandlungen (darum die Vorsilbe Psycho-) interpretiert. Das läu� dem heutigen Verständnis
von Evolution natürlich diametral entgegen, demzufolge individuelle
Erfahrungen (wenn überhaupt) ausschließlich über Selektion, nicht aber über
individuelle »Assimilation« Zutri� zum Erbmaterial der Keimbahn finden
können. Aber auch diese Feststellung stimmt in ihrer absoluten Form nicht
mehr. Vielmehr gibt es auch »epigenetische« Wege der Weitergabe erworbener Eigenscha�en über Generationen, worüber im Zusammenhang mit der
»mü�erlichen Manipulation« noch zu berichten sein wird.
Doch die Wegbereiter der Synthese der Verhaltensforschung mit dem Darwinismus formierten sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert. Zu den
bedeutendsten zählen August Weismann in Deutschland, der aufgrund seiner genetischen und entwicklungsbiologischen Arbeiten zu Geschlossenheit
und Kontinuität der Keimbahn dem Psycho-Lamarckismus die Basis entzog,
sowie der Engländer C. Lloyd Morgan und schließlich der zu Lebzeiten recht
unbekannte Amerikaner Otis Whitman. Letzterer folgerte auf der Basis seiner
vergleichenden Untersuchungen vor allem an Tauben (Whitman 1898, 1919),
dass die Darwinsche Theorie auch für »Instinkte« – Whitman gebrauchte diesen Begriff im modernen, nichtmetaphysischen Sinn und meinte damit eine
vererbte Verhaltensanweisung, entsprechend der »arteigenen Triebhandlung«
Oskar Heinroths bzw. den »Erbkoordinationen« von Konrad Lorenz - gültig
sei, und schuf somit tatsächlich das geistige Fundament für die moderne
Vergleichende Verhaltensforschung. Sein Schüler Wallace Craig tat dann den
nächsten wichtigen Schri� und trennte Appetenz von Endhandlung.
Auch in der Frühphase wurde viel Arbeit aus purem Interesse an Tieren
geleistet, eine Hauptmotivation für induktive Verhaltensforschung generell. Und seitdem es sich im letzten Jahrzehnt herumsprach, wie sehr unser
Intellekt, unsere Vernun� durch Emotion gelenkt wird, sollte es auch wieder erlaubt sein, offen zuzugeben, dass Forschung durchaus durch Interesse
oder sogar Liebe zu Tieren und Natur motiviert sein darf. Auf theoretischem
Gebiet jedoch dominierte bald die Frage, ob tierisches und menschliches
Verhalten »angeboren« oder »erlernt« sei.
In der europäischen Tierpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschte
vielfach ein recht diffuses Bedürfnis vor, der tierischen Intelligenz (im
menschlichen Sinne) auf die Schliche zu kommen, ohne klare evolutionäre
Hypothesen im Hintergrund, warum dies eigentlich interessant sein sollte. So
versuchte man etwa zu ergründen, wie weit das Pferd zählen, wie stark die
Taube abstrahieren könne, und tut dies z. T. noch heute. Der Erkenntnisgewinn
34
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
bezüglich der Evolution kognitiver Fähigkeiten war vielfach gering, da meist
weder auf ein artgemäßes Umfeld, noch auf Leistungsdispositionen und
-motivationen Rücksicht genommen wurde, die nicht nur von Art zu Art verschieden, sondern auch innerartlich im Verlauf der Lebensgeschichte wandelbar sein können. Außerdem wurden diese Untersuchungen kaum breit vergleichend, sondern meist an einer eher zufällig ausgewählten »Modelltierart«
durchgeführt; ein echter ökologischer Bezug fehlte. Wieweit diese Projekte
einen Beitrag zum Verständnis der Stammesgeschichte menschlicher kognitiver Fähigkeiten leisteten, bleibe daher dahingestellt. Erst seit wenigen Jahren
kommt es zu einer raschen Neubelebung der kognitiven Ethologie aus einer
wirklich evolutionären Perspektive.
Das Tier-Mensch-Kontinuum und der genetische Determinismus
Auf einer anderen Ebene nährte das von Charles Darwin erstmals explizit angesprochene Kontinuum zwischen tierischem und menschlichem
Verhalten die Verhaltensforschung. Tatsächlich war Darwins 1872 erschienenes Buch »The expression of the emotions in man and animals« für viele
Zeitgenossen und deren anthropozentrisches Weltbild eine Provokation.
Viele betrachten dieses Buch als jenen Paukenschlag, mit dem die Ära der modernen Ethologie begann. Damit startete Darwin nicht nur eine der größten
Auseinandersetzungen in der Geschichte der Ethologie und Biologie überhaupt, sondern bereitete – sicherlich ungewollt – den Boden für einen der
folgenschwersten Missbräuche in der Wissenscha�sgeschichte.
Dem Zeitgeist entsprechend, wurde Darwin zunächst als ideologisches
Zugpferd vor den sozialdarwinistischen Karren gespannt. Gesellscha�liche
Unterschiede seien »blutsbedingt« (heute würde man das »ererbt« nennen) und daher durch Erziehung nicht zu verändern. Die gesellscha�liche
Einmauerungs- und Absicherungsstrategie der oberen Zehntausend ist
aus der industriellen Revolution und dem sich langsam organisierenden
Industrieproletariat erklärbar. Wozu in die Bildung der Arbeiterscha� investieren, wenn der Unterschied zwischen »oben« und »unten« ohnehin go�gewollt und biologisch bedingt ist?
Dieses Gedankengut hielt sich erstaunlich lange und bildete als Kulmination
die pseudowissenscha�liche Basis für Hitlers eugenisch-rassistisches Terrorregime. Biologen wurden immer in den Dienst von Ideologien gestellt, mehr
oder weniger freiwillig. Viele europäische Biologen, allen voran Ernst Haeckel,
prägten den sozialdarwinistischen Zeitgeist, aber es gab sogar viele US-amerikanische Vertreter dieser Richtung. Dass auch Konrad Lorenz vor dem Krieg
in einer Nebenrolle das Seine zur Rechtfertigung der (NS-) Eugenik beitrug,
mag uns heute unangenehm berühren, lässt sich aber durch Originaltexte
belegen (Lorenz 1940). Diese Tatsache unter den Teppich kehren zu wollen ist
gerade gegen den Hintergrund der von Rassismus geprägten deutschen und
österreichischen Vergangenheit keine Lösung.
Es wurde in jüngster Zeit versucht, die Scha�en in Lorenz‘ Schaffen aufzuarbeiten (Bischof 1991, Föger und Taschwer 2001, Kotrschal u. a. 2001, Wuketits
1990). Was bleibt ist ein differenziertes Bild. Lorenz war ein genialer Biologe,
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
35
aber auch hemmungslos opportunistisch, wenn es darum ging, sein Hauptziel,
die Einrichtung eines Kaiser Wilhelm Institutes zu erreichen. Dies gelang nicht,
obwohl er durchaus mit einigen Aspekten der NS-Ideologie, wie etwa der
Eugenik, sympathisierte und auch ab 1938 NSDAP-Mitglied war. Lorenz war
einer von Vielen und die Biologie war eine wichtige Stütze der NS-Ideologie
(Bäumer 1990). Fest steht, dass die Bedeutung der eugenischen Äußerungen
Lorenz‘ von seinen Kritikern zum Teil maßlos übertrieben, ja dazu benutzt
wurden, den wissenscha�lichen Wert der Lorenzschen Theorie zu diskreditieren (vgl. Schleidt 2001). Ihn etwa, wie es einige österreichische Journalisten
taten, zum »Vordenker des Holokaust« hochzustilisieren, ist aufgrund der
Faktenlage absolut unhaltbar. Wäre er wirklich so wichtig gewesen, man hä�e
ihn wohl nicht als einfachen Soldaten 1944 an die Ostfront geschickt.
Fest steht aber auch, dass Lorenz seine damals in einer Fachzeitschri� publizierten Äußerungen (1940) nie in gleichwertiger Form zurücknahm und
es damit seinen Kritikern bis heute leicht macht. Er entschuldigte sich in
seiner Nobelpreisrede zwar für sein Naheverhältnis zum NS-Regime, eine
fachliche Aufarbeitung seiner Gründe für dieses Naheverhältnis vermied er
aber lebenslang. Aus seinen 1973 erschienen »8 Todsünden der zivilisierten
Menschheit« wird erkennbar, dass sich sein genetisch-deterministisches
Denken auch nicht veränderte. So hielt Konrad Lorenz lebenslang an seinem
Vorurteil der »Selbstdomestikation des Menschen« im Umfeld der Zivilisation
fest, und auch daran, dass die »genetische Degeneration« als Ursache für den
Niedergang der »sozialen Instinkte« zu sehen sei (vgl. Kotrschal 2001). Eben
dieses Denken deckte sich 1938 hervorragend mit der Ideologie der Nazis.
Aus heutiger Sicht kann man sich über einen derart starren genetischen
Determinismus nur wundern. Der moderne Mainstream lehnt solche Ideen
nicht nur aus ideologisch-menschlichen, sondern auch aus guten fachlichen
Gründen ab.
Leider bieten diese »braunen« Flecke von Konrad Lorenz noch immer den
Vorwand dafür, dass gelegentlich von Seiten mancher Sozialwissenscha�ler
(im Gegensatz zu den Naturwissenscha�en ist es in den Sozialwissenscha�en
inakzeptablerweise immer noch üblich, Wissenscha� explizit von einem ideologischen Standpunkt aus zu betreiben) und Journalisten Ethologie und
rechte Ideologie gleichgesetzt werden, was natürlich völliger Unsinn ist. Dass
in der Vergangenheit der aus der Lorenzschen Tradition kommende, große
Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt, der aufgrund seiner Bekanntheit
das Bild der Ethologie in der Öffentlichkeit maßgeblich prägt, simplistische
politische Empfehlungen in Ausländer- und Zuwandererfragen abgab, dient
auch nicht gerade der Entflechtung von Wissenscha� und Ideologie. Es
macht aber auch deutlich, dass dies wahrscheinlich letztlich weder zu erreichen noch wünschenswert ist. Denn Wissenscha�ler müssen einfach aus dem
Elfenbeinturm heraustreten und Verantwortung übernehmen. Eibl-Eibesfeldt
ist ein differenzierter Standpunkt zuzubilligen (1988, 1994). Leider bleibt
jedoch im Zuge der vereinfachenden medialen Au�ereitung der Eindruck
zurück, Ethologie würde sich (wieder einmal) zur Rechtfertigung einer rassistisch-faschistischen Politik hergeben.
36
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Vor dem Hintergrund der Geschichte des Sozialdarwinismus ist es, um einen
Vorgriff zu tun, verständlich, dass in den USA die Soziobiologie nach ihrer
offiziellen Begründung durch Wilson (1975) misstrauisch, teils mit offener
Ablehnung aufgenommen, ja wieder mit ähnlichen Argumenten bekämp�
wurde wie einst der Sozialdarwinismus. Man befürchtete nicht ganz zu
Unrecht ein Wiederaufleben eines sozialen, rassischen (man sollte heutzutage
wohl politisch korrekt, den Begriff »ethnisch« verwenden) und sexistischen
Determinismus. Der »psychologische Determinismus« besteht darin, jedes
Verhalten auf bestimmte Ursachen zurückzuführen, während der »biologischgenetische Determinismus« die relative Unveränderbarkeit von ererbtem
Verhalten durch Umwelteinflüsse betont.
Im späten Gefolge gab es tatsächlich Biologen, wie Herrnstein und Murray
(1994), in ihrem Buch »The Bell Curve« sehr datenreich nachzuweisen versuchten, dass Afro-Amerikaner bildungsunfähiger und triebha�er als weiße
Kaukasier seien. Es war relativ einfach, dies als einen bestenfalls naiven, sicherlich aber biologistischen Missbrauch biologischer Erkenntnisse im Sinn
einer Ideologie zu entlarven. Alleine methodisch wäre es unmöglich, saubere
einschlägige Daten zu gewinnen, denn die Eigenscha�en aller Organismen,
so auch der Menschen sind durch die Interaktion von Genen und Umwelt
während der Entwicklung bestimmt. Da Afro-Amerikaner in immer dramatischerem Ausmaß in anderen sozialen Schichten aufwachsen als Weiße, ist
ein Schluss auf die genetische Disposition diverser Eigenscha�en unzulässig.
Und schließlich kennt man dieses Denken schon vom Sozialdarwinismus:
Wozu Bildungsaufwand, wenn es für die Katz´ ist, weil die Unterschiede ja
ohnehin »blutsbedingt« sind? Welch katastrophale Auswirkungen sogar ein
entsprechender Verdacht gegen den Hintergrund konservativer Regierungen
in den USA haben kann, braucht nicht ausgeführt zu werden.
Der Weg in die Vergleichende Verhaltensforschung und Ethologie
Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde sowohl von Biologen als auch
von Psychologen in Europa, vor allem aber in den USA rege an tierischem
Verhalten geforscht (Dewsbury 1989; Exkurs 2). Stärkster Antrieb war das
Streben nach dem Verständnis der menschlichen Psychologie. Daher hieß
die Verhaltensforschung damals auch »Tierpsychologie«. O. Whitman,
W. M. Wheeler, W. Craig, G. W. Peckham, um nur einige Namen zu nennen, betrieben naturwissenscha�liche Tierbeobachtungen und enthielten
sich anthropomorpher Interpretationen. Besonders Otis Whitman (1898),
wie auch später Oskar Heinroth (1910) und Konrad Lorenz (1941) verglichen Verhaltensweisen zwischenartlich. Sie sind daher die Begründer der
Vergleichenden Verhaltensforschung. Diese Richtung nützt Unterschiede
zwischen in ihrer Herkun� vergleichbaren (homologen) Verhaltensweisen,
um stammesgeschichtliche Rückschlüsse zu ziehen (Lorenz 1978). Ganz
wichtig waren auch Verhaltensphysiologen, wie zum Beispiel Jacques Loeb,
die bahnbrechende Arbeiten zu den einfachen Orientierungsmechanismen
der Tiere, den Tropismen, lieferten.
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
37
Auch in Europa gab es prominente Vertreter der Tierpsychologie, etwa O�o
Koehler, Oskar Heinroth und viele andere. Ansätze und Fragestellungen waren vielfältig, aber erst Konrad Lorenz, Niko Tinbergen und Erich von Holst
scha�en es in den 1950er Jahren, das kunterbunte Stückwerk in einem in sich
konsistenten Theoriengebäude unterzubringen (Exkurs 3).
Die klassische Tierpsychologie dagegen führte in eine Sackgasse. Die
scheinbar unvermeidliche Rückwirkung von Konzepten und Begriffen
aus der Psychologie des Menschen nebst einer teilweise ungenügenden
vergleichenden Tierkenntnis, sowie generell eine spekulativ-deduktive
Arbeitsweise und die freizügige Durchmischung von physiologischen und
psychischen Konzepten (vgl. Lorenz 1992) behinderte eine vorurteilsfreie
Interpretation, eine eigenständige und fachlich einwandfreie Entwicklung
der Verhaltenswissenscha�en aus der Tierpsychologie heraus. Dabei versuchte man damals durchaus, menschliches und tierisches Verhalten in einem
einheitlichen Konzeptrahmen zu sehen. Lorenz und andere Biologen, etwa
Jakob von Uexküll, standen, obwohl unterschiedlichen Lagern zugehörig, der
Unterscheidung von Tier- und Humanpsychologie immer ablehnend gegenüber: »Es gibt nur eine Psychologie« oder: »Für den Biologen gibt es keine
Tierpsychologie!«, kann man vielerorts lesen (s. unten).
Mit dem Au�reten von O. Whitman und seinen europäischen Ethologenkollegen war das Rennen um die Naturwissenscha�lichkeit der Verhaltensforschung noch lange nicht gelaufen, ganz im Gegenteil. Ihre Ergebnisse
gingen um die Jahrhundertwende sowohl in Europa als auch in den USA im
Streit zwischen den Vitalisten und Mechanisten unter – vom Standpunkt des
Erkenntniswertes ein Kampf der Blinden gegen die Lahmen, wie wir heute
wissen. Wahrha� in einer Fußangel der tierpsychologischen Tradition hingen die aus der idealistisch-geisteswissenscha�lichen Tradition kommenden
Vitalisten und Zweckpsychologen (z. B. Edward C. Tolman). Sie betonten
einmal mehr die Zweckmäßigkeit der Instinkte, sahen aber als ihre Ursache
eine Naturkra�, die Vis vitalis, an, welche einer Erklärung weder zugänglich
noch bedür�ig sei. Sie verweigerten sich daher der Naturwissenscha� der
Au�lärung, besonders aber dem Darwinismus, der das einigende Konzept
aller biologischer Richtungen des 20. Jahrhunderts werden sollte. »Wir
betrachten den Instinkt, aber wir erklären ihn nicht« (Johan A. Bierens de
Haan). Freiwillige Selbstbeschränkung in der Forschung und Zuflucht zu
einer höheren Instanz also, und die ist bekanntlich weder nützlich noch
wirksam. Nebenbei bemerkt: Dies gilt auch für die gegenwärtig immer stärker werdenden staatlichen Regulierungstendenzen, etwa in den allgemein
als heikel angesehenen Gebieten der Gentechnologie oder der Verwendung
fötalen Gewebes. Wissenscha� ist wie die Evolution weder gut noch schlecht,
sie ist einfach. Wenn Probleme entstehen, dann durch die missbräuchliche
Anwendung wissenscha�licher Ergebnisse im Spannungsfeld der Politik.
Trotzdem gab es unter den Vitalisten bedeutende Verhaltenswissenscha�ler,
die durchaus induktiv arbeiteten, etwa Jakob von Uexküll (1934). Dieser verschloss sich allerdings einer rational-darwinistischen Erklärung der ebenso
mannigfaltigen wie offensichtlichen Anpassungen von Organismen an ihre
38
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Umwelt genauso wie der hoch angesehene Teilhard de Chardin. Wie die
meisten anderen Naturwissenscha�ler seiner Zeit war Uexküll dem TypusDenken verha�et. Für ihn waren die Anpassungen der Organismen an ihren
Lebensraum ein Ergebnis unveränderlicher und vorgegebener Baupläne,
nicht aber der formenden Wirkung von Mutation und Selektion.
Zu den materialistischen, reduktionistischen Mechanisten auf der anderen
Seite zählt man vor allem die »Assoziationspsychologen«, »Behavioristen« wie
J. Thorndike und B. Skinner, und die auf den bahnbrechenden Erkenntnissen
von I. Pawlow au�auenden »Reflexologen«. Alle diese Richtungen sind als
naturwissenscha�lich-induktionistisch einzustufen. Die Vokabeln materialistisch, reduktionistisch und mechanistisch mögen alles andere als sympathisch
klingen. Sie sollen aber wertfreie Bezeichnungen für die Grundeigenscha�en
des naturwissenscha�lichen Ansatzes darstellen (Exkurs 5,6): Materialistisch,
weil alle Erscheinungen unserer Welt auf Basis der Interaktionen der Materie,
ohne deus ex machina, ohne Bezug auf ein transzendentales Prinzip, zu erklären sein sollten; reduktionistisch, weil man niemals Systeme in ihrer
gesamten Komplexität untersuchen kann, sondern allemal Parameter von
Untersystemen (eine gewisse Ausnahmestellung hält hier der vergleichende
Ansatz); und mechanistisch, weil es eben die Gesetzmäßigkeiten von Physik
und Chemie sind, die letztlich die Materie und unser Verhalten bestimmen.
Im Gegensatz zu den Vitalisten bestri�en die materialistisch eingestellten
Mechanisten, dass ein transzendentales Prinzip zur Erklärung der belebten
Welt, insbesondere des Verhaltens, erforderlich sei. So gab es für Lorenz
natürlich keinen vom Körper selbständigen Geist, sondern es war klar,
dass jedwede »seelischen«, also geistig-kognitiven und subjektiv-psychischen Leistungen auf der Basis von objektivierbaren physiko-chemischen
Vorgängen im Gehirn zustande kommen. Mi�lerweile stützt eine rasch
anwachsende Basis an Daten diese damals noch recht deduktiv gewonnene
Überzeugung des jungen Lorenz (vgl. z. B. »Spektrum der Wissenscha�« 1992,
Spezialausgabe »Gehirn«).
Die Reflexologen führten alles Verhalten auf Reflexe, ausgelöst durch
Außenreize, zurück. Eine Fülle von Wissenscha�lern, einschließlich dem jungen Konrad Lorenz und Karl von Frisch, hingen der Reflextheorie an. Dass
aber selbst komplizierte Verhaltensabläufe nichts anderes als Reflexke�en,
also Reaktionen auf die Meldungen der äußeren und inneren Sinnesorgane
sein sollen, wurde schließlich durch E. von Holst gemeinsam mit K. Lorenz
widerlegt. Sie zeigten, dass es im Zentralen Nervensystem Zentren gibt,
die bestimmte zeitlich-räumliche Bewegungsmuster generieren, und dass
Verhalten durchaus spontan aus dem Inneren von Tieren kommen kann, unabhängig von Außenreizen.
Aus zoologisch-materialistischer Richtung war die Motivation für die Untersuchung tierischen Verhaltens das Interesse an der Naturgeschichte von
Tieren einerseits, o� schlichte Liebhaberei, und sie kam andererseits aus einer
in den USA bereits fruchtbaren experimentellen Tradition, welche vor allem
auch wertvolle methodische Ansätze beisteuerte. Verständlich, dass die auf
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
39
diesem Gebiet vorerst dominierenden vergleichenden Psychologen Tiere
untersuchten, weil sie mehr über menschliches Verhalten erfahren wollten.
Bekannt wurden in diesem Zusammenhang vor allem die Lernstudien und
Arbeiten zur Verhaltensentwicklung. Die psychologische Schlagseite in den
amerikanischen Verhaltenswissenscha�en führte zu einer starken Betonung
des Menschen als Forschungsziel (während paradoxerweise der Mensch als
Forschungsgegenstand der Ethologie erst durch den vom Lorenz-Schüler EiblEibesfeldt [1995] ausgehenden Ansatz der Humanethologie wieder größeres
Gewicht gewann). Darunter li� die zoologisch und stammesgeschichtlich
orientierte Verhaltenswissenscha� vor allem in den USA; wie sehr dies der
Fall war, ist daran zu ersehen, dass selbst ein Artikel von Staddon (1989) den
bezeichnenden Titel trägt: »Animal psychology: The tyranny of anthropocentrism«. Tierisches Verhalten per se war lange Zeit in der vergleichenden
Psychologie kein Thema. Die berechtigte Forderung von Konrad Lorenz (1992),
die Vergleichende Verhaltensforschung müsse die Grundlagenwissenscha�
der Psychologie werden, verhallte ziemlich unbeachtet. Erst in jüngster Zeit,
über die Hintertür der Primatologie, und »evolutionäre Psychologie« hält
dieser Lorenzsche Grundsatz Einzug in die Psychologie. Trotz der reichen
US-amerikanischen Tradition, aber vielleicht gehemmt durch deren MenschZentriertheit, gelang schließlich die Integration der Ethologie in Europa.
Eine Synthese in den USA wurde wohl durch die extrem gegensätzlichen
Richtungen der Experimentalpsychologen, der Zweckpsychologen und der
Behavioristen verhindert; der Aufstieg von Lorenz und Tinbergen wurde
dadurch hingegen katalysiert.
Wichtiger Wegbereiter, Lehrer und väterlicher Freund für Konrad Lorenz
(und von diesem auch als Begründer der modernen Verhaltensforschung
bezeichnet) war Oskar Heinroth. Zwischen den Weltkriegen Direktor des
Berliner Tiergartens, ha�e Heinroth Zugang zu einer Fülle von Tierarten,
was eine Voraussetzung für Vergleichende Verhaltensforschung darstellt. Er stellte, wie später Lorenz, vergleichende Untersuchungen an
Enten und Gänsen an und entdeckte die innerartliche Formkonstanz von
Verhaltensweisen (1910). Er nannte diese Verhaltensweisen »arteigene
Triebhandlungen«. Im Namen steckt bereits, dass sie wie körperliche
Merkmale vererbt werden und natürlich auch so evoluieren. Zwischenartlich
variieren diese homologen Triebhandlungen im Einklang mit der stammesgeschichtlichen Verwandtscha� von Arten, sie sind also zur Rekonstruktion des
Stammbaums ebenso brauchbar wie körperliche Merkmale (Exkurs 3). Somit
kamen O. Heinroth und O. Whitman, zunächst ohne voneinander zu wissen,
zu ganz ähnlichen Ergebnissen – die Vergleichende Verhaltensforschung als
Wissenscha� war begründet.
Jahre ihres Lebens steckten die Eheleute Oskar und Katharina Heinroth in
die Handaufzucht aller Vogelarten, deren sie nur habha� werden konnten.
Daraus entstand mit dem dreibändigen Werk »Die Vögel Mi�eleuropas«
(Heinroth und Heinroth 1966) eine der bis heute wohl umfangreichsten
Informationsquellen zur Verhaltensentwicklung von Tieren. Obendrein ist
dieses Werk recht amüsant zu lesen; das Kapitel über die Kolkraben sei als
40
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Einstieg empfohlen. Stellvertretend für eine ganze Reihe weiterer wichtiger
Vetreter der frühen Ethologie sei Julian Huxley genannt, der am Beipiel der
Balz der Haubentaucher (1914) die Evolution von ritualisiertem Verhalten
beschrieb.
Konrad Lorenz und die Ethologie
Konrad Lorenz arbeitete, wie Oskar Heinroth, breit vergleichend. Eine Inventur
der von ihm meist im Freiflug und in Gruppen gehaltenen, o� handaufgezogenen Vogelarten, welche er in seinen Briefen an Heinroth zwischen 1930 und
1940 (herausgegeben von O�o König 1988) erwähnt, ergab deren 77; berücksichtigt man, dass er wahrscheinlich nicht alle von ihm gehaltenen Vogelarten
erwähnte, so ist dies eine recht konservative Schätzung. Dazu kommen noch
einige Dutzend anderer Wirbeltiere, von Fischen bis zu Säugetieren.
Konrad Lorenz entwickelte die meisten zentralen Konzepte der Ethologie
(Exkurs 3), die zwar da oder dort korrigiert werden mussten und teils nur noch
als historisches Denkmodell gelten (Kotrschal u. a. 2001), andernteils aber bis
heute nichts an Aktualität und Konfliktpotential verloren haben (Exkurs 4).
Er vereinigte schließlich diese Konzepte gemeinsam mit anderen zu einem
tragfähigen theoretischen Gebäude. Selbst eine unvollständige Aufzählung
der wichtigsten Entdeckungen von Lorenz liest sich wie die Inhaltsangabe
eines Lehrbuches der klassischen Ethologie. So gehen eine Vielzahl von
Begriffen auf Lorenz bzw. seine maßgebliche Beteiligung zurück: Das »angeborene auslösende Schema« (später von einer Kommission unter Vorsitz
von O�o Koehler auf »angeborenen Auslösemechanismus«, AAM, umbenannt), die »Erbkoordination«, Spontaneität und Staubarkeit von Verhalten,
»Appetenz« und »Endhandlung«, »Motivation«, das »psychohydraulische
Modell«, »Prägung«, die »Instinkt-Dressur-Verschränkung« (Zusammenhang
zwischen Instinkthandlungen und Lernen), usw. Lorenz betonte die materielle Basis psychischer Vorgänge und machte eloquent verständlich, dass
unser Erkenntnisapparat als Spiegelbild einer realen Welt evoluierte. Er
schuf damit eine gewichtige Gegenposition zu manchen Strömungen der
idealistischen Philosophie. Große Bedeutung erlangte Lorenz auch auf in der
Erarbeitung einer sauberen naturwissenscha�lichen Wissenscha�stheorie
für die Verhaltensforschung. Er kritisierte eine allzu deduktionistische
Arbeitsweise und betonte die Notwendigkeit, die objektivierbaren physiologischen Mechanismen sauber vom subjektiven Erleben zu trennen (Lorenz
1992), obwohl er Introspektion im Gegensatz zum Verständnis des damaligen
und heutigen Mainstreams als Erkenntnisquelle propagierte. Selbst wenn
nicht alle Lorenzschen Hypothesen einer kritischen Überprüfung standhielten (Exkurs 4, unten): Er war für die Ethologie richtungsweisend. Gerade mit
seinen kontroversiellen Konzepten etwa zur Aggression (Lorenz 1963) initiierte er weltweit eine große Anzahl wichtiger Untersuchungen. Wie alle wahrha� großen Wissenscha�ler, ging er an den »großen« Themen nicht vorbei. Es
hä�e seiner Persönlichkeit nicht entsprochen, beispielsweise lebenslang nur
alle Einzelheiten der »Eirollbewegung« zu erforschen, er war an den großen
Mustern und Fragen interessiert, an Aggression etwa, letztlich an der Zukun�
der Menschheit. So mischte sich der angeblich »unpolitische« Lorenz auf
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
41
Basis seiner Verhaltenskompetenz immer wieder in gesellscha�liche Belange
ein, in seiner unrühmlichen Schri� zur Eugenik (1940) genauso wie in seinem
besorgten Manifest zu den Fehlentwicklungen der zivilisierten Menschheit
(1973). Je allgemeingültiger die Aussagen eines Wissenscha�lers, desto weiter
wagt er sich auf dünnes Eis, ferne der trügerischen Sicherheit klarer Daten.
Konrad Lorenz war mutig genug dafür, ja er brauchte offenbar das Wagnis.
Und er wurde, wohl ebenfalls zu recht, immer wieder dafür kritisiert.
Mit Niko Tinbergen, einem weiteren Begründer der klassischen Ethologie
und Wegbereiter der Öko-Ethologie, verband Konrad Lorenz eine lebenslange Freundscha� und weitgehende Übereinstimmung in den Konzepten.
Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Tinbergen der Einzige war, mit dem
Lorenz auch nach seiner Emeritierung 1973 einen ausführlichen Briefverkehr
unterhielt. Meilensteine der Entwicklung der Ethologie waren sicherlich die
Berufung Tinbergens nach Cambridge (England) und die Installierung eines
Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie für Konrad Lorenz, zuerst in
Buldern in Westfalen, dann in Seewiesen am Starnberger See, zusammen mit
seinem Partner Erich von Holst. Ganz wichtige Stützen der neuen Richtung waren die Schaffung eines entsprechenden Publikationsorgans, der »Zeitschri�
für Tierpsychologie« (heute: »Ethology«), durch O�o Koehler und andere,
sowie die regelmäßigen Tagungen der Ethologischen Gesellscha�. Auch nur
auf die bedeutendsten Schüler und Nachfolger von Tinbergen und Lorenz
einzugehen würde den Rahmen einer kurzen Darstellung der geschichtlichen
Entwicklung der Verhaltenswissenscha�en sprengen (s. Kotrschal 2001).
Exkurs 4: Ethologie: Die Kritik an der
Lorenz-Tinbergenschen Theorie
Instinkt versus lernen: In der Vergangenheit wurde die Lorenz-Tinbergensche
Theorie (Lorenz 1978) vor allem von Lerntheoretikern kritisiert, denen die
Erbkoordinationen, also die stark genetisch determinierten Verhaltenselemente,
ein Dorn im Auge waren. Dies entsprang einem Mißverständnis, denn
natürlich wussten auch die frühen Ethologen, dass Lernen Verhalten modifiziert. Und es bestätigte sich, dass das grundlegende Verhaltensinventar,
die »Erbkoordinationen« nicht erlernt werden können, sie sind weitgehend genetisch determiniert und entwickeln sich beinahe ohne Anteil von
Umwelteinflüssen. Verhalten kann daher nicht zur Gänze erlernt sein, wie die
extremen Behavioristen meinten. Und es wird auch nicht in eine leere Matrix
hineingelernt, sonder auf Basis weitgehend erblicher Lerndispositionen. Konrad
Lorenz stellte zu Recht die Frage, warum lernen adaptiv sei. Er postulierte einen
»angeborenen Lehrmeister«, der bestimmt wofür sich Individuen interessieren
und was sie lernen (können). Solche artspezifischen Lerndispositionen sind
heute klar bestätigt.
Andererseits blieben die frühen Ethologen recht diffus bezüglich ihrer evolutionären Lerntheorie. Lorenz etwa lehnte den Behaviorismus ab, weil
Lernmechanismen artspezifisch seien. Heute wissen wir, dass dies zwar
für den »angeborenen Lehrmeister« gilt, nicht aber für die eigentlichen
Mechanismen. Die Behavioristen sollten aber insofern Recht behalten, als es
42
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
heute schein (Shettleworth 1998), dass es tatsächlich nur ein eingeschränktes Spektrum an gemeinsamen Lernmechanismen für alle (Wirbel)tiere gibt,
gleich ob Fisch, Eidechse, Taube, Ratte oder Mensch. Dazu zählen die
Habituation, die Pawlowsche und die operante Konditionierung, sowie ein
paar Zusatzmechanismen für das Lernen im sozialen Zusammenhang. Und
die Ethologen hatten darin Recht, dass die Aufmerksamkeit auf bestimmte
Umweltreize und die Lernbereitschaften artspezifisch sind.
Noch immer wird gelegentlich diskutiert, welche Merkmale / Eigenschaften /
Verhaltensweisen »angeboren« bzw. »erlernt / erworben« seien. Tatsächlich
wurde diese Schein-Kontroverse bereits in der fachlichen Auseinandersetzung
zwischen Daniel Lehrman (1953) und Konrad Lorenz, bzw. den anderen
Ethologen gelöst. Lehrman kritisierte scharf die damals von den Ethologen eingesetzten Kaspar-Hauser-Versuche (Erfahrungsentzug) als Nachweismethode
von Erbkoordinationen. Prinzipiell ist die Unterscheidung zwischen »angeboren« bzw. »erlernt / erworben« sinnlos, da alle biologischen Merkmale im Zuge
der Individualentwicklung in Interaktion zwischen Genen und Umwelt entstehen
(Lamprecht 1981, Lehrman 1970, Exkurs 8). Natürlich gibt es Merkmale, wie
etwa Erbkoordinationen, die weitgehend genetisch determiniert sind, trotzdem
sollte man diese nicht als »angeboren« bezeichnen, da damit das starre und
daher falsche genetisch-deterministische Denken gefördert würde.
Wie allgemeingültig ist die »ethologische Theorie«?: Schweres Geschütz fuhr
die Bonner Ethologin Hanna Maria Zippelius in ihrem Buch »Die vermessene
Theorie« (1992a) auf. Sie bestreitet die Allgemeingültigkeit der LorenzTinbergenschen Theorie, stellt sie als inkonsistent dar und zweifelt vielfach die
empirischen Daten an, auf welchen sie begründet ist. Zippelius versuchte eine
Theorie zu Fall zu bringen, die ohnehin längst weitgehend unbeachtet vor sich
hin bröckelte; andere Kollegen arbeiteten die vergangenen 30 Jahre an ihren
zumeist öko-ethologischen und soziobiologischen Problemen, ohne sich viel
um dies alte Theoriegemäuer zu kümmern. Nur in den Schulbüchern wird die
»klassische« Theorie zum Dogma erhoben. Man könnte zu dem Schluss kommen, die Entwicklungen der Ethologie seien in den 1960er Jahren stehengeblieben. Es lässt bezüglich der Hol- und Bringschuld von Wissenschaftlern und
Öffentlichkeit tief blicken, dass Abiturienten heute noch aus allen Wolken fallen
können, wenn sie erfahren, dass Tiere zumeist nicht um Arterhaltung bemüht
sind und dass nicht alle Auslöser »angeboren« sind. Die Lorenzschen Theorien
sind zu Glaubenssätzen verkommen, kritischer Wind ist daher grundsätzlich zu
begrüßen.
Gelegentlich fand man, dass frühe Ergebnisse, welche die Theorie stützten,
kaum reproduzierbar waren, wie im Falle des aggressionsauslösenden roten
Bauches von Stichlingen (Tinbergen 1948, Lamprecht 1993 a,b). Einiges war
schlicht falsch, wie die noch heute in nahezu jedem Schul-Lehrbuch reproduzierten Tinbergenschen Flugfeindattrappen (1949), die zeigen sollen, dass
sogar die Umrisse möglicher Luftfeinde bei Küken weitgehend angeboren sind,
also »Schlüsselreize« darstellen. Und dies, obwohl bereits Wolfgang Schleidt
(1961) zeigte, dass naive Küken auf jedes dunkle Objekt, welches mit einer
bestimmten Winkelgeschwindigkeit über sie hinweggezogen wurde, mit Alarm
reagierten, sie also »erblichermaßen« wohl auf einfache Reizkombinationen,
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
43
nicht aber spezifisch auf eine komplexe Gestalt reagieren. Diese Ergebnisse
erregten in der Öffentlichkeit kein Echo und wurden von der Fachwelt beinahe
kommentarlos zur Kenntnis genommen. Im Bewusstsein letzterer wandelte sich
die klassische Lorenz-Tinbergensche Theorie zunehmend von einem unmittelbar-physiologischen Erklärungsschema zu einem kybernetischen Denkmodell,
das jahrzehntelang als konzeptuelle Stütze der wissenschaftlichen Arbeit gute
Dienste leistete, das man aber getrost dann zur Seite legen kann, wenn situationsbezogen-direkte, mehrdimensionale und physiologische Erklärungsprinzipien
für Verhalten etabliert sind. Längst war die Theorie entsprechend kommentiert
und relativiert worden (Hinde 1966, 1982, McFarland und Huston 1981). So hat
etwa Lorenz sein Konzept der Staubarkeit von Verhalten sicherlich zu universell
ausgelegt. Das Beispiel der Aggression (Lorenz 1963) zeigt, dass diese stark
anlaßbezogen eingesetzt wird (Archer 1988); sie staut sich gewöhnlich nicht
unspezifisch auf, sodass etwa auf eine längere friedliche Periode Individuen ihre
»aufgestaute Aggression« unbedingt »abreagieren« müssten.
Die scharfe Attacke von Zippelius wirbelte daher bei einigen Wissenschaftsjournalisten und dann auch in der Öffentlichkeit wesentlich mehr Staub auf als
unter Fachkollegen. Es wurde der Eindruck erweckt, als ob alle Einsichten, zu
denen Lorenz und Tinbergen je gelangt sind, Schrott wären; manch deduktionistischen Humanisten und Sozialwissenschaftler ließen sich mit einem »Ich hab‘
es immer schon gewußt!« in ihren Lehnstuhl fallen und hielten die Abrechnung
mit Lorenz für gelaufen.
War wirklich alles falsch? Natürlich nicht! Zippelius hat aber sicherlich insofern
Recht, dass viele Modelle der klassischen Ethologie zu starr ausgefallen und in
ihrer kybernetischen Ausformung zu fern der tatsächlichen Realität angesiedelt
waren, dass es oft an empirischen Belegen mangelt und zum Teil komplexe
Hilfskonstruktionen errichtet werden mussten, um Beobachtungen in Einklang
mit der Lorenzschen Theorie zu bringen. Dass es zu der maßlos übertriebenen
Behauptung kam, die klassische Theorie sei widerlegt, mag unter anderem
darauf zurückzuführen sein, dass die Diskussion unter Fachkollegen um das
Buch von Zippelius auf einem relativ differenziertem Niveau geführt wurde.
Journalisten aber müssen ihre Geschichten »verkaufen«, und eine Schlagzeile,
die da lautet »Teilaspekt der Lorenz-Tinbergenschen Theorie muss überdacht
werden« verkauft sich sicherlich schlechter als die Behauptung, alles sei
»falsch«, ein »Irrtum der Wissenschaft« gewesen. In erster Linie hatte Zippelius
mit ihrer Kritik weit über das Ziel hinausgeschossen.
Das klingt wie eine Verteidigungsbehauptung für Lorenz und Tinbergen,
was mir aber fern liegt. Es sei auf die differenzierten Stellungnahmen von
Lamprecht (1993 a,b) und Witte (1993) verwiesen. Die Komplexität der Materie
verbietet es, sie hier im Detail zu erörtern. Das wäre ein eigenes Buch wert,
zumal auch Wissenschaftspsychologie mit im Spiel zu sein schienen. Einer der
Ansatzpunkte der Kritik von H. M. Zippelius waren die durch ihre Diplomandin
Ursula Eipasch nachgestellten, aber im Ergebnis nicht reproduzierbaren
Versuche von Tinbergen (1949) und Tinbergen und Perdeck (1950). Dabei
wurde mittels der Pickraten von Möwenküken auf Eltern-Schnabelattrappen
untersucht, ob dies ein »angeborener Schlüsselreiz« sei und auf welche Reize
es ankäme. Da erstens die für die Replikation verwendeten Methoden mit jenen
44
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
des Originalversuchs nicht identisch waren und die neuerlichen Versuche wenig
biologisches Fingerspitzengefühl verraten, ist ihre Gültigkeit zweifelhafter als
jene der Originalversuche.
Man nahm zunächst an, dass »Schlüsselreize«, also Auslöser für Erbkoordinationen, großteils erblich seien, während es sich nun zunehmend herausstellt,
dass bei naiven Tieren zumeist nur grobe Reizkombinationen bzw. eine rasche
Lernfähigkeit vorhanden sind. Für die Gültigkeit der Theorie ist es aber ziemlich
unerheblich, ob Auslöser rein vererbt oder das Ergebnis eines prägungsähnlichen Lernprozesses sind. Bereits die Nomenklatur der frühen Ethologie
unterschied den »angeborenen Auslösemechanismus« (AAM) von einem
»erworbenen Auslösemechanismus« (EAM) und einem Hybriden, dem EAAM
(»erworben-angeborener Auslösemechanismus«). Der beste Beleg für die
Meriten der Lorenz-Tinbergenschen Theorie ist ihre ungebrochene Aktualität als
konzeptuelle Basis der Neuroethologie (Bischof 1989), also in der Erforschung
der (verhaltensrelevanten) Funktionen des Nervensystems.
Um bei der Gebäude-Metapher für die »klassische Ethologie« zu bleiben: Es ist
etwas Putz abgefallen. Man misst dem alten Palast heute vielleicht nicht mehr
dieselbe Bedeutung zu wie früher. Die Fundamente sind aber im Wesentlichen
gesund, das alte Theoriegebäude wird nicht einstürzen. Man muss es auch
nicht zur Gänze abreißen; stückweises Renovieren und eine flexiblere Nutzung
reichen völlig aus.
Die Ethologen und die anderen
Alte Auseinandersetzungen innerhalb der Verhaltensbiologie wurden durch
Synthesen obsolet, neue Konflikte sind an ihre Stelle getreten. Das Forschungsgebiet entwickelte sich enorm in die Breite, es gibt heute eine Vielzahl verschiedener Richtungen und Ansätze. Verhaltensgenetik und -endokrinologie
sind zu nennen; die moderne Molekularbiologie ermöglicht es, tatsächliche Ve
rwandtscha�sverhältnisse zu ergründen, und gab so in den letzten Jahren der
bereits etwas stagnierenden Öko-Ethologie und Soziobiologie neuen Schwung;
notfalls kann man etwa mit dem Verfahren der PCR (polymerase chain-reaction) aus Spuren von Gewebsresten wieder genügend Erbmaterial für die
Analyse von Verwandtscha�sbeziehungen herstellen, wie aus der gerichtsmedizinischen Praxis bereits hinlänglich bekannt ist. Auch auf vielen anderen
Randgebieten werden rasche Fortschri�e erzielt, etwa bei der Erforschung
der Gehirnmechanismen. Dem entspricht auf ethologisch-psychologischem
Sektor eine rege Forschungstätigkeit zu kognitiven Fähigkeiten. Wir kennen
heute unendlich mehr Fakten als noch Lorenz und Tinbergen, aber sind wir
deswegen viel gescheiter geworden? Sicherlich nähern wir uns dem Ziel, die
Ursachen von Verhalten, der Psyche und des Soziallebens zu verstehen. Der
größte Fortschri� liegt wahrscheinlich in der Anerkennung der Berechtigung
und Notwendigkeit, verschiedene Ebenen der Erklärung für Verhalten heranzuziehen, sofern diese mit der evolutionären Theorie vereinbar sind.
Die Verhaltenswissenscha� wurde also ab Beginn unseres Jahrhunderts vor
allem durch zwei Richtungen vertreten, durch die vorwiegend US-amerikani-
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
45
schen Behavioristen und die vorwiegend europäischen Ethologen. Waren die
frühen Ethologen vorerst ebenfalls Anhänger der Reflexlehre, so distanzierte
sich Lorenz später von dieser Richtung. Die frühen Verhaltenswissenscha�ler
waren durch ihren Hang zu Erklärungsmonismen geprägt. So erklärten die
Behavioristen jegliches Verhalten über Lernen durch Versuch und Irrtum; die
Reflexologen glaubten offensichtlich an den alleinseligmachenden bedingten
Reflex. Lorenz anerkannte die Richtigkeit und weitreichenden Konsequenzen
beider Entdeckungen, sah diese Einzelmechanismen aber mit Recht als ungenügend an, das gesamte Verhalten zu erklären; so er zeigte er beispielsweise
die Möglichkeit spontaner Verhaltensentstehung auf.
Biologen konnten der Ansicht Edward Thorndikes und Frederic Skinners nicht
zustimmen, dass es keinen Unterschied mache, Lernvorgänge bei Tauben,
Affen oder Ra�en zu studieren, dass daher auch die Stammesgeschichte auf
diesem Gebiet keine Rolle spiele. Der Konflikt der die prädisponierenden
Effekte der Evolution negierenden Behavioristen mit den Ethologen war
vorprogrammiert. Das Hauptinteresse der Letzteren galt ja gerade der stammesgeschichtlichen Entwicklung von Verhaltensweisen; der Standpunkt der
extremen Behavioristen wurde daher mit Recht als unzureichend abgelehnt.
Die extremen Standpunkte der Behavioristen sind heute Geschichte, ihre
Ansätze und Methoden aber sind mi�lerweile gewinnbringend in die moderne Ethologie eingeflossen.
Es wurde bereits von Lorenz darauf hingewiesen, dass die behavioristische
Doktrin mehr mit Ideologie als mit Wissenscha� zu tun ha�e. Ein einheitlicher Lernmechanismus quer durchs Tierreich wurde vorerst nicht hinterfragt, sondern als gegeben angenommen. Diese Ansicht wurde zumindest
auf der Ebene der Synapsen, also der recht dynamischen Verbindungen
zwischen Nervenzellen bestätigt; am Modell der Meeres-Nacktschnecke
Aplysia, aber auch am Säuger-Hippocampus (ein alter, für das Anlegen von
Gedächtnisinhalten entscheidender Teil unserer Hirnrinde) wurde gezeigt
(Kandel u. a. 1991), dass bei Gebrauch synaptischer Verbindungen über
Kalziumströme Kurz- und Langzeitveränderungen an diesen Kommunikationsstellen zwischen Nervenzellen sta�finden, welche die Durchlässigkeit für
zukün�igen Informationsfluss verändern. Sicherlich ist diese Veränderung
an Synapsen ein wichtiger Mechanismus, aber ist das die ganze Geschichte?
Die Erforschung von Gedächtnis und Denken bleibt die Herausforderung für
die Neurobiologie des 21. Jahrhunderts.
Auch an Ra�en, die von einer sehr reizarmen in eine gut strukturierte
Umgebung versetzt wurden, fand man in der Großhirnrinde eine markante
Zunahme synaptischer Verbindungen (Benne� 1977, zitiert nach Shepherd
1983). Synapsen und ihre postsynaptischen Gegenstücke auf den dendritischen Ästen der Nervenzellen, die sogenannten »spines«, sind auch im
Gehirn von erwachsenen Säugetieren relativ plastisch und durch Gebrauch
beeinflussbar. Sie scheinen eine zentrale Rolle bei Lernen und Gedächtnis zu
spielen, wahrscheinlich über die Kompartimentierung eines der universellsten und wichtigsten Botenstoffe im Organismus, der Kalziumionen. Niemand
bezweifelt, dass die synaptischen Mechanismen eine bedeutende Rolle beim
46
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Lernen spielen, aber Lernvorgänge sind sicherlich nicht nur Einzelereignisse
an Synapsen; es bedarf der Koordination, um sinnvolle Informationsströme
und nicht nur chaotisch-unorganisierte Pakete von Information zu speichern
und abzurufen. Die Kandelsche Theorie erklärt daher nicht, wie komplexes
Lernen zustande kommt.
Wissenscha� und Ideologie
Es wurde von den Behavioristen behauptet, dass Verhalten großteils oder sogar zur Gänze erlernt sei. Für uns Menschen (wie alle anderen Organismen)
würde dies bedeuten, dass wir alle als unbeschriebene Blä�er zur Welt kämen
und uns allein unsere Erziehung, das Umfeld, in dem wir aufwuchsen, zu den
Persönlichkeiten formte, welche wir nun sind. Die Erblichkeit von Verhalten
und Persönlichkeit, ja sogar erbliche Lerndispositionen wurden zunächst abgelehnt. Der Mensch wäre demnach also beinahe uneingeschränkt form- und
manipulierbar. Wieder ist die Verbindung dieses wissenscha�lichen Dogmas
zur politischen Ideologie klar zu erkennen. Bei den politischen Systemen der
beiden Großmächte nach dem Zweiten Weltkrieg fiel eine solche Doktrin auf
fruchtbaren Boden, denn beide wollten einen »neuen Menschen« schaffen.
Und dies, obwohl die US-Demokratie und der UdSSR-Totalitarismus diametral gegensätzliche Systeme waren. Die Gründe für die seltene Einigkeit der
Hauptwidersacher im Kalten Krieg waren unterschiedlich. Den Totalitaristen
ha�e es in ihrem Streben nach Bildung eines perfekten »sozialistischen
Menschen« vor allem dessen vermeintliche totale Lenkbarkeit angetan. Auf
der westlichen Seite entsprach das Bild eines völlig freien und daher selbstverantwortlichen Menschen dem Geist der amerikanischen Verfassung.
Daher ha�e der Langzeiterfolg der behavioristischen Doktrin in den USA
zwei Väter: Diese Geisteshaltung harmonierte nicht nur hervorragend mit
dem traditionellen »American way of life« (im besten Sinne), sondern lieferte
andererseits eine scheinbar solide wissenscha�liche Basis für die Ablehnung
des Sozialdarwinismus. Letzterer war ja zumindest unterschwellig bis über
die Mi�e dieses Jahrhunderts in Europa noch vorzufinden; er hä�e in den
USA mit ihren immanenten Rassenproblemen gefährlichen Zündstoff bedeutet. Viel später wurde aus demselben Grund der Soziobiologie (Wilson
1975) in den USA ein recht heißer Empfang bereitet. Aber Doktrin bleibt
Doktrin und hat mit Wissenscha� nichts zu tun, ganz egal, wie gesellscha�lich nützlich und ethisch positiv sie auch sein mag. Dass die totale
Formbarkeit des Menschen Illusion ist, belegt anschaulich und überzeugend
der Zusammenbruch des Systems im ehemaligen Ostblock. Trotz erheblichen
Erziehungsaufwandes gelang es über all die Jahrzehnte offensichtlich nicht,
den idealen sozialistischen Menschen zu schaffen.
Auch auf der anderen Seite des Atlantik scheint der »American dream« zu
einer ausgeleierten Floskel verkommen; dass mit dem »American way of life«
vor allem eine liberale Geisteshaltung, und die hohen Ideale einer Gesellscha�
freier Bürger gemeint waren und nicht das Schwelgen im verschwenderischen
Konsum, ist fast vergessen; die ursprünglichen Ideale der alten Demokratie
sind korrumpiert. Es bildete sich in den USA eine Zweidri�elgesellscha�,
mindestens ein Dri�el der Bevölkerung lebt auf dem Niveau eines Dri�e-Welt-
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
47
Landes. Nach Schätzungen der Clinton-Administration waren 7 Millionen
Amerikaner ganz oder teilweise obdachlos, was etwa 5 % (!) der Bevölkerung
entspricht. Männliche schwarze Jugendliche tragen ein erschreckend hohes
Risiko, erschossen zu werden, jeder zweite landet irgendwann im Gefängnis.
Es wird in den Strafvollzug, also in Symptombekämpfung investiert, ansta� durch wesentlich mehr Augenmerk auf Bildung und Sozialsystem die
Probleme an ihren gesellscha�lichen Wurzeln anzugehen. Die Ereignisse des
11. September 2001 verschär�en die simplistische law-and-order Mentalität
der US Politik eher, als dass sie zu einem Umdenken beigetragen hä�en.
Realität und Staatsverfassung klaffen immer weiter auseinander, die
Desintegration, die Abgrenzung zwischen ethnischen und sozialen Gruppen, schreitet voran, wie auch US-amerikanische Soziologen bemerken.
Gegenmaßnahmen, etwa die Zwangsdurchmischung in den Schulen durch
das System des »busing«, muten hilflos an; sie erweisen sich als kontraproduktiv, da sie, von oben verordnet, von den betroffenen Menschen nicht akzeptiert werden. Ganz parallel zum Bankro� der ehemaligen UdSSR kämp�
offenbar auch in den USA ein weiteres idealistisches Gesellscha�smodell mit
seinen Grundsätzen.
Ein später Triumph für Konrad Lorenz, welcher der totalen »Machbarkeit des
Menschen« immer widersprochen ha�e und die »Indoktrinierbarkeit« sogar
als eine seiner »8 Todsünden der zivilisierten Menschheit« anführt (1973); eine
späte Niederlage dagegen für Pawlow, Thorndike und Skinner, aber auch ein
Lehrstück über die negativen Folgen der Gängelung der wissenscha�lichen
Ratio durch Ideologie und Doktrinen. Tatsächlich weisen Ergebnisse neuester
Zwillingsforschung (Bouchard u. a. 1990) darauf hin, dass sich etwa 70% der
Persönlichkeitsstruktur ziemlich unabhängig von der Umwelt während des
Heranwachsens entwickeln, dass Persönlichkeitsmerkmale zu einem recht
hohen Ausmaß genetisch determiniert sind (0,2–0,5). Dies bedeutet natürlich
nicht, dass es sinnlos wäre, in Bildung und Erziehung zu investieren, da die
genetische Fundierung eben noch eine ganze Menge Einflussmöglichkeiten
für die Umwelt offenlässt. Ein reiner genetischer Determinismus wäre ebenso
verfehlt, wie ein ohnehin vielfach gescheiterter rein milieutheoretischer
Ansatz. Die »Freiheit des Menschen« kann sich eben nur im Rahmen der evolutionären Möglichkeiten gestalten.
Während doktrinäre Pseudowissenscha� die Aufgabe hat, deduktiv vorgefasste Meinungen zu bestätigen (was viele sogenannte wissenscha�liche
Gutachter leider ebenfalls tun), lässt sich ein »wahrer« Wissenscha�ler
vor keinen Karren spannen und verallgemeinert nur auf der Basis vorliegender Daten. Auf der Basis solcher Daten gefasste Meinungen nennt
man Arbeitshypothesen. Diese wiederum liegen der darauffolgenden
Datenaufnahme zugrunde, welche darauf abzielen sollte, die ursprünglichen Hypothesen zu testen und gegebenenfalls zu verwerfen (Exkurs 5).
Nur wenn dies trotz Bemühens nicht gelingen sollte, wird die vormalige
Arbeitshypothese als (vorläufige) Erklärung angenommen. Dass auch viele
Wissenscha�ler ihre Lieblingshypothesen trotz gegenteiliger Behauptungen
nicht gerne »zum Frühstück verzehren« und lieber über Daten hinwegsehen,
48
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
die ihre Hypothesen gefährden könnten, scheint zutiefst menschlich, verpflichtet aber zu fachlichem Misstrauen jeglicher wissenscha�lichen Aussage
gegenüber. Man muss sich der Stärken und Schwächen dieser induktiv-deduktiven naturwissenscha�lichen Arbeitsmethode bewusst sein, um wissenscha�liche Ergebnisse richtig nutzen und interpretieren zu können (Exkurs
5, 6 und unten). Die verbreitete Verwechslung von wissenscha�lichen
Ergebnissen mit Wahrheit mag das Ihre zur heute weit verbreiteten Wissenscha�sfeindlichkeit und zur Flucht in verschiedensten mystischen und metaphysischen Hokuspokus beitragen.
Exkurs 5: Wissenschaftstheorie 1: Hypothesen müssen testbar
sein: Zur »Wahrheit« in der Wissenschaft
Naturwissenschaftler finden und beschreiben zuerst Regelmäßigkeiten
(»Muster«), ermitteln dann experimentell Ursachenzusammenhänge und erstellen schließlich Modelle und Theorien, um die gefundenen Muster möglichst umfassend zu erklären und um damit eine Basis für weitergehende Forschung zu
schaffen. Im Wesentlichen ist es das Ziel jeder wissenschaftlichen Arbeit, zu ermitteln, ob Unterschiede zwischen zwei oder mehreren Gruppen bestehen, und
die Ursachen für diese Unterschiede festzustellen. Solche Unterschiede wird es
fast immer geben. Angenommen, man hätte zwei große Säcke mit Bohnen und
es wäre nur erlaubt, aus jedem der beiden Säcke je eine Handvoll zu entnehmen; wir müssten aufgrund dieser recht bescheidenen Stichprobe entscheiden,
ob die Größe der Bohnen in den beiden Säcken gleich oder unterschiedlich
sei. Wir sollten daher im Zusammenhang mit jeder gestellten Aufgabe in der
Lage sein, zwischen zwei Hypothesen unterscheiden zu können, zwischen der
sogenannte »0-Hypothese« und der »Arbeitshypothese«. Im Bohnenbeispiel
würden die beiden gegeneinander zu testenden Hypothesen lauten:
1. 0-Hypothese: Kein Unterschied. Die Bohnen entstammen derselben Grundgesamtheit (identische Bohnensorte, Anbauort, Erntezeit,
Trocknungsmethode usw.).
2. Arbeitshypothese: Die Bohnen entstammen unterschiedlichen Grundgesamtheiten, d. h. die Durchschnittsgrößen (die Verteilung der Größen)
aller Bohnen in jedem der beiden Säcke sind tatsächlich verschieden.
Um zwischen den beiden Hypothesen mit einer definierten Irrtumswahrschein
lichkeit (als notwendiges Maß für die Verlässlichkeit einer wissenschaftlichen
Aussage) unterscheiden zu können, gibt es eine Fülle verschiedener statistischer Tests; welche man davon anwenden kann, entscheidet die Datenstruktur.
So sie auf Normalverteilung basieren (wie auf die Bohnengrößen anzuwenden),
berücksichtigen diese Tests den Mittelwert, den Streu der Daten und die Zahl
der gezogenen Stichproben.
Zeichnung 2 zeigt die Verteilung der Bohnengrößen für zwei Fälle:
1. Die Stichproben entstammen derselben Grundgesamtheit
(0-Hypothese bestätigt).
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
49
2. Die Stichproben entstammen unterschiedlichen Grundgesamtheiten
(Arbeitshypothese bestätigt).
Ein Mittelwertvergleich durch bloßes Hinschauen erlaubt keine Entscheidung
zugunsten oder gegen eine der beiden Hypothesen, womit klar wird, dass die
beiden Hypothesen tatsächlich gegeneinander getestet werden müssen. Die
Fälle (in unserem Beispiel Bohnen) aus den verschiedenen Grundgesamtheiten
müssen dabei in ihrer Größe nicht sauber getrennt sein, sondern können überlappen. Ein geeigneter Test wird bei ausreichender Stichprobenanzahl trotzdem
einigermaßen verläßlich über die Zugehörigkeit der beiden Proben Auskunft
geben.
Am Ausdruck +einigermaßen verlässlich* lässt sich demonstrieren, wie
es um den Begriff der »Wahrheit« in der Wissenschaft bestellt ist. Jede
Entscheidung zugunsten oder gegen die 0-Hypothese fällt auf der Basis von
Wahrscheinlichkeit. Die »Irrtumswahrscheinlichkeit« in Prozent gibt an, wie
hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass unsere Entscheidung für oder gegen
die 0-Hypothese zutrifft. Liegt also eine Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 % vor,
dann ist mit 5%iger Wahrscheinlichkeit die getroffene Entscheidung falsch.
Anders ausgedruckt: Von 100 Entscheidungen werden 5 falsch sein; die beiden
Grundgesamtheiten werden als verschieden beurteilt, obwohl sie tatsächlich
gleich sind und die 0-Hypothese aufrechtzuerhalten wäre. Selbst bei sehr ge-
Abbildung 2: Zu entscheiden, ob Grundgesamtheiten gleich, oder verschieden sind, ist wohl das zentrale Problem der Naturwissenscha�en. Im
vorliegenden Beispiel soll mi�els begrenzter Zufallsstichprobe, (n = 8) aus
den Säcken entschieden werden, ob die Nullhypothese gilt (Säcke A und B:
Grundgesamtheiten nicht signifikant verschieden) oder zurückgewiesen
werden kann (Säcke A´ und B´: Grundgesamtheiten signifikant voneinander
verschieden). Dafür müssen geeignete statistische Tests herangezogen werden, da eine solche Entscheidung durch bloßen Augenschein nicht getroffen
werden kann.
50
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
ringen Irrtumswahrscheinlichkeiten, etwa von unter 0,01 %, tragen wir immer
noch ein Restrisiko von 1/10000, dass die getroffene Entscheidung nicht zutrifft.
Da aber jegliche Entscheidung zwischen Hypothesen immer auf Basis von
Irrtumswahrscheinlichkeiten fällt, können Entscheidungen in der Wissenschaft
bestenfalls mit »an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit« getroffen werden, sind aber niemals unumstößliche »Wahrheit«.
Diese Einsicht ist nicht neu, sie ist nur eine andere Ausformulierung des bereits
von David Hume (1711–1776) formulierten Induktionsproblems. So ist der Satz
»Alle (Höcker-)Schwäne sind weiß« zwar zutreffend, aber doch niemals »wahr«,
also weder ein Naturgesetz noch eine Gewissheit; er ist nicht beweisbar. Denn
wer garantiert, dass nicht doch einmal ein schwarzer (Höcker-)Schwan auftaucht?
Wahrheit, Glaube, Wissenschaft
Hypothesen müssen also testbar und zumindest potentiell falsifizierbar sein
(Popper 1974, 1976), sonst qualifizieren sie sich nicht als wissenschaftliche
Hypothesen, sondern sind Mythen, die in der Naturwissenschaft keinen
Platz haben, weil sie keinen Erkenntnisgewinn bringen können. Die Aussage
»Gott hat die Welt erschaffen« mag wahr sein, aber sie liegt außerhalb des
Zuständigkeitsbereiches der Naturwissenschaften, weil sie nicht testbar, nicht
falsifizierbar ist. Man kann dran glauben. Woran man aber im Gegensatz dazu
nicht glauben darf, sind naturwissenschaftliche Hypothesen. Wenn also ein
Naturwissenschaftler erklärt, er sei fest von der Richtigkeit einer Hypothese
überzeugt, hat er eigentlich den Boden der Naturwissenschaften bereits verlassen. Es liegt im Wesen von Hypothesen, dass sie nicht einfach akzeptiert,
geglaubt werden dürfen. Wahr können sie niemals sein, höchstens mit einer
bestimmten Wahrscheinlichkeit zutreffen.
Komplizierter wird die Sache dadurch, dass es »harte« und »weiche« Hypothesen gibt. Die »harten« treffen Aussagen über gegenwärtige Wirkgefüge
und sind testbar im eigentlichen Sinne. So ist etwa die Aussage, dass
geschlechtsspezifische Steroidhormone die Ausbildung der sekundären
Geschlechtsmerkmale bewirken, direkt durch Entzug bzw. Substitution dieser
Hormone belegbar. »Weiche« Hypothesen betreffen hauptsächlich historische
Abläufe. Evolutionäre, also geschichtliche Hypothesen können nicht experimentell »getestet«, wohl aber glaubhaft gemacht werden. Streng genommen
gehören sie daher ins Reich der Mythen (Popper 1976). Dennoch erlauben
es die Fossilbelege oder auch Artvergleiche, solche Hypothesen dermaßen
gut zu belegen, dass die Unterscheidung zwischen »harten« und »weichen«
Hypothesen zwar wissenschaftstheoretisch berechtigt ist, für die Praxis aber oft
belanglos bleibt.
Die Spirale des wissenschaftlichen Fortschritts: Induktion und Deduktion
Als »Induktion« bezeichnet man den Vorgang des Ableitens allgemeiner Sätze
von Beobachtungen, also die Entwicklung von Theorie. »Deduktion« dagegen
ist das Überprüfen bereits vorhandener Theorie mittels empirischer Daten
bzw. mit Hilfe des gezielten Experiments. Man braucht kein großer Gelehrter
zu sein, um zu erkennen, dass Induktion und Deduktion zwei Seiten einer
Medaille darstellen, dass die alternierende Abfolge zwischen den beiden den
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
51
Forschungsprozeß in Gang hält. Das erklärt auch, warum naturwissenschaftliche Forschung nie an ein definitives Ziel gelangen kann. Die induktiv-deduktive
Methode wurde übrigens in ihren Grundzügen bereits von Aristoteles dargestellt. Induktion kann es ohne Deduktion nicht geben und umgekehrt. Ohne
den Schritt zur Verallgemeinerung vollziehen zu wollen, ist das Sammeln von
Daten letztlich sinnlos. Und sind solche allgemeinen Zusammenhänge einmal
etabliert, dann müssen sie sich an der Wirklichkeit bewähren, was wiederum im
nächsten Induktionsschritt zu ihrer Modifizierung führen kann. Durch die induktiv-deduktive Methode nähern sich wissenschaftliche Aussagen der Wirklichkeit
asymptotisch an, können sie aber niemals erreichen. Grund dafür ist das oben
skizzierte Induktionsproblem.
Konrad Lorenz wetterte gegen die Deduktion, weil er sah, dass in der wissenschaftlichen Praxis zu seiner Zeit allzu rasch zur Verallgemeinerung geschritten
wurde oder man allgemeine Sätze von zweifelhaftem Wert dadurch bestätigen
(nicht überprüfen!) wollte, dass man die passenden Daten dazu suchte. Diese
Gefahr besteht immer dann, wenn eine starke grundlegendeTheorie vorliegt,
wie etwa im Falle der Öko-Ethologie. Darum plädierte Lorenz für das »unvoreingenommene Beobachten« als Induktionsbasis jeder Untersuchung, obwohl dies
eigentlich gar nicht möglich ist.
Objektive Aussagen durch subjektive Wissenschaftler? Erklärungsmonismen, Denken in Gegensätzen, Alternativhypothesen
Ziel aller Wissenschaften ist es, die Welt zu erklären, zu objektivieren und
damit vorhersagbar zu machen. Dem stehen aber Eigenschaften unserer
Sinnesorgane, unseres Gehirns gegenüber, die uns dieses Vorhaben nicht gerade erleichtern (vgl. Grammer 1988, Lorenz 1943). Evoluiert, um uns an eine
variable (physische, vor allem aber soziale) Umwelt anzupassen und letztlich,
Reproduktionsraten zu optimieren, müssen ständig große Informationsmengen
kategorisiert werden. Lorenz bezeichnet dies als »Prägnanztendenz« des
Menschen, die sich unter anderem dadurch äußert, dass wir beinahe zwanghaft
alle Phänomene erkennen, einordnen, benennen wollen. Wahrscheinlich gibt es
diese Eigenschaft in abgestufter Form bei fast allen Tieren. So entstand ein »ratiomorpher« Apparat, der uns entsprechende »Denkzwänge« auferlegt (Riedl
1981b, 1984), obzwar er hervorragend geeignet ist, einfache Optimierungen
durchzuführen (Poundstone 1992), muss er doch erst individuell und methodisch diszipliniert lernen, in weiteren Bereichen objektiv zu denken.
Die für Naturwissenschaften nötige Objektivierung erfordert eine a-priori
Definition der Werkzeuge und Methoden. Wenn jemand zu Recht gegen das
hemmende Methodendiktat wettert, so sollte klar sein, dass wir dieses im
gewissen Ausmaß zur Überwindung der eigenen Unzulänglichkeit benötigen.
Wir müssen unsere eigene, subjektive Umwelt (im Sinne von Jakob von
Uexküll [1934] am ehesten als »Welt unserer Wahrnehmung« zu verstehen)
überwinden und auf der Basis objektiver, physikalischer Messungen (nicht
im Sinne eines Abbildes der Wirklichkeit, sondern von Replizierbarkeit) arbeiten. Unsere Sinnesorgane, unser Erkenntnisapparat sind nicht geeignet,
die physikalische Wirklichkeit zu erfassen, denn: 1. Unsere Sensorien sind
ungeeignet. Sie können fehlen, beispielsweise für Radioaktivität, für magnetische oder elektrische Felder, und zudem messen unsere Sinnesorgane keine
52
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
absoluten Werte, sondern Kontraste, welche sie noch zusätzlich verstärken.
Da also die individuelle menschliche Wahrnehmung nicht von sich aus objektiv
ist, benötigen wir Hilfsmittel, um unsere physikalische Umwelt, der auch die
Raum-Zeit-Bewegungen, also das Verhalten anderer Organismen angehören,
reproduzierbar zu machen, sie durch standardisiertes Quantifizieren zu erfassen. Dazu schufen Menschen sich Instrumente mit Messkonstanz. Diese sind
im einfachsten Fall Ergänzungen unserer Sinnesorgane. So sind wir kaum in
der Lage, die tatsächliche Umgebungstemperatur zu schätzen. Dieselben 20° C
Raumtemperatur mögen uns, abhängig von unserer jeweiligen Vorgeschichte,
kalt oder warm vorkommen, eine Temperaturerhöhung auf 21° C nehmen wir
bereits als spürbare Erwärmung wahr. Das Instrument zur Objektivierung ist hier
schlicht ein Thermometer.
2. Unser Erkenntnisapparat neigt offenbar dazu, in linearen Kausalitäten zu denken. Einfache, monistische Erklärungen werden komplexeren vorgezogen. Alles
muss möglichst eine einzige Ursache haben, das in der Dynamik vernetzter
Systeme auftretende Chaos ist in unserer Vorstellungswelt nicht repräsentiert.
Menschen wollen die Welt vollständig in ordentlichen, also deterministischen
Systemen erklären. Wenn-dann-Hypothesen dominieren (Grammer 1988,
Lorenz 1973). Wissenschaft ist eine der möglichen Erklärungsmethoden,
Religion eine andere. Die Populisten in der Politik etwa nutzen diese grundlegend menschlichen Denkvorlieben geschickt für sich. Chaos finden wir wahrscheinlich bedrohlich, weil es Vorhersagbarkeit untergräbt und damit keinen
(oder nur fallweisen) Überlebenswert hat.
Diese Prägnanztendenz treibt uns dazu, ständig nach möglichst generellen
Erklärungsprinzipien zu suchen. Den Monotheismus kann man als einen
Kulminationspunkt dieser Entwicklung ansehen, als Erklärung des Universums
durch ein einziges Prinzip. Besonders in der Ökologie suchte man bisher mit
mäßigem Erfolg nach allgemeinen Prinzipien, die für das Verhalten möglichst
aller Populationen, möglichst aller Ökosysteme zuträfen. Fruchtbarer wird diese
Suche erst durch eine neue Generation von Modellen, die statt an der gesamten
Population am Individuum ansetzen (Judson 1994).
Eine Grundproblem der Suche nach Allgemeingültigkeit sind negative Ergebnisse, die um so wahrscheinlicher werden, je allgemeiner das Ziel angesetzt ist.
Es gilt die allen negativen Ergebnissen gemeinsame Grundproblematik, dass
es entweder das gesuchte Prinzip nicht gibt oder dass man es (aufgrund eines
falschen Ansatzes etwa) noch nicht gefunden hat. Negative Ergebnisse sind in
dieser Hinsicht nicht schlüssig. Differenziertes Denken in Alternativhypothesen
fällt Menschen anscheinend schwer, nicht nur in der Wissenschaft. Erfolglose
Politik etwa sucht immer nach einem Sündenbock und findet den auch meistens.
So neigt man in der Öko-Ethologie etwa dazu, die Verteilung von Tieren mit
der Verteilung lebensnotwendiger Ressourcen zu erklären. Das ist sicherlich
richtig, es zeigte sich aber, dass in vielen Fällen die tatsächliche Verteilung
einen Kompromiss aus Ressourcen und Raubfeinddruck darstellt, dass also der
Parameter Ressourcenverteilung nur einer von vielen ist und dass Tiere sich vielmehr auf Ressourcenverfügbarkeit einstellen. Beispiele ließen sich viele finden.
In der Regel hat jedes beobachtbare Phänomen mehr als nur eine Ursache.
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
53
3. Unser Erkenntnisapparat neigt zur Kontrastbildung. Daraus scheint eine allgemeine menschliche Neigung zu entspringen, im Sinne der Prägnanztendenz
in Gegensatzpaaren zu denken: gut–böse, Inländer–Ausländer, alt–jung,
schwarz–weiß, Freund–Feind, Stadt–Land, angeboren–erworben, Körper–
Geist, Schaf–Wolf usw. Man neigt dazu, die Endpunkte von Kontinuen, die
solche Dualismen darstellen, höher einzuschätzen als die Zwischentöne.
Journalisten neigen besonders dazu, solche Endpunkte überzubetonen,
Aussagen zuzuspitzen, eindeutig zu machen, was wiederum eigentlich nur
die Bedürfnisse des Marktes, der Medienkonsumenten widerspiegelt. Klare
Aussagen (ja oder nein, so oder anders, wenn–dann) sind positiv belegt, während differenziert abwägende Zeitgenossen eher zu den +Intellektuellen* gezählt
werden, denen öffentliches Misstrauen sicher ist. Beinahe unnötig zu erwähnen,
dass dieser menschliche Denkzwang zur Kontrastbildung ein schwerwiegendes
Hemmnis für differenzierende Wissenschaft und ihre Akzeptanz darstellt. Aber
die Naturwissenschaft beschreibt eben keine schwarz-weiße Welt, sondern eine
Welt der Zwischentöne.
4. Unser Erkenntnisapparat ist nicht objektiv, er blendet aus, was er nicht sehen
will. »Aber Kind, wozu hast du denn deine Augen?« soll der alte Lorenz gesagt
haben, als ihn eine Mitarbeiterin Mitte der 80er Jahre fragte, ob es nicht möglich
wäre, einen Computer für die Forschung an den Grünauer Gänsen anzuschaffen. Diese Episode zeigt den Gegensatz zwischen den Befürwortern der ganzheitlichen Gestaltwahrnehmung und den reduktionistischen Quantifizierern. Ein
Problem der Gestaltwahrnehmung ist, dass sie ohne die Hilfe der Ouantifizierung
objektives Arbeiten unmöglich macht und damit eigentlich kein Instrument der
Naturwissenschaften sein kann. Lorenz war dem Vernehmen nach enttäuscht,
als er hörte, eine Auswertung umfangreicher Schar-Daten der Seewiesener
Graugänse hätte ergeben, dass diese im Prinzip lebenslang partnertreuen
Tiere doch wesentlich häufiger wechseln, also bloßes Hinschauen vermuten
ließ (Exkurs 9). Derselbe Lorenz hielt häufiges Triumphgeschrei für das Zeichen
einer »guten« Paarbindung. Ein bisschen Quantifizieren unsererseits zeigte
eher das Gegenteil: Gerade die Ganter instabiler Paarungen hatten die höchste
Triumphgeschrei-Frequenz (Mausz u. a. 1992). Wenn sich also ein qualitativ
derart genauer Beobachter wie Konrad Lorenz in solch einfachen Fragen der
Häufigkeit des Auftretens irren konnte, bedarf es keines weiteren Kommentars,
warum Quantifizierung ein Grunderfordernis der Naturwissenschaft ist.
Statistik bietet Instrumente zur geistigen Disziplinierung vor der Datenerhebung
und zur Auswertung und Interpretation derselben an. Dass Statistik bedeutet,
mit Zahlen zu lügen, ist sowohl eine dümmlich-witzige Schutzbehauptung
Unkundiger, als auch eine reale Gefahr. Die Instrumente der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung stellen allerdings, richtig angewandt, unsere wichtigsten Hilfsmittel gegen den Selbstbetrug dar, wie bereits aus dem Abschnitt über
Wahrheit und Wissenschaft hervorging.
Natürlich gibt es vielfältige Möglichkeiten, mit falsch angewandter Statistik
willentlich oder unabsichtlich zu »lügen«. Das beginnt bei einer der Grundgesamtheit nicht adäquaten Probennahme, erstreckt sich über die Missachtung
von Voraussetzungen für statistische Verfahren (etwa der Normalverteilung) bis
hin zur irreführenden graphischen Darstellung von Daten. Manipulationsmöglich-
54
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
keiten gibt es wahrlich viele, was man aber nicht der Methode, sondern den
Anwendern anlasten muss. Schnelle Computer mit der bestmöglichen StatistikSoftware sparen zwar Rechenzeit, entheben aber die Anwender nicht der
Verantwortung, die richtigen statistischen Prozeduren anzuwenden. Das (meist
unbeabsichtigte) »Lügen durch Zahlen« ist daher eine tatsächlich bestehende
Gefahr, der wir uns aber stellen müssen, da jegliche wissenschaftliche Arbeit, im
induktiven wie deduktiven Bereich, ohne Statistik undenkbar wäre.
Statistik erlaubt nicht nur den Vergleich zwischen zwei Gruppen, sondern
bietet auch im multivariaten Bereich Möglichkeiten, Muster in einer großen
Zahl von erhobenen Variablen zu finden, etwa durch Faktorenanalyse.
Gewonnen wird durch diesen Umweg über Statistik die Reproduzierbarkeit.
Anwendungsbeispiele betreffen die evolutionäre und ontogenetische Hirnentwicklung bei Karpfenfischen (Kotrschal und Palzenberger 1991) oder die
komplexen Schwimmpfade von Fischen (Essler und Kotrschal 1994).
Meinungsunterschiede zwischen Wissenschaftlern
Einer der häufigsten Vorwürfe der Öffentlichkeit gegenüber Wissenschaftlern
betrifft deren Konfliktfreudigkeit: Dass zwei Wissenschaftler zu einem bestimmten Thema gewöhnlich mindestens drei verschiedene Meinungen
vertreten, kommt der Sache recht nahe. Das hat mehrere Ursachen, wovon
einige das Resultat des wissenschaftlichen Prozesses und daher akzeptabel,
andere wiederum das Ergebnis menschlicher Unzulänglichkeit und daher im
Rahmen der Naturwissenschaften inakzeptabel sind. Um mit letzteren zu beginnen: Man bedient sich leider allzuoft des wissenschaftlichen Deckmantels,
um Gruppeninteressen durchzusetzen. Wer kennt sie nicht, die »unfehlbaren Experten« irgendwelcher Lobbies, die, direkt oder indirekt von ihren
Auftraggebern abhängig, deren Interessen mit der Autorität akademischer Titel
vertreten. So ist die von den allgegenwärtigen Handy-Masten ausgehende
Strahlung je nach Auftraggeber der Expertise entweder völlig harmlos oder eine
tödliche Gefahr. Dieser klare Missbrauch ist besonders infam, weil oft schwierig
zu durchschauen, und auch, weil er die Wissenschaft generell in Verruf bringt.
Wofür die Wissenschaft etwas kann und wofür sie sich nicht zu schämen
braucht, sind die aus dem wissenschaftlichen Prozess stammenden Meinungsverschiedenheiten. Zu einem geringeren Teil betreffen diese die Gültigkeit von
Ansätzen und Methoden, die wiederum für die Aussagekraft der resultierenden
Daten entscheidend sein können. Überwiegend jedoch entstehen Meinungsverschiedenheiten bei der Interpretation ein und derselben Daten, was natürlich
Irritationen verursacht. Diese Diskussionen sind Teil des wissenschaftlichen
Prozesses. Zum ersten sind wissenschaftliche Aussagen nicht »wahr«, sondern werden auf Grundlage definierter Wahrscheinlichkeiten getroffen (siehe
oben), was natürlich Interpretationsspielraum zulässt. Zum Zweiten drehen
sich die Spiralen des induktiv-deduktiven Prozesses selbst auf der Basis derselben Daten bei verschiedenen Arbeitsgruppen selten in dieselbe Richtung.
Dermaßen auftretende Konzeptunterschiede führen wieder zu unterschiedlichen Arbeitshypothesen und Testansätzen. Dies tritt um so eher auf, je größer
der von den Daten erlaubte Interpretationsspielraum ist. Das heißt nicht notwendigerweise, dass die einen Recht haben, während die anderen irren – es ist ein
Beleg für die Vielfalt und Komplexität dieser Welt.
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
55
So ist zweifelsfrei belegt und daher auch von allen ernsthaften Wissenschaftlern
akzeptiert, dass die Ozonlöcher über den Polen der Erde größer werden oder
dass der steigende CO2-Gehalt der Erdatmosphäre mit einem Temperaturanstieg
korreliert. In der Interpretation ist man sich schon nicht mehr so einig. Abhängig
von den verwendeten Simulationsmodellen reichen die Vorhersagen für die
Folgen dieser Entwicklung für Klima und Leben auf der Erde von vernachlässigbar über regional bis global katastrophal. Keine Woche vergeht, ohne dass
widersprechende Berichte in der wissenschaftlichen Literatur erscheinen. Hier
sind die Naturwissenschaften im Bereich der Simulationen an die Grenzen ihrer
Leistungsfähigkeit gestoßen. Wir werden damit leben müssen, dass auch wissenschaftlich nicht alles »machbar« bzw. vorhersagbar ist.
Damit könnte man sich begnügen und sich als Wissenschaftler in den Elfenbeinturm zurückziehen. Das wäre aber der falsche Weg, hieße es doch, die Welt
den schillernden Kindern der Irrationalität zu überlassen. Die zukünftige KlimaEntwicklung ist ein gutes Beispiel für wissenschaftliche Verantwortung in einer
Grauzone abseits harter Daten. Es ist unbestritten, dass CO2 genauso wie viele
andere menschengemachte Emissionen zu Veränderungen in der Biosphäre
führen. Der Streit dreht sich hauptsächlich darum, wie rasch und wie schlimm
die Folgen sein werden. Hier wäre es selbstverständlich falsch, zu warten, bis
diese Folgen tatsächlich eintreten, um sie dann naturwissenschaftlich nachzuweisen. Natürlich sind wir verpflichtet, die schlimmsten Vorhersagen zur Basis
unserer gegenwärtigen Maßnahmen zu machen.
Der Konflikt Behaviorismus - Ethologie
Ethologen und Behavioristen waren im 20. Jahrhundert sozusagen Lieblingsfeinde. Dieser Gegensatz war persönlich und ging tief. Das gilt für Konrad
Lorenz vor allem für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, während
seine Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus in seinem »Russischen
Manuskript« (geschrieben 1944–1948, erstmals veröffentlicht 1992) noch recht
objektiv verläu�. Generell war es eine Auseinandersetzung von europäischen
Ethologen mit vor allem US-amerikanischen Experimentalpsychologen um
die Bedeutung von Genen, bzw. Umwelt in der (Verhaltens-) Entwicklung.
Obwohl Argumente und Polemik schon früher ausgetauscht wurden, brach
die offene Auseinandersetzung doch erst nach dem öffentlichen Angriff
Daniel S. Lehrmans (1953) auf Lorenz aus. Dafür waren sicherlich nicht
nur rein fachliche Gründe maßgebend, sondern auch die jüngste deutsche
Geschichte, die Massenvernichtung von Juden im Dri�en Reich. Lehrman
war jüdischer Herkun� und machte Lorenz aufgrund einiger seiner während
des Krieges erschienenen Schri�en (z. B. Lorenz 1940) zumindest implizit
für die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes mitverantwortlich
(vgl. Föger und Taschwer 2001, Kotrschal u. a. 2001, Wuketits 1990). So griff
denn auch in der erste Version seines Manuskripts D. Lehrmann K. Lorenz
recht persönlich an (Hess, zitiert nach Barlow 1989). Der Herausgeber musste
auf Lehrman einwirken, das Manuskript zu entschärfen. Ungeachtet dessen,
dass diese Publikation der Ausgangspunkt einer fruchtbaren Diskussion
56
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
und schließlich einer Synthese durch andere Wissenscha�ler wurde, fanden beide keine rechte fachliche Gesprächsbasis mehr, allen gegenseitigen
Freundscha�sbeteuerungen zum Trotz. Immerhin traf man einander in den
1950er Jahren, auf den ersten ethologischen Konferenzen nach dem Krieg in
Deutschland und Holland zu offenen Diskussionen, die allerdings auf die
zutiefst genetisch-deterministische Einstellung von K. Lorenz keinen nachweisbaren Einfluss ha�en. Lehrman selber vermerkte (1970), dass Lorenz
zwar versuche, seine ursprünglichen Positionen besser zu erläutern, sie aber
inhaltlich nicht wesentlich modifiziert habe.
Gerade auf der Basis der von Lehrman kritisierten Konzepte der Erbkoordination und des Triebmodells wurde von Ethologen und Physiologen in den 50er
und 60er Jahren viel empirische Forschungsarbeit geleistet. Dabei stellte sich
der Dualismus »angeborenes« gegen »erworbenes« (erlerntes) Verhalten als
grobe gedankliche Vereinfachung und daher als nicht nützlich heraus; man
erkannte vielmehr, dass in der individuellen (ontogenetischen) Entwicklung
das Verhalten jedes Organismus in einem komplizierten Wechselspiel von
endogenen Dispositionen und Reizen aus der Umwelt rei�.
Exkurs 6: Wissenschaftstheorie 2: Die »Not« der
Naturwissenschaften – Reduktionismus versus »Holismus«
Naturwissenschaften nach der Aufklärung sind von ihrer Arbeitsweise her notwendigerweise materialistisch, mechanistisch und reduktionistisch. Das wird
ihnen heute vielfach zum Vorwurf gemacht. Die Begriffe Materialismus und
Mechanismus beziehen sich darauf, dass auch die Phänomene des Lebens, um
die sich die Biologie kümmert, restlos aus den Gesetzen der Materie erklärbar
sein müssen. Das ist in der Physik relativ einfach, wird aber in der Biologie, wo es
vielfach um komplexe, ja chaotische Systeme geht, schwierig. Ein Rückgriff auf
die Metaphysik, auf eine »höhere Instanz«, etwa eine Vis vitalis, ist aber trotzdem
im Rahmen der Naturwissenschaft weder sinnvoll noch erlaubt, weil damit neben
der kausalen Begründbarkeit u. a. die Reproduzierbarkeit – ein Grunderfordernis
für die Ergebnisse der Naturwissenschaften – beeinträchtigt würde und etwa
im Bereich der Evolution dem spekulativ-mystischen Kreationismus Tür und
Tor geöffnet wäre. Letztlich ist die a-priori Annahme einer metaphysischen
Instanz Deduktionismus in Reinkultur und mit (induktionistisch zu betreibender)
Naturwissenschaft unvereinbar (Lorenz 1992). Unsinnig ist auch der umgekehrte
Weg, nämlich Gott und die Auferstehung aus der Physik heraus berechnen zu
wollen (Tipler 1994). Gott ist keine testbare Hypothese, kann deswegen auch
nicht Gegenstand der Naturwissenschaften sein.
Besonders schmerzlich mag in unserer Zeit, in welcher das Wort »ganzheitlich«
ein positiv besetztes Schlagwort ist, der Zwang zum Reduktionismus anmuten.
Bedeutet dies doch, um bei einer Metapher von Konrad Lorenz zu bleiben, den
Versuch, die Funktion eines Automobils aus der Beschreibung seiner zerlegt
vorliegenden Einzelteile ergründen zu wollen. Es mag mit Mühe gelingen, die
Funktion des Motors zu rekonstruieren, wie dieser die Räder treibt, zu zeigen,
dass ein Auto also fährt. Unergründbar ist aber aus diesem Ansatz, wohin und
zu welchem Zweck das Vehikel rollt. Genauso arbeiten aber letztlich insbeson-
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
57
dere die experimentellen Naturwissenschaften, die dem methodischen Zwang
unterliegen, immer nur eine einzige Variable in einem System verändern zu
dürfen, um gültige Aussagen über ursächliche Wirkungsbeziehungen treffen zu
können.
Damit verbietet sich den Naturwissenschaften anscheinend die Arbeit mit
komplexen dynamischen Systemen von selbst, wie z. B. einem Individuum in
seinem Lebensraum oder gar einer Sozietät, die aus interagierenden Individuen
in einem Lebensraum besteht. Wollte man etwas über die Wirkbeziehungen
eines Hormons auf Individuen und ein Sozialsystem wissen, so hätte man mit
Zellkultur und kontrollierten Milieus zu beginnen, sich dann die Wirkung dieses
Hormons auf die individuelle Entwicklung anzusehen usw. Im Prinzip ist das
auch so. Manche systemisch orientierte Kritiker lehnen daher mit einem logisch
scheinbar richtigen Argument die Naturwissenschaften ab oder schränken
zumindest ihre Kompetenz stark ein: Es wird darauf hingewiesen, dass man
aus der Kenntnis der Teile nicht auf die Eigenschaften des Systems rückschließen könne, da aus deren Zusammenwirken ganz neue Systemeigenschaften
entständen. So wäre es tatsächlich unmöglich, das Wesen eines Menschen
aus der Kenntnis der Struktur und Funktion all seiner Organe, Herz, Nieren,
Eingeweide, ja sogar Gehirn, zu erkennen.
Mit ihrem rigorosen Methodenanspruch stellen sich die Naturwissenschaften
also scheinbar selbst eine fatale Falle: Man erforscht etwa in einer Zeit,
da Menschen und Biosphäre um das Überleben ringen, mit Akribie die
Handbewegungen des Japan-Makaken beim Waschen der Kartoffel und beweist
damit eigentlich nur die eigene Impotenz, die Welt zu erklären (könnte man meinen). Natürlich haben nicht nur die Esoteriker die Ganzheitlichkeit gepachtet,
sie muss anzustrebendes Ideal eines jeden vernünftigen Naturwissenschaftlers
bleiben. Denn aus der Not des Reduktionismus eine Tugend machen zu wollen
wäre engstirnig und würde den Widerstand aller Menschen mit Hausverstand
gegen diese Art der Wissenschaft rechtfertigen. Aber naturwissenschaftliche
Ganzheitlichkeit liegt in ihrem Erklärungsanspruch, nicht in der Arbeitsmethode.
Wissenschaftspessimisten sind im Irrtum, wenn sie glauben, das Korsett des
Reduktionismus sei nicht zu sprengen. Sie übersehen, dass es eine Reihe
naturwissenschaftlich zulässiger »Krücken« gibt, deren Vernetzung es den
Naturwissenschaftlern erlaubt, zu gültigen Aussagen über die Funktion (und
deren Ursachen) von Systemen zu kommen. Zu nennen wären
1. die »unvoreingenommene« Beobachtung,
2. der vergleichende Ansatz,
3. Modellbildung und Simulation,
4. ein vernetzter experimenteller Ansatz
und, als wichtiges methodisches Rüstzeug in unterschiedlichsten Ansätzen,
5. statistische Methoden, die es erlauben, mehrere Variablen gemeinsam
zu hantieren bzw. den gleichzeitigen Einfluss mehrerer Parameter auf
Systeme aufzutrennen.
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Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
1. Die »unvoreingenommene« Beobachtung war die bevorzugte Methode von
Konrad Lorenz, weil sie im Gegensatz zum Experiment rein induktionistisch ist,
also (scheinbar) ohne a-priori-Hypothesen auskommt (Exkurs 5). Es ist eine
Binsenweisheit, dass man vor der Planung jeglichen Experiments erst sein
System durch eingehende Beobachung kennenlernen muss. Damit erhält man
Information, wie sich ein System verhält, wie also seine Teile zusammenwirken, nicht aber, warum. Natürlich entspringen jeder »unvoreingenommenen«
Beobachtung zunächst eher intuitive Ideen über Ursächliches. Diese Ideen
bilden die Basis für Arbeitshypothesen und jegliche Theoriebildung, die dann
wiederum die einzig erlaubte Basis für ein kontrolliertes Experiment ist. Somit ist
Experimentieren der einzige naturwissenschaftliche Ansatz, vorher vermutete
Ursachenzusammenhänge auch nachzuweisen. Ein Beweis im mathematischen
Sinn ist diese härtestmögliche naturwissenschaftliche Aussage allerdings nicht,
da sie niemals mit absoluter Sicherheit, sondern aufgrund der Variabilität biologischer Systeme nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit getroffen werden
kann (zum Induktionsproblem vgl. Exkurs 5). Eigentlich gibt es sie gar nicht,
die »unvoreingenommene« Beobachtung, darum auch die Anführungszeichen.
Denn das würde bedeuten, dass jemand mit einem Tabula-rasa-Gehirn, ohne die
geringste Ahnung wozu, ein x-beliebiges System beobachtete, einfach so. Diese
Annahme ist absurd. Natürlich hat jeder »unvoreingenommene« Beobachter
eine gewisse Erwartungshaltung, und sei es nur, dass er seine Tiere lieb und
interessant findet. Gründe dafür mögen im Unbewussten liegen, aber es gibt sie,
womit das Wort »unvoreingenommen« eigentlich als Selbstbetrug entlarvt ist.
Das Lorenzsche Tabu, an Beobachtungen mit einer Arbeitshypothese heranzugehen, saß tief. Als ich von einer ehemaligen Mitarbeiterin erfahren wollte, was
der eigentliche Grund für Lorenz‘ Interesse an Halfterfischen gewesen sei (vgl.
Lorenz u. a. 1998), lautete die Auskunft zunächst, dass sie ihn eben interessiert
hätten und er sie schön gefunden habe. Erst nach längeren Gesprächsumwegen
kam heraus, dass Lorenz bestimmte Erwartungen bezüglich ihres Soziallebens
hegte. Lorenz wusste natürlich selber, dass es die »unvoreingenommene«
Beobachtung strenggenommen nicht gibt. Was er meinte war, induktiv an die
Sache heranzugehen, also zunächst einmal einfach zu beobachten, was Tiere
tun, und erst anschließend Hypothesen zu bilden, nicht aber umgekehrt. Darum
auch seine Abneigung gegen das »Testen von Hypothesen«. Zu oft war gerade
dem jungen Tierkenner Lorenz bewusst geworden, dass Beobachtungen so hingebogen oder ausgewählt werden können, dass man mit ihnen sogar die absurdesten Hypothesen zu stützen vermag. Im Sinne der induktiven Datenerhebung
behält also die (möglichst) »unvoreingenommene« Beobachtung immer
ihre Gültigkeit. Die eher ganzheitliche Beobachtung kann vieles lehren, zur
Feststellung von Ursachenzusammenhängen ist sie aber ungeeignet. Anders
betrachtet, stellt sie einen Weg dar, aus einer »Sicht von oben« den Wald als
Ganzes auszumachen, bildet eine unentbehrliche Basis dafür, in diesem Wald
einzelne Bäume zu untersuchen, ohne Gefahr zu laufen, die Gesamtheit aus
den Augen zu verlieren.
2. Der vergleichende Ansatz stellt noch mehr als die Beobachtung und im
Gegensatz zum Experiment ganzheitlich orientierte Systembetrachtung »von
oben« dar. Sie ist daher besonders geeignet, vernünftige Arbeitshypothesen zu
bilden und die Gefahren des Reduktionismus zu vermeiden. Vergleichen kann
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
59
man auf vielen Ebenen. So ist der Artvergleich die »klassische« Methode, um
zu erfahren, wozu etwa Strukturen wie Körperbau und Verhaltensweisen gut
sind, welchen Anpassungswert sie haben könnten. Dies gilt für die Beziehungen
zwischen Lebensraum, Ernährung, Körpergröße und Sozialsystem bei verschiedenen Wirbeltieren (Crook 1964, Crook und Gartlan 1966, Jarman 1974).
Ein anderes, eigenes Beispiel betrifft die Struktur des Gebisses und die
Ernährungsweise bei den Schleimfischen des Mittelmeeres (Kotrschal und
Goldschmid 1983). Alle untersuchten 14 Arten tragen Schneidezähne, ähnlich
unserem menschlichen Gebiss. Die Algenfresser in dieser Runde haben breite
Gebisse, mit vielen feinen Zähnen. Arten, in deren Darm grobe, hartschalige
Tiere wie etwa kleine Schnecken und Muscheln gefunden wurden, zeigen
pinzettenartige Gebisse, die mit wenigen, aber kräftigen Zähnen besetzt sind.
Die Struktur des Gebisses korrelierte also hervorragend mit der Ernährung.
Naheliegender Schluss war, dass es eine deterministische, also nicht-zufällige
Beziehung zwischen Nahrung und Gebiss gibt. Da Korrelationen noch nichts
über Ursachenbeziehungen aussagen, lag der zweite Schritt nahe, die an den
Mittelmeerfischen gewonnene Arbeitshypothese zu testen. Weil evolutionäre,
daher historische Fragestellungen nicht experimentell, also »hart-naturwissenschaftlich« testbar sind, wurde ein »weicher« Test gewählt: Ein weiterer
Artvergleich an 34 Arten schleimfischartiger Fische aus dem Golf von Kalifornien
zeigte, dass die deterministische Beziehung zwischen Gebissstruktur und
Ernährung nicht so einfach verallgemeinert werden kann, sondern dass die
vererbten Werkzeuge der Fische Flexibilität in ihrer Nahrungswahl nicht ausschließt (Kotrschal und Thomson 1986, Kotrschal 1989). Ein paradoxer, nicht
erwarteter Zusammenhang zeigte sich schließlich bei einer Ausweitung des
Vergleichs auf alle wichtigen Gruppen von tropischen Riff-Fischen, nämlich dass
ein höherer Grad an »morphologischer Spezialisierung« des Gebisses generell
mit einer höheren Flexibilität bei der Nahrungswahl einhergeht (Kotrschal 1987).
Vergleichen kann man natürlich nicht nur Arten, sondern alles, was im Licht
einer Fragestellung sinnvoll ist, etwa Individuen in Populationen oder sogar
verschiedene Alters- oder Lebensgeschichte-Stadien desselben Individuums.
Der vergleichende Ansatz ist also nicht nur geeignet, größere Zusammenhänge
und Arbeitshypothesen zu finden, sondern kann, an zusätzlichen Systemen
angewandt, auch zu deren Test dienen (Exkurs 5).
3. Modellbildung und Simulation. Um die Allgemeingültigkeit von Prinzipien der
Ökologie, aber auch des Verhaltens zu belegen, werden Modelle erstellt. Zur
möglichst detaillierten Vorhersage des Verhaltens von Systemen dienen dagegen Simulationen. Auf allen Gebieten der Naturwissenschaften erfuhren beide
Bereiche einen gewaltigen Aufschwung, der mit der Entwicklung leistungsfähiger
Rechner und Theorien gekoppelt ist. Als Faustregel sollte eine gute Simulation
so viele Parameter wie möglich, ein gutes Modell aber nur so wenige wie nötig
enthalten (Maynard Smith 1974).
Erzielt man mit einem Modell eine gute Näherung an das Verhalten eines
Systems, dann kann man einigermaßen sicher sein, dass die im Modell verwendeten Komponenten auch für das Verhalten des modellierten natürlichen
Systems von Bedeutung sind. Zudem kann man mit den Komponenten spielen
und so quasi im »virtuellen Experiment« herausfinden, wie die Komponenten
60
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
das System beeinflussen (Exkurs 7). Dazu müssen die Vorhersagen des Modells
natürlich wieder mittels empirischer Daten getestet werden. Ein passendes
Beispiel dafür ist die Anwendung des Grenzwerttheorems für die Entscheidung
von Staren, wieviel Nahrung sie in Abhängigkeit von der Distanz zwischen
Nistkasten und Nahrungsfläche sammeln sollen (Kacelnik 1984; Exkurs 7). Die
Frage, nach welchen Gesichtspunkten Lebewesen Entscheidungen treffen, ist
spieltheoretisch seit von Neumann und Morgenstern (1944) unverändert aktuell
(Poundstone 1992), sie ist eine der Grundfragen der Verhaltensbiologie. Da niemals alle Variablen und Randbedingungen berücksichtigt werden können, sind
Modelle natürlich per se reduktionistisch, zielen aber auf generell gültige Aspekte
des Systemverhaltens. Sie sind also auch ein geeignetes Werkzeug, um gemeinsam mit anderen Ansätzen den allzu engen Reduktionismus zu überwinden.
Simulationen sollten dagegen möglichst genaue Vorhersagen bezüglich des
Verhaltens von Systemen erlauben. Aktuelle Beispiele sind etwa Versuche, das
Wetter der kommenden Tage aufgrund der gegenwärtigen Lage vorherzusagen,
oder Voraussagen über zukünftige Klimaverschiebungen in Abhängigkeit vom
Treibhauseffekt. Je mehr Variable eingehen, desto genauer gewöhnlich die
erzielten Vorhersagen. So waren vor 20 Jahren einigermaßen wahrscheinliche Wettervorhersagen bis etwa 3 Tage im Voraus möglich; Satellitendaten
in Verbindung mit leistungsfähigen Rechnern und Simulationen steigerten den
einigermaßen verlässlichen Vorhersagezeitraum auf 5 bis 6 Tage.
4. Ein vernetzter experimenteller Ansatz kann eine Gerüststruktur aufbauen,
welche die systemblinde Froschperspektive des Einzelexperiments zu überwinden vermag. So etwa wurde die Funktion des Steroidhormons Testosteron
nicht nur dadurch erforscht, dass man Veränderungen bei Kastraten wahrnahm,
sondern es wurden auch Substitutionsexperimente durchgeführt (Berthold
1849, Becker u. a. 1982, Nelson 2000); es wurde durch künstliche Zufuhr
von Testosteron wieder männliches Aussehen und Verhalten induziert. Ferner
stimulierte man die Ausschüttung des Hormons oder blockierte dieselbe, testete die Veränderung des Testosteronwertes im Blut auf die Darbietung von
Weibchen oder Rivalen, untersuchte die Wirkung des Hormons auf Hirngebiete
und neuronale Botenstoffe usw. Jedes einzelne dieser Experimente gibt wenig
Aufschluß über die Gesamtheit der vielfältigen Wirkungsweisen des männlichen
Geschlechtshormons, durch die vernetzende Zusammenschau aber entsteht
ein differenziertes Bild des Systems.
Es erscheint zunächst vermessen, je aus der bloßen Kenntnis der Struktur
des Erbmaterials die Entstehung der Merkmale der Lebewesen erklären zu
wollen. Denn der Weg vom Gen zum Merkmal verläuft über viele Stufen,
die alle nicht einfach nur von der »Blaupause Genom« gesteuert sind (eine
irreführende Analogie), sondern alle unter Einfluss von äußeren und inneren
Reizen moduliert werden können. Die sogenannte »Epigenetik« beschäftigt
sich mit der Umsetzung von Genen in Proteine und Merkmale. Durch ein Netz
von Experimenten weiss man mittlerweile zumindest ansatzweise, was Gene
dazu bringt, aktiv zu werden und Proteine zu kodieren, wie die Übersetzung
der Erbinformation (des »Genotyps«) in den »Phänotyp« funktioniert und wie
Reize diese Vorgänge beeinflussen. Obwohl jedes der Einzelexperimente
hoffnungslos reduktionistisch scheint, ist es die Gesamtheit der sich gegen-
Die Anfänge bei Darwin und in der Tierpsychologie
61
seitig kohärent stützenden Ergebnisse, die uns im dritten Jahrtausend einem
Gesamtverständnis der Entstehung von Individuen nahebringt.
Dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist, trifft unverändert zu. Dies
bedeutet aber nicht automatisch, dass es unmöglich wäre, aus einer planmäßigen Erforschung der Teile auf das Ganze rückschließen zu können. Die modernen Naturwissenschaften haben vielfach den Beweis dafür angetreten, dass
dies durch Vernetzung von Einzelergebnissen möglich ist. Durch eine Vielfalt
von an sich reduktionistischen naturwissenschaftlichen Ansätzen kommt man
schließlich zu einer relativ ganzheitlichen Sicht biologischer Erscheinungen,
ohne dass hierzu über den Materialismus und Mechanismus hinausgehende
Zusatzannahmen nötig wären.
Der Aufstieg der evolutionären Richtungen
In den 1960er Jahren, einer Zeit der Stagnation der »klassischen« Ethologie,
wurden schließlich die Ökoethologie und Soziobiologie marktbeherrschend.
Die einstmals so gefeierten klassischen Konzepte verschwanden in der
Versenkung, ohne eigentlich adäquat »durchforscht« worden zu sein. Aber
wissenscha�liche Interessen verlagern sich eben rasch auf Gebiete, die aufregende neue Durchbrüche bringen (s. oben). So kam es dann auch, dass in den
1990er Jahren ausgerechnet aus der Ökoethologie die »klassische« Ethologie
und die mechanistische Richtung neu belebt wurde. Für die Neuroethologie
allerdings, blieb die klassische Ethologie über die Jahrzehnte eine brauchbare
Konzeptbasis, was deren Allgemeingültigkeit unterstreicht.
Es erfolgte ein Wandel des wissenscha�lichen Interesses: weg vom eigentlichen Verhalten und dessen zugrundeliegenden Mechanismen, hin zu dessen Selektionswert (Exkurs 1). Das ist aus mehreren Gründen verständlich.
Einmal traf das scheinbar ausgeschöp�e Erklärungspotential der klassischen
Konzepte in der Ethologie mit einer gewissen wissenscha�lichen Stagnation
und Inaktivität auf Seiten einiger ihrer Hauptexponenten zusammen. Wichtige
»opinion leaders«, etwa Erich von Holst oder Klaus Immelmann waren viel
zu früh verstorben, andere, wie etwa Konrad Lorenz oder Niko Tinbergen
waren in die Jahre gekommen. Zudem revolutionierte William Hamilton mit
seinem Prinzip der »inklusiven Fitness« und der damit verbundene, radikale
Wechsel von der Gruppen- zur Individualselektion die Verhaltensbiologie.
Vielleicht wollten die jungen, aufstrebenden Verhaltensbiologen mit der »verstaubten alten Ethologie« auch nichts mehr zu tun haben; ein wenig Mode
und eine Portion »Vatermord« war wohl beteiligt.
Außerdem liegt es in der menschlichen Forschernatur, dass möglichst umfassende Erklärungen für Erscheinungen in der Natur bevorzugt werden.
So wie sich Materialeigenscha�en am befriedigendsten aus der Atomphysik
erklären lassen, ist die letztliche, die evolutionäre Relevanz des Verhaltens
von Individuen die in ihrem Erklärungswert befriedigendste Ebene des
Verhaltens. Kein Wunder also, das die meisten Verhaltensbiologen in den
vergangenen 20 Jahren soziobiologisch und öko-ethologisch arbeiteten und
62
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
sich damit konsistent in das große Theoriengebäude der Evolutionsbiologie
einfügten.
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
Von der Gruppen- zur Individualselektion
Wie bereits erwähnt, war Konrad Lorenz in zwei grundlegende wissenscha�liche Auseinandersetzungen verwickelt. Mit dem Behaviorismus gab
es von seiner Seite keinen wirklichen Frieden, nur einen Waffenstillstand; der
wissenscha�liche Fortschri� dagegen machte aus einem Entweder-oder ein
Sowohl-als-auch. Die zweite große Kontroverse trug der reife Lorenz eher
lustlos mit den Öko-Ethologen und Soziobiologen aus. Meiner Vermutung
zufolge ging es dabei von seiner Seite aus mehr um Ästhetik und Werte denn
um fachliche Inhalte. Dem romantischen Wunschdenken von der Harmonie
in der Natur, bestimmt von selbstlosen Leistungen der Einzelindividuen
für die Gemeinscha� in der frühen Ethologie stand die kalte Ästhetik eines
von Kosten-NutzenRechnung, Eigennutz, Ökonomie und Nepotismus diktierten Verhaltensbildes der Öko-Ethologie und Soziobiologie gegenüber.
Nach Bemerkungen im Briefverkehr der alten Ethologengarde zu schließen,
wurde die Bedeutung der neuen Richtung unterschätzt. Edward Wilsons und
Richard Dawkins Standpunkte wurden von Lorenz als semantisch überspitzte,
anthropomorphe Formulierungen von Inhalten betrachtet, die »man« ohnehin schon lange wüsste, geboren vielleicht aus einem Profilierungsbedürfnis
der Jungen. Sie wussten tatsächlich viel, die Alten, aber sie hä�en es eben
auch kundtun sollen: Nichtpublizierte Inhalte existieren in der Wissenscha�
einfach nicht.
Ein wichtiger rationaler Grund für die Ablehnung der neuen Richtungen
durch Lorenz mag darin gelegen haben, dass sich die Art, wie hier Forschung
betrieben wurde, nicht mit seiner ziemlich strikten Vorstellung einer induktiven Methode der Naturwissenscha� deckte. In der Öko-Ethologie und
Soziobiologie geht man auf der Basis von sehr starken Konzepten an das
Erheben von Daten und lau� so beständig Gefahr, das zu finden, was man
finden wollte, also die Theorie immer nur zu bestätigen. Die wichtigsten dieser Konzepte heißen Individualselektion, Fitnessmaximierung und inklusive
Fitness, um nur einige zu nennen. Man arbeitet also hauptsächlich deduktionistisch, was natürlich das Misstrauen des Altmeisters geweckt haben muss. Die
Stärke der Öko-Ethologen und Soziobiologen ist die »unvoreingenommene«
Beobachtung wahrlich nicht. Gegen Deduktion im Sinne von Karl R. Popper
wäre auch nichts einzuwenden: Es soll nach Beispielen gesucht werden, um
die bestehenden Hypothesen zu falsifizieren. In der Praxis dominiert aber die
Suche nach Beispielen, welche geeignet sind, die bestehende Theorie zu bestätigen. Dieser Ansatz war Lorenz gleichermaßen immer suspekt und doch zu
eigen. So schreibt er in seinem »Russischen Manuskript« (1992, S. 78): »Auf
einem völligen Verkennen des Wesens aller induktiven Methode aber beruht
folgendes Verfahren, das in der Verhaltensforschung und Psychologie häufig
noch für völlig zulässig und ›naturwissenscha�lich‹ erachtet wird: Es wird
auf Grund ganz weniger Tatsachen eine Hypothese gebildet und nachträglich
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
63
nach Beispielen gesucht, welche diese Hypothese zu unterstützen geeignet
erscheinen. Demjenigen, der in dieser Weise die statistische Natur aller induktiven Forschung übersieht, sei gesagt, dass es keine noch so absurde und blödsinnige Hypothese gibt [und dafür schien Lorenz manche der neuen Konzepte
zu halten, Anm. des Verfassers], für welche sich bei einer derart voreingenommenen Auswahl der Tatsachen nicht reichlich ›Beispiele‹ beibringen ließen.«
Eigentlich unnötig zu betonen, dass es in den Naturwissenscha�en gar nicht
möglich ist, entweder induktiv oder deduktiv zu arbeiten; wissenscha�liche
Arbeit ist ein ständiger Spiralprozess, der von Beobachtungen zur Bildung von
Arbeitshypothesen und zu deren Überprüfung durch weitere Beobachtungen
oder Experimente führt, was zumeist zur Modifikation der originalen
Arbeitshypothese führt und weitere Beobachtungen und Experimente nach
sich zieht (Exkurs 5).
Es ist, ganz abgesehen von den vorangestellten Überlegungen, ziemlich einsichtig, warum es nicht Konrad Lorenz war, der die zwingende Verbindung
zwischen Verhalten und ökologischen Randbedingungen zum Brennpunkt
seiner Arbeit machte. Von Anbeginn bevorzugte Lorenz zahme Wildtiere in
seiner Obhut als Forschungsobjekte und kam so zu detaillierten Einsichten
über Ablauf und Mechanismen von Verhalten. Verständlich, dass die Frage
nach dem evolutionären Warum und Wozu von Niko Tinbergen und anderen
Forschern gestellt wurde, die ihre Zeit vorwiegend mit der Beobachtung von
freilebenden Wildtieren verbrachten. So legte der tierhaltende »Bauer« Lorenz
die maßgeblichen konzeptuellen Grundsteine für die Verhaltensphysiologie
und den zwischenartlichen Vergleich, während der Wildtiere beobachtende
»Jäger« Tinbergen das Fundament für die Erforschung des Anpassungswertes
von Verhaltensweisen lieferte (Festetics 1983).
Tinbergen als Wegbereiter für die Öko-Ethologie
Tinbergens wie Lorenz‘ wache Geister und lebenslange Neugier (von Lorenz
für ein neotänes menschliches Merkmal gehalten) ließen sie in bester induktiver Manier ein buntes Spektrum von Organismen untersuchen, was sich
als wichtige Voraussetzung zur Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten des
Verhaltens herausstellte. Natürlich ist das keine Spitze gegen jene Forscher, die
zeitlebens einem einzigen Tiermodell die Treue halten, sei es der Honigbiene
oder einem Fadenwurm oder sogar dem Menschen, und damit tiefgreifende
Erkenntnisse über biologische Prozesse sammeln. Das muss kein »falscher«
Weg sein, denn das induktive Lorenzsche Grundspielchen des »Was es so alles gibt«, also einer gründlichen Bestandserhebung der vorhandenen Muster
als Grundlage für jegliche Verhaltensforschung, kann man durchaus auf verschiedenen Ebenen betreiben.
Ein Beispiel soll die beobachtend-experimentelle Arbeitsweise Tinbergens
erläutern: Als er solitäre Wespen, sogenannte Bienenwölfe (Tinbergen und
Kruyt 1938), in seiner frühen Forscherphase beobachtete, fiel ihm deren
verblüffendes Heimfindevermögen auf. Wobei zu bemerken ist, dass jenes
selbstgegrabene Loch im Boden, welches diese Wespen wiederholt aufsuchen, eigentlich nicht ihr eigenes »Heim«, sondern das ihrer Kinder ist
64
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
(wenn man Maden als solche bezeichnen darf). Der Frage, wie Bienenwölfe
es schaffen, nach dem Jagdflug eines ihrer Brutlöcher punktgenau anzusteuern, ging Tinbergen nach, indem er einfach markante Steinchen in
Lochnähe parallel verschob; das Loch blieb natürlich, wo es war. Prompt
suchten die Bienenwolfweibchen ihre Löcher um jene Strecke versetzt, um
welche ihre Landmarken, die Steinchen, versetzt worden waren. Damit war
gezeigt, dass die Raumorientierung dieser Tiere zumindest im Nahbereich
über den Vergleich eines gelernten Schemas mit visuell wahrgenommenen
Landmarken erfolgt. Auf eine klare Frage erbrachte ein einfaches Experiment
eine klare Antwort. Natürlich blieben – wie immer in der Wissenscha� – viele
Fragen offen, gemäß der Faustregel, wonach jede beantwortete Frage viele
neue bedingt. So wäre es natürlich wichtig zu wissen, über welche Lern- und
Speicherleistungen das Sinnes- und Nervensystem eines Insekts diese sagenha�e Ortsgenauigkeit scha�.
Ein anderes, mi�lerweile in vielen Lehrbüchern der Verhaltensbiologie zitiertes Beispiel Tinbergenscher Arbeit ist das Eischalen-Entfernen bei Lachmöwen.
Diese Vögel brüten in lockeren Kolonien, zum Beispiel in den niederländischen Dünen (Tinbergen 1953b). Ihre Brutbiologie wurde von Tinbergens
Arbeitsgruppe untersucht. Es ist jeweils nur ein Partner des Möwenpaares
am Nest, während der andere mit Nahrungssuche beschä�igt ist. Und selbst
der oder die gerade Brütende benötigt eine gelegentliche Pause. Während
der Abwesenheit des Elters sind die Eier auf ihre fleckige Tarnfärbigkeit
angewiesen, um nicht von Fressfeinden, wie z. B. Krähen, entdeckt zu
werden. Es fiel dem genauen Beobachter auf, dass die Möwen nach dem
Schlüpfen der Jungen die Eischalen vom Nest wegtragen. Dieses Verhalten
nimmt im gesamten Zeitbudget einer Möwe nur einen verschwindenden
Bruchteil ein, wird daher leicht übersehen oder nicht beachtet. Und doch, so
schloss Tinbergen, muss diese Verhaltensweise wichtig sein, sonst würde der
Elternvogel die Eischalen wohl am Nest liegenlassen. Überlebenswichtig, genaugenommen, sonst wär‘s im Evolutionsprozess nicht selektioniert worden.
Überlebenswichtig allerdings nicht im Sinne von Alles-oder-nichts: Eine nicht
entfernte Eischale ist nicht unbedingt das Todesurteil für ein Küken, aber
seine Risiko, verspeist zu werden, steigt.
Eine plausible Arbeitshypothese war rasch gefunden: Da die Innenseite der
Eischale nicht Tarnfarben, sondern weiß ist, fällt diese bereits über große
Distanz auf, würde den Neststandort verraten und Küken oder restliche Eier
zur leichten Beute der Krähen machen. Man pinselte also Hühnereier tarnfarbig á la Möwe und legte diese in den Dünen aus. Aufgebrochene MöwenEischalen wurden diesen tarnfarbigen Eiern in 15 cm, 1 m und 2 m Distanz
zugesellt. So konnte gezeigt werden, dass Krähen doppelt so viele Eier finden,
wenn aufgebrochene Schalen in 15 cm, verglichen mit 2 m Entfernung, liegen. Das Wegtragen der Eischale ist also eine bedeutende Maßnahme gegen
Raubfeinde.
Damit endet die Geschichte allerdings noch nicht. Um das Risiko, von Krähen
entdeckt zu werden, zu minimieren, sollte der Vogelelter die Eischalen sofort nach dem Schlupf entfernen. Dies geschieht aber nicht. Und zwar wohl
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
65
deswegen, weil Kolonienachbarn keine Hemmungen haben, das eben geschlüp�e, noch nasse und darum gut schluckbare Küken zu kannibalisieren
(nicht gerade ein Verhalten, welches zum Besten der Art wäre). Um dieses
Risiko zu verringern, muss der Elter mit der Entfernung der Eischale zumindest warten, bis sein Küken trocken ist und dem Nachbarn daher im Halse
stecken bliebe, würde der versuchen, es zu fressen. Es ist also ein zweifaches
Risiko gegeneinander abzuwägen, eine optimale Entscheidung bezüglich
des Zeitpunkts zu treffen, wann die Eischale entfernt werden muss, um das
Überleben des Nachkommen zu optimieren. Dieser Zeitpunkt wird ziemlich
genau dann sein, wenn das Junge gerade getrocknet ist.
Öko-Ethologie: von der Ökonomie der Tiere
Sowohl im Falle der Bienenwölfe als auch bei den Möwen haben die auf
genauen Beobachtungen basierenden, sehr einfachen Freilandexperimente
Tinbergens gezeigt, dass und in welcher Weise die untersuchten Verhaltensweisen adaptiv, also überlebenswichtig sind. Eine exakte Vorhersage, wann
die Eischalen denn nun entfernt werden sollten, ist aber so nicht möglich.
Dazu benötigt man Modelle, etwa auf der Basis der oben angestellten
Überlegung. Spontane Einwände dagegen könnten lauten: Warum und wozu
sollten wir daran interessiert sein, auf die Sekunde genau vorhersagen zu
können, wann genau wieviel Nahrung wo aufgenommen wird? Welchen
Erkenntnisfortschri� soll es bringen, auf das Joule genau die Kosten oder
den Profit diverser Verhaltensweisen zu errechnen? Ist das der Einfluss
des Zeitgeistes in der Ethologie? Was soll dieser buchhalterische Kleinkram,
entspringt dieser vielleicht gar dem Minderwertigkeitsgefühl der Biologen,
die endlich nach dem Muster der Physik auch aus der Ökologie und der
Ethologie eine exakte Wissenscha� formen wollen? Vielleicht. Jedenfalls ist
das Streben nach größtmöglicher Genauigkeit in der Wissenscha� sicherlich
kein Schönheitsfehler, sondern legitimes Ziel. Denn qualitative Ergebnisse
sind gut, aber Vorhersagbarkeit zu erzielen und die damit verbundene
Gewissheit, den Spielregeln für Verhalten, für Zusammenleben wieder ein
Stück nähergekommen zu sein, ist besser. Und ein Modell, welches geeignet
ist, das Verhalten realer Systeme nachvollziehbar zu machen, kann schon
ziemliche Sicherheit über die Bedeutung der beteiligten Faktoren geben.
Trotzdem kann selbst von den besten Modellen nicht erwartet werden, dass
sich deren Ergebnisse exakt mit den empirisch erhobenen Daten decken
(siehe unten).
Der Zwang, optimal zu handeln, oder besser: optimale Entscheidungen zu
treffen, entspringt der engen Einbindung von Tieren in ihre ökologischen
Randbedingungen, verbunden mit dem aus dem evolutionären Mechanismus
kommenden Erfolgsautomatismus, der zur Entwicklung von individuellen
Merkmalen führt, die es gesta�en, mehr reproduktive Nachkommen zu hinterlassen, als andere Mitglieder der Population. Der Eindruck vom fröhlich
singenden Vogel, der den Tag in harmonischem Naturgenuss verbringt, ist
grundfalsch. Natürlich ebenso falsch ist die Annahme, dass ein kastrierter
und darum von seinem Geschlechtstrieb nicht mehr beunruhigter Singvogel
in einem gut geheizten Käfig bei voller Fu�erschüssel im Paradies lebt. Es
66
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
mangelt ihm exakt an jenen Reizen, welche vom Korse� der natürlichen
Zwänge (Konkurrenz, Räuber, ungünstige physikalische Faktoren usw.) ausgehen, woran sich das gesamte Verhaltensgefüge dieses Vogels im »äonenlangen Werden« angepasst hat, wie sich Konrad Lorenz möglicherweise ausgedrückt hä�e; einschließlich seiner Fressfeinde, denen er zu entkommen trachtet. Der Vogel ist also »disponiert«, mit bestimmten Reizen und Situationen
zurechtzukommen und kann er das nicht, weil es diese nicht gibt, erfüllt sich
sozusagen seine Identität nicht. Der materielle Wohlstand in Sicherheit stellte
für unseren Vogel eine künstlich verarmte Umgebung dar.
Derselbe intakte Vogel in Freiheit hat natürlich andere Probleme. Genau
damit beschä�igen sich die Öko-Ethologen (Exkurs 7), weil die individuelle Bewältigung dieser Problem letztlich individuell unterschiedliche
Fortpflanzungsraten bedingt. Dies ist der Grundmechanismus evolutionären
Wandels; ständig muss unser Vogel aufpassen, nicht zu verhungern und nicht
selber gefressen zu werden, muss zum richtigen Zeitpunkt einen Partner finden, muss mit Artgenossen konkurrieren und kooperieren und muss o� über
weite Strecken in die richtige Richtung ziehen. Und wenn er dies alles effizient scha�, wird er in seiner o� nur kurzen Lebenszeit auch Nachkommen
hinterlassen. Da das Angebot an Nahrung und Geschlechtspartnern begrenzt und daher der Konkurrenz unterworfen ist, da unterschiedliche
Nahrungsquellen sich nicht nur im Angebot unterscheiden, sondern auch
im Raubfeind- und Konkurrenzdruck und der Tag schließlich für alle nur 24
Stunden hat, sind Tiere gezwungen, äußerst ökonomische Entscheidungen
zu treffen, sonst passiert ihnen ganz analog zu einem schlecht organisierten Wirtscha�sunternehmen der Bankro�, also ein vorzeitiger Tod oder ein
Leben ohne Nachkommen, was evolutionär betrachtet ein So-gut-wie-totSein bedeutet.
Exkurs 7: Einige Modelle in der Öko-Ethologie
Alle Tiere müssen ökonomisch handeln; solche, die mehr (und bessere) Nahrung
finden, können mehr Nachkommen aufziehen, das ist schließlich die Essenz
des evolutionären Spieles. Genauso wichtig ist auch der individuelle Umgang
mit Stressoren und die »soziale Kompetenz«, also Geschick und Effizienz im
Umgang mit den anderen. Das klingt ziemlich trivial, denn was hindert Tiere
daran, sich genügend Nahrung einzuverleiben? Konkurrenten und Feinde, zum
Beispiel. Freilebende Tiere können fast niemals kompromisslos schlaraffische
Nahrungsquellen nutzen, sondern müssen ständig Kosten bzw. Gefahren und
Nutzen gegeneinander abwägen, etwa das Risiko, zu verhungern, gegen das
Risiko, gefressen zu werden. Sie müssen also ständig Entscheidungen treffen.
Räuber haben daher einen maßgeblichen Einfluss darauf, ob und wo ihre prospektive Beute selber Nahrung aufnimmt. Da Tiere durch Hunger unterschiedlich
motiviert sein können (von satt bis unmittelbar vor dem Verhungern), kann die
Entscheidungsregel nicht fix sein, also einfach lauten, ein bestimmtes Risiko
für einen bestimmten Gewinn in Kauf zu nehmen. Genau das zeigten Manfred
Millinski und Mitarbeiter in Versuchsserien mit Stichlingen, unterschiedlich dichter Wasserflohbeute und sie bedrohenden Eisvogelattrappen (1985).
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
67
Die Risikoabschätzung zwischen Fressen oder Gefressenwerden ist nur eine
von vielen Einschätzungsleistungen, mit denen jedes Tier im täglichen Leben
konfrontiert ist. Daher müssen von Tieren ständig optimale Entscheidungen getroffen werden, denn nur so können sie entsprechende Überschüsse für die erfolgreiche Vermehrung erwirtschaften. Bis an welche Ertragsgrenze sollte man
eine bestimmte Nahrungsquelle nutzen, bevor man eine neue sucht? Wie weit
im Umkreis sollte man Nahrung suchen? Soll man ein Territorium verteidigen?
Wie groß muss/darf es sein?
Natürlich sind optimale Entscheidungen auch in Bereichen zu treffen, welche
direkt die Vermehrung und damit die Fitness betreffen: Viele Fische müssen
sich »entscheiden«, ob sie bereits früh im Leben relativ wenige Nachkommen
haben »wollen« oder das Risiko auf sich nehmen, noch eine Zeit zu wachsen,
dann aber viel mehr Nachkommen erzeugen können. Singvogelweibchen etwa
müssen »entscheiden«, ob sie erstes Weibchen bei einem Männchen mit mäßiger Territoriumsqualität werden »wollen« oder lieber zweites Weibchen eines
Männchens mit gutem Territorium. Vogelmännchen müssen sich »entscheiden«,
ob sie sich ganz der Versorgung der Erstbrut widmen »wollen« oder sich lieber
nach weiteren Weibchen umtun. Vielfach müssen sich die Männchen »entscheiden«, ob sie tatsächlich die Kosten der Verteidigung eines Territoriums auf
sich nehmen, um zu Kopulationen zu gelangen, oder sich lieber als alternative
»Strategen« Kopulationen erschleichen, ohne viel dafür zu leisten usw.
Dieser Bereich der optimalen Entscheidungen, die Währungen und Regeln, mit
denen Tiere umgehen, die Randbedingungen, denen sie unterworfen sind, ist der
zentrale Bereich der Ökoethologie. Die Anführungsstriche an den Zeitwörtern im
vorhergehenden Absatz beziehen sich darauf, dass alles so klingen könnte, als
ob das Leben ein kompliziertes Schachspiel wäre, welches bewusst gespielt,
nur von den intelligentesten Spielern gemeistert werden könnte. Erstes stimmt,
zweites nicht. Es wird keinesfalls verlangt, dass Tiere (und Menschen, etwa
im sozial-sexuellen Bereich) bewusste, kühl durchüberlegte Entscheidungen
treffen. Die Strategieanweisungen sind evolutionär eingebaut. Situationen
müssen nicht bewusst werden, es reichen spezifische Appetenz, Belohnungsund Strafsysteme – also Hunger, der Suche auslöst, Lust bei Begegnung mit
Nahrung oder Sozialpartnern, Angst vor Räubern und überlegenen Rivalen
– dass Tiere sich nahe an den situationsspezifischen Optima bewegen. Modelle
dienen nun dazu, bezüglich definierter Währungen (z. B. Energiegewinn oder ersparnis, Raubfeindrisiko usw.) und Entscheidungsvariablen (z. B. fressen oder
flüchten, weiter ausbeuten oder Suche neuer Nahrungsquellen, sozial oder territorial sein usw.) im Zusammenhang mit sorgfältig definierten Randbedingungen
(z. B. Qualität der Nahrungsquelle, des Territoriums, Nahrungsaufnahmekapazität, Raubfeinddruck u. a.) quantitative Vorhersagen über die Entscheidung von
Tieren zu treffen. Ziel von Modellen ist es also, evolutionäre Spielregeln besser
zu verstehen, zu Vorhersagbarkeit zu kommen und damit den adaptiven Wert
konkreter Entscheidungen beurteilen zu können, ja sogar Hilfen für rationale
Entscheidungen im Bereich des Naturschutzes zu geben.
Die Voraussagen des Modells werden aber durch die Entscheidungen der
Tiere bestenfalls weitgehend, nie aber vollständig erfüllt. Je nach Geschmack
und Standpunkt passt das Modell dann entsprechend gut oder schlecht. Das
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Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Modell kann unzutreffend oder ungenau in der Auswahl der Parameter sein.
Andererseits darf man nicht annehmen, Tiere seien immer im Besitz aller
Informationen, z. B. über Nahrungsdichten und Feindgefahr. Wie denn auch,
wenn sie keine Erfahrung machen konnten? Tiere müssen Erfahrungen
sammeln, anders ausgedrückt: Sie müssen immer eine gewisse Rate an
Fehlentscheidungen treffen, um nahe am Optimum bleiben zu können. Wie sollten sie sonst wissen, wo dieses liegt? Wie soll ein Waldrapp etwa wissen, dass
er den Fleck der Wiese mit der höchsten Regenwurmdichte erwischt hat (also
für ihn den geringsten Zeitaufwand pro eingenommener Kalorie), wenn er nicht
gelegentlich davon abweicht und dann natürlich weniger Würmer pro Zeiteinheit
findet? Einen weiteren Streich spielen uns die Sinnesorgane. Sie liefern keine
exakten Meßwerte, sondern informieren uns eher über Gegensätze (Exkurs 5),
welche uns die Einschätzung von mehr oder weniger erlauben, wie im dritten
der nachfolgenden Beispiele erläutert wird.
1. Wie weit – wie viel?
Alex Kacelnik lieferte das ob seiner Eleganz und Vollständigkeit mit Recht
wohl bekannteste Modell der Ökoethologie (1984). Stare, die Junge füttern,
haben eine gewisse Distanz von der Nisthöhle zum Futterplatz zurückzulegen
und laden dort ihren Schnabel vorzugsweise mit Käferlarven voll, die sie aus
dem Boden eines Rasens zirkeln, um sie nach der Rückkehr ans Nest ihren
Jungen zu verfüttern. Da also der Schnabel nicht nur Transport-, sondern auch
Sammelinstrument ist, kommen mit zunehmender Beladung beide Funktionen
in immer größeren Konflikt. Laden sie die ersten 4 bis 5 Larven relativ rasch, so
steigt darüber die Suchzeit immer mehr an, um bei 8 ein Maximum zu erreichen;
mehr geht nicht. Die Währung des Spieles lautet Energiemaximierung für die
Jungen, denn die müssen möglichst rasch flügge werden. Sollen die Eltern nun
bereits mit rasch gefundenen 4 Larven zurückkehren oder lange bleiben und
erst mit dem Maximum von 8 Larven abfliegen? Wie das Modell zeigt, kann
die Antwort darauf nur lauten: Das kommt darauf an, nämlich auf die Distanz
zwischen Nest und Nahrungswiese. Je kürzer der Anflug, desto eher sollten sie
wieder zurückfliegen, und umgekehrt. Das Maximum ist also nicht immer ein
Optimum. Empirische Daten zeigen, dass sich wirkliche Stare statistisch gesehen erstaunlich nahe an den Vorhersagen des Modells bewegen, dass aber
Individuen natürlich entsprechende Abweichungen zeigen.
2. Fressen oder gefressen werden?
Zu den klarsten Untersuchungen zum Thema Nahrungssuche unter Feinddruck zählen die Arbeiten von Manfred Millinski (1985) und Mitarbeitern zur
Nahrungssuche von Stichlingen unter Bedrohung durch Eisvögel. Hohe
Beutedichten erlauben hohe Fangraten, daher greifen hungrige Stichlinge
vorzugsweise dichte Schwärme von Wasserflöhen an. Das Dilemma für die
Stichlinge ist dabei, dass sie sich bei hohen Beutedichten sehr auf das Fangen
konzentrieren müssen, da der »Konfusionseffekt«, also die Verwirrung des
Räubers durch die Beute, mit deren steigender Gruppendichte ebenfalls ansteigt. Das bedeutet, dass Stichlinge, die an dichten Wasserflohschwärmen
fressen, weniger gut auf Fressfeinde, etwa Eisvögel, aufpassen können, daher
gefährdeter sind, selber gefressen zu werden, als Stichlinge, die an weniger
dichten Schwärmen fressen. Tatsächlich bevorzugen nur mäßig hungrige
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
69
Abbildung 3: Stareneltern optimieren ihre Entscheidung, wie lange sie in
einem Rasen wurmförmige Käferlarven suchen, bzw. wieder zum Nistkasten
zurückkehren sollten, in Abhängigkeit von der Flugstrecke (Flugzeit) zwischen Nest und Fu�erplatz und der Form der Ladekurve. Diese Kurve ergibt
sich daraus, dass es in Abhängigkeit der sich bereits im Schnabel befindlichen
Beutestücke immer schwieriger wird, weitere aufzunehmen. Das Optimum
liegt umso höher, je weiter ein Vogel anfliegen muß. Im Beispiel liegt das
Optimum des weiter anfliegenden Stars bei 7 Larven, des anderen, mit näher
gelegenem Nest dagegen bei 6. Nach Kacelnik (1984).
Stichlinge und solche, die eben mit einer Räuberattrappe konfrontiert wurden,
niedrige Beutedichten. Klar, denn lieber langsamer fressen, dafür aber selber
nicht gefressen werden! Als faszinierende Nebenerkenntnis zeigt sich, dass ein
Hauptvorteil des Gruppenlebens, nämlich der erhöhte Schutz vor Fressfeinden,
für die Wasserflöhe erst dann eintritt, wenn ihr Räuber selber unter Druck gerät.
Der Eisvogel macht die Gruppenverteidigung der Wasserflöhe gegen Fische
erst wirksam.
3. Fressen in der Gruppe: ideale freie Gänse?
Wenn Tiere begrenzte Ressourcen wie z. B. Nahrung nutzen, kommt es
zwangsläufig zu Konkurrenz, die entweder über Fressraten ausgetragen wird
(Ausbeutungskonkurrenz) oder dadurch, dass Individuen die Nahrungsquelle
gegenüber anderen verteidigen (Interaktionskonkurrenz). Ausverkaufskunden
an einem Wühltisch wären ein Beispiel für ersteres, während Obstbäume in
einem umzäunten Garten eher zu den verteidigten Ressourcen gehören (wie
zumindest die ehemaligen Lausbuben unter uns aus ihrer Kindheit wissen).
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Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Abhängig von Nahrungsdichte, -qualität und Motivation kann das eine in das
andere umschlagen (Kotrschal u. a. 1993, Krebs und Davies 1993).
Das einfachste Modell, wie sich Konkurrenten in Abhängigkeit vom Ressourcenangebot und voneinander verteilen sollten, stellt die »ideale freie Verteilung«
dar (Fretwell und Lucas 1969, Kacelnik u. a. 1992). Wenn Tiere fähig sind, sich
entsprechend der Profitabilität ihrer eigenen Nahrungssuche zu verteilen, dann
sollten sie zunächst die reichsten Nahrungsquellen aufsuchen, die ihnen die
maximalen Fressraten erlauben. Je mehr Tiere (Konkurrenten) aber dort ankommen, desto geringer wird ihr Gewinn, bis es schließlich für Neuankömmlinge
lohnender sein kann, weniger reiche Nahrungsquellen anzusteuern, an denen
aber auch der Konkurrenzdruck geringer ist. Zwei wichtige Voraussetzungen für
dieses Modell drücken sich bereits in der Überschrift aus: Es müssen in dem
Sinne »ideale« Tiere sein, dass sie im Besitz aller Informationen sind (meist
nicht ganz realistisch), und sie müssen frei sein, dorthin zu gehen, wo es für sie
am lohnendsten ist. Es darf also keine Despoten geben, die sie daran hindern.
Die Verteilung der Kunden an Supermarktkassen ist ein gutes Beispiel für dieses Modell (Krebs und Davies 1997): Man stellt sich dort an, wo man hofft, am
schnellsten durchzukommen. Millinski (1988) bestätigte dieses Modell durch
Versuche mit Fischen (Stichlingen) mit der Wahlmöglichkeit zwischen zwei
Nahrungsquellen, die konstante, aber ungleiche Futterraten abgaben.
Trotz Fehlens aggressiver Auseinandersetzungen kommt es vor, dass, aus
welchen Gründen immer, Individuen nicht identisch in ihrer Konkurrenzfähigkeit
sind, dass also manche rascher fressen als andere. Individuen sollten
sich bei gegebener Ressourcenverteilung somit eigentlich nicht nach der
Verteilung der bereits vorhandenen Individuen, sondern nach den Summen
der Konkurrenzfähigkeit (kompetitives Gewicht) der bereits Anwesenden
richten (Sutherland und Parker 1985). Wenn die Schwelle zur Annahme der
weniger guten Nahrungsquellen bei 3 dort anwesenden, vollen Konkurrenten
liegt, sollte sie bei 6 Konkurrenten liegen, wenn diese nur die halbe Konkurrenzfähigkeit aufweisen. In der Supermarkt-Analogie wäre dies der Fall, wenn
eine Warteschlange doppelt so lang wäre, wie die andere (also doppelt so
viele Konkurrenten enthielte), deren Einkaufswagen aber nur den halben
Füllungsgrad (das halbe kompetitive Gewicht) aufwiesen. Tatsächlich wissen wir
wohl alle aus eigener Erfahrung dass Supermarktkunden ihre Warteschlange
nicht nur die Zahl der Einkaufswagen, sondern auch nach deren Füllungsgrad
wählen. Menschen verhalten sich ganz offensichtlich gemäß den Voraussagen
der Theorie der Idealen Freien Verteilung.
Graugänse leben in großen, komplexen Gruppen (Exkurs 9). Sie genießen
nicht nur die Vorteile des Gruppenlebens, sondern müssen auch mit dessen
Nachteilen, z. B. mit der Konkurrenz um Nahrung, zurechtkommen. Tatsächlich
konkurrieren Individuen in der Schar auf eine komplexe Weise sowohl durch
Ausbeutungs- wie auch Interaktionskonkurrenz (Kotrschal u. a. 1993). Bietet
man hungrigen Gänsen auf großen Flächen Körner an, so herrscht zumindest
anfangs reine Ausbeutungskonkurrenz; jede Gans pickt so rasch wie möglich,
ohne sich um die anderen zu kümmern. Erst nach einigen Minuten oder nach
Absinken der Körnerdichte unter eine kritische Schwelle beginnen Höherrangige
gegen andere aggressiv zu werden und Teile der Fläche für sich zu monopolisie-
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
71
ren, und das auch nur bei begehrter Nahrung wie Getreide. Werden die weniger
begehrten, einen hohen Faseranteil aufweisenden Pellets gestreut, dann findet
dieser Umschlag nicht statt. Dafür lohnt es sich offenbar nicht, die Mühe auf sich
zu nehmen, andere zu vertreiben. Unter ausschließlicher Pelletfütterung handelt
es sich also tatsächlich um »freie« Gänse, aber wie »ideal« verhalten sie sich?
Die Frage lautet, zwischen welchen Randbedingungen hochsoziale Tiere wie
Gänse ihre Nahrungswahlentscheidungen treffen müssen.
Um dieser Frage nachzugehen, bietet die Theorie der Idealen Freien Verteilung
einen guten Ausgangspunkt. Die Nahrung muss in Schar-adäquater Form, also
flächig verteilt geboten werden, am einfachsten in unterschiedlichen Dichten auf
zwei aneinandergrenzenden Feldern. Außerdem darf die Datenaufnahme nur
in den ersten Minuten erfolgen, da nur dann die Gänse standardisiert hungrig
sind und die Anfangsdichte noch nicht wesentlich unterschritten ist. Der Theorie
entsprechend sollten die Gänse sich nach der Profitabilität richten, also danach,
wieviel Nahrung pro Zeit aufgenommen werden kann. Ein adäquates Maß dafür
sind die Pickraten. Es stellt sich also die Frage, welche Randbedingungen die
Verteilung der Gänse auf Hoch- und Niedrigdichtefeld und ihre Pickraten beeinflussen.
a) Verteilung der Gänse, Nahrungsdichten, Pickraten und Flächengrößen
Bei Nahrungsdichten von 1000 Körnern pro m2 bzw. 3000 Körnern pro m2
waren die Pickraten entsprechend der Vorhersage aus dem Modell (Kacelnik
u. a. 1992) auf beiden Feldern gleich, die Gänse verteilten sich aber recht
konstant 1 : 2. Zwei Drittel der Gänse waren also auf dem Hochdichtefeld, der
Nahrungsdichte entsprechend hätten es aber drei Viertel sein sollen. Da die
Pickraten auf beiden Feldern gleich waren und sich auf beiden Flächen ein
repräsentativer Scharquerschnitt von Gänsen befand, ist anzunehmen, dass
kein Unterschied zwischen den Gänsen in ihrer Konkurrenzfähigkeit besteht.
Es ist daher unklar, warum sich die Gänse zwar tendenziell, nicht aber genau
nach den gebotenen Pelletdichten verteilten. Vermutlich erlauben die geistigen
Fähigkeiten der Tiere zwar die Feststellung, auf welcher Seite es mehr gibt,
nicht aber quantitativ, um wieviel mehr.
Keinen Einfluss hatte die Feldgröße. Die 1 : 2-Verteilung der Gänse stellte sich
unabhängig davon ein, ob die Feldgrößen 2 × 25 m2, 2 × 50 m2 oder 2 × 100 m2
betrugen; für uns zusätzlich zur fehlenden Aggression ein klarer Hinweis darauf,
dass es sich tatsächlich um »freie« Gänse handelt, denn gäbe es versteckte
Interaktionskonkurrenz, dann hätte die Gänseverteilung auf den kleinen Feldern
gegen 1 : 1, auf den großen Feldern gegen 1 : 0 zugunsten des Hochdichtefeldes
gehen müssen. Es gab übrigens keinen Unterschied in sozialem Status, Rang,
Alter oder Geschlecht zwischen den Gänsen, die das Niedrig- bzw. Hochdichtefeld
nutzten. Scharmitglieder nutzen also beide Flächen gleichmäßig.
b) Welchen Einfluss auf die Gänseverteilung hat das Bedürfnis zum Gruppenleben? Wie wirkt sich also steigender Abstand zwischen beiden Nahrungsflächen
auf die Verteilung aus?
In einer Serie von Versuchen wurden zwei 50 m2-Felder (1000 bzw. 3000 Körner
pro m2) im Abstand von 1 m bzw. 11 m zueinander geboten. Während bei geringem Abstand die Gänseverteilung erwartungsgemäß wieder annähernd 2 : 1
72
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
war, näherte sie sich bei weitem Abstand etwa 5 : 1. Nur ein Sechstel der Schar
entschied sich für das Niedrigdichtefeld. Je weiter die Flächen voneinander
entfernt sind, desto mehr neigen die Individuen dazu, sie nacheinander in geschlossener Schar auszubeuten. Hier wird wahrscheinlich von den Gänsen die
Schutzfunktion der Schar vor Raubfeinden gegen den potentiellen Nutzen einer
nicht konkurrierten Nahrungsquelle in Rechnung gestellt. Risiko vermeiden ist
unter Umständen wichtiger als kurzfristiger Energiegewinn.
c) Welchen Einfluss haben Faktoren wie Temperatur oder Bedrohung durch
Raubfeinde auf Pickraten und Gänseverteilung?
Dass Temperatur einen starken Einfluss auf Pickraten haben kann, war ein
Zufallsergebnis, als zwischen zwei Versuchsserien mit gleichen Pelletdichten
stark unterschiedliche mittlere Pickraten auftraten. Der einzige Unterschied
zwischen den Versuchen war die Temperatur, die während der ersten Serie im
Schnitt +1 °C betrug. Die zweite Serie wurde während einer anschließenden
Kälteperiode durchgeführt, mit einer mittleren Temperatur von –10 °C. In der
Kälte fraßen die Gänse etwa 1/3 langsamer; das verlangsamte »handling«
der Körner durch den kalten Schnabel war offensichtlich dafür verantwortlich.
Zufallsbeobachtungen zeigten zudem, dass Gänse, die durch vorangegangene
Störungen »nervös« sind (was man am ständigen Sichern merkt), die Flächen
nur zögernd annehmen, recht langsam fressen und wenig auf ihre Verteilung
achten. Aufgrund der Theorie und entsprechender Ergebnisse an anderen
Systemen (Millinski 1988, Pitcher 1986, Power 1984) ist vorauszusagen, dass
die Pickraten sich bedroht fühlender Gänse sinken. Schwer vorhersagbar ist, wie
sich die Gänse verteilen werden, da dichte Pellets im Gegensatz etwa zu dichten
Wasserflohschwärmen (Millinski 1985) kaum einen Verwirrungseffekt auf den
»Räuber«, also die Gans, ausüben können, im Gegenteil: Auf Hochdichteflächen
kann man auch dann rascher fressen, wenn man sich mehr auf die Umgebung
konzentrieren muss. Die Gänse sollten unter Feindbedrohung entweder weniger
auf ihre Verteilung achten oder aber die Hochdichteflächen bevorzugen.
Versuche mit einem angelernten Hund als Feinddarsteller zeigten einen signifikanten Anstieg des Sicherverhaltens und einen damit zusammenhängenden
Abfall der Pickraten. Die Verteilung der Gänse, die ohne Feinddarsteller etwa
2 : 1 zugunsten des Hochdichtefeldes (5mal größere Dichte als Niederdichtefeld)
ausfiel, tendierte bei Anwesenheit des Hundes gegen 1 : 1. Keinerlei
Auswirkungen gab es auf die Verteilung unterschiedlicher Individuen (bezüglich
Alter, Sex, Rang, sozialem Status) über die beiden Felder. Es ist also durch Wahl
der Versuchsbedingungen durchaus möglich, mit »idealen freien Graugänsen«
zu arbeiten. Verschiedene Tests eines im Grunde einfachen Modells zeigten
eindrucksvoll, dass auch Gänse im engen Netz des Wirkungsgefüges der
Lebensumstände ständig und recht flexibel fein balancierte Entscheidungen
treffen. Die Bedeutung solcher Ergebnisse geht über die Gänse hinaus. Diese
ökologisch und evolutionär begründeten Prinzipien der Entscheidungsfindung
sollten für alle unter ähnlichen Randbedingungen stehenden Tiere einschließlich
Mensch gelten. Es handelt sich dabei übrigens um Systemeigenschaften, die
ganz parallel zu den Gänsen auch auf die Wirtschaft umlegbar sind, etwa auf
Gruppen kooperierender Firmen.
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
73
Modellierte Tiere
So sind ständige Abwägungen durchzuführen. In anderen Worten: Tiere sollten die einkommenden Informationen mit bereits gespeicherten Sollgrößen
vergleichen, um im relativ komplexen Umfeld »richtige«, d. h. ihre Fitness
fördernde Entscheidungen treffen zu können (Exkurs 7). Die Ökoethologie
beschä�igt sich letztlich mit der Frage, nach welchen Regeln Tier Entscheidungen treffen, weswegen sich auch im englischen Sprachgebrauch als Synonym
der Begriff »decision making« einbürgerte. Modelle dienen dazu, eben diese
Entscheidungen nachvollziehbar zu machen. Eine Gruppe von besonders erfolgreichen Modellen, die sozusagen das Rückgrat der Öko-Ethologie bilden,
sind Optimalitätsmodelle. Es werden Regeln aufgestellt, welche Entscheidung ein Tier unter gegebenen Bedingungen fällen sollte, um bezüglich einer
bestimmten Währung das Optimum an Gewinn in Bezug auf die investierten
Kosten zu erhalten.
Um Verhalten modellieren zu können, ist eine durch Beobachtung erworbene
genaue Grundkenntnis des Systems erforderlich. Dann muss als erster Schri�
die Währung festgelegt werden. So kann ein nahrungssuchender Vogel seinen eigenen Energiegewinn maximieren, etwa um vor dem Zug in kürzester
Zeit möglichst viel Fe� zu speichern. Energie maximieren gewöhnlich auch
fü�ernde Elternvögel, nur stecken sie ihren Gewinn in den Nachwuchs.
Derselbe Vogel kann während anderer Jahreszeiten unter ganz anderen
Zwängen stehen. Im Winterquartier wird zum Beispiel o� die Fresszeit minimiert. Im letzteren Fall heißt die Devise: Energie sparen, zu Hause bleiben,
sich so möglichst wenig den Fressfeinden aussetzen und auf diese Weise
die eigene Überlebenswahrscheinlichkeit erhöhen. Energiemaximierung
ist also nicht die einzige, sondern eine von vielen möglichen Währungen
von Optimalitätsmodellen. Als weitere wichtige Annahmen müssen die
Randbedingungen und die Entscheidungsvariablen in das Modell eingehen. Die Währungen sind ebenso variabel wie die Randbedingungen, die
Alternativen der zu treffenden Entscheidung sind frei festsetzbar (Exkurs 7).
Alle Modelle dienen letztlich der Vorhersage der Entscheidung von Tieren.
Wurden die Annahmen richtig gewählt, dann sollten sich die abgeleiteten
Vorhersagen weitgehend mit dem beobachteten Verhalten der Tiere decken. Es
stimmt natürlich, dass Modelle nur einen kleinen Teilaspekt der wirklichen Welt
abdecken können und die Komplexität natürlicher Systeme unzureichend oder
gar nicht erfassen. Unabhängig davon, ob ein bestimmtes Modell das Verhalten
von Organismen adäquat beschreibt oder nicht, liegt einer der Vorteile von
Modellen darin, dass man gezwungen ist, exakte Arbeitshypothesen zu formulieren und die beteiligten Variablen genau zu bedenken. Dieser Zwang zur
Exaktheit ist bei beobachtenden und beschreibenden Ansätzen weniger stark
ausgeprägt. Es tri� auf Modelle zu, was für die Wissenscha� im allgemeinen
zutri�: Der Weg ist o� wichtiger als das Ziel.
Die jahrzehntelange Beschä�igung der Ökoethologen mit Entscheidungen
bedingte das Wiedererstarken der kognitiven Ethologie. Als klar wurde,
zu welch komplexen geistigen Leistungen Tiere befähigt sind (z. B. Häher,
74
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
die bis zu 30 000 Samenkörner verstecken und sie zu über 90 % wiederfinden), war man immer weniger bereit, sie als »Verhaltensmaschinen« zu
betrachten, kurz: Man interessiert sich wieder dafür, wie Tiere denken. Im
Zusammenhang mit den Unschärfen in den Modellen der Ökoethologie interessieren nun wieder verstärkt die Mechanismen des Informationserwerbs,
jene Näherungsverfahren, welche Tiere verwenden, um etwa die Qualität
von Fu�erplätzen, den energetischen Wert von Nahrung abzuschätzen; wie
sie herausfinden, ob es besser für sie ist, sich einer Gruppe anzuschließen
oder allein zu bleiben, ob es sich um einen guten Partner handelt. Vielfach
werden dazu indirekte Reize benutzt. So reicht es für eine zufällig vorbeikommende Möwe, eine Aggregation von fressenden Möwen anzusteuern,
um einigermaßen sicher zu sein, dass es dort Nahrung gibt. Der Vogel
braucht den Reichtum der Fu�erquelle nicht direkt abzuschätzen, wenn
etwa der Reichtum einer Nahrungsquelle und die dortige Aggregation von
Artgenossen in Zusammenhang stehen.
Suchbilder
Es war eine Entdeckung von großer Tragweite, dass Räuber lernen, wie ihre
Beute aussieht, sie also sogenannte Suchbilder erwerben. Durch Lernen können sich Räuber ein Schema anlegen, mit dem dann die Bilder aus der Umwelt
verglichen werden. Das macht ihre Beutesuche effizienter. Die Auswirkungen
dieses einfachen Vorgangs auf Individualverhalten von Räuber und Beute,
auf die Selektion bestimmter Beutemerkmale und auf Ökosysteme sind aber
beträchtlich. Luc Tinbergen beobachtete in den 1950er Jahren in niederländischen Wäldern, dass Vögel bestimmte Insekten mit höherer Frequenz nahmen, als diese Beute im Lebensraum vorkam. Er führte diese Bevorzugung
auf die Bildung eines Suchbildes für diese Beute zurück. Als Effekt dieser
Suchbild-bedingten Bevorzugung eines Beutetyps wird häufig wahrgenommene Beute überproportional zu ihrer Häufigkeit genommen, ohnehin seltene Beute ist dagegen unterproportional im Nahrungsspektrum vertreten.
Man beachte, dass es dabei nicht auf die tatsächliche Häufigkeit der Beute
ankommt, sondern auf die subjektive, also die Frequenz, mit der ein Räuber
die Beute entdeckt. Daraus folgt, dass Beute gut daran tut, sich zu verstecken
bzw. zu tarnen. Von der Frequenz des Entdecktwerdens kann wiederum die
Fähigkeit von Räubern abhängen, Suchbilder anzulegen. Ein kleines bisschen
mehr an Tarnung kann also unter Umständen eine starke Verringerung des
Fressfeinddruckes bringen. Soweit die groben Grundlinien dieser Geschichte,
von der Seite der Beute betrachtet.
In einem evolutionären »Rüstungswe�lauf« bezüglich der Such- und Abwehrstrategien muss neben der prospektiven Beute auch der Räuber in Betracht
gezogen werden. Die Gegenmaßnahme des Räubers liegt u. a. in einer Verbesserung seiner Fähigkeit, auch besser versteckte oder getarnte Beute zu finden, z. B.
über eine Verbesserung seiner Suchbild-Bildung, also seiner Wahrnehmungsund Lernleistung. Somit kann Beute einen bedeutenden Selektionsdruck auf
die Verbesserung mancher »Intelligenzleistungen« von Räubern ausüben.
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
75
In einer vergleichenden Untersuchung von relativen Gehirngrößen (Gehirnvolumen/Körpervolumen) von hawaiianischen Riff-Fischen fanden Bauchot
u. a. (1977), dass diejenigen Fische die größten Gehirne aufweisen, die ihrer
Beute aktiv nachjagen. Ähnlich große Gehirne ha�en aber auch die möglichen
Beutefische, die offenbar ziemlich umsichtig sein müssen, um nicht von einem dieser »intelligenten« Räuber erwischt zu werden. Die relativ kleinsten
Gehirne wurden bei den Lauerern unter den Räubern gefunden, die so lange
gut getarnt umherliegen, bis sie im richtigen Augenblick das Maul weit aufzureißen, um ein argloses Beutefischchen einzusaugen; in 20 Millisekunden, dem
Fün�el einer hundertster Sekunde, ist bei letzteren des Tages Arbeit getan.
Ein ganz ähnliches Ergebnis erbrachte eine breit vergleichende Studie zu
den relativen Gehirngrößen der Fische des Tanganiijkasees. Dieser See im
afrikanischen Grabenbruch ist etwa 8 Millionen Jahre alt und ein wahres
Laboratorium der Evolution. In der Frühzeit besiedelte diesen See wohl eine
unspezialisierte Art von Buntbarschen, ein Insektenlarven- und Wurmfresser,
der mit den verschiedensten Lebensräumen zurechtkam. Daraus entstanden
bis heute hunderte Arten verschiedenst angepasster Buntbarsche, die Felsbis Schlammböden, Freiwasser, Flachwasser und die großen Tiefen bewohnen. Sie legen ihre Eier entweder auf Steinen oder in Schneckenschalen ab,
wo sie das Männchen bewacht, oder das Weibchen erbrütet sie im Maul. Am
vielfältigsten entwickelte sich wohl die Ernährung. Von Insekten- PlanktonPflanzen- bis zum Fischfresser ist alles vertreten; einige Arten haben wahrha�
exotische Nischen erobert. Manche leben von den Augen oder Flossen anderer Fische, wieder andere haben sich darauf verlegt, brütenden Weibchen die
Eier oder Jungen aus dem Maul zu saugen. Die größten Vorderhirne zeigten
die Bewohner reich strukturierter Felsküsten, entweder selber aktive Räuber,
oder unter entsprechender Fressfeindbedrohung (Kotrschal u. a. 1998).
Sollte relatives Hirnvolumen etwas mit geistiger Leistungsfähigkeit zu tun
haben, was zumindest innerhalb enger Verwandtscha�srunden anzunehmen
ist, dann darf man aus diesen Geschichten wohl schließen, dass ein evolutionärer Räuber-Beute-We�lauf, die Besiedlung eines komplexen Lebensraumes
und fordernde soziale Beziehungen kognitive Fähigkeiten fördern. In diesem
Zusammenhang liegt natürlich bezüglich der beinahe explosionsartigen
Evolution der geistigen Leistungsfähigkeit des Menschen die Spekulation nahe,
dass ein besonderer Selektionsdruck auch daher kam, dass die ursprünglichen
Menschen sowohl Jäger als auch Gejagte waren. Das ist aber sicherlich nur
ein Teilaspekt der Erfolgsgeschichte des menschlichen Gehirns. Eine besonders gut begründete Hypothese nimmt einen sozialen Hauptkontext für die
menschliche Gehirnentwicklung an (vgl. Dunbar 1993).
Aber zurück zum Suchbild, zu Vögeln und Insekten. Die Bildung eines
Suchbildes durch ein Individuum lässt sich durch eine Lernkurve darstellen.
Da wohl das Phänomen, nicht aber der genaue Verlauf dieses Lernprozesses
im Freiland zu beobachten ist, haben sich Ökoethologen eine Apparatur einfallen lassen und mit dem amerikanischen Blauhäher einen Vogel gefunden,
der mit Begeisterung darin die »Testperson« spielte (Pietrewicz und Kamil
1981). Man bauten eine Skinner-Box, in welcher Bilder von Insekten projiziert
76
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
werden konnten. »Glaubt« der Vogel, ein (mehr oder weniger gut getarntes)
Insekt erkannt zu haben, pickt er einen Knopf und erhält eine Belohnung.
War seine Entscheidung falsch, bekommt er nichts und der zeitliche Abstand
zur nächsten Bildpräsentation wird erhöht. Wie auch in Freiheit wirkte sich
also eine Fehlentscheidung auf eine Verlängerung der Suchzeit des Vogels
aus und verminderte damit seine Effizienz. Zeigte man nun im Zuge einer
Bilderserie abwechselnd entweder nur die Borke eines Baumes oder denselben Untergrund mit einer einzigen Art gut getarnter Nachtschme�erlinge, so
steigerte der Vogel rasch seine Erkennungsleistung von anfänglich etwa 70 %
richtige Entscheidungen auf bis knapp unter 100 %. Mit dieser Lernkurve war
die Bildung eines Suchbildes auch experimentell nachgewiesen.
Noch interessanter war allerdings das Ergebnis, wenn dem Vogel in Zufallsreihenfolge zwei unterschiedliche Farbvarianten eines getarnten Nachtschmetterlings gezeigt wurden. Es ist schon lange bekannt, dass manche getarnten
Insekten in verschiedenen Morphen, also Erscheinungsbildern existieren, ohne
dass die Funktion eines solchen Polymorphismus besonders einsichtig gewesen
wäre; erklärt wurde er o� damit, dass auch der Untergrund in verschiedenen
Ausführungen vorliege, dieselbe Schme�erlingsart also ein weiteres Spektrum
von sie tarnenden Unterlagen zur Verfügung habe. Das kann durchaus der Fall
sein, aber der oben erwähnte Versuch lieferte ein im Lichte unseres gegenwärtigen Verständnisses des evolutionären Mechanismus besseres, bzw. zusätzliches Argument: Die Testvögel scha�en es bei abwechselnder Präsentation
der zwei Ausbildungsformen desselben Schme�erlings nämlich nicht, ein
Suchbild auch nur für eine der beiden Morphen aufzubauen (also mit der Zeit
besser zu werden). Es konnte gezeigt werden, dass Polymorphisms, also ein
unterschiedliches Erscheinungsbild von Individuen einer Population/ Art eine
effiziente Gegenstrategie gegen die Suchbild-Bildung bei Räubern sein kann.
Räuber selbst selektionieren unter Umständen ihre Beutepopulationen auf
die für die letzteren idealen Verhältnisse von Morphen, also unterschiedliche
körperliche Ausbildungsformen, indem sie eine der Morphen so lange bevorzugen, bis sie entsprechend selten bzw. die andere entsprechend häufig wurde,
um dann auf die andere Form umzusteigen.
Der Begriff Beute gilt, nebenbei bemerkt, nicht nur für Nahrung tierischen
Ursprungs, genauso gut können Pflanzenfresser für bestimmte Pflanzenarten
Suchbilder au�auen. In Grünau stehen den Gänsefamilien jedes Frühjahr
zumindest 50 fressbare Pflanzenarten in nennenswerten Quantitäten zur
Verfügung. Tatsächlich genützt werden jedes Frühjahr aber nur ganz wenige
dieser Arten. Das wäre allein noch nicht so aufregend. Was aber tatsächlich
auf Suchbild-Bildung schließen lässt, sind die jährlich wechselnden »Moden«.
Was im Vorjahr mit Begeisterung gefressen wurde, kann im darauffolgenden Frühjahr total »out« sein (Walther 1980). Gössel lernen offenbar in ihren
ersten Lebenstagen ein kleines Inventar von Pflanzenarten, nach denen man
eben pickt, zum Teil selber, durch Versuch und Irrtum, zum Großteil aber
über Vermi�lung ihrer Eltern (Fritz und Kotrschal 2000, Fritz u. a. 2000). Diese
Angewohnheit/Tradition wird sehr konservativ beibehalten, andere Pflanzen
werden konsequent ignoriert.
Die zweite Synthese der Ethologie: Öko-Ethologie und Soziobiologie
77
Mit dem Suchbild wurde gezeigt, dass einfache kognitive Prozesse im
»Alltagsverhalten« von Tieren durchaus eine wichtige Rolle spielen. Suchbilder können aber auch planktonfressende Fische bilden. Für eine ausgeprägte »Intelligenzleistung« sollte man die Fähigkeit zur Suchbild-Bildung
natürlich nicht halten, eher für eine spezialisierte Wahrnehmungsfähigkeit,
angepasst an eine sowohl kurzzeitig als auch in evolutionären Zeiträumen
instabile Umwelt.
Muss alles »angepasst« sein?
Als darwinistischer Öko-Ethologe nimmt man zunächst einmal recht bereitwillig an, dass jede Struktur, jede Verhaltensweise eines Organismus in der
richtigen Situation fitnessfördernd sei. Dieses alles erklärende Credo der
sogenannten »Adaptionisten« musste zwangsläufig Widerstand hervorrufen
und wurde prompt von Evolutionsbiologen als »panglossian« (etwa: alles
erklärend) kritisiert (Gould und Lewontine 1979): Man könne für alles und jedes ein Geschichtchen erfinden, warum es adaptiv sein müsse, und damit alles (scheinbar) erklären. Warum aber soll z. B. die Flügeldeckenstruktur vieler
Käfer nicht bloß ein (selektiv neutrales) Nebenprodukt der Entwicklung sein?
Dasselbe gilt für Farbmuster und Steigungswinkel von Schneckengehäusen
usw. Was kostenneutral sei (d. h. sich bezüglich der Fortpflanzungsrate weder
positiv noch negativ auswirkt), wird von der Selektion geduldet.
Dass es Merkmale einschließlich Verhaltensweisen gibt, welche nicht durch
den direkten Zwang zur Anpassung geformt wurden, sondern Folgen von
Entwicklungsvorgängen bzw. physiologischen Mechanismen, oder aber
schlicht stammesgeschichtliche »Mitbringsel« darstellen, ist nicht unwahrscheinlich, stellt aber die wissenscha�liche Untersuchung vor ein Dilemma:
Verhaltens- oder sonstige Merkmale, die offensichtlich »funktionslos« sind, für
welche also in jedem denkbaren Versuch die 0-Hypothese nicht widerlegt werden kann, lassen uns direkt ins Induktionsproblem schli�ern (Exkurs 5). Man
stelle sich einen Vogel mit grauem Schnabel vor. Warum ausgerechnet grau?
Vielleicht, weil diese Farbe chemisch einfach und energetisch günstig im Köper
herzustellen ist? Für welche Aufgaben sollte ein grauer Schnabel denn besser
geeignet sein als ein weißer, blauer, brauner oder grüner? Angenommen, man
würde 100 verschiedene Arbeitshypothesen zur Funktion der Schnabelfarbe
Grau samt zugehöriger Tests entwickeln und hä�e in allen Fällen ein negatives
Ergebnis, die Schnabelfarbe Grau hä�e also keinen besonderen Anpassungswert
in der Vermeidung von Fressfeinden, beim Anlocken von Beute, im sozialen
Bereich usw.: Wie können wir sicher sein, dass nicht die 101. Arbeitshypothese
zutri�? Mit anderen Worten: Gerade bei Tests des Anpassungswertes von
Strukturen ist ein negatives Ergebnis niemals endgültig. Während ein positives Resultat eindeutig ist, lässt ein negatives immer die Optionen von »kein
Anpassungswert« bzw. »unpassende Arbeitshypothese« offen.
Aber selbst positiven Ergebnissen gegenüber ist immer höchste Vorsicht angebracht; Alternativhypothesen werden dadurch natürlich nicht ausgeschlossen. Monokausale Erklärungen (eine Ursache, eine Wirkung) gaukeln o�
die trügetische Sicherheit vor, schon alles »im Griff zu haben«. Polykausale
78
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Modelle kommen Ursache-Wirkungs-Netzen in der Natur meist wesentlich
näher. Monokausale Erklärungen entsprechen offenbar den menschlichen
Denkstrukturen und schaffen geistige Geborgenheit, sind aber angesichts
der Komplexheit lebender Systeme trügerisch (Exkurs 5). Aber zurück zum
Anpassungswert der Schnabelfarbe: Dieses Beispiel wurde nicht erfunden.
Bur� (1984) konnte tatsächlich zeigen, dass diese scheinbar nebensächliche
Laune der Natur sehr wohl Auswirkungen haben kann. Amerikanischen
Fliegenschnäppern fangen ihre Insektenbeute von Ansitzen aus mit kurzem
Vorstoß. Ihnen wurde der graue Schnabel weiß-glänzend lackiert, und prompt
zogen sie sich von besonnten Warten in den nahrungsärmeren Scha�en
zurück, da wahrscheinlich der helle Schnabel die visuellen Insektenjäger
blendete. Dieses Beispiel zeigt also, dass auch Merkmale, welche uns intuitiv
nebensächlich vorkommen mögen, sehr wohl adaptiv sein können.
Die Kritik am Adaptionismus einfach abzuschme�ern wäre ebenso unklug,
wie sich dadurch in allzu große Verunsicherung stürzen zu lassen. Es gibt
schließlich schon alleine aus den angeführten wissenscha�stheoretischen
Gründen keine echte Alternative für die Arbeitshypothese, dass morphologische Strukturen, physiologische Vorgänge und Verhalten prinzipiell
angepasst sind. Nur ist diese Annahme nicht der Weisheit letzter Schluss.
Man darf nicht einfach annehmen, dass jegliches Verhalten adaptiv sei, man
muss es allemal nachweisen und auch zeigen, wie wichtig eine bestimmte
Merkmalsausprägung für die Fitness ihres Trägers ist. An entsprechenden
Beispielen herrscht kein Mangel. Auch scheinbare Selbstverständlichkeiten
sind zu hinterfragen, die Welt ist noch voller Rätsel. Warum etwa sind Raben
schwarz? Man suche nach testbaren Arbeitshypothesen und die Forschung
kann losgehen.
Soziobiologie: Nepotismus, Egoismus und Wie-du-mir-so-ich-dir
Die moderne Ökoethologie lässt sich als quantitativer Ansatz der Untersuchung der Konsequenzen von Verhalten auf die Fitness charakterisieren
(Exkurs 3). Es geht dabei um nicht weniger als um Wesen und Mechanismus
der Evolution. Die Ökoethologie bildet damit die solide Grundlage, wohl aber
nicht den ausschließlichen Grund für die anhaltende Blüte der Verhaltenswissenscha�en in den letzten 20 Jahren. Dieser Aufschwung ist vor allem auf
das Konzept der Verwandtenselektion zurückzuführen: W. Hamilton (1964),
E. Wilson (1975) und andere Autoren zeigten die entscheidende Bedeutung
des Verwandtscha�sgrades für Interaktionen zwischen Tieren. Auf diesem
Konzept der inklusiven Fitness (Exkurs 3) beruht die Soziobiologie, die in
jüngster Zeit wohl erfolgreichste Richtung der Verhaltensbiologie, vor allem
deswegen, weil dadurch soziale Organisation biologisch erklärbar wurde
(Bezzel 1993). Zudem bildet sie die Basis für die Einsicht, dass Kultur und ihre
Merkmale, einschließlich Religionen in der Evolution wurzelt (Bonner 1983).
Ethologen war schon lange aufgefallen, dass nicht alle Tiere immer nur auf
den eigenen Vorteil bedacht sind, sondern anderen helfen, sich sogar für andere aufopfern bzw. auf die eigene Reproduktion verzichten. Sie verhalten
sich, als wären sie am »Überleben der Art« interessiert. Dieser Altruismus
Soziobiologie: Nepotismus, Egoismus und Wie-du-mir-so-ich-dir
79
stellt aber für einen konsequent gedachten Darwinismus ein großes Problem
dar. Im Sinne des gruppenselektionistischen Weltbildes von Konrad
Lorenz war so etwas aber gar nicht verwunderlich. Vor allem die beliebten
Naturdokumentationen des Fernsehens trugen das Ihre dazu bei, den »Zum
Besten der Art«-Gedanken so tief ins öffentliche Bewusstsein einzupflanzen
(wie übrigens auch die durchwegs irreführenden Ideen von der »Harmonie
in der Natur« oder auch vom »ökologischen Gleichgewicht«, Pimm 1991),
dass er, wie zu befürchten ist, noch lange das evolutionäre Credo der breiten
Öffentlichkeit darstellen wird. So tief sitzt diese Überzeugung, dass selbst
heute noch sogar manche biologisch Versierte die geistige Gefolgscha� verweigern, geht man daran, den romantischen Mythos vom »Überleben der Art«
zu hinterfragen. Diesem Widerstand, die traditionelle Sicht von Altruismus
und Gruppenselektion über Bord zu werfen, entspricht wahrscheinlich ein
tief in uns steckendes Bedürfnis nach Harmonie in und mit der Natur. Wer
akzeptiert schon gerne Dinge, wie sie wirklich sind, wenn die Möglichkeit
besteht, sie im vertrauten, wenn auch falschen Sinne zu interpretieren?
Vor diesem Hintergrund ist der Aufruhr verständlich, den Hamilton (1964),
Wilson (1975) und andere verursachten, als sie mit dem in bezug auf Genetik
und evolutionäre Mechanismen schlüssigen Konzept der Individualselektion
(Exkurs 3) antraten, um Kooperation im Tierreich zu erklären. Nicht nur,
dass sich neue Ideen in der Wissenscha� anfangs eher zäh verbreiten – auf
dieses Konzept reagierten viele wie auf eine kalte Dusche. Dies um so mehr,
als aufgrund der allseits akzeptierten Kontinuität zwischen tierischem und
menschlichem Verhalten das Prinzip Eigennutz konsequenterweise auch auf
den Menschen anzuwenden ist. Schützenhilfe kam von der bereits vorher
entwickelten Spieltheorie (Maynard Smith 1976, Poundstone 1992), die aber
natürlich keine empirischen Daten, sondern nur Modelle beisteuern kann.
Welch scheinbare Verletzung anerkannter Prinzipien der gesellscha�lichen
Ethik und Moral: Der in menschlichen Gesellscha�en weit verbreitete, aber
vielfach geachtete Nepotismus – ein »biologisches Grundgesetz«, als solches
natürlich und daher gut? Nicht unbedingt.
Die Natur bietet zahlreiche Beispiele für scheinbaren Altruismus, also
selbstlose Hilfe oder sogar Aufopferung für Artgenossen. So verzichten
etwa die allermeisten Weibchen bei staatenbildenden Insekten auf die eigene Fortpflanzung und sorgen offenbar »lieber« als Arbeiterinnen für das
Fortkommen ihrer Schwestern. Bei Kämpfen zwischen Männchen gibt es
fast immer Ritualisierungen im Verhalten, die verhindern, dass es sofort
zum Beschädigungskampf um wichtige Ressourcen, meist den Zugang zu
den Weibchen, kommt. Bei vielen Vögeln, aber auch manchen Fischen und
Säugetieren bleiben entweder die vorhergehenden Jungen oder sogar nichtverwandte Individuen bei den Brütern und helfen ihnen durch Fü�ern des
Nachwuchses oder durch Verteidigung des Territoriums. Eigentlich recht
einleuchtend, dass diese Phänomene zunächst dadurch erklärt wurden, dass
sie das Überleben der Art fördern würden. Natürlich tun sie das offensichtlich
auch, aber deswegen anzunehmen, der Überlebenswert dieser Verhaltensweisen
80
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
für die Art wäre unter Selektionsdruck gestanden, bedeutet Ursache und
Wirkung zu verwechseln. Warum dem so ist, bedarf einiger Erklärung.
Beginnen wir beim Grundstein der Darwinschen Theorie, bei der Einheit
der Selektion: Das ist in den allermeisten Fällen das Individuum, nicht aber
die Gruppe oder gar die Art. Prinzipiell haben alle Arten das Potential zur
exponentiellen Vermehrung. Dass die Erde trotzdem noch nicht schon meterdick von Kaninchen, Elefanten oder Tauben bedeckt ist, liegt daran, dass
Ressourcen, wie Nahrung und Lebensraum nicht unbeschränkt verfügbar
sind. Dies bedeutet, dass notwendigerweise Konkurrenz um diese Ressourcen
herrschen muss. Zudem sind alle genetisch produzierten Individuen (m.A.
eineiiger Mehrlinge) genetisch einzigartig; alle bringen daher unterschiedliche Voraussetzungen mit, in konkreten Umwelten heranzuwachsen und zu
leben. Die natürliche Selektion äußert sich nun nicht im Kampf »mit Klauen
und Zähnen«, sondern in unterschiedlichen Überlebens-, vor allem aber in
unterschiedlichen Fortpflanzungsraten. Gewisse Geno-Phänotypen werden
in einer bestimmten Umwelt mehr Nachkommen hinterlassen, als andere,
die Frequenz ihrer Allele (Genvarianten) in der Population wir also von einer
Generation zur nächsten ansteigen. Damit verschieben sich aber auch die
Merkmale. Dies ist der Kernprozess der Evolution. Es sind in der Regel zwei
Individuen, ein Weibchen und ein Männchen, welche die zunächst haploiden
(ein Chromosomensatz) Genome ihrer Geschlechtszellen (Ei/Spermium) zu
wieder diploiden (doppelter Chromosomensatz) Nachkommen zusammenführen. Daher ist auch das Individuum, nicht aber Population oder Art die
Haupteinheit der Selektion. Was mögliche Gruppeneffekte nicht ausschließt.
Konsequent weitergedacht sind eigentlich die Gene selber die Einheiten
der Selektion (Dawkins 1977), ihr Konkurrenzkampf treibt das Verhalten
der Tiere und Menschen. Was zunächst völlig absurd klingt, wurde teils
von Molekularbiologen belegt: So liefern sich mü�erliches und väterliches
Genom sogar noch im Körper des Embryos he�ige hormonale Kämpfe
um das Wachstum desselben (Hurst u. a. 1992). Von väterlichen Genen
kodiertes Hormon (IGF-II) versucht das Wachstum des Embryos anzukurbeln, also mehr mü�erliche Ressourcen für den Nachkommen zu requirieren, als die Physiologie der mü�erlichen Seite zu investieren bereit ist. Als
Gegenmaßnahme bildet das mü�erliche Genom Rezeptormoleküle, die nur
dazu dienen, das durch väterliche Gene kodierte Wachstumshormon zu inaktivieren. Der strategische Kampf der Geschlechter um Fortpflanzungserfolg
(siehe unten) setzt sich also sogar noch im Nachkommen fort.
Generell werden nach einer Verschmelzung des weiblichen und männlichen
Genoms im heranwachsenden Nachkommen nicht einfach wahllos und
zufällig Gene mü�erlicher oder väterlicher Herkun� verwendet. Vielmehr
bewirkt die sogenannte »Genomprägung« (genomic imprinting), dass für die
Ausbildung bestimmter Merkmale nur das Genom eines Elters verwendet
wird. Ein besonders spannendes Beispiel ist unser Gehirn; es konnte gezeigt
werden, dass tiefere und ursprünglichere Hirnteile, wie Hirnstamm (basale
Lebensfunktionen) und Hypothalamus (Steuerung von Sexualität) fast ausschließlich durch die Verwendung väterlicher, also Männlicher Gene zu-
Soziobiologie: Nepotismus, Egoismus und Wie-du-mir-so-ich-dir
81
stande kommt. Hingegen wird jener Hirnteil, welcher die spezifisch menschlichen Eigenscha�, wie Denkfähigkeit, soziale Verantwortung und bewusste
Selbstreflektion trägt, die Großhirnrinde, ausschließlich von Genen mü�erlicher
Herkun� kodiert (Keverne 2001). Die Tragweite dieser Entdeckung ist noch
kaum abzuschätzen. Etwas überspitzt könnte man meinen, dass den Frauen
der Vor-Menschen vor etwa 700 000 Jahren ihr unkultiviertes Leben inmi�en
männlicher Jagd-und Mordgesellen reichte und sie daher beschlossen hä�en,
nun endlich ein »ordentliches«, kultur-und sprachfähiges Gehirn zu entwickeln. Selbstverständlich ist dies keine ernstha�e Arbeitshypothese. Aber der
Gedanke passt zur durchaus ernstha�en »sozialen Intelligenzhypothese«
(Dunbar 1993), wonach die Evolution unseres Gehirns besonders stark unter
sozialen Selektionsdrucken gestanden wäre.
Das Individuum wäre also jener »Sack voller (miteinander konkurrierender)
Gene«, der sich ständig in einer realen Umwelt zu bewähren hat, was hier
ganz konkret bedeutet: mehr Nachkommen hinterlassen als die nächsten
Konkurrenten. Denn gelingt dies nicht, dann ist eine Verwandtscha�slinie,
sind deren Gene bald erloschen. Alle heute lebenden Individuen aller Arten
sind offenbar die Nachkommen erfolgreicher Individuen, denn die weniger
erfolgreichen Linien sind bereits ausgestorben. Und dieses Spiel um den
Fortpflanzungserfolg wird in jeder Generation wieder neu gespielt. Erklärt
die Ökoethologie, wie Individuen ihre Ressourcennutzung für den letztlichen
Zweck der Fortpflanzung optimieren, so gibt uns die Soziobiologie das passende konzeptuelle Rüstzeug zur Untersuchung der Frage, wie die Individuen
in der Konkurrenz mit Artgenossen um die Zahl der Nachkommen bestehen können (Exkurs 3). Es mag vordergründig nicht so aussehen, aber wir
alle, d. h. alle sexuell reproduzierenden Organismen auf der Welt, sind auf
Reproduktions-Optimierung hin konzipiert. Solche Strategien lenken auch
unser menschliches Verhalten (Voland 2000).
Der amerikanische Populationsgenetiker Fisher (1930) argumentierte bereits
plausibel, warum das Individuum, nicht aber die Gruppe die Einheit der
Selektion sein sollte: Angenommen, es gäbe eine Population von rückhaltlos
altruistischen Lemmingen, die, weil sie sich eben so stark vermehren, von
Zeit zu Zeit kollektiven Selbstmord begingen, damit das Überleben der Art
sicherten, da sie den wenigen Überlebenden wieder einen Lebensraum
voller verfügbarer Ressourcen hinterließen. Da jegliches Verhalten auch
genetisch begründet ist (Exkurs 3), variieren, genau wie körperliche Merkmale auch, Verhaltensrnerkmale innerhalb von Populationen um einen
Mi�elwert; man denke nur an Körpergewicht bzw. -größe: Es gibt an den
jeweiligen Enden der Frequenzverteilung dieses Merkmals besonders große
bzw. kleine Individuen (Exkurs 5). Es wird also in unserer Population von
Altruisten einige geben, die ganz besonders altruistisch sind, aber auch einige,
deren Aufopferungsbereitscha� für die Art eher gering entwickelt ist. Im
Selbstmordritual der Lemminge würden daher überwiegend die eher wenig
altruistischen überleben. Außerdem ist damit zu rechnen, dass gelegentlich
Mutationen Betrüger hervorbringen, die gar nicht altruistisch sind. In ganz
wenigen Generationen wird also unweigerlich aus einer Population von über-
82
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
wiegenden Altruisten eine Bande von Egoisten. Altruismus kann also keine
evolutionär stabile Strategie sein, alle Organismen sind prinzipiell »egoistisch«.
Damit wird das »Überleben der Art« zum Sekundäreffekt im Konkurrenzkampf
ums Replizieren der eigenen Gene. Wir sehen uns mit einer Welt konfrontiert,
die prinzipiell vom Egoismus beherrscht wird, in welcher man einander nur
dann beisteht, wenn es um das Fortkommen der eigenen Gene geht. Dafür
sind besonders Verwandte prädestiniert, die je nach Verwandtscha�sgrad
anteilig Gene gemeinsam haben. Nach dem Verwandtscha�sgrad richtet sich
dann auch recht direkt die Kooperationsbereitscha�. Je größer der Anteil an
gemeinsamen Genen, desto mehr kann man durch Verwandtenförderung
auch für die eigene Fitness tun. Zur Zusammenarbeit mit Nichtverwandten
ist man allenfalls bereit, wenn diese wiederum Gleiches mit Gleichem vergelten und daher zumindest ein symmetrischer eigener Vorteil herausspringt.
Es ist also nicht so weit her mit der Harmonie in der Natur, wie noch
unsere Altvorderen dachten, bzw. wie wir das gerne hä�en. Konflikte bestimmen die Welt. Paarpartner gehen Zweckbündnisse ein, wenn diese
zur Aufzucht der gemeinsamen Kinder nötig sind; man sucht einander
auch bei der Kinderaufzucht zu »übervorteilen«. Selten investieren beide
Partner gleichmäßig in die Nachkommen. So sind innerhalb der Familien
die Konflikte vorprogrammiert: Männchen und Weibchen gelingt es aufgrund der asymmetrischen Anfangsinvestitionen in Nachkommen nur über
unterschiedliche Strategien, ihren Fortpflanzungserfolg zu optimieren; darum sind Seitensprünge und gegenseitigem Ausnutzen die Regel, nicht die
Ausnahme. Ein anderer evolutionärer Konflikt besteht zwischen Eltern und
Nachkommen: Kinder wollen aus Gründen, die noch zu diskutieren sein werden (S. 205), immer mehr von ihren Eltern, als diese zu geben bereit sind.
Heute sieht es nach Sieg auf allen Linien für die Individualselektion aus, die alte
Gruppenselektion hat offensichtlich ausgedient. Plötzlich war auch erklärbar,
warum es bei der Übernahme von Weibchen und Weibchengruppen durch
neue Männchen, etwa bei Löwen, Gorillas und anderen Affen, aber gelegentlich
auch beim Menschen, zu Kindestötungen kommt. Mit Arterhaltung hat
das wohl nichts zu tun. Und als »pathologisch« kann es wohl auch nicht
abgetan werden, wenn Kindestötung ein regelmäßiger Bestandteil dieses
sozialen Wechsels ist, außer man unterstellt, dass alle Männchen einer Art
pathologisch veranlagt wären. In diesem Fall verschleiert eine oberflächliche
Diagnose bloß die eigentlichen Ursachen. Denn sehr wohl erklärbar
sind solche diese Kindestötungen im Lichte der Individualselektion: Die
mordenden Männchen haben nichts davon, die Nachkommen fremder Väter
aufzuziehen, da diese nichtverwandten Nachkommen nicht ihre Gene tragen.
Zudem bleibt ihnen meist nur begrenzte Zeit für die eigene Reproduktion. Es
liegt daher in ihrem vitalen (evolutionären, also unbewussten) Interesse, dass
die ihnen zur Verfügung stehenden Weibchen rasch wieder empfängnisbereit
werden, was der Fall ist, wenn diese Weibchen keine Nachkommen mehr
zu versorgen haben. Das Töten fremder Nachkommen erhöht daher den
Reproduktionserfolg auf seiten der Männchen, nicht aber jenen der Weibchen,
denen in den angesprochenen Systemen meist keine Alternative bleibt, weil
Das wiedererwachende Interesse am Verhalten und seinen Mechanismen
83
sie keine Möglichkeit haben, sich gegen den Kindermord zu wehren. Dieser
ist daher eine Strategie, die sehr wohl den Männchen zugute kommt, den
weiblichen Interessen aber massiv zuwiderläu� - ein klassischer Konflikt von
vielen mit direkten Wurzeln in der Evolution, der bis in den menschlichen
Bereich hinein wirksam ist (Grammer 1993, Voland 2000).
Das wiedererwachende Interesse am Verhalten und seinen Mechanismen
Die klassische Ethologie ist unverzichtbare Basiswissenscha� für die evolutionär orientierte Öko-Ethologie und Soziobiologie, denn warum sich Tiere
verhalten, ist nicht zu beantworten, ohne zu wissen, wie sie es tun. Eine »black
box« ist ein Ding, welches auf einen bestimmten Einfluss hin reagiert, ohne
dass man wüsste, was darin geschieht. Religionen als Welterklärungsmodelle
setzen in diese »black box« gewöhnlich ihr höheres Wesen und sind es damit
zufrieden. Die Aufgabe der Naturwissenscha�en dagegen besteht in der Aufklärung der Vorgänge in dieser »black box«, die wir Welt nennen. Auch ein
Computer, der durch unsere Aktion am key board genau das tut, was wir von
ihm erwarten, ohne dass wir wissen, wie die Technik dahinter funktioniert,
wäre eine »black box«.
Aber worum geht es denn in der Verhaltensbiologie eigentlich, wenn nicht
um Verhalten? Ökoethologen und Soziobiologen beschä�igen sich vorrangig mit den evolutionären Konsequenzen, nicht aber damit, wie Verhalten
nun im mechanistischen Sinne eigentlich abläu�. Man behandelte die
Verhaltensmechanismen über 20 Jahre lang als eine Art »black box«, vergleichbar mit der Behandlung des Versuchstieres im frühen Behaviorismus
oder des Gehirns durch die Kybernetiker: Man untersuchte, wie Tiere auf
bestimmte ökologische und soziale Bedingungen, also auf verschiedene
Umwelten, reagieren, aber kaum, was dabei im Tier vor sich ging. Man
prü�e allemal, ob Tiere zu optimalen Entscheidungen befähigt sind, vernachlässigte aber die Frage, wie diese zu solchen Entscheidungen kommen.
Die Theorie war der Forschung am Tier weit voraus. Wie in allen boomenden Wissenscha�szweigen ließ man jene Gebiete, die man für weniger
wichtig hielt, etwas links liegen. Das zeigen auch die Titel der in den letzten
Jahrzehnten in den führenden Zeitschri�en der Verhaltenswissenscha�en veröffentlichten Arbeiten. In »Ethology« oder in »Animal Behavior« dominierten
Ökoethologie und Soziobiologie. Und es wurde ein eigenes, mi�lerweile
sehr angesehenes Journal namens »Behavioural Ecology and Sociobiology«
gegründet.
Das Pendel schlägt nun seit einiger Zeit wieder deutlich in die Gegenrichtung
aus, in Richtung mechanistischer Ethologie. Was Niko Tinbergen mit seinen vier Fragen als Ausdruck des Huxley-Lorenzschen Ansatzes empfahl
(Exkurs 1), nämlich möglichst viele Erklärungsebenen – jene der individuellen Entwicklung, der physiologischen und evolutionären Ursache sowie
der evolutionären Geschichte – zu berücksichtigen, kehrt wieder verstärkt
als Forschungsansatz und Forschungsgrundsatz zurück. Man ist sich heute
darin einig, dass Verhalten auf allen seinen Ebenen, d.h. in Vernetzung mit
seinen grundlegenden Randbedingungen, untersucht werden sollte. So ist
84
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
es nicht nur wichtig, den Anpassungs- und Überlebenswert zu untersuchen,
sondern genauso jene Mechanismen und Strukturen, welche Verhalten direkt
steuern, also Sinnesorgane, Nervensystem, Motorik, Hormone usw. Namen
wie Lorenz, Tinbergen, von Frisch, von Holst und andere Klassiker tauchen
wieder in einschlägigen Arbeiten auf.
Es war Alex Kacelnik, der mit seinen experimentellen Arbeiten zu den
Entscheidungsregeln nahrungssuchender Stare wieder die Frage nach den
kognitiv-psychologischen Voreinstellungen stellte. Und es waren John Krebs
und andere, etwa seine Schülerin Nicki Clayton, die aus ihrer Arbeit an
fu�erversteckenden Meisen die Frage stellten, wie denn die beobachteten
Unterschiede zwischen den Arten zustandekämen. Wenig überraschend
fand man, dass bei besonders versteckaktiven Arten, bzw. Individuen der
Hippocampus, also jenes alte Großhirnareal, das maßgeblich in Lernvorgänge,
aber in die räumliche Orientierung von Wirbeltieren involviert ist, besonders gut entwickelt ist. Dies wäre etwa aus der vorhandenen Literatur über
Fischhirne vorhersagbar gewesen (Kotrschal u. a. 1998). Aber eine nicht unwesentliche Komponente zur Erlangung wissenscha�lichen Ruhms ist eben
auch die publikumswirksame Wiedererfindung des Rades.
Vor allem zur Beurteilung evolutionärer Modelle ist es wichtig zu wissen, wie denn nun eigentlich ein Vogel Nahrungsdichten, Konkurrenzoder Raubfeinddruck abschätzt, nach welchen Reizen, mi�els welcher
Mechanismen Dungfliegenmännchen über die Kopulationsdauer entscheiden usf. Viele dieser Fragen hängen mit Leistungen des Nervensystems, des
Hormonhaushaltes oder anderer Subsysteme zusammen und sind daher
ohne fundierte Kenntnisse auf diesen Gebieten nicht zu lösen. Immer ist
das evolutionäre Erbe, sind also Körperbau und die Art und Weise wie
die höchst komplexen Vorgänge im Körper funktionieren höchst relevante
Randbedingungen für Entscheidungsfreiheit im Verhalten. So können
Elefanten selbst dann nicht fliegen, wenn es für sie vorteilha� wäre und die
heute lebenden Reptilien sind wechselwarm, auch wenn für sie die Fähigkeit
zur Aufrechterhaltung einer konstanten Körpertemperatur besser wäre.
Umgekehrt verbrauchen wir Säugetiere allein zur Aufrechterhaltung der
Körpertemperatur etwa 70% der aufgenommenen Energie. Eine evolutionäre Notlösung, diesen Ausgabeposten zu Zeiten ungünstiger ökologischer
Konjunkturbedingungen zu verringern, wäre etwa der Winterschlaf.
So ist die eher mechanistische »klassische« Ethologie sowohl eigenständige
Wissenscha� als auch Basiswissenscha� für die evolutionären Richtungen.
Ganz entscheidend ist die Frage, wann und wie Verhaltensweisen erstmals
in der Individualentwicklung au�reten. Verhalten entsteht natürlich erst
aus komplexen Interaktionen zwischen den (Lern-) Dispositionen und der
Umwelt des Individuums. In diesem Wechselspiel entsteht das art- und individuenspezifische Verhaltensinventar. Und schließlich ist es äußerst wichtig
für die richtige Deutung der Herkun� und Funktion von Verhalten, über dessen geschichtlichen, also evolutionären Werdegang Bescheid zu wissen. Da es
weder fossilisierte Verhaltensweisen gibt und wir auch keine Zeitreisen zurück in die Erdgeschichte unternehmen können, um die Vorfahren der heute
Das wiedererwachende Interesse am Verhalten und seinen Mechanismen
85
lebenden Tiere zu beobachten, bleibt uns nur der Ansatz der Vergleichenden
Verhaltensforschung. Der herausragende Geniestreich von Konrad Lorenz
lag wahrscheinlich darin, ganz parallel zu den Methoden der anatomischen
Forschung die vergleichende Methode auch für das Verhalten salonfähig gemacht zu haben.
Wie von den Begründern dieses Zweiges, O. Heinroth und K. Lorenz,
praktiziert, kann man Verhaltensweisen ganz genau wie die körperlichen
Merkmale dazu benutzen, Stammbäume zu rekonstruieren. Ein zweiter,
genau umgekehrter Weg besteht darin, dass man versucht, die Ausbildung
einer Verhaltensweise mit einem auf anderen, etwa körperlichen Merkmalen
basierenden Stammbaum zur Deckung zu bringen, um so eine recht genaue
Hypothese der historischen Entwicklung dieser Verhaltensweise zu gewinnen. Einmal also stammesgeschichtliche Forschung mit Hilfe von Verhalten,
das andere Mal stammesgeschichtliche Verhaltensforschung.
Vererbt oder tradiert? Der Umwelteinfluss beim Heranwachsen
Stamps (1991) führt mehrere Gründe dafür an, warum die klassische
Ethologie die evolutionären Richtungen fundiert und ergänzt. Im Zuge
vieler Untersuchungen an hochsozialen Insekten, Vögeln oder Säugetieren
erkannte man etwa, wie wichtig das elterliche Verhalten für Ausbildung
und Weitergabe phänotypischer Merkmale sein kann. Der Phänotyp, also
das Erscheinungsbild des Individuums, ist sowohl von dessen Genen als
auch von der Art der Umwelt, in welcher es aufwächst, bestimmt; dabei kann
man den Grad der Erblichkeit in einer bestimmten Umwelt angeben, nicht
aber, welcher Anteil eines Merkmales generell ererbt bzw. erworben wäre
(Lamprecht 1981; Exkurs 8). Bei vielen Tieren wird ebendiese Umwelt maßgeblich von den Eltern beeinflusst. Diese elterlichen Effekte (in der Literatur
als »maternale Effekte« bezeichnet, obwohl auch die Väter maßgeblich dazu
beitragen können, wenn sie sich an der Brutpflege beteiligen) können stark
die Intensität und Richtung der Selektion und damit die evolutionären
Veränderungen beeinflussen. So bestimmen etwa die Nahrungsqualität und
-menge, welche Vogelnestlinge von ihren Eltern erhalten, deren spätere Körpergröße; Investitionsunterschiede beginnen schon bei der Do�ermenge und
den Steroidhormonen, die ein Weibchen dem einzelnen Ei zuteilt. Überlebenswahrscheinlichkeiten der Nachkommen, aber auch deren »Persönlichkeit«
können so manipuliert werden.
Ein Elter mit begrenzten Ressourcen vermag beispielsweise entweder viele
kleine oder wenige große Nachkommen großzuziehen. Auf diese Weise kann
es vorkommen, dass Merkmale von Eltern mit denen ihrer Kinder korreliert
sind, ohne dass dieses Merkmal direkt genetisch festgelegt wäre. Menschliche
Fe�leibigkeit etwa, welche durch Ernährungstraditionen innerhalb der
Familie entsteht, ist ein gutes Beispiel. Wie wir heute wissen, kann sehr vieles, was man früher der genetischen Disposition zuschrieb, durch soziale
Tradition weitergegeben werden, angefangen von Nahrungspräferenzen bis
zum Gesangsdialekt, den viele Singvögel im Herbst von älteren Männchen
erlernen, und zur Rangstellung und Sozialisierung von Individuen, die in
86
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
vielen Affengesellscha�en über die Mu�er weitergegeben wird (Alcock 1996,
McFarland 1989). Prinzipiell gilt natürlich, dass jegliches Merkmal eine genetische Basis aufweist. Dies gilt auch für das Merkmal Fe�leibigkeit, derer
genetische Disponiertheit sogar zwischen Familien stark schwanken kann.
Ein weiteres Beispiel ist die Partnerwahl. Es ist intuitiv klar, dass in Populationen von Tieren (einschließlich des Menschen) nicht völlig zufällig gepaart wird,
sondern dass sich Partner nach gewissen Kriterien zusammenfinden, und sei
es bloß deren räumliche Nähe. Je stabiler die daraus hervorgegangenen sozialen Bindungen, desto aufwändiger wird der vorhergehende Auswahlprozess
sein müssen; darum sind etwa bei Langzeit-monogamen Vögeln ausgedehnte
»Verlobungsperioden« nicht selten. Jedenfalls werden zukün�ige Partner getestet (Choudhury und Black 1993). Die freie Durchmischung innerhalb von
Populationen durch Zufallspaarungen, wie von Populationsgenetikern als
Basis für ihre Modelle gerne angenommen, findet kaum sta�.
Dass sich die Partnerwahl an Vorbildern orientieren kann, ist bekannt. Wer
zählt die Männer, die bei Partnerinnen landen, welche ihrer Mu�er ähnlich
sind? Andererseits sollte direkter Inzest zumeist vermieden werden. Der
daraus resultierende Ödipuskonflikt ist aus biologischer Sicht diskutierbar (Bischof 1985). Verglichen mit dem im Gehirn geprägten, als Vorbild
abgelegten Schema vor allem der Geschwister muss der Partner gewisse
Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten aufweisen, je nachdem, welcher Grad an
Inzucht (oder deren Vermeidung) im Moment gerade opportun scheint; somit
wäre diese Art der Partnerwahl eine Methode, die genetische Variabilität an
die Variabilität der Umwelt anzupassen. Denn Inzucht muss nicht automatisch schlecht sein; es ist auch ein Weg, bewährte Genotypen zu erhalten, was
besonders in stabilen Umwelten geraten wäre. Die Balance zwischen Inzucht
und Auszucht wäre daher ein wichtiger Regelmechanismus des Individuums
zur Erhöhung seiner Fitness. Der Nachweis dieser Hypothese der adaptiven
Inzucht ist naturgemäß schwierig. Einschlägige Ergebnisse stammen bislang
von Versuchen an Wachteln und Hühnern (Bateson 1983).
Jedenfalls sind die elterlichen Manipulationsmöglichkeiten an den Nachkommen vielfältig und hängen sowohl vom jeweiligen Sozial- und Brutsystem,
als auch vom Gleichgewicht der Krä�e im Interessenkonflikt zwischen Eltern
und Nachkommen ab. Bei den Menschen ist dies der Bereich der Erziehung
und der Generationenkonflikte. Es kann sogar so weit gehen, dass Eltern,
meist natürlich die Mu�er, das Geschlechterverhältnis ihrer Nachkommen
manipulieren, mit dem Effekt einer Erhöhung der eigenen Fitness. Wie von
Clu�on-Brock u. a. (1982) gezeigt, produzieren rangniedere Rothirschkühe
vor allem weibliche Nachkommen. Der Grund dafür scheint zu sein, dass
Söhne dieser rangniederen Mü�er von Haus aus einen Startnachteil gegenüber den Söhnen ranghoher Mü�er aufweisen, der im schlechteren Zugang
zu Ressourcen begründet ist; damit haben die Söhne der Rangtiefen nur geringe Chancen, je Platzhirsch zu werden, was aber Voraussetzung für eine
erfolgreiche Reproduktion der Männchen wäre. Da bei den Rothirschen,
wie bei vielen anderen Säugetieren, wenige Männchen alle Nachkommen
zeugen, aber alle Weibchen ziemlich gleichmäßig reproduzieren, ist es also
Das wiedererwachende Interesse am Verhalten und seinen Mechanismen
87
für rangtiefe Weibchen eine bessere Strategie, auf Nummer Sicher zu gehen
und über ihre Töchter relativ wenige Enkel zu bekommen, als sich auf das
Hasardspiel einzulassen, über Söhne möglicherweise Großmu�er vieler
Enkel zu werden, wahrscheinlich aber gar keine Enkel zu bekommen. Für
die ranghohen Weibchen dagegen liegen die Gewinnchancen genau in der
umgekehrten Strategie. Das Geschlechterverhältnis der Nachkommen von
Hirschkühen mit mi�lerem Rang ist folgerichtig ziemlich genau 1 : 1 Rangtiefe
produzieren mehr Töchter, Ranghohe mehr Söhne. Der Mechanismus der
Geschlechterselektion durch die Weibchen ist noch unklar. Da aber von der
Befruchtungswahrscheinlichkeit her das Geschlechterverhältnis 1 : 1 sein
sollte, ist wahrscheinlich ein selektiver Abtreibungsmechanismus im Spiel.
Selbst das ist also keine menschliche Erfindung.
Bei Ra�en konnte gezeigt werden, dass die Art des Umgangs mit den
Säuglingen maßgeblich deren Verhalten als Erwachsene bestimmt; individuelle Eigenscha�en, wie Aktivitätsraten, Lernfähigkeit und Stressresistenz,
werden bereits im Säuglingsalter beeinflusst. Beobachtungen an
Rhesusaffen zeigten, dass auch komplexe Persönlichkeitsmerkmale, wie
etwa Sozialisierbarkeit und Vertrauenswürdigkeit, von der Mu�er auf die
Kinder über Generationen weitergegeben werden und so richtiggehende
Familiencharakter-Traditionen entstehen; genetisch festgelegt ist daran wahrscheinlich sehr wenig, wie Transplantationsversuche von Babys zwischen
verschiedenen Familien bei Affen zeigten: Kinder selbstbewusster Weibchen
wuchsen unter Obhut nervöser Mü�er zu nervösen Jungtieren heran und
umgekehrt (Hinde und Stevenson-Hinde 1986).
Sogar die Lagerung des Fötus in der Gebärmu�er neben einem Bruder oder
einer Schwester kann die Persönlichkeitsstruktur, das Verhalten der erwachsenen Individuen beeinflussen (vom Saal 1979). So sind weibliche Ra�en, die
in utero neben männlichen Geschwistern lagerten, aggressiver als Schwestern
weiblicher Föten. Bei Prairiemäusen wurde gezeigt, dass Weibchen, welche
in utero neben männlichen Geschwistern lagen, weiter vom Geburtsort wegwanderten als weibliche Nachbarn weiblicher Föten; in diesem Sozialsystem,
wie bei den meisten Säugetieren, wandern nämlich die jungen Männchen
aus, während die Weibchen gewöhnlich nahe am Geburtsort bleiben. In
diesen Fällen gehen Steroidhormone vom Bruder auf die Schwester über,
vermännlichen deren Nervensystem und beeinflussen damit sogar das
Auswanderungsverhalten.
Exkurs 8: Die Unterscheidung zwischen »angeborenem« und
»erworbenem« Verhalten ist sinnlos
Erbkoordinationen, Triebhandlungen oder »angeborene Verhaltensweisen«
sind Synonyme für jene kleinsten Bausteine des Verhaltens, die im Zentrum
der Lorenz-Tinbergenschen Theorie stehen (Lorenz 1978). Hier stoßen wir aber
sofort auf ein Problem. Denn außer jenen Merkmalen, die bereits bei der Geburt
vorhanden sind, wie etwa Gliedmaßen, Geschlecht, Saugreflex usw., gibt es
88
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
genaugenommen keine »angeborenen« Merkmale, also auch keine »angeborenen« Verhaltensweisen.
Wissenschaftlich verwendete man den Begriff »angeboren« aber eigentlich nicht
im Zusammenhang mit der Geburt, sondern man meinte damit hochgradig erbliche Merkmale, die kaum während der Entwicklung durch Umweltbedingungen
beeinflussbar sind (Lamprecht 1981). Was zunächst als rein semantisches
Problem erscheint, hat aber inhaltliche Bedeutung. Einen scheinbar klaren
Weg, den Einfluss der Umwelt und der Gene voneinander abzutrennen, stellen
Kaspar-Hauser-Versuche dar (Lorenz 1966). Man lässt Tiere isoliert unter weitgehendem Reizentzug aufwachsen. Was von ihrem Verhalten noch übrigbleibt,
sofern sie diesen, für soziale Tiere fallweise grausamen Versuch überhaupt
überleben, sei »angeboren«. Weitgehender Reizentzug, hieß es eben. Um gültige Ergebnisse zu erbringen, sollte die Reizabschirmung aber vollständig sein.
Und gerade das ist unmöglich. Es bleibt als Reizquelle immer noch der eigene
Körper, die Begrenzung des Käfigs. Lebewesen können in der Regel nicht unter
vollständigem Erfahrungsentzug aufgezogen werden, was die Aussagekraft
solcher Versuche entsprechend mindert.
Dies ist einer der Punkte, die bereits Lehrman (1953) an KasparHauserVersuchen kritisierte. Ein anderer schwerwiegender Kritikpunkt betrifft die mit
Reizentzug verbundenen unspezifischen Veränderungen im Organismus, die
dann natürlich zu Verhaltensänderungen führen, die aber mit der Frage, wie
weit spezifische Verhaltensweisen erblich sind, wenig zu tun haben. Ratten
kann man beispielsweise gar nicht isoliert aufziehen, da sie ohne Stimulierung
der Ano-Genitalregion keinen Urin abgeben können und daran sterben.
Versuche, Hunde unter völligem sozialem Reizentzug aufzuziehen, ergaben
bedauernswerte Individuen mit autistischen Zügen, indifferent sogar gegenüber
starken Schmerzreizen. Solche Tiere lassen natürlich keine Aussagen zum
Thema »angeboren–erworben« zu. Besonders drastische Auswirkungen hat
Reizentzug auf die Reifung des Gehirns. Das geht so weit, dass man durch visuellen Reizentzug in kritischen Phasen bei Säugetieren verhindern kann, dass
sich der visuelle Kortex normal entwickelt (Blakemore und Cooper 1970). Aber
auch Ratten aus reizarmen Laborhaltungen, deren Hirnrinde nach Versetzen in
eine reich strukturierte Umgebung durch Synapsenbildung erheblich zunimmt
(Shepherd 1983), zeigen, wie stark der Gesamtorganismus durch Reizentzug
verändert werden kann.
Dies heißt aber nicht, dass Kaspar-Hauser-Versuche wertlos sein müssen.
So konnte J. Kear mit eben geschlüpften (also weitgehend erfahrungslosen)
Entenküken zeigen, dass junge Bodenenten vor einer Kante zurückweichen,
während Baumentenküken versuchen, über diese Kante runterzuspringen, also
ein Verhalten ausführen, das bei diesen Nestflüchtern dazu dient, das Nest in
einer Baumhöhle zu verlassen. Ein klarer Nachweis von tatsächlich weitgehend
erblichem Verhalten mittels eines einfachen und unproblematischen KasparHauser-Versuchs.
Heute neigt man zur Auffassung, die Unterscheidung »angeboren–erworben«
sei ziemlich bedeutungslos, vor allem aber wissenschaftlich unergiebig (Hinde
1966, Eibl-Eibesfeldt 1975, 1999). Dies deswegen, weil sich alle Merkmale,
auch Verhalten, in ständiger Interaktion zwischen Genen und Umwelt entwi-
Das wiedererwachende Interesse am Verhalten und seinen Mechanismen
89
ckeln. Genexpression kann durch Umweltreize moduliert werden. Schließlich
ist die Individualentwicklung ein dynamischer Prozess, und was im Augenblick
vor sich geht, basiert auf dem Ergebnis der vorangegangenen Gen-UmweltInteraktion. So können geringe anfängliche Unterschiede in der Reizsituation
von genetisch identischen Individuen über Rückkoppelungen mit ihrer Umwelt
zu individuell recht unterschiedlichen Entwicklungen führen. Beispiele aus
der Zwillingsforschung zeigen, dass, vorsichtig geschätzt, immerhin 30 % der
Variabilität in der Individualentwicklung umweltbedingt sind.
Ein anderes Beispiel betrifft die Lagerung von Föten in der Gebärmutter. Geringe
Unterschiede in der diffundierenden Menge der für die Sexualisierung des
Gehirns zuständigen Geschlechtshormone hängen davon ab, ob der Fötus
neben einer Schwester oder einem Bruder gelagert war (vom Saal 1979).
Das Verhalten des Individuums in der Geschlechtsreife kann dadurch erheblich beeinflußt werden. Es ist auf direktem Wege nicht messbar, wieviel in der
Ausprägung eines Merkmals erblich, wieviel umweltbestimmt ist. Man kann
aber mit Aufzucht- und Kreuzungsexperimenten ermitteln, wie groß der Grad
an genetischer Determiniertheit eines Merkmals im Hinblick auf bestimmte
Umweltbedingungen während seiner Ausbildung ist. Werden Verhaltensweisen
innerartlich stereotyp gezeigt, dann liegt die Annahme nahe, dass es sich dabei
um Verhaltensweisen handelt, die unter Regie eines weitgehend starren (d. h.
gegen Reizeinflüsse abgeschotteten) Entwicklungsfahrplans heranreifen. Für
diese invarianten Merkmale wird im allgemeinen Sprachgebrauch wohl auch in
Zukunft der Begriff »angeboren« verwendet werden, obwohl der Terminus »erblich« treffender wäre. Es besteht die Gefahr, dass dieser Sprachgebrauch auch
weiterhin das schwerwiegende Missverständnis nähren wird, ein Verhalten sei
entweder »angeboren« oder »erworben« und so ein genetischer Determinismus
perpetuiert wird, der in der Wissenschaft längst überwunden ist.
Partnerwahl
Früher nahm man an, dass Präferenzen für die Partnereigenscha�en genetisch festgelegt wären. Vielfach ist das auch so, zum Beispiel in Fällen, in
denen Weibchen die Männchen aufgrund bestimmter Auslöser wählen. So
werden bei Witwenvögeln, Pfauen und anderen Vögeln die Weibchen das
Männchen mit den längsten und symmetrischsten Schwanzfedern bevorzugt
(Møller 1988); bei anderen Tieren sind es Farbflecken, akustische Signale oder
auffällige Bewegungsweisen, welche das Weibchen zu seiner Wahl veranlassen. Diese scheinbar so zwecklosen, ja dem Überleben hinderlichen Merkmale
liefern den Weibchen wahrscheinlich wichtige Informationen über die genetische Qualität des Partners (Watson und Thornhill 1994). Partnerpräferenzen
– und umgekehrt Inzes�abus – könnten aber auch durch Prägung, also
Lernvorgänge in der Juvenilphase entstehen.
Auch Weibchen, welche sich an Balzarenen ihren Paarungspartner aussuchen,
können nicht direkt dessen Gene analysieren, sie verwenden dazu ganz bestimmte Reize. Natürlich ist nicht verlangt, dass Weibchen über ein Konzept
von Genen verfügen, es genügt, wenn das Weibchen jenes Männchen wählt,
das am besten seinen (meist nach oben offenen) Ansprüchen entspricht: das
90
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
den lautesten Balzruf von sich gibt, den größten roten Fleck auf der Brust
trägt, die längsten (und/oder symmetrischsten) Schwanzfedern zeigt, am
höchsten springt, am schnellsten läu� usw. Die Kriterien sind mannigfaltig, das Prinzip scheint immer gleich zu sein. Wäre ein in Hinblick auf das
verlangte Kriterium noch »besseres« Männchen vorhanden als der momentan Auserkorene, dann würde das Weibchen den anderen vorziehen. Ohne
Gegenmechanismus würde diese Art von Partnerwahl zur Eskalation des entsprechenden Merkmals führen. Ginge es nur nach der Vorliebe der Weibchen,
so hä�en die armen Pfauenmännchen wahrscheinlich bald kilometerlange
Schwanzfedern. Fressfeinde sorgen wohl dafür, dass die Produkte sexueller
Selektion nicht völlig ausufern, sich irgendwo an einem Kompromiss zwischen individueller Überlebenswahrscheinlichkeit und sexueller A�raktivität
einpendeln.
Warum legen Weibchen aber letztlich Wert auf solch extravagante Merkmale,
die das Überleben eher behindern als fördern? Wohl weil ihre Mü�er schon
dieselbe Vorliebe ha�en und weil sie damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
Söhne zu produzieren, welche dieses in bezug auf die weibliche Vorliebe
wichtige Merkmal ebenfalls in reichlichem Maße ausbilden, daher für
Weibchen a�raktiv sind und daher wahrscheinlich die Väter vieler Enkel
sein können. Ihre Töchter werden wiederum eine deutliche Vorliebe für dieses Merkmal aufweisen und so dafür sorgen, dass der Selektionsdruck auf
die Männchen nicht nachlässt. Andererseits kann sich ein Weibchen darauf
verlassen, dass der Auserwählte relativ »gute Gene« besitzt (denn mehr bekommt sie im Extremfall der Balzarenasysteme von den Männchen nicht); das
Männchen muss wohl guten Zugang zu Ressourcen haben und kann nicht
stark parasitiert sein, sonst würde das entscheidende Merkmal nicht in dieser
prächtigen Form ausgebildet sein; das Männchen überlebte in ausgezeichnetem Zustand, trotz der Belastung durch dieses Merkmal, das ja im täglichen
Überlebenskampf ein Handicap darstellt. Das Weibchen kann sich also einigermaßen darauf verlassen, dass der Auserwählte, welcher schließlich das
kostspieligste Merkmal am Platz mit sich herumschleppt, »gute Gene« bezüglich Überlebenstüchtigkeit und Fitness aufweist. Amoz Zahavi (1984, 1997)
ha�e diese erst auf den zweiten Blick a�raktive Idee vom »Handicap-Prinzip«
in der sexuellen Selektion und wurde anfangs dafür nicht ernst genommen.
Heute gilt dieses Prinzip in weiterem Rahmen; Signale beispielsweise gelten
nur dann als verlässlich, wenn damit erhebliche Kosten verbunden sind.
Wenig erfreulich, wenn auch höchst einsichtig ist der dri�e aktuelle Grund,
warum man sich plötzlich wieder intensiver für Verhaltensmechanismen
interessiert: Immer mehr Arten sterben durch direkte oder indirekte
Einwirkung des Menschen aus, durch unsere Hände, vor unseren Augen. O�
würden schon einfache Maßnahmen, etwa die konsequente Reduktion der
nächtlichen Beleuchtung von Stränden mit schlüpfenden Meeresschildkröten,
genügen, um eine Gefährdung von Populationen zu vermindern. Die praktische Nutzung von Verhaltenswissen gesta�ete es, wieder eine Kolonie der
beinahe ausgestorbenen Waldrappe an der Konrad Lorenz Forschungsstelle
im oberösterreichischen Almtal anzusiedeln, die erste in Europa übri-
Konrad Lorenz und die Soziobiologie
91
gens seit 350 Jahren. Das Wissen um Verhalten ist unverzichtbar bei jeglichem Wiederansiedlungsprojekt oder bei der Begleitung von natürlichen
Widerbesiedlungen, etwa der Alpen durch Bären und Wölfe.
Man muss aber natürlich wissen, also vorhersagen können, wie Tiere auf
Veränderungen ihrer Umwelt reagieren, um die richtigen Maßnahmen treffen
zu können. Und das ist heute notwendig, denn die Natur einfach sich selber
überlassen bedeutet auf einer von Menschen überfluteten Welt mit großer
Wahrscheinlichkeit den Untergang von Lebensräumen und Organismengemeinscha�en. Hier stehen die Verhaltenswissenscha�en, vor allem aber
steht die Politik auf dem Prüfstand; die Qualität der Erkenntnisse und der
daraus abgeleiteten Maßnahmen wird am Erfolg direkt messbar, denn aussterbende Arten sind unerbi�liche Messinstrumente.
Konrad Lorenz und die Soziobiologie
Der Darwinist Konrad Lorenz blieb bis zuletzt Gruppenselektionist, zumindest nach außen hin. Was er wirklich dachte, ist aus den vorhandenen Quellen
schwierig zu rekonstruieren, für plakative Schwarz-Weiß-Malerei war er aber
sicherlich zu klug. Die Basis für Ökoethologie und Soziobiologie hingegen ist
strikte Individualselektion. Diese Unterscheidung ist bedeutend, weil es hier
schlicht um den Mechanismus von evolutionären Veränderungen, um die
Einheit der Selektion geht; im Fall der Gruppenselektion, zuletzt etwa von
Wynne-Edwards (1962) vertreten, ist diese Einheit die Gruppe, im anderen Fall
das Individuum. Das ist keineswegs ein geringfügiger Auffassungsunterschied,
sondern die Ursache für kontrastierende Weltbilder, was sofort klar wird,
wenn man sich die Konsequenzen überlegt (Exkurs 3). Wohl am sichtbarsten
kommen die Unterschiede zum Ausdruck, versucht man zu erklären, wem bestimmte Verhaltensweisen nützen (außer etwa den Ethologen selber, die damit
ihr Brot verdienen). Bei Lorenz, bei vielen anderen und selbst noch in neueren
Schul-Lehrbüchern kann man vom »Arterhaltungswert« des Verhaltens lesen.
Es wird also angenommen, dass sich Individuen einer Art (Population) so verhielten, dass das Überleben der Art (Population) optimiert würde. Das mag
eine uns genehme, weil letztlich humanistische Ansicht sein, nur hat sie sich
durchwegs als nicht zutreffend erwiesen.
Ein wenig Wissenscha�spsychologie: Lorenz und das Individuum
Der Gerechtigkeit halber scheint es hier notwendig, doch etwas genauer auf
das Evolutionsbild von Konrad Lorenz einzugehen. Trotz seiner Vorliebe für
die Floskel vom »Arterhaltungswert« gibt es Hinweise dafür, dass auch er die
Individualselektion sah (Lorenz 1978). Er verstand allerdings Gruppen- und
Individualselektion nicht als zwei gegensätzliche Paradigmen, sondern eher
als die zwei Seiten derselben evolutionären Medaille. Auf lange Sicht gesehen
mag er damit recht behalten. Das lässt sich auch durch seinen Briefverkehr
mit Fachkollegen belegen, wo er über das Tamtam von Wilson, Dawkins
und anderen die Meinung vertrat, dass diese »angeblich neuen« Theorien
nichts anderes seien als eine überspitzt-anthropomorphe Formulierung
des Evolutionsbildes der Altvorderen einschließlich seiner selbst. Die
92
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
Grundeinsicht in die Richtigkeit der Individualselektion war jedenfalls bei
Lorenz vorhanden, wie das letzte Interview vor seinem Tod, veröffentlicht im
Magazin »Geo« (1989), belegt: »Wir neigen dazu, wenn wir ein kompliziertes Verhaltenssystem sehen, wie zum Beispiel Rangordnung oder Eifersucht,
zu glauben, dass das einen Sinn hat, für die Art günstig ist. Das muss aber
nicht sein. Es kann sein, dass das nur für die Fortpflanzungsquote günstig, für
die Art ungünstig ist« (meine Hervorhebung). Das ist meines Wissens der
klarste Beleg dafür, dass Lorenz zumindest mit einem Bein auch im Lager
der Individualselektionisten stand. Die Annahme, dass Lorenz die individualselektionistischen Ideen wieder fallenließ, da er in seinem Buch über die
Ethologie der Graugans (Lorenz 1988) nur vom »Arterhaltungswert« schrieb,
tri� daher nicht zu. Der Wert dieses Buches als Originalquelle ist zudem
zweifelha�, da der Text von Mitarbeitern überarbeitet und mitgestaltet wurde,
es ist daher unklar, wieviel darin als »original Lorenz« gelten kann. Warum
Lorenz den Schri� zum konsequenten Individualselektionisten nicht vollzogen hat, bleibt unklar. Es gab vermutlich eine Reihe von Gründen für die
Ablehnung der Soziobiologie durch Konrad Lorenz. Fachliches ist nicht von
Persönlichem zu trennen. Überdies trat der Hauptexponent der Soziobiologie,
Edward O. Wilson (1975), mit viel unnötigem Gepolter an. Er machte damals
mit seinem Anspruch, weite Bereiche der Sozialwissenseha�en inklusive
Ethologie, Soziologie, Psychologie und Anthropologie zu assimilieren (»kannibalisieren« war sein Originalausdruck), eine Synthese recht schwierig und
mögliche Verbündete kopfscheu, so auch Lorenz.
Wichtige Gründe für die Zurückweisung der Soziobiologie und der damit verbundenen Individualselektion durch Konrad Lorenz sind in seiner
Persönlichkeitsstruktur zu orten. Zum Glück für die folgenden Überlegungen
war bereits Vater Adolf Lorenz als bahnbrechender Facharzt der Orthopädie
ein berühmter Mann, und die Familie Lorenz bestand aus vielfältig begabten Leuten. So übte Bruder Albert nicht nur den Beruf eines Arztes und
Assistenten seines Vaters aus, sondern hinterließ mit dem Buch »Wenn der
Vater mit dem Sohne« (Albert Lorenz 1965) eine Sammlung von Geschichten,
die nicht nur amüsant zu lesen sind, sondern vor allem einen Eindruck von
der Atmosphäre in jener Familie vermi�eln, in welcher der junge Konrad
aufwuchs. Geld war offenbar kein Thema, es war meist reichlich vorhanden,
und man benutzte es, sich innerhalb eines großbürgerlichen Lebensstils auch
Luxuswünsche zu erfüllen. Gerade der Nachzügler Konrad wurde materiell
verwöhnt. Dazu kam eine recht große Toleranz gegenüber den Maro�en der
Familienmitglieder. Konrads Eigenart war es, die Familie mit allen möglichen, meist aber mit ziemlich unmöglichen Haustieren zu nerven. Wen
wundert’s, dass der unter solchen Bedingungen Aufgewachsene Gespräche
über Geld zumindest als uninteressant, wahrscheinlich als peinlich empfand.
»Finanzminister« im Hause von Konrad Lorenz war denn auch seine Frau
Gretl, die es selbst in der schwierigen Kriegs- und Nachkriegszeit scha�e, die
Familie irgendwie über Wasser zu halten.
Während seiner langen Zeit als Direktor am Max-Planck-Institut war es nicht
nötig, um Geld zu streiten, es gab genügend davon. Es ist überliefert, dass
Konrad Lorenz und die Soziobiologie
93
Lorenz sogar dazu neigte, das Institutsbudget zu niedrig anzusetzen, und
mehr als einmal soll der MPG-Vertreter in der jährlichen Budgetsitzung den
Oberassistenten von Lorenz in Buldern und im frühen Seewiesen, Wolfgang
Schleidt, zur Seite genommen haben, um ihn besorgt zu fragen: »Sagen Sie
mal, mit den geringen Mi�eln kann das doch wohl nicht gehen?« Lorenz
soll bei solchen Sitzungen wie auch bei anderen ihm unangenehmen
Gelegenheiten und Gesprächsthemen dazu geneigt haben, blitzschnell abzuschweifen, um begeistert und ausführlich die neuesten Gänsegeschichten zu
erzählen. Diese geringe Bereitscha�, um Geld zu kämpfen, sollte sich ab seiner
Emeritierung im Jahre 1973 gelegentlich recht spürbar auswirken, als seine
Forschungsstä�en in Grünau und Altenberg nach Versiegen des Geldstromes
aus Deutschland fortan von österreichischer Seite finanziert wurden, und das
nicht allzu üppig. Lorenz ha�e in diesen Dingen den Behörden gegenüber
offenbar wenig Durchsetzungskra�, seine Mitarbeiter li�en all die Jahre nicht
selten unter würgenden Finanzproblemen. Dass man in Grünau selbst aus
dem Verkauf von Hühnereiern der Forschungskasse Geld zuzuführen versuchte, ist leider kein Witz (sicherlich auch kein Ruhmesbla� für Österreich).
In besonders prekären Situationen, wie z. B. 1980 und wieder 1984, als
Bestrebungen im Gange waren, seine Projekte nicht mehr weiter zu finanzieren, ging aber auch der Altmeister auf die Barrikaden, wie der entsprechende
Briefverkehr belegt.
Ein anderer Aspekt der Persönlichkeit von Konrad Lorenz war eine noble
Einstellung den Mitmenschen gegenüber. Man kann nur darüber spekulieren,
wieviel auf seine Frau Gretl zurückzuführen ist, dass die klassischen Werte
des Bürgertums, etwa Großzügigkeit und Toleranz, Partnertreue und eine altruistische Sicht der Gesellscha�, bei ihm offenbar einen sehr hohen Stellenwert
ha�en. Sein gegen diesen humanistisch-konservativen Hintergrund o�
unkonventionelles Au�reten bis ins hohe Alter und seine Vorliebe für praktische Scherze, die er offenbar von seiner Mu�er mitbekommen ha�e, stellen dazu keinen Gegensatz dar. Was hat das alles mit unserem Thema, der
Individualselektion, zu tun? So wird verständlich, warum Lorenz geradezu
verurteilt war, die Ökoethologie und noch viel mehr die Soziobiologie aus seinem Herzen, seinem Bauch heraus abzulehnen. Es lag ihm gar nicht, wie ein
Buchhalter Kosten und Nutzen von Verhalten zu berechnen. Beinahe stereotyp nahm er daher lieber an, Verhalten sei angepasst, und das zum Besten der
Art (wozu ohnehin Offensichtliches in Frage stellen?). Die Individualselektion
hä�e ihn gezwungen anzuerkennen, dass Tiere wie Menschen eben nicht
zum Besten der Art handeln, sondern durchwegs stockegoistisch sind. Nun
war aber gerade Lorenz einer der Hauptvertreter dafür, dass Verhalten,
dass soziale Systeme evoluiert sind. Er vertrat überzeugt die Darwinsche
Auffassung, dass tierisches und menschliches Verhalten ein Kontinuum
bilden, was schließlich in die Evolutionäre Erkenntnistheorie mündete
und in weitreichende und weitblickende Forderungen, die Vergleichende
Verhaltensforschung als Grundlagenwissenscha� der Psychologie einzuführen (Lorenz 1992). Lorenz hä�e also logischerweise auch anerkennen müssen,
dass der Egoismus als Triebfeder menschlichen Handelns nicht Resultat
einer pathologischen Entwicklung ist, etwa der »Verhausschweinung«
94
Die Verhaltensforschung im Wandel der Zeit: Wissenscha� und Ideologie
des ursprünglich edel-altruistischen »Wildtyp«-Menschen, sondern das
natürliche Vermächtnis unserer evolutionären Geschichte darstellt. Diese
Uneinsichtigkeit führte zu entsprechenden Konsequenzen in seinem Werk. So
sind die – vielen Lorenz-Jüngern ans Herz gewachsenen – »Acht Todsünden«
(Lorenz 1973) geprägt vom Denkunterschied zwischen altem Gruppenselektionismus und neuer Individualselektion (Exkurs 3).
Gegen den Hintergrund seiner eigenen Persönlichkeit das Individuum, ja
schlimmer noch, dessen Egoismus als die Triebfeder der Evolution anzuerkennen musste Konrad Lorenz als kultiviertem Humanisten daher zuwider
gewesen sein. Und hä�e er selber den Wandel zustande gebracht, was hä�e
seine engste Vertraute Gretl dazu gesagt? So waren es wahrscheinlich nur
vordergründig fachliche Hemmnisse, die es Lorenz unmöglich machten, als
Speerspitze die neuen Richtungen anführte. Sta� dessen führte er letztlich
einen Kampf gegen Windmühlen.
Tatsächlich haben wohl alle wissenscha�lichen Auseinandersetzungen eine
psychologische, persönliche Komponente. Im Fall Lorenz findet man zu
diesem Thema in seinen Biographien (Festetics 1983, Wuketits 1990) wenig.
Da ist das Lesen zwischen den Zeilen der Familienbiographie (Lorenz 1965)
und mancher seiner eigenen Schri�en (Lorenz 1985) schon ergiebiger. Mit
Norbert Bischof (1991) trat schließlich einer an, den o� kitschigen Cocktail
der Lorenz-Klischees auszukippen, um uns »reinen Wein« über die Psyche
des Altmeisters einzuschenken. Bischof war Assistent von Lorenz am Max
Planck Institut für Verhaltensphysiologie im süddeutschen Seewiesen. Aus
dieser Nähe ist ein in vieler Hinsicht faszinierendes, wenn auch nicht immer
unproblematisches oder gar objektives »Psychogramm« von Konrad Lorenz
entstanden. Wozu überhaupt Psychogramme berühmter Persönlichkeiten? Ist
der Blick in die Kinderstube und ins Schlafzimmer wirklich nötig, muss man
über die Maro�en eines Anton Bruckner Bescheid wissen, das Sexualleben von
Wolfgang Amadeus Mozart ausloten, um deren Werke verstehen und schätzen
zu können? Bischof begründet diese Notwendigkeit mit der Themenauswahl
im Werk von Lorenz, die zu erklären die Wissenscha�stheorie nicht mehr ausreiche, es müsse ein wissenscha�spsychologischer Ansatz gefunden werden.
Gemeint sind jene dunklen, eugenischen Flecken auf dem Vorkriegswerk des
sonst so geschätzten Verhaltensforschers (Föger und Taschwer 2001, Kotrschal
u. a. 2001, Lorenz 1940). Wenn Bischofs Analyse gültig ist, dann sollte sie auch
auf die Kontroversen, etwa mit der Soziobiologie, anwendbar sein, die mit
rationalen Argumenten ebenfalls nicht ganz durchleuchtbar ist.
Bischof setzt bei der Kindheitsgeschichte an, findet einen überaus erfolgreichen Vater, der Konrad zeitlebens die von ihm so gesuchte Anerkennung
verweigerte, und eine angeblich gefühlskalte Mu�er; Zuwendung wird
durch materielles Verwöhnen ersetzt. Vieles im Werk von Konrad Lorenz
wird als autobiographisch gesehen, die Lorenzschen A�acken werden als
Autoaggression diagnostiziert; so erklärt der Autor vor allem die eugenischen
Äußerungen des jungen Lorenz. Na klar, ist man zu denken geneigt, ist es
nicht so, dass das Werk aller schöpferisch Tätigen deren Interessen, letztlich
also deren Werden, ihren eigenen persönlichen Hintergrund widerspiegelt?
Konrad Lorenz und die Soziobiologie
95
Es wird kaum mehr zu klären sein, ob Bischof ins Schwarze getroffen, oder
aber überinterpretiert hat. Sein Buch enthält noch einen weiteren, wissenscha�spsychologisch durchaus faszinierenden Aspekt: Unüberhörbar ist
der gekränkte Unterton des Verfassers, von der Vaterfigur Lorenz immer auf
Distanz gehalten worden zu sein. Hier wiederholt sich sein eigentliches Thema
in berührender Weise, spiegelt sich der Lorenzsche Vater-Sohn-Konflikt auf
der Ebene des Autors wider. Der charismatische Lorenz war offenbar für viele
aus seiner Umgebung eine Identifikationsfigur. Wen wundert‘s, dass er diese
Rolle nicht immer spielen wollte oder konnte?
Was bleibt, ist die Gewissheit, dass die Persönlichkeitsstruktur von Wissenscha�lern stark ihr Tätigkeitsfeld, ihre Themenauswahl und Theorienneigung
beeinflussen kann. Beispiele gäbe es viele. So führt Jürg Willi (1975) an, dass
viele Analytiker davor zurückschrecken, Paartherapie durchzuführen,
weil sie selber Eheprobleme hä�en. Wenn notwendigerweise subjektiven
Menschen das Substrat der Wissenscha� darstellen, dann kann es wohl von
Haus aus nicht weit her sein mit der Objektivität. Strenge Denkdisziplin
ist daher erforderlich; Wissensverzicht kann der Preis für Objektivität in
den Naturwissenscha�en sein. Bedauerlich zwar, aber im Moment sind
keine Alternativen zur strengen naturwissenscha�lichen Methode in Sicht
(Exkurs 5).
96
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz
Forschungsstelle in Grünau
Wissenschaft zwischen Ratio und Emotion
Auch die »verkop�e« Wissenscha� wird von ganz normalen Menschen
betrieben, mit all ihren Stärken und Unzulänglichkeiten, ihren Gefühlen
und Maro�en. Wissenscha� ist daher kein idealer Prozess im heeren
Olymp des Geistes, sondern ist gesellscha�lich eingebe�et und entsteht in
Kommunikation, Kooperation und Konkurrenz zwischen Menschen. Und genauso wie die Politik ist Wissenscha� wohl die Kunst des Möglichen. Besser
als jede theoretische Abhandlung zeigen wohl Schlaglichter auf die Arbeit an
der Konrad Lorenz Forschungsstelle und ihre Entwicklung seit 1990, wie sich
Wissenscha� entwickeln kann. Das Beispiel dieses Westentaschenbetriebes
ist in vieler Hinsicht nicht repräsentativ, da jede Institution ihr eigenes, unverwechselbares Profil entwickelt; Zielsetzungen, Traditionen, handelnde
Personen und gesellscha�lich-finanzielle Randbedingungen bedingen unterschiedliche Forschungsrealitäten und auch -ergebnisse. Trotzdem, die grundlegenden Verfahrensregeln, aus Tieren Theorien zu raffinieren sind überall
dieselben. Um Wissenscha� zu verstehen, braucht es sicherlich die Sicht »von
oben«, um sie aber begreifen zu können, den Zugang »von unten«. Daher sind
die folgenden Geschichten von der Grünauer Forschungsstelle nicht nur
Selbstzweck, sondern auch ein »bo�om-up« Versuch, den Destillationsprozess
in der Wissenscha� von der Idee über die Daten zur Verfeinerung der Idee
begrei�ar zu machen.
Morgendämmerung im Almtal. Fröstelnd warten wir vor dem Institutsgebäude auf die Ankun� unserer Graugänse. Noch strei� kein Sonnenstrahl
das Grau der umliegenden Berge. Nur die rosa Gipfel des Toten Gebirges im
Talschluss im Süden deuten den nahen Sonnenaufgang an. Endlich fernes,
heiseres Geschna�er. Schon umkreisen laut rufend die ersten Trupps das
Haus, inspirieren misstrauisch den Landeplatz. Unsere Antwortrufe beruhigen, die ersten Vögel formen ihre Schwingen zu bremsenden Glocken. So fahren sie steil herunter und setzen rü�elnd vor unseren Füßen auf. Von einem
unserer Gäste höre ich während dieses Schauspiels eine wohlbekannte Frage:
»Was gibt´s an den Gänsen eigentlich noch zu forschen? Wurde von Professor
Lorenz nicht ohnehin schon alles ausgeforscht?« Konrad Lorenz selbst betonte bis zuletzt immer wieder, dass die Arbeit erst begonnen hä�e. Es war
ihm nicht mehr vergönnt, sein Hauptanliegen einer »Längsschni�studie«,
d. h. Langzeituntersuchungen zur Entwicklung sozialen Verhaltens über
Generationen hinweg in der Gänseschar selber durchzuführen. Seit 1973
wurde in Grünau, vorher in Seewiesen am Starnberger See von allen Gänsen
protokolliert, aus welchen Familien sie stammen, mit wem sie sich verpaarten,
wann, wo und mit welchem Erfolg sie brüteten, wie viele der Schlüpflinge
großgezogen wurden, usw.
Diese Protokolle wurden und werden auch nach dem Tod von Konrad
Lorenz im Jahre 1989 fortgesetzt. Wir werten die bereits vorhandenen Daten
Wissenscha� zwischen Ratio und Emotion
97
aus, um daraus Grunderkenntnisse über die Dynamik und Funktion der
Sozialstrukturen der Graugänse zu gewinnen (z. B. Hemetsberger 2001).
Gerade diese genaue, langfristige Kenntnis der Schar macht die Grünauer
Gänse zu einem einzigartigen Modell für die tiersoziologische Forschung.
Diese Graugänse gehen letztlich auf die Tiere im westfälischen Buldern der
frühen 1950er Jahre zurück. Mit ihren über 50 Jahren zählt diese Schar zu
den am längsten kontinuierlich unter Beobachtung stehenden freilebenden
Tiergruppen der Welt. Konrad Lorenz hinterließ daher mehr als nur ein lebendes Erbe. Er begründete mit dem »Modell Graugans« eine wissenscha�liche
Kulturtradition, welche behutsam verwaltet werden muss. Er selbst verglich
den wissenscha�lichen Wert dieser Schar wiederholt mit der Bedeutung der
Schimpansen Jane Goodalls im afrikanischen Gombe.
Immer noch interessiert uns im Kern die Lorenzsche Grundfrage nach den
Mechanismen sozialen Zusammenlebens. Und das nicht nur bei Gänsen,
sondern bei allen in der Evolution entstandenen Lebenwesen. Aber Arbeit
and den Lorenzschen Tieren, entlang einer zutie�s Lorenz´schen Grundfrage
bedeutet natürlich nicht, dass die Verhaltensbiologie in Grünau ein lebendes
Wissenscha�smuseum wäre, im Gegenteil. Neue Problemstellungen und neue
methodische Möglichkeiten lassen uns immer tiefer in die Zusammenhänge
zwischen dem Verhalten und den Hormonen von Individuen, ihrer Einbe�ung
ins soziale Netz und ihrem (Fortpflanzungs-) Erfolg eindringen.
Unser Ziel ist es, den Ursachenzusammenhängen von Verhalten und Sozialsystemen näherzukommen. Die Arbeit ist recht experimentell geworden,
denn Experimente sind die einzige Möglichkeit Hypothesen über vermutete Zusammenhänge zu testen. Letztlich geht es uns um die Ergründung
jener Verhaltens- und sozialer Mechanismen, welche bedingen, dass es
in sozialen Gruppen meist wenige Individuen mit vielen Nachkommen
gibt, während viele Gruppenmitglieder wenige bis gar keine Kopien ihrer
eigenen Genkombinationen in eine nachfolgende Generation weitergeben.
Da davon auszugehen ist, dass Erfolg und Misserfolg nicht rein zufällig
eintreten, sondern etwas mit genotypisch-phänotypischer Eignung im
Zusammenhang mit einer konkreten ökologischen und sozialen Umwelt zu
tun haben, verschieben sich so die Gen(Allel)frequenzen bei sexuell vermehrenden Organismen von Generation zu Generation. Dieser Selektionsprozess
über effiziente Vermehrung führt mit den genetischen Veränderungen meist
auch zur Veränderung von Merkmalen. So verändern sich in einem Prozess
der »Mikroevolution« lokale Populationen und schließlich auch Arten meist
langsam, unmerklich, von Generation zu Generation. Die moderne Ethologie
auch in Grünau, kümmert sich daher um jene Verhaltensmechanismen, die
den evolutionären Wandel verursachen.
Die Grundprinzipien des Soziallebens sind auch bei sehr verschiedenen
Tierarten, buchstäblich von Maus bis Mensch, recht ähnlich. Wir arbeiten daher an den Graugänsen nicht eigentlich, weil uns deren Biologie interessiert,
sondern weil sie sich hervorragend für diese Art der Grundlagenforschung
eignen. Wir wollen nicht direkt den Menschen über die Gans erklären. Das
wollte auch Konrad Lorenz nie, trotz manch einschlägiger Unterstellungen
98
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
von seiten seiner Gegner. Gänse sind nicht nur ein ebenso gutes Modell für
die Erforschung sozialer Gesetzmäßigkeiten, wie manche Affen. Sie sind aufgrund ihrer stammesgeschichtlich größeren Distanz zu uns Menschen besser
geeignet, diese Gesetzmäßigkeiten unbeeinflusst von einem gemeinsamen
evolutionären Erbe zu untersuchen.
Immer noch ist es die gleiche Gänseschar. Dazu kamen weitere »Modelle«,
etwa die Kolkraben (Corvus corax) zu Beginn der 1990er Jahre und Waldrappe
(Geronticus eremita) ab 1997. Und gerade die Arbeit mit dem Waldrapp, einem in Europa vor 400 Jahren ausgestorbenen, heute höchst gefährdeten
Ibisvogel, zeigt, dass ethologische Grundlagenforschung höchst relevant
für den Artenschutz sein kann. Eine ähnliche Mischung aus Kontinuität
und Dynamik zeigen auch die Menschen an der Forschungsstelle. Mit dem
Neubeginn, 1990 wurde mit meiner Person ein neuer örtlicher Leiter bestellt
und Sepp Hemetsberger wurde als Gänse-erfahrener technischer Assistent
und Ornithologe eingesetzt. Soweit zur Kontinuität. Da man zu zweit neben
der Aufrechterhaltung des Grundbetriebs der Forschungsstelle wohl kaum
zum Forschen käme, sind es die wechselnden studentischen Mitarbeiter für
unsere Produktivität höchst wichtig.
Bei Studenten österreichischer Universitäten und darüber hinaus, aus ganz
Europa ist die Forschungsstelle eine gute Adresse, um drei- bis vierwöchige
Projektpraktika durchzuführen. Immer wieder rekrutieren sich aus diesen
Student Diplomanden, welche nach einer Vorbereitungsphase etwa sechs
Monate Daten erheben und gewöhnlich in einem weiteren halben Jahr Ihre
Diplomarbeit abschließen. Dazu kommen noch einige wenige Dissertanten,
die etwa drei Jahre benötigen, um ihr Projekt durchzuführen. Die meisten
dieser 6 bis 12 Studenten, die ständig mit uns arbeiten, wohnen direkt an der
Forschungsstelle und übernehmen auch wichtige Aufgaben in der Verwaltung,
bei der Versorgung der Tiere, usw. Länger anwesenden Studenten werden
gewöhnlich aus Forschungsprojektgeldern unterstützt. Seit Harry Essler
als erster Dissertant einer kleinen, aber feinen Serie von Doktoranden 1991
begann, Schwimmpfade von Fischen zu untersuchen, arbeiteten mit uns
viele Studenten, deren detaillierte Aufzählung diesen Rahmen sprengen
würde. Der Standard unserer Arbeit widerspiegelt sich u. a. an den guten
Post-doc Positionen (Anschlussforschung an ein Doktorat als Vorraussetzung,
eine permanente Stelle zu bekommen), auf welche unsere promovierten
Mitarbeiter wechselten, so sie es wollten. Nicht alle wollen. Ausgerechnet Dr.
Essler, unser erster Dissertant, ist heute Bio-Bauer in Frankreich.
Als Student ha�e ich Lorenz mehr verehrt denn verstanden und befand mich
damit wohl in guter Gesellscha�. Denn Idole sitzen vor allem im Herzen. Ein
bekennender Lorenzschüler und -verehrer flüsterte mir einst mit ehrfürchtigem Schaudern zu, es hä�e keinen Sinn, sich Konrad als Vorbild zu nehmen,
denn dafür taugten eben nur Menschen und nicht geniale Halbgö�er wie,
seiner Meinung nach, Lorenz wohl einer gewesen war. Obwohl ziemlich
übertrieben steckt darin doch ein Körnchen Wahrheit. Natürlich war der
Lorenzsche Rock anfangs um ein paar Nummern zu groß und entsprach
wohl auch in seinem Schni� nicht mehr dem heutigen Geschmack. Wie sollte
Wissenscha� zwischen Ratio und Emotion
99
man da je hineinwachsen? Doch die Zeit wirkt, man gewöhnt sich daran
und ersetzt diesen Rock durch eigene, besser passende Kleidungsstücke.
Nicht daran gewöhnen kann ich mich, von wohlmeinenden Zeitgenossen als
›Nachfolger von Konrad Lorenz‹ tituliert zu werden; wir entwickelten unser
eigenes Profil, Lorenz ist Geschichte. Mit Ausnahme einiger Telefonate ha�e
ich nie persönlichen Kontakt mit ihm. Darum bin ich auch von jenem VaterSohn-Verhältnis frei, in welchem der charismatische Lehrer und Mensch viele
seiner Schüler zu prägen schien. Frei sowohl von einer übergroßen Verehrung
und damit auch von den zugehörigen Konflikten (vgl. Bischof 1991).
Die Grünauer Graugansschar ist quasi lebendes Erbe von Konrad Lorenz, ein
sensibler Nachlass von großem wissenscha�lichen Potential. Von Anfang an
galt es, die spezifischen Stärken dieses Modells optimal zu nutzen. So hä�e es
etwa wenig Sinn, in Konkurrenz mit großangelegten Freilandstudien treten
zu wollen (vgl. Cooke u. a. 1995). Dafür stehen uns zu wenige Individuen
zur Verfügung. Unser großer Vorteil besteht darin, dass wir den sozialen
Hintergrund jeder einzelnen Gans genau kennen und unsere Untersuchungen
zu dem Mechanismen und Funktionen des Soziallebens auf der Ebene des
Individuums durchführen können. Denn die Individuen sind die Akteure auf
der Bühne der Evolution. Mit modernsten Methoden wurde und wird in miteinander vernetzten Projekten untersucht, welche Vor- und Nachteile etwa
die für Graugänse typischen engen Paar-und Familienbindungen mit sich
bringen, welche Bedeutung das Schar- und Familienleben für die Individuen
hat. Die hormonalen Grundlagen für soziales und sexuelles Verhalten und
die Rückwirkung von Sozialverhalten auf die Ausschü�ung von Hormonen,
die Auswirkungen mü�erlicher Manipulation der Persönlichkeiten der
Nachkommen über den Androgengehalt der Eido�er, die Auswirkungen
früher Erfahrungen auf die spätere Partnerwahl, die Mechanismen der
Partnerwahl, der Einfluss der Partner auf den Lebensfortpflanzungserfolg
der Weibchen und anderes mehr stehen auf unserem Programm.
Wissenscha�liche Arbeit lässt sich nur begrenzt planen. In vieler Hinsicht
ist der Weg wichtiger ist als das Ziel, schon deswegen, weil der Zufall o�
unerwartete Einsichten bringt. So war es, um eines von vielen Beispielen
zu nennen, pures Spiel mit Daten, welches Katharina Hirschenhauser entdecken ließ, dass der Reproduktionserfolg eines Paares stark mit dessen
Gleichklang im männlichen Geschlechtshormon, Testosteron, zusammenhängt (Hirschenhauser u. a. 1999b). Es ist also nicht immer vorhersagbar, auf
welche interessanten Phänomene man stoßen wird, wenn man sich auf den
Weg begibt. Vorhersagbar ist aber, dass uns die Fragen sicherlich nicht ausgehen werden.
Natürlich wird methodisch ganz anders gearbeitet als früher. Verhalten
muss quantifiziert werden, um reproduzierbare Ergebnisse zu bringen. Das
war aber eigentlich auch schon zu Zeiten von Konrad Lorenz so. Woher
also kam die ebenso wohlbekannte wie schrullige Lorenzsche Kritik an den
»Quantifizierern«? Was ha�e er gegen jene Wissenscha�ler, die nicht nur ihrer Gestaltwahrnehmung vertrauen wollen, sondern so profane Instrumente
wie Maßband, Stoppuhr und Zählgerät einsetzen? Dass Konrad Lorenz gene-
100
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
rell gegen das Quantifizieren gewesen wäre, ist nachweislich falsch. Wogegen
er allerdings au�rat war Messen und Zählen ohne profunde Kenntnis der
zu untersuchenden Tiere. Und im achten Jahrzehnt seines Lebens schrieb er,
der wiederholt (beinahe stolz) erwähnt ha�e, in seinem Leben noch nie eine
Arbeit mit einer Kurve publiziert zu haben, zwischen 1978 und 1980 in einigen Briefen an seinen Freund Niko Tinbergen in freudig-ironischem Unterton,
dass er nun erstmals selber unter die »Quantifizierer« gegangen sei, indem
er die Zahl der aggressiven Interaktionen zwischen seinen Hal�erfischen im
Aquarium protokolliere (Lorenz u. a. 1998). Aber auch das stimmte nicht ganz,
ha�e er doch bereits 20 Jahre vorher in Seewiesen Artinteraktionen von tropischen Rifffischen quantifiziert, wenn auch nie veröffentlicht.
Und natürlich erschöpfen sich die methodischen Neuerungen seit Konrad Lorenz
nicht im Quantifizieren. Der Einsatz von computergestützter Datenaufnahme
und von Videotechnik ermöglicht genauere und dichtere Datennahme als bisher.
Von unsere Kollegen vom Biochemischen Institut der Veterinärmedizinischen
Universität Wien entwickelte Analysemethoden gesta�en es, selbst geringste
Spuren von Hormonstoffwechselprodukten aus Kot oder Harn genau zu bestimmen. Dies ermöglicht uns seit Jahren, die Beziehung zwischen Verhalten und
Hormonen »nicht invasiv«, zu bestimmen, also ohne Blutprobe auszukommen.
Das schont nicht nur die Tiere und deren vertrauensvolle Beziehung zu uns, sondern schließt auch aus, dass der Stress des Gefangen-werdens die interessierenden Hormonwerte verändert. Andere methodische Errungenscha�en der letzten
Jahre betreffen genetische Geschlechts- und Verwandtscha�sbestimmungen,
Weiterentwicklungen bei vollautomatischen Beobachtungsmethoden, usw. In der
Wissenscha� ist Stillstand Rückschri�. Die Gänse, Raben und Waldrappe mögen
dieselben bleiben, die Blickwinkel und Fragestellungen aber entwickeln sich dynamisch weiter.
Wie es zur Grünauer Konrad Lorenz Forschungsstelle kam und warum
sie immer noch existiert
Die Forschungsstelle für Ethologie in Grünau wäre im Jahre 1989, dem
Todesjahr von Konrad Lorenz beinahe den Entropietod gestorben: Geldhahn
zu und auslaufen lassen, so die klischeeha� typisch österreichische Strategie.
Aber dazu kam es schließlich doch nicht. Die Fortführung der Arbeit über
seinen Tod hinaus war war eines der dringendsten, testamentarisch festgelegten Anliegen von Konrad Lorenz: »Nun wünsche ich mit an allererster
Stelle, dass die Longitudinalstudien an Gänsen fortgeführt werden. Die sind
imstande, Antworten auf Fragen zu geben, die von vielen Leuten aufgeworfen wurden, …« (Zitat aus einer Tonbandaufnahme von Bernd Lötsch am 26.
März 1988 in Altenberg, im Wohnhaus von Lorenz). Heute entsprechen wir
diesem Lorenz´schen Wunsch schon allein deswegen, weil diese Daten wichtige Grundlage für alle unsere Forschungen an den Gänsen sind.
Mehrfach verdankt die Konrad Lorenz Forschungsstelle für Ethologie in Grünau
ihre Existenz dem Zusammenwirken glücklicher Umstände. Am Anfang stand
ein Blitzstart. Als Lorenz 1973, zum Zeitpunkt der Nobelpreisverleihung auf
dem Höhepunkt seines internationalen Ruhmes als Direktor des Seewiesner
Wie es zur Grünauer Konrad Lorenz Forschungsstelle kam
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Instituts für Verhaltensphysiologie der Max-Planck-Gesellscha� emeritierte, war
er gerade 70 Jahre alt, also für einen notorisch Wissensdurstigen gerade im besten
Forscheralter. Rasch ha�e er Wolfgang Wickler, seinem Nachfolger (nun ebenfalls
bereits emeritiert) Platz zu machen. Die Max-Planck-Gesellscha� war aber bereit,
ihn noch für einige Zeit zu unterstützen. Nun forschte Lorenz aber nicht an allerlei Labor-Allerweltsgetier, sondern an freilebenden Gänsen. Die Herbergssuche
gestaltete sich daher zunächst schwierig. Es begab sich, dass der österreichische
Autodidakt und Lorenz-Epigone O�o König 1973 als Gast der Herzog-vonCumberland Sti�ung im Almtal an Raufußhühnern forschte. Dieser erfuhr vom
Lorenzschen Anliegen und schaltete den damaligen Forstverwalter der Sti�ung,
Karl Hüthmayr ein, worauf es plötzlich wie »am Schnürchen« ging. Hüthmayr erlangte innerhalb von Stunden das Einverständnis des Eigentümers, Ernst August,
Prinz von Hannover. Der Entschlusskra� dieser beiden Männer verdanken wir
daher letztlich die Existenz der Forschungsstelle. Dass 1970 ebenfalls durch
Hüthmayr der große Cumberland-Wildpark im Almtal errichtet wurde, mag ein
gewichtiger Grund für die Einladung von Seiten der Sti�ung gewesen sein. Man
erho�e sich zu Recht Öffentlichkeitswirksamkeit durch den Nobelpreisträger.
Dieser Effekt hält weiter an. Immer noch ist für die mediale Vermi�lung unserer
Arbeit der Name Konrad Lorenz ein hervorragender »Trade mark«. Grünau und
das Almtal strahlen so vor allem via Bildschirm über ganz Europa, bis in die USA
aus.
Die Zeit drängte. Es wurde rasch ein schönes, geräumiges altes ForstMühlen- und Flößergebäude am Ufer der Alm gelegen, umgeben von
gänsegerechten Wiesen adaptiert. Südlich des Wildparkgeländes und abseits vom Besucherstrom wurden Teichanlagen und drei kleine Hü�en zur
Handaufzucht von Gänsen geschaffen. Bis heute trägt das Gebiet die zunächst
scherzha�e Lorenzsche Bezeichnung »Oberganslbach«. Da für die freilebenden Gänse als jagdbares Wild die Möglichkeit bestand, relativ weit umherzustreifen, wurden Gespräche mit Jagdpächtern geführt, um sie zu bi�en, nicht
auf die Gänse zu schießen. Dankenswerterweise wurde diese Abmachung nie
gebrochen. Nach kurzer Zeit allerdings wählten die Gänse die Wasserfläche
des Almsees zum Übernachten und als Ort für die Mauser und nicht, wie beabsichtigt, die näheren, aber kleineren Teichanlagen im Wildpark. Dies führte
zu gelegentlichen Konflikten mit den Seepächtern, dem oberösterreichischen
Landesfischereiverein, zumal die Zahl der Gänse bis 1990 auf 220 angestiegen war. Durch eine Abgabe von Tieren sank der Bestand bis 1992 auf 120
und schwankt seitdem um dieses absolut notwendige Minimum, um an der
Gruppe weiterhin sinnvolle Sozialforschung betreiben zu können. Auch mit
den Fischern gab es kollegiale Gespräche. Es setzte sich die Einsicht durch,
dass Graugänse keine Fische fressen und auch Bedenken, dass die Tiere
den blauen, keuschen Alpensee über Gebühr verschmutzen würden, konnten ausgeräumt werden. Dank der Einsicht der Fischer und Jäger herrscht
Burgfriede im urigen Almtal.
Im Sommer 1973 konnte die Übersiedlung der Gänse beginnen. Ganz
einfach war es allerdings nicht, denn wie hindert man diese flugfähigen
Gewohnheitstiere daran, sofort aus dem ungewohnten Amtal ins vertraute
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Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Seewiesen zurückzukehren? Um eine möglichst schonende Eingewöhnung zu
ermöglichen, wurden die Schwungfedern nicht beschni�en, manche wurden
allerdings mausernd und daher flugunfähig ins Almtal gebracht. Außerdem
wurden sie als soziale Clans und in Begleitung vertrauter Menschen übersiedelt. Trotzdem blieben von den etwa 100 Übersiedlungskandidaten, die in ihren Transportkisten o� mehrmals nach Grünau gebracht wurden, nur etwa 70
Vögel. Und selbst die bildeten in den ersten Jahren eine recht instabile Schar.
Manche Paare flogen weiterhin zum Brüten an die Bayrischen Voralpenseen.
Zwei Paare, Schwarzkopf und Airotsohn, sowie Carola und Egelb taten
dies bis ins hohe Alter von mehr als 20 Jahren bis in die späten 1990er Jahre
und kamen regelmäßig im Herbst mit ihren flüggen Jungen ins Almtal zurück. Zumindest einige dieser Nachkommen integrierten sich in die Schar.
Störungen (z. B. Drachenflieger) konnten in den ersten Jahren die Gänse aus
dem Tal treiben und weit über das Land versprengen. Erst allmählich, durch
regelmäßige Handaufzucht und intensive Betreuung entstand eine stabile
Schar mit ihren angepassten Traditionen.
Um den Konzeptrahmen seiner Fischarbeit einzugrenzen, begann ich im
Februar 1992, die Lorenzsche Korrespondenz mit Fachkollegen aus den Jahren
1974 bis 1989 nach Stellen abzusuchen, in welchen er sich auf seine Arbeit im
privaten Riff, seinem Altenberg Aquarium bezieht (Lorenz u. a. 1998). Dabei
fiel auf, dass er in den meisten Briefen seine grünauer Forschungsstelle mit
Begeisterung erwähnt, sogar noch häufiger als sein Altenberger Aquarium.
Ohne Übertreibung kann man daher behaupten, dass Grünau mit seinen
Gänsen, Bibern und Wildschweinen das wichtigste Anliegen von Konrad
Lorenz war. Leider aber war das wohl konstanteste Merkmal dieser Forschungsstelle ihre wiederkehrenden Finanzierungskrisen. Dabei begann
alles recht solide, solange immerhin bis 1980 die Max-Planck-Gesellscha� für
einen Gu�eil der Kosten au�am. Danach sollten vereinbarungsgemäß österreichische Stellen übernehmen, womit ein unwürdiges Schlamassel begann.
Eher lustlos übernahm die Österreichische Akademie der Wissenscha�en auf
Bi�e des Wissenscha�sministeriums, bzw. der damaligen Ministerin Herta
Firnberg. Halbjährliche Berichts- und Antragspflichten begleiteten fortan
Konrad Lorenz und seine Mitarbeiter. Beschämend, dass man nicht imstande
war, die Arbeit des insgesamt dri�en und vorläufig letzten Nobelpreisträger
Österreichs für Medizin ohne viel Au�ebens mit einem ohnehin bescheidenen Betrag zu unterstützen.
Am 26. Februar 1999 starb Konrad Lorenz. Das offizielle Österreich zog es
vor, ihn zeitlebens außerhalb seiner Grenzen und auf Kosten anderer wirken
zu lassen. So etwa war es ihm nicht vergönnt, 1950 eine Professur an der
Universität Graz anzutreten. Erst im reifen Seniorenalter und nobelpreisbekränzt konnte Lorenz in Österreich Fuß fassen. Und dies nicht nur streng
wissenscha�lich. Seine natürlich Autorität gepaart mit der Einsicht, es sei
so einiges faul im Staate Österreich ließ den angeblich »notorisch unpolitischen« Lorenz (vgl. Föger und Taschwer 2001, Kotrschal u. a. 2001) zum
öffentlichkeitswirksamen Umweltgewissen dieses Staates werden. Er ha�e
maßgeblichen Anteil am negativen Ausgang der Volksabstimmung zur
Ihr Sozialleben macht Gänse zu den Primaten unter den Vögeln
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Inbetriebnahme des Kernkra�werkes Zwentendorf. Und er war auch daran
beteiligt, die Zerstörung der letzten Reste der Donauauen in Österreich durch
den Bau eines Kra�werks bei Hainburg hintanzuhalten.
Ihr Sozialleben macht Gänse zu den Primaten unter den Vögeln
Die Grünauer Graugänse waren bereits Hauptdarsteller in zwei, auch für
Laien gut lesbare Bücher: Dem von Lorenz gemeinsam mit dem Ehepaar
Kalas verfassten »Jahr der Graugans« (1979), sowie dem Verhaltensinventar
der Graugans »Hier bin ich – wo bist du?«, dem letzten größeren Werk von
Konrad Lorenz, entstanden unter Beteiligung von Michael Martys und
Angelika Tipler (1988). Faszinierend ihr bisher wenig verstandenes, kompliziertes Zusammenleben, welches sogar uns Menschen als notorische
»Sozialtiere« staunen lässt und so manche Ähnlichkeit mit Affengesellscha�en
aufweist (Exkurs 9). Letztlich geht es darum, wie es manche Individuen schaffen, viele Nachkommen zu hinterlassen, viele andere dagegen nicht.
Die ins Almtal übersiedelten Gänse lebten sich gut ein und bilden seitdem
eine Schar von 120–150 Tieren. Die Schar enthält ständig etwa 45 Paare,
deren Partnerscha� meist über Jahre besteht. Die etwa 50 Nichtverpaarten
setzen sich aus unter zweijährigen Jungvögeln und aus verwitweten, älteren
Gänsen zusammen. Einen Überblick über das komplexe Sozialleben gibt
Exkurs 9. Unser bisher ältester Ganter verschwand mit 27 Jahren im Herbst
1993. Somit sind Längsschni�untersuchungen an diesen Tieren langfristige
Unternehmen. Wie alt Graugänse maximal werden können, weiß niemand so
genau. In Gefangenscha� erreichen zumindest Hausgänse 60 Jahre, aber unter den rauhen Almtaler Bedingungen sind 20 Jahre bereits ein stolzes Alter.
Lorenz pflegte Fragen nach dem Maximalalter von Gänsen gelegentlich mit
einer Geschichte zu beantworten. So hä�e er eine nachweislich über 30 jährige
Gans übernommen und nach weiteren 30 Jahren in seiner Pflege hä�e sie der
Fuchs gefressen. Nun sei er selbst schon so alt geworden, hä�e zeitlebens mit
Gänsen gearbeitet und könne nicht einmal sagen, wie alt diese würden …
Der Jahresgang der Graugänse
Die Grünauer Graugansschar zeigt ein ausgeprägtes tägliches und saisonales Raum-Zeit-Muster (Lorenz u. a. 1979; Exkurs 9). Die Tiere übernachten
auf der vor hungrigen Füchsen Schutz bietenden offenen Wasserflächen des
Almsees. Nur im Winter ziehen Teile der Schar die nahen Wildpark-Teiche
vor. In der Morgendämmerung streichen die Gänse etwa 8 km nördlich,
zur Fu�erstelle am Auingerhof, dem Sitz der Forschungsstelle. Untertags
wechselt die Schar meist in den nahen Cumberland-Wildpark und stellt sich
dort recht bereitwillig den Besuchern, weil diese ihren Tribut in Form von
Erdnüssen entrichten. Am späten Nachmi�ag geht´s an den Auinger, in der
späten Abenddämmerung kehrt die Schar wieder an den Almsee zurück.
Zur Zugzeit, im Spätherbst, werden die Gänse zuweilen unruhig. In
Keilformation fliegen sie höher als sonst und verlassen gelegentlich auch für
einen kurzen Ausflug das Tal, um sich am Abend doch wieder am Fu�erplatz
einzufinden. Die saisonale Zugunruhe ist genetisch bedingt (Berthold 1993),
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Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
wird von einer inneren Jahreszeituhr gesteuert, welche das Fressverhalten
der Gänse so steuert, dass sie Anfang November am fe�esten sind. Was evolutionär als Treibstoff für den Zug vorgesehen war, ließ Gänse bald zu einer
kulinarischen Herbstspezialität werden. Die Zugrouten dagegen werden in
Form sozialer Traditionen weitergegeben. Unsere Gänse lernten nie von ihren Eltern, wohin sie ziehen sollen und bleiben daher im Almtal. Die kurzen
Wintertage verbringt die Schar ruhig und friedlich an der Forschungsstelle.
Gelegentliche Angriffe überwinternder Adler halten sie allerdings auf Trab.
Bereits im Februar bringen erste Föhntage Frühlingsahnen. Die Gänse geraten in Unruhe: Nun ist es Zeit, um Partner zu werben, mit Rivalen zu
streiten und schließlich frühestens im zweiten Lebensjahr eine Paarbindung
einzugehen, welche ein ganzes, langes Gänseleben anhalten kann. Aber nicht
muss. Denn einem Partner kann etwas zustoßen und etwa 20% der Paare
trennen sich durch »Scheidung«, im Schni� im dri�en Jahr der Partnerscha�.
März-April fällt die Schar auseinander, die Paare sondern sich zum Brüten
ab, denn Graugänse tun dies im Gegensatz zu anderen Gänsearbeiten einzeln,
bzw. nur in sehr weitläufigen Gruppen, nicht aber in dichten Brutkolonien
(Exkurs 9). Erst nach der Großgefiedermauser, wenn die erwachsenen Tiere
und die Jungen des Jahres flügge sind, kommt es zur Wiedervereinigung der
Schar, die dann bis zum nächsten Frühjahr zusammenhält.
Gänse unter Erfolgsdruck
Wie unsere Daten zeigen, ist der Fortpflanzungserfolg tatsächlich sehr ungleichmäßig über die Schar verteilt (Exkurs 9). Dies gilt auch für andere soziale Tiere. In komplexen Kastenstaaten mancher Insekten reproduziert gar
nur mehr ein einziges Individuum. Aber es gibt auch bei den Säugetieren
ähnliche Beispiele. Bei Wölfen oder afrikanischen Wildhunden etwa hat in einer Gruppe meist nur das ranghöchste Paar Nachwuchs. Noch komplizierter
geht es bei den Nacktmullen zu, hochsozialen, ständig unterirdisch lebenden
Nagern, deren Clans in Kasten, ähnlich wie Insektenstaaten, organisiert sind.
Nur ein einziges Weibchen reproduziert, die anderen kümmern sich arbeitsteilig um Nachwuchs und Haushalt. Wer mehr Nachkommen als die anderen
hinterlässt, ist damit erfolgreicher, Kopien der eigenen Genkombinationen in
die nächste Generation zu bringen; quasi als Nebeneffekt beeinflusst solch ein
Individuum auch stärker als andere den Gang der Evolution. Was Wunder
also, dass sich die reproduktive Konkurrenz über hunderte von Millionen
Jahren in allen sexuell reproduzierenden Populationen zu Individuen führte,
die unter dem Diktat des »reproduktiven Imperativs« leben. Wenn also
Individuen mehr oder weniger Nachkommen hinterlassen, als andere, dann
ist es für Verhaltensbiologen deswegen eine Herausforderung, die Gründe
dafür zu ergründen, weil sie sich damit letztlich den Mechanismen annähern,
welche Evolution bewirken.
Sinda war mit 30 flüggen Jungen unsere bislang erfolgreichste Gans (s. u.).
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (2002) folgten daraus immerhin 61 Enkel,
davon 14 alleine vom Sohn Claro, 24 Urenkel und 44 Ururenkel. Aber die
Zahl der Ur- und Ururenkel wird sicherlich noch steigen. Damit bestimmt
Ihr Sozialleben macht Gänse zu den Primaten unter den Vögeln
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der »Sinda-Clan« recht maßgeblich soziales Geschehen und Genbestand der
Schar. Beinahe 50 % der gegenwärtig lebenden Scharmitglieder stammen von
Sinda ab.
Die Saga von Sinda und Blasius
Eine wahrha� herzzerbrechende Geschichte im Stil einer TV »Soap opera«
ist die von Sinda und Blasius. Gerade diese Beziehungsgeschichte aber zeigt
die durchaus typischen Verwicklungen gänsischen Zusammenlebens. Sinda,
deren leiblichen Eltern der Ganter Alfred und die Gans Blau-blau-grün waren, schlüp�e am 15. April 1974 in einem Grünauer Brutapparat und wurde
von Sybille Schäfer handaufgezogen. Sinda war also Grünauerin der ersten
Generation. Sie wuchs mit drei Schwestern, Jule, Alma und Alfra, auf, die
aber alle bereits 1975 und 1976 durch Füchse umkamen. Blasius, dessen leibliche Eltern Adonis und Rosa-weiß-grün-grün waren, schlüp�e ein Jahr früher
als Sinda im Frühjahr 1973 und wurde ebenfalls von Sybille, allerdings in
Seewiesen, aufgezogen. Am 12. Juni 1973 übersiedelte diese HandaufzuchtFamilie nach Grünau. Ihr gehörten neben Blasius auch noch die gerade flügge
gewordenen Greif, Nikita, Muck Yksy, Selma und als weiteres Männchen Rotblau-gelb an, das aber bereits kurz nach der Übersiedlung starb. Aus dieser
Geschwisterrunde lebten Muck und Blasius bis 1995, Nikita verunglückte im
Winter 1992. Alle der alten Brüder waren in ihren letzten Jahren ihres Lebens
Witwer.
Der junge Blasius verpaarte sich zunächst mit der Sinda-Schwester Jule, die
aber bei ihrem ersten Brutversuch am Almsee am 1. April 1976 von einem
Fuchs getötet wurde. Sinda und Blasius sind seit dem 28. Juni 1976 verpaart. Von 1977 bis 1991 gab es mit diesem Paar 14 Bruten, die insgesamt 24
flügge Junggänse erbrachten. Die kurzen Zwischenspiele der jungen Sinda
mit den Gantern Florian und Ado, sowie die ständigen Abwehrkämpfe von
Blasius, der zwar am Boden leicht zu besiegen war, aber doch eine gewisse
Überlegenheit in Lu�kämpfen entwickelte, sind bei Lorenz (1988) nachzulesen. Hier nun die wahrha� tragische Fortsetzung dieser Geschichte. Bereits
vor 1990 fiel auf, dass Blasius Sinda gegen die Avancen meist jüngerer Ganter
nicht mehr erfolgreich abschirmen konnte. Sinda war offensichtlich eine recht
a�raktive Gans, ebenso wie die der Anzahl ihrer Verehrer zeigte, andere erfahrene Gänse, wie etwa Dornröserl oder Lucia. Als Menschen wissen wir
natürlich nicht, warum manche, aber bei weitem nicht alle Gänse für Ganter
im besten Alter anziehender wirken als andere, aber alle der erwähnten
Weibchen zeichneten sich durch einen überdurchschni�lich guten Bruterfolg
in der Vergangenheit aus.
Trotz der Unterlegenheit von Blasius ha�e die Partnerscha� Bestand. Es war
Sinda, die jahrelang den Werbungen anderer Männchen widerstand und aktiv die Nähe zu Blasius suchte. Das Paar hielt sich viel am Rande der Schar auf
und wich tage-bis wochenlang auf den Almsee aus, besonders im Frühjahr,
wenn der Ansturm der Blasius-Rivalen stark wurde. So auch 1990, als Sinda
mit Blasius von ihrem üblichen Neststandort auf einer Bülte am Almsee
Gössel nach Oberganslbach ins Aufzuchtgebiet führte. Kurzfristig war die
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Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Welt wieder in Ordnung, denn nichts scheint einen Ganter mehr aufzuputschen und eine Gänsepartnerscha� mehr zu stabilisieren, als Nachwuchs. Die
Familie erlebte ein normales Gänsejahr; die Kinder von 1990 (Selina, Samson
und Silva) zeigten im Frühjahr 1991 eine normale »Verlobungsphase« (erste
Kontaktaufnahmen mit zukün�igen Partnern).
Es schien, als würde die Geschichte weiterlaufen wie bisher. Blasius zeigte
seine übliche Verteidigungsschwäche, die aber dadurch kompensiert wurde,
dass sich das Paar sehr früh, Anfang März, auf den Almsee zurückzog. Sinda
baute ein Nest und legte vier Eier. Alles schien in Ordnung, bis das Gelege zerstört wurde. Raben oder Krähen ha�en die Eier zerhackt. Da Sinda bereits einige Tage gebrütet ha�e, bestand keine Möglichkeit mehr für ein Nachgelege;
das Paar würde also in diesem Jahr keine Nachkommen großziehen. Sinda und
Blasius blieben zunächst bis Mi�e Mai am Almsee, schlossen sich aber im Juni
zum Mausern den anderen Familien in Oberganslbach an, sei es aus jahrelanger Gewohnheit, oder weil sie Gössel a�raktiv fanden (Graugänse neigen stark
zur Adoption von Gössel, was manchmal sogar zu Auseinandersetzungen um
die gerade geschlüp�en Gössel zwischen den Eltern und anderen, adoptierwilligen Gänsen führen kann). Als ich am 27. April 1991 ein schlüpfreifes
Gänse-Ei aus dem Brüter auf die Wiese vor dem Haus legte, um es zu fotografieren, waren zufällig Sinda und Blasius anwesend (die Forschungsstelle liegt
in gänsischer Gehdistanz zu Oberganslbach) und wurden von dem Ei offenbar
sehr angezogen. Sinda ging darauf zu und fing an, es zu rollen, zeigte also jene
Verhaltensweise, welche dem Zurückholen eines aus dem Nest gerollten Eies
dient. Genau diese Verhaltensweise wurde von Lorenz und Tinbergen in ihrer
klassischen Arbeit (1939) stellvertretend für andere Instinktbewegungen genau beschrieben. Sinda konnte einem in ihrer ins Leere gehenden Bereitscha�,
Nachwuchs aufzuziehen, schon leid tun.
An Ende Juni 1991 begann sich der Ganter Erot um Sinda zu bemühen. Er
blieb zunächst ständig in der Nähe des Paares, drängte sich zwischen Sinda
und Blasius, vertrieb den alten Ganter häufig um dann zu Sinda zurückzukehren und sein Triumphgeschrei gegen sie zu richten. Diese stimmte zunächst nicht mit ein, sondern versuchte wochenlang, den Kontakt mit Blasius
zu halten. Obwohl sie ständig von Erot bedrängt wurde, gelang ihr das
recht gut. Es sah also danach aus, als würde Sinda ihre Bindung zu Blasius
aufrecherhalten, wie in den Jahren zuvor in ähnlichen Situationen. Was
1991 allerdings fehlte, waren gemeinsame Gössel, welche die Paarbindung
stimuliert und Blasius´ Konkurrenzfähigkeit angeregt hä�en. So sah ich zu
meinem Erstaunen am 8. Juli 1991 Sinda aktiv Erot nachfolgen. Innerhalb
der nächsten Minuten folgte ein Angriff von Erot auf den nahen Blasius, mit
anschließendem Triumphgeschrei auf Sinda, die prompt in sein abschließendes Schna�ern einfiel. Mit dieser Paarbindungszeremonie (Fischer 1965) war
die Sache klar für Erot entschieden. Zu Mi�ag desselben Tages sah ich Erot
mit Sinda kopulieren, was sich in den darauffolgenden Tagen regelmäßig
wiederholte. Da sowohl beim Weibchen, als auch beim Ganter in dieser Zeit
keine befruchtungsfähigen Geschlechtszellen mehr vorhanden waren (vier
Monate nach der Fortpflanzungszeit!), sind diese Beobachtungen so neben-
Ihr Sozialleben macht Gänse zu den Primaten unter den Vögeln
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bei ein Beleg dafür, dass Kopulationen auch bei Gänsen nicht nur streng
vermehrungsbezogen eingesetzt werden, sondern wahrscheinlich zusätzlich
der Festigung der Paarbindung dienen. Ähnliches ist ja bereits länger von
Affen und Menschenaffen bekannt (Wickler und Seibt 1984) und wurde als
Paarbindungsmechanismus auch für monogame Vögel beschrieben (Black
1996, Hunter u. a. 1993).
Eine 17 Jahre währende Partnerscha� war also zerbrochen, bzw. vom
Weibchen aufgekündigt worden. Die eigentliche Ursache dafür war offensichtlich die sinkende Konkurrenzfähigkeit des alten Blasius, welche
durch den Brutausfall noch verstärkt wurde. Im Lichte der Daten von
Jürg Lamprecht von den ehemaligen Seewiesner Streifengänsen war die
Entscheidung Sindas evolutionär »vernün�ig«. Lamprecht stellte zunächst
keinen Zusammenhang zwischen dem Fortpflanzungserfolg und dem Alter
des Paares fest. Allerdings fand er, dass der weibliche Fortpflanzungserfolg mit
dem Alter zunimmt, was sich mit den Ergebnissen an den Grünauer Gänsen
deckt. Mit dem Alter zunehmende Erfahrung könnte dafür der Grund sein.
Der Erfolg der Männchen hingegen sinkt mit steigendem Alter, was auf eine
sinkende Fertilität des Spermas zurückzuführen sein könnte. Und immerhin
war Erot 8 Jahre jünger als Blasius.
Damit ist es »sinnvoll«, dass Gänseweibchen eine erfolglose Brutsaison zum
Wechsel des Langzeitpartners verwenden, zumal, wenn dieser, wie im Fall
von Blasius, sich bereits ganzjährig im Dominanzgefüge der Schar nicht
mehr so behaupten konnte, dass die Fortpflanzungsinteressen des Paares
optimal gewahrt werden können. Sinda konnte also durch ihren Wechsel
nur gewinnen, Blasius natürlich nur verlieren. Hinzu kommt, dass er als
einziges Individuum in der Schar immer schon dazu neigte, neurotisch auf
Spannungen zu reagieren. Er »kämp�e« gelegentlich mit sich selber, so auch
unmi�elbar nach der Trennung. Er fasste sich dabei mit dem Schnabel am linken Flügelbug und versuchte, mit dem rechten auf sich selber einzudreschen,
was zu einem wilden Ringelspiel um die eigene Achse führte. Bei diesen seltenen Spektakeln war Blasius gewöhnlich von aufgeregten, »hassenden« (wird
gewöhnlich von Scharmitgliedern gegen Bodenfeinde gezeigt) Schargenossen
umgeben. Blasius´ gemauserte Schwungfedern dieses Jahres waren weitgehend zerkaut – ein »fingernägelkauender« Ganter!
Ältere Männchen werden beim Verlust ihrer Partnerin meist schlagartig zu
den Parias in der Schar. An den Rand gedrängt und auf der untersten Sprosse
der Dominanzhierarchie (Rang ist weniger eine Eigenscha� des Individuums
als ein Ergebnis der sozialen Bindung) haben sie wenig Chancen, eine Bindung
mit einem weiteren Weibchen einzugehen. So bleiben sie entweder alleine
oder gehen Bindungsallianzen mit anderen Junggesellen ein. Blasius war also
evolutionär gesehen »so gut wie tot«. Häufig zieht bei Lanzeitmonogamen
ein Partnerwechsel einen zumindest einjährigen Ausfall der Fortpflanzung
nach sich (Newton 1989, Black 1996). Weibchen sollten also nur in gut begründeten Fällen wechseln, denn »es kommt selten was besseres nach«.
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Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Obwohl die Verteidigungsleistung von Erot an die von Blasius vor nur einigen Jahren erinnerte (sollte es auch für Gänse gelten, dass sie immer wieder
denselben Männchentyp bevorzugen?), gelang es dem Paar bereits 1992, also
ohne ein Jahr Verzögerung, Junge großzuziehen. Sinda brütete wieder an
derselben Stelle wie vorher, es wurden sechs Junge flügge, überdurchschni�lich viel für eine Brut. Es gab also nicht nur keinen Einbruch, mit dem neuen
Ganter war der Erfolg dreimal so hoch wie in einem durchschni�lichen Jahr
mit Blasius; aber das kann Zufall sein. Längerfristige Daten hä�en Klarheit
schaffen können, aber dazu sollte es leider nicht mehr kommen.
An allen unseren Gänsefamilien führen wir regelmäßig quantitative
Verhaltenserhebungen durch. Dabei fiel auf, dass Erot weniger aggressiv als
andere Familienganter in der Winterschar war, Sinda dagegen wesentlich
aggressiver als andere Familiengänse. War das eine Kompensation des wenig
engagierten Verhaltens des Männchens? Vielleicht war das männchenähnlichresolute Verhalten Sindas einfach eine individuelle Eigenscha�. Bereits in der
Vergangenheit wurde berichtet, dass sie aggressiver als andere Weibchen war
und sogar gelegentlich Rivalen von Blasius per Flügelbugangriff in die Flucht
schlug. Blasius hielt sich übrigens im Winter 1992/93 immer wieder in unmittelbarer Nähe von Sinda und ihrer Familie auf, ohne sofort von ihr oder Erot
vertrieben zu werden. Im Frühjahr 1993 warteten wir also gespannt auf die
Fortsetzung unserer Gänse-Saga. Die Geschichte fand jedoch ein jähes Ende.
Sinda wurde im April 1993 auf ihrem Nest mit 5 Eiern im flachen Wasser des
Almsees von einem Fuchs erbeutet. Obwohl man sich als Beobachter emotional heraushalten sollte, waren wir en�äuscht. Einmal, weil man solchen
Tieren gegenüber unweigerlich Gefühle entwickelt und zum anderen, weil
ein paar Jahre mehr noch sehr erkenntnisträchtig gewesen wären. So war
Sinda mit 34 flüggen Jungen, in 18 Jahren mit 2 Partnern unsere mit Abstand
erfolgreichste Gans. Erot wurde zum Witwer.
Erot war ein 1981 geschlüp�es Gössel von Elysia und Veith, verpaarte sich
1983 kurz mit Anastassja, dann von 1983 bis 1991 mit Isabelle, mit der er aber
keine flüggen Jungen großzog. Die Verbindung mit Sinda währte 1991 bis 1993,
daraus entstammten 6 flügge Junggänse. Nach einem kurzen Zwischenspiel
mit Voyager, gelang es Erot noch 1993, sich mit Frau Nils zu verpaaren und
mit ihr auch 3 Junge bis zum Flüggewerden großzuziehen. Erot verschwand
im November 1994 und hinterließ aus seinen 13 Lebensjahren immerhin 9
flügge Junge aus 2 von insgesamt 5 Verpaarungen. Ohne seine hart erkämp�e
Verpaarung mit Sinda wäre die Bilanz viel weniger gut ausgefallen.
Blasius dagegen wurde von Sybille Schäfer 1973 handaufgezogen, verpaarte
sich 1975 mit der im darauffolgenden Jahr bei der Brut verschwundenen Jule
und 1976 mit deren Schwester Sinda, mit der er bis 1991 zusammenblieb
und in diesen 15 Jahren 30 flügge Junge großzog. Von Erot aus der Bindung
gedrängt, existierte der Ganter noch bis zu seinem Verschwinden im 22.
Lebensjahr, im März 1995, alleine an der Peripherie der Schar. Dank Sinda
war Blasius ein enorm erfolgreiches Männchen.
Ihr Sozialleben macht Gänse zu den Primaten unter den Vögeln
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Die lebenslange Einehe ist der »Grundtypus« der Partnerscha� bei Gänsen (s.
Lorenz [1988] zur Frage: Was ist »normal«?). Dies zeigt nicht nur die Statistik,
sondern auch das Verhalten. Ganter mögen zwar mit einem Sekundärweibchen
(oder bei Gelegenheit mit einer beliebigen anderen Partnerin) kopulieren, die
Bindungsrituale, wie das Triumphgeschrei, oder das Kopulationsnachspiel
wird aber immer nur gegen die eigentliche Partnerin gerichtet, Gänse sind
also durchaus monogam »eingestellt«. Dennoch, viele Fälle streuen um diesen »Normaltyp« (Exkurs 9). Tatsächlich gibt es in der Gänsegesellscha� fast
keine sozialen Erscheinungen, die man nicht auch beim Menschen finden
würde. Umgekehrt gilt das natürlich nicht. Diese Ähnlichkeit der Strukturen
ist sicherlich auch ein Grund für die Faszination, welche die Gänse auf viele
Beobachter ausüben. O� bricht spontaner »Gänsetratsch« aus, wenn passionierte Gänseforscher aufeinandertreffen. Was für Außenstehende wie indiskreter Gossip klingt, Affären, Beziehungen und Nebenbeziehungen innerhalb
der Schar, die Vorlieben, Abneigungen und Maro�en Einzelner, ist tatsächlich wichtiger Hintergrund für unsere wissenscha�liche Arbeit. Bei näherem
Hinschauen bilden Gänse eine komplex strukturierte Gesellscha� aus unverwechselbaren Individuen, mit manchen Anklängen an Primatensozietäten,
aber auch mit vielen eigenständigen Zügen. (Exkurs 9).
Längst ist die Sonne hinter den Bergflanken des Almtals verschwunden.
Immer noch stehen wir in der Schar, betrachten nachdenklich unsere Gänse,
jede mit ihrer eigenen Geschichte. Es ist dämmrig geworden, die herbstlichbunten Wälder leuchten nicht mehr, nur noch die höchsten Bergspitzen stehen
im ma�en Rot. Wie am Morgen stehen wir bei unseren Gänsen und warten,
diesmal auf ihren Abflug. Unruhe befällt die Schar. In den Familienclans richten sich die Gänse in Abflugrichtung aus, gehen zueinander in Startdistanz,
etwa eine doppelte Flügellänge. Zunehmend hört man den »Fortgehlaut«, ein
kurzes, hochfrequentes gan-gan-gan, durchsetzt mit hohen, einsilbig-quiekenden Warn- bzw. Mobbinglauten. Kopfschü�elnd und flügelnd bringen sie sich
gegenseitig in Abflugstimmung. Ein sozialer Vogel vom Gewicht einer Gans
fliegt nicht einfach alleine ab. Offenbar ist eine Schwelle zu überwinden und allgemeine Synchronisation durch Stimmungsübertragung nötig. Die Spannung
ist den sichernden Gänsen deutlich anzusehen. In den letzten Sekunden
steigern sich Fortgehlaut und Kopfschü�eln zu einem Verhaltensstakkato,
gesta�en eine ziemlich genaue Vorhersage, wann der erste Vogel mit ein
paar Schri�en Anlauf wegziehen wird, zögernd manchmal, um von anderen
Gruppenmitgliedern mit krä�igen Flügelschlägen beim Start überholt, mitgerissen zu werden. Die letzten Nachzügler der Familiengruppe trachten, den
Anschluss nicht zu verpassen. Knapp über dem Boden streichend, gibt die
Flügelmuskulatur nun ihre volle Leistung, die Flächenbelastung der Flügel ist
am größten. Bei jedem Aufschlag klatschen die Spitzen der Handschwingen
über den Gänsen zusammen, bis sie nach einigen Dutzend Metern genügend
Fahrt gewinnen, um vom Au�rieb getragen, in den ökonomischen GleitRuderflug überzugehen.
Gruppe um Gruppe streicht laut schna�ernd in den dunklen Abend ab.
Menschenaugen bräuchten schon Scheinwerfer, um zwischen den boden-
110
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
nahen Hindernissen zu manövrieren, die lichtstarken Gänseaugen funktionieren auch in sternenhellen Nächten. Die Gänse gleiten zunächst mit
sparsamen Flügelschlägen dicht über dem Fluss, noch immer laut rufend.
Beinahe berühren ihre Flügelspitzen das Wasser. Erst allmählich schwingen
sie sich auf Baumwipfelhöhe, werden in wenigen Minuten ihren Schlafplatz
auf der weiten Fläche des Almsees erreicht haben, 8 km südlich von uns.
Weitab vom Ufer werden sie auf der nächtlichen Seefläche einfallen, bis zum
Morgengrauen sicher vor Füchsen und neugierigen Forschern. Kaum mehr
als Konturen sind noch gegen den nachtblauen Himmel auszumachen. Mit
rauschenden Schwingen verlässt uns auch der letzte große Trupp. Je dunkler
der Abend, desto eher neigt die Schar zum Massenau�ruch. Aufgewirbelte
Federchen schweben langsam wieder zu Boden, geben die Gewissheit, dass
sie wiederkommen werden, morgen früh.
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
18. Mai 1991, Oberganslbach: Nach der Morgenfü�erung der Gänsefamilien
sitze ich knapp nach sechs Uhr früh wieder fröstelnd in meiner kleinen Hü�e.
Die drei Gössel neben mir bilden ein sternförmiges Knäuel im Wärmekegel des
Gasstrahlers. Die Hälse ineinandergeschlungen sind sie eben mit wohligem
Trillern eingeschlafen. Sie haben ein leichteres Leben als ihre von Gänseeltern
geführten Altersgenossen. Ein Blick durch die beschlagene Fensterscheibe ergibt die ungemütliche Gewissheit, dass draußen der Schneefall eben in Regen
überging. Gasstrahler, Kochöfchen und Gaslampe brennen, die Temperatur
in der Hü�e erreicht langsam angenehme 10 °C. Eine Stunde habe ich jetzt für
mich, dann werden meine Gössel wieder auf die Weide wollen, und ich muss
natürlich mit. Eine Stunde, um Tagebuch zu schreiben, zu frühstücken. Mir
ist nicht nach wohligem Trillern zumute, die Füße und Finger eiszapfig, und
daran wird sich wohl den ganzen Tag wenig ändern.
Seit ihrem Schlupf vor drei Wochen, am 28. April, bin ich nun meinen
Gänsschen Alleinerzieher und Begleitperson, eingespannt in einem engen
Rhythmus von Weiden und Hudern. Dass es die ganze Zeit regnet und auch
der Winter immer wiederkehrt, ist Pech. Trotz der widrigen Umstände ist es
aber ein schönes, beglückendes Erlebnis, so gar nicht aus dieser Welt, ein Leben
als Ganter unter Gänsen sozusagen. Mit zahmen Wildtieren zu leben war die
Lorenzsche Arbeitsmethode schlechthin. Denn es hat viele Vorteile, mit sozial
auf Menschen geprägten Tieren zu arbeiten (s. u.). Über zwei Monate dauert
es vom Schlüpfen bis zum Flüggewerden, eine Zeit, die ganz den Gänsen
gehört. Keine Minute wollen sie alleine bleiben; kaum ist man außer Sicht,
ertönt das »Pfeifen des Verlassenseins«, ein durchdringender Weinlaut, wie
bei Menschenbabys ein Signal für die Eltern, herbeizueilen. Wird das Signal
ignoriert, so kann dieses Trauma zu späteren Verhaltensstörungen führen, bei
Gänsen, wie bei Menschen.
Der radikale Tempowechsel ist Teil des Erlebnisses. Der Schlupf meiner
Gössel entriss mich urplötzlich den erfüllten, o� hektischen Tagen der
wissenscha�lichen Arbeit und des Bürokrams, auferlegte mir tägliche 14
Stunden langsamsten Spazierengehens. Eine Entwöhnungskur für den reiz-
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
111
flutverwöhnten Menschen. Etwa zwei Kilometer sind in den ersten Wochen
unsere Tagesleistung. Gänschen sind keine Hunde, sie lassen sich nicht kommandieren. Wenn sie rasten wollen, dann hat man das als Elter zu respektieren. Höchstens mit Warnrufen und raschem Weglaufen kann man sie dann
noch zum Nachfolgen bewegen, aber auch das nicht allzu o�. Auch innerhalb
von Gänsefamilien geht es bezüglich Au�ruch und Marschrichtung recht
»demokratisch« zu. Eltern folgen zunächst o� ihren jungen Gösseln. Je älter
diese allerdings werden, umso häufiger folgen sie ihren Eltern. Die Frage, was
manche Gänse zu Führern, andere zu Nachfolgern macht, beschä�igt uns
noch immer. Denn »Leadership« als Ausdruck von Kompetenz (Lamprecht
1991, 1992) und Persönlichkeit ist ein wichtiger Faktor zur Strukturierung von
Gruppen, nicht nur bei Gänsen.
Der ständige Regen macht meine Absicht zunichte, diese Zeit zum Lesen und
Schreiben zu nutzen. Nichts als die eigenen Gedanken und o� nicht einmal
die. Nur innere Ruhe, Leere. Feucht-klamme Kälte auf der Haut harmonisiert
mit graublauer Seele. Die Zeit verliert an Bedeutung. Es berührt nicht mehr,
dass man nichts »tun kann«, es ist gut so. Mangel an Ablenkung ermöglicht
genaues Hinschaun. So sehe ich Tag für Tag meine Kleinen fressen, baden,
schlafen, wachsen, usw. Zwar tragen sie Farbringe, aber zur persönlichen
Identifizierung sind diese längst nicht mehr nötig. O� weiß ich schon vorher,
wie jede einzelne meiner drei »Adoptivtöchter« in verschiedenen Situationen
reagieren wird. Und genaueste Gänsekenntnis zu erwerben, war schließlich
der Hauptzweck dieser seltsamen Übung.
Vier waren es zu Beginn und die ersten Tage verliefen nach Plan. Vom ersten
Anpicken der Eischale bis zum Schlupf vergingen eine Nacht und ein Tag.
Bereits die schlüpfenden Gössel wurden intensiv betreut. So mag es ziemlich
verrückt anmuten, wenn jemand mit Eiern spricht, aber bereits zwei Tage vor
dem Schlupf atmet das Gössel Lu� aus der Blase am stumpfen Pol des Eies.
Sie reagieren sie mit einem leisen wiwiwi auf meine Stimmfühlungslaute, sind
schon in der Lage, sich mitzuteilen (Fischer 1965). Innerhalb weniger Stunden
pickten alle vier die stumpfe Kappe des Eies kreisförmig an. Geschlüp�
wurde synchronisiert innerhalb von 15 Minuten am 27. April 1991, um etwa
22 Uhr. Die Gössel sprengten die angepickte Eischale ab, fielen mit feuchten
Daunen mi�en ins Leben.
Da liegen sie nun, die trockenen Daunen noch in den Hornscheiden, eng
am Körper anliegend. Es sollte bis zum Morgen dauern, bis sie auf eigenen
Füßen standen. Aber sofort nach dem Schlupf streckten alle ihre Hälse mit
krä�igem wiwiwi in meine Richtung vor, konnten noch nicht stehen, wohl
aber im Sprint in meine Richtung laufen. Der darauffolgende Tag verging mit
Hudern unterm Wollpullover und nur wenigen Ausflügen zu Fuß; noch ernährte sie ihr Do�ervorrat. Aus den feuchten, hilflosen Schlüpflingen wurden
rasch flauschig-gelbe Daunenbällchen. Zwar noch wackelig auf den Beinen,
können sie schon erstaunlich schnell laufen. Am nächsten Tag begann das
Weiden. Vorerst wurde an allem gezup�, besonders intensiv an Pflanzen,
an die der »elterliche« Finger (an Schnabels sta�) tippte. Eine halbe Stunde
weiden, eine halbe Stunde hudern, das war der anfängliche Rhythmus. Darin
112
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
liegt die eigentliche Kunst jeder Gänsemu�er. Die Gössel müssen viel weiden,
um wachsen zu können. Als Pflanzenfresser lässt ihnen ihre Energiebilanz,
die vor allem durch den recht geringen Energiegehalt der Nahrung und
die beschränkte Kapazität ihres Verdauungstraktes bestimmt wird, wenig
Spielraum. Sie dürfen auch keinesfalls unterkühlen. Je kälter und nässer,
desto enger ist diese Schere zwischen Fress- und Aufwärmzeit.
Langsam nimmt die Bereitscha� der Gänsemü�er zum Hudern ab. Die nun
drei- bis vierwöchigen Gössel wärmen dann einander, indem sie Gösselhaufen
bilden. Dass Nachkommen Leistungen ihrer Eltern länger beanspruchen wollen, als diese bereit sind, ihnen zu gewähren, tri� auch auf das Hudern zu.
So trillerten noch meine 6wöchigen, schon fast flüggen Gössel, wenn sie sich
sa�geweidet ha�en. Da ich schließlich keine Gans bin, die auf ihren »Leben
sfortpflanzungserfolg« zu achten hat, ließ ich sie auch noch als »Halbstarke«
unter meinen Regenmantel kriechen, auch wenn die Kothäufchen, die sie
in dessen Falten hinterließen, immer größer wurden. Was pflegte Konrad
Lorenz in diesem Fall zu bemerken? »Wer mit Gänsen arbeitet, dem muss es
Spaß machen, sich im Gänsekot zu suhlen« (seine tatsächliche Wortwahl soll
de�iger gewesen sein).
Wie bereits von Sybille Kalas gesehen (1977), gab es besonders zwischen Tag
4 und 6 nach dem Schlupfen ein paar mal handfesten Streit. Die Kleinen versuchten einander in Erwachsenenmanier zu verprügeln. Gegenseitig in den
Halsansatz verbissen werden Schläge mit dem Flügelbug ausgeteilt, wobei
die Flügel noch viel zu kurz sind, um den Kontrahenden auch nur zu erreichen. Die Verhaltensweisen sind also bereits angelegt, obwohl der zugehörige
Körperbau noch nicht erreicht ist. Jedenfalls kommt es früh zur Ausbildung
einer Rangordnung, deren Funktion innerhalb einer Geschwistergruppe allerdings noch reichlich unklar ist. Ähnliches passiert auch in jeder Familie
mit echten Gänseeltern. Die klassisch-ethologische Interpretation einer
Rangordnung, diese diene der Vermeidung von Aggression, darf bezweifelt
werden. Denn generell profitieren die an der Spitze, Palastrevolutionen sind
daher an der Tagesordnung. Dominanzhierarchien verursachen daher geradezu Aggressionen, denn dominante Tiere genießen Vorteile. Bei den Gösseln
geht es vielleicht um gute Huderplätze im mü�erlichen Gefieder. Oder sie
üben für »den Ernstfall«, also für ihr späteres Erwachsenendasein in der
Schar. Da die Aggressionsbereitscha� eine wichtige Grundlage für Dominanz
und Fortpflanzungserfolg des Paares darstellt (Lamprecht 1986a, b) könnte
die frühkindliche Streitlust der Gänse hormonale Rückkopplungen auf die
Entwicklung des Nervensystems bewirken, um damit die Bereitscha� für jenes rabiate Verhalten zu bahnen, das man besonders als erwachsener Ganter
in einer Schar benötigt. Tatsächlich sind junge Männchen gewöhnlich aggressiver als ihre Schwestern und dominieren sie.
Werden aus handaufgezogenen Tieren »normale« Gänse?
Meine handaufgezogenen Gänse waren zumindestens während ihres ersten
Winters noch auf mich bezogen. Unsere Begrüßungszeremonien nach dem
Flüggewerden bis in den ersten Winter waren zunächst gänsisch laut. Wir
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
113
kannten einander an der Stimme und bis 1992 antworteten sie auf meinen
Kontaktschrei (welcher bei nicht Vorgewarnten den Angstschweiß ausbrechen lässt). Auf Zuruf kippten sie aus vollem Flug aus dem Himmel und
landeten vor meinen Füßen. Eine wechselseitige soziale Bindung war entstanden. Das wäre natürlich eine unzureichende Basis für wissenscha�liche
Arbeit, aber diese muss auch nicht leiden, wenn positive Emotionen im Spiel
sind, im Gegenteil. Ein positives soziales Umfeld ist Voraussetzung für gute
kognitive Leistungen (Ciompi 1993).
Etwa ein Dri�el unserer freifliegenden Schar ist handaufgezogen. Sie
bleiben zeitlebens zahm und menschenfreundlich, verpaaren sich aber
ganz normal mit anderen Gänsen und ziehen sehr »gänsisch« ihre Kinder
groß. Das bedeutet nicht, dass es gar keine Unterschiede zwischen gansund menschenaufgezogenen Gössel gäbe. Eine Vergleichsuntersuchung
zeigte, dass Handaufgezogene vor dem Flüggewerden mehr »grüßen«, als
Gansaufgezogene, wohl weil ein Mensch eben doch keine Gans ist, die sozialen Erwartungen der Gössel nicht ganz befriedigen kann und daher einen höheren Bedarf an Rückversicherung zeigen, welche das Grüßen (nicht nur bei
Gänsen) darstellt. Andererseits sichern Handaufgezogene weniger, wohl weil
sich auch die Handaufzieher weniger vor dem Fuchs fürchten, als Gänseeltern.
Noch bis ins zweite Lebensjahr bewirkt die Anwesenheit vertrauter Menschen
bei Handaufgezogenen hohe Fressraten, Erfolg in Auseinandersetzungen mit
anderen Gänsen und gedämp�e Stresshormonausschü�ungen (Frigerio und
Weiss in Vorber.). Im ihrem Verhalten unterscheiden sie sich als Erwachsene
aber nicht mehr von ihren gansaufgezogenen Schargenossen.
Auch meine Gänse nabelten sich sozial von mir ähnlich wie von normalen
Gänseeltern ab. Im gleichen Maß, wie sich Schwarzkopfrosa, ein sta�licher,
fast 3jähriger Ganter für das Dreiganserlhaus interessierte (und umgekehrt),
wurden ihre Antworten auf Kontaktversuche meinerseits schwächer, bis sie
mich schließlich nicht mehr grüßten. Am 25 Februar 1992 beobachtete ich
erstmals einen Kopulationsversuch des Ganters mit DAT. Im Sommer 1992
schlossen sich zwei meiner Zöglinge mit dem Ganter Marx zu einem lockeren Trio zusammen. Gelegentlich nahmen sie zwar noch Fu�er aus meiner
Hand, vergrößerten aber aktiv den Abstand, wenn ich ihnen näher als 2 m
kam. Nicht, weil sie vor mir Angst gehabt hä�en, es schien sich eher um ein
soziales Meiden zu handeln, wie auch die abgenabelten Kinder ihren Eltern
in der Schar nicht mehr zu nahe kommen. War eben noch der Elternkumpan
gefragt, so veränderte wohl die jahreszeitliche Dynamik der Hormonspiegel
(Hirschenhauser u. a. 1999a) ihre soziale Präferenz in Richtung zukün�iger
Partner. In keinem unserer umfangreichen Datensätze zum Sozialverhalten
waren die Handaufgezogenen in der Schar in irgend einer Weise auffällig. Menschen werden mit zunehmender Reifung vom Sozialkumpan zum
Fu�erspender. Standardisiert handaufgezogene Gänse können also problemlos in die Schar eingegliedert werden.
114
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Wozu Handaufzucht?
Die Schar zahm und damit für wissenscha�liche Arbeit zugänglich zu halten, ist sicherlich ein wichtiger Grund für gelegentliche Handaufzucht. Dies
erlaubt aber auch Beobachtungen aus nächster Nähe. Mit zahmen (also sozial
auf Menschen geprägten) Wildtieren zu arbeiten war zeitlebens der wichtigste Ansatz von Konrad Lorenz. Und ungeachtet aller möglicher Einwände
verdanken wir dieser Methode die meisten Grundkonzepte der klassischen
Ethologie, beispielsweise die Arbeit zur »Eirollbewegung« (Lorenz und
Tinbergen 1939). Handaufzucht ist der beste Weg, Tiere genau kennenzulernen, denn es kann gefährlich irreführend sein, Hypothesen an Tieren zu
testen, deren Biologie man nicht gut kennt.
An meinen handaufgezogenen Gösseln führte ich zunächst eine Pilotuntersuchung zum Zusammenhang zwischen Steroidhormonen und Sozialverhalten
durch. Es ging vor allem darum, Methoden zu testen, um herauszufinden, ob
das Nachfolgeverhalten und die Interaktionen zwischen den Geschwistern
bereits vor dem Flügge-werden unter dem Einfluss von Steroidhormonen
stehen. Von den beiden Handaufzuchten 1991 und 1992 wurden systematisch Daten zum Sozialverhalten, sowie Kotproben genommen. Damit
begann eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit Erich Möstl und Rupert
Palme, zwei Kollegen vom Institut für Biochemie der wiener Universität für
Veterinärmedizin. Da regelmäßige Blutproben zur Hormonbestimmung bei
unseren freilebenden Gänsen weder praktikabel, noch zielführend wären,
setzten wir auf eine nicht-invasive Methode. Tatsächlich gelang es den beiden
Kollegen seitdem, Enzymimmunoassays (EIA) auf Basis von gruppenspezifischen Antikörpern zu entwickeln, die es gesta�en, die Abbauprodukte einer
Pale�e von Geschlechts- und Stresshormonen sicher und äußerst genau aus
dem Kot zu bestimmen. Diese Methode ist keineswegs nur ein »Notnagel« im
Vergleich zur Hormonbestimmung aus Blut. Aus Kot messen wir einen integrierten Hormonwert über die Dauer der Darmpassagezeit, bei Gänsen nur
2–4 Stunden. Jede Veränderung der Hormonwerte in diesem Zeitraum, etwa
verursacht durch Reize aus der Umwelt, schlagen sich im Kot nieder. Da in
der Regel alle 20 Minuten Kot abgegeben wird, ist eine häufige Probennahme
gewährleistet. Unmöglich, von unseren Gänsen in so kurzen Abständen
Blutproben zu nehmen. Auch würden durch Fangen und Bluten verursachte
Aufregung genau jene Hormone verändert, die wir eigentlich messen wollen.
So ist dieser nicht-invasive Ansatz über die Jahre zu einem wichtigen methodischen Standbein geworden, dem wir viele neue Einsichten in das Sozialleben
von Gänsen und anderen Tieren verdanken. Tatsächlich ist es auch möglich,
Hormone aus Urin oder Speichel genau zu bestimmen. Dies erlaubte u.a.
unsere Forschungen auch auf Menschen auszudehnen. So untersuchten
K. Hirschenhauser und andere (2002) die hormonalen Zyklen von Männern
und V. Bromundt nahm die Handaufzieherinnen auf Korn, um die hormonalen Komponenten der Entstehung von sozialen Bindungen zu untersuchen.
Aber das alles lag in jenem kalten Frühjahr 1991, als ich selber Graugänse
aufzog, noch in weiter Ferne. Graugänse stehen in kleinen Gruppen an
den Teichrändern, die Füße in dem im Vergleich zum Schnee noch relativ
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
115
warmen Wasser, den Kopf unter den Flügeln. Möglichst wenig Wärme
verliere, lautet die Devise. Das Frühjahr 1991 sollte sich als das zweitkälteste des Jahrhunderts erweisen, die meisten Gössel der Schar kamen vor
dem Flüggewerden um. Im Gegensatz dazu waren Frühjahr und Sommer
1992 zur Freude der Gänsebetreuerinnen unter den bislang wärmsten des
Jahrhunderts. Nur wenige Gössel starben.
Forschung in Kleingruppen
Gunda, Nadja, Niki, Marianne, Nora, Kathi und Geri waren die ersten einer
langen Reihe von Studenten, die seit dem Neubeginn 1990 im Rahmen von
dreiwöchigen Praktika in Grünau arbeiten; anschließend untersuchten Gisi
und Hans das Familienleben der Gänse und Gudrun, Renate und Robert
beobachteten ihre Reaktion auf die winterlichen Angriffe von Stein- und
Seeadlern. Mi�e der 1990er Jahre wurden zunehmend Fragestellungen an
Kolkraben bearbeitet, ab 1997 kamen die Waldrappe dazu. Insgesamt waren
es mehr als 200 Studenten in einem guten Jahrzehnt, davon etwa ein Dri�el
aus dem meist europäischen Ausland. Ziel dieser Praktika ist es nicht, nobelpreisverdächtige Daten zu erheben, sondern methodisch sauber und relativ
eigenständig eine ethologische Untersuchung vorzubereiten, durchzuführen
und die ausgewerteten Daten in einem schri�lichen Bericht darzustellen.
Als es klar war, dass auch nach dem Tod von Konrad Lorenz die Forschungsarbeit in Grünau weitergeführt werden sollte, stellte sich die Frage, wie jene
wissenscha�liche Produktivität und Qualität zu erreichen wäre, die man von
uns mit Recht erwartete. Und das mit nur zwei permanent Beschä�igten, denen alles obliegt, von der Forschungsplanung über die Hausbesorgerarbeiten,
die nötige Verwaltungsbürokratie, Öffentlichkeitsarbeit, Lehrveranstaltungen
und natürlich das Lukrieren von Forschungsmi�el. Da bleibt wenig Zeit für
Beobachtungen, Versuche, Datennahme und -auswertung, für das Schreiben
von Publikationen, der Pflege internationaler Kontakte und Kongressbesuche.
Und dazu noch die Ausbildung der Studenten! An den Universitäten können
sie für überlastete Hochschullehrer zum Alptraum werden, im Verein mit
der dort herrschenden Bürokratur »Sargnägel« für die eigene Forschung.
Für den Betrieb in Grünau sind die betreuten Praktikums- Diplom- und
Doktoratsstudenten unverzichtbar, sind wertvolle Mitarbeiter ohne die
Forschung kaum möglich, unsere Produktivität nicht haltbar wäre. Das gilt
selbst für die Praktika, die o� wichtige Pilotprojekte darstellen und wertvolle
Datenpunkte liefern.
Vorwiegend aus dem Kreis dieser Praktikumsstudenten rekrutieren sich unsere Diplomanden und Dissertanten. Seit 1993 sind im Jahresschni� etwa 10
dieser Studenten mit der Konrad Lorenz Forschungsstelle assoziiert, davon
sind etwa 6–8 anwesend, meist 2–3 Dissertanten, der Rest Diplomanden.
Besonders stolz sind wir darauf, dass es sich dabei um ausgezeichnete
Studenten nicht nur österreichischer Universitäten. Etwa zwei Dri�el dieser
Studenten rekrutieren sich aus dem europäischen Ausland. Auch das sorgt
für eine gute Arbeitsatmosphäre im Hause und manchmal auch für babylonische Sprachverhältnisse. Fliegende Wechsel in der Umgangssprache zwi-
116
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
schen deutsch, englisch und italienisch kommen vor. Schon die Bedingungen
der Arbeit im Almtal sorgen dafür, dass nur wirklich Motivierte bei uns landen. Aus den warmen Hörsälen der Universitäten in die spartanische Klausur
ländlicher Abgeschiedenheit. Rasch wird klar, warum wir das romantische
innere Almtal zuweilen auch »Ostsibirien« nennen. Und tatsächlich finden
sich unter unseren Studenten viele initiative und kreative Persönlichkeiten
mit Organisationstalent. Tatsächlich sind Hirn und Hand gefordert an unserer Feldstation, weit weg von städtischer Infrastruktur.
Maximal vier Praktikumsstudenten nehmen wir für jeweils drei bis vier
Wochen bei uns auf. Innerhalb der ersten Tage lernen sie zunächst im Zuge eines »Ethogramms« die grundlegenden Verhaltensweise der zu untersuchenden Tiere kennen und beginnen bereits die sozialen Beziehungen zu erahnen.
In kurzer Zeit ist man motiviert, mehr darüber zu erfahren, begrei� die
Notwendigkeit objektivierter Datennahme mi�els quantitativer Methoden
(Martin und Bateson 1993). Als nächster Schri� wird eine genaue Fragestellung
erarbeitet, die sich meist aus unserer laufenden Forschungsarbeit ergibt. Zum
Konzept muss das »Handwerk« abgestimmt werden, also die zugehörigem Versuchs- und Beobachtungsprotokolle erstellt und getestet werden.
Diese Vorbereitungsarbeiten dauern gewöhnlich eine Woche, gefolgt von
einer Woche Datennahme und einer weiteren Woche Datenauswertung und
Schreiben des Berichtes. Wochenenden fallen meist aus und in der letzten
Woche werden auch meist die Nächte zu kurz. Natürlich werden diese
Projekte entsprechend intensiv betreut; permanente Diskussionen stellen
sicher, dass die Studenten nicht zu unbeteiligten Wasserträgern unserer
wissenscha�lichen Arbeit geraten und dass der theoretische Hintergrund
der Arbeit völlig klar wird. Denn Empirie ohne klaren Theoriebezug wäre
Pseudowissenscha�. Letztlich soll also unser Praktikum begreif- und erfahrbar machen, wie Naturwissenscha� im Grunde funktioniert.
Die Aufenthaltsdauer an der Forschungsstelle ist kurz genug, um keinen
»Inselkoller« au�ommen zu lassen, denn schließlich wohnen fast alle
Mitarbeiter auch im Hause. Auch auf uns ständig dort Anwesenden wirkt sich
die gelegentliche Veränderung des sozialen Umfeldes, die Notwendigkeit,
sich immer wieder mit neuen Mitarbeitern auseinander setzen zu müssen,
positiv aus. Und eine dreiwöchige Kontaktzeit gewährleistet auch gutes gegenseitiges Kennenlernen, was besonders wichtig wird, wenn Studenten beabsichtigen, als Diplomanden oder Dissertanten einzusteigen. Dann müssen
nicht nur Herz und Hand stimmen, sondern auch die soziale Verträglichkeit
gewährleistet sein. Denn für das Funktionieren einer Arbeitsgruppe ist ein
gutes menschliches Klima sogar noch wichtiger, als noch so hervorragende
geistige Qualitäten. Gerade in den Wissenscha�en scheint man nur langsam
zu begreifen, dass Teamarbeit gefragt ist und das noch immer weit verbreitete Einzelkämpfertum beinahe einer Selbstverstümmelung gleichkommt.
Leider wird auch bei der Besetzung von Lehrstühlen auf Universitäten
immer noch vor allem auf die wissenscha�liche Qualifikation Wert gelegt,
Team- und Managementfähigkeiten spielen wenig Rolle. Was sich natürlich
an den Universitäten entsprechend verheerend auswirkt. Wie sagte doch Jelle
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
117
Atema, der Direktor des Boston University Marine Program in Woods Hole,
als ihm ein niederländischer Kollege einen Jungassistenten aus eigenem Stall
schmackha� machen wollte: »Don´t tell me how good he is, is he nice?«.
Es gibt an der Konrad Lorenz Forschungsstelle kaum Trennung von Beruf
und Privat. Man arbeitet, wohnt und lebt im Haus. Entsprechend konzentriert
kann das fachliche Klima werden, so das soziale Klima und die Mentalitäten
im Hause stimmen. Es sehnt sich tatsächlich niemand am Montag schon
wieder nach dem Freitag. Bürgerliche Wochenenden und 40-Stundenwochen
gibt es am Auinger, so der alte Hausname unseres Gebäudes kaum. Das
Leben orientiert sich am Rhythmus der Gänse, der anderen Tiere und an
den Notwendigkeiten einer zielorientierten Forschungsarbeit. Jeder weiß
hier, worauf er sich einlässt, und die Studenten haben selber großes Interesse
daran, ihre Praktikums- Diplom- und Dissertationsprojekte abzuschließen.
Dass diese eigenartige Mischung aus moderner organismischer Forschung,
internationalem Pfadfinderlager und Diskussionsklub erfolgreich ist, zeigt
ein Blick auf unsere Publikationsleistung. Für die etwa 200 000 € jährlichen
Gesamtaufwand sind Quantität und Qualität der Ergebnisse nicht nur im
Rahmen des Wiener Zoologischen Institutes, bzw. österreichweit, sondern
auch nach internationalen Maßstäben beachtlich (Exkurs 10).
Exkurs 9: Soziale Strukturen bei Graugänsen
Dominanz
Auf den ersten Blick erweckt eine Gänseschar den Eindruck eines Heringsschwarms: eine Ansammlung beliebig austauschbarer, identischer Individuen.
Aber bereits ein zweiter Blick zeigt, dass manche Individuen eng zusammenhalten, dass man zu zweit oder in größeren Gruppen gemeinsam umherzieht.
Solch räumliche Nähe lässt die Gliederung in soziale Untereinheiten sichtbar
werden. Durch das Band des Triumphgeschreis gebunden (Lorenz 1988), ist
man untereinander, im Paar, der Familie oder innerhalb des Clans friedlich,
grenzt sich aber betont aggressiv gegen den Rest der Schar ab.
Die Grundeinheit der Schar ist das heterosexuelle Paar, welches ganzjährig,
also auch außerhalb der Vermehrungszeit im Frühling zusammenbleibt, unabhängig davon, ob in Begleitung von Nachkommen oder nicht. Nur wenigen
Paaren pro Jahr gelingt es, Junge bis zum Flüggewerden aufzuziehen (s. unten). Wenn aber der Nachwuchs bis zum Flüggewerden, etwa 10 Wochen nach
dem Schlupf überlebt, dann bleiben diese Junggänse den gesamten Herbst und
Winter bis zum erneuten Beginn der Balz, im darauffolgenden Februar, mit den
Eltern zusammen. Diese Familien bilden neben den Geschwistergruppen der
1–2jährigen, die nicht mehr in Begleitung ihrer Eltern, aber noch unverpaart
zusammenhalten, die größten klar erkennbaren Untereinheiten der Schar. In
seltener Regelmäßigkeit treten neben Paaren auch Trios auf, welche meist
dadurch entstehen, dass sich entweder ein Weibchen einem Männchenpaar
anschließt, oder ein meist jüngeres Weibchen Anschluss an ein heterosexuelles
Paar sucht. Bei einem weibchenverschobenen Geschlechterverhältnis in der
118
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Schar bilden sich vermehrt diese Harems, wobei die soziale Bindung exklusiv
zwischen dem zentralen Paar bestehen bleibt, das zweite Weibchen ist »Drittes
Rad am Wagen«, mit dem der Ganter zwar kopuliert, sich aber nicht weiter
um sie kümmert. Diese Haremsbildung ist also, im Gegensatz zu den meisten
anderen Haremssystemen, nicht Ergebnis einer aktiven Rekrutierung zusätzlicher Weibchen durch ein Männchen. Im Falle einer männchenverschobenen
Geschlechterverteilung in der Schar treten dagegen vermehrt sogenannte
»homosexuelle« Männchenpaare auf. Dies hat allerdings weniger mit Sexualität
zu tun. Vielmehr scheint es bei diesen gleichgeschlechtlichen Männchenpaaren
darum zu gehen, eine ranghohe Warteposition auf eine heterosexuelle
Verpaarung einzunehmen. Dies bestätigt sich durch den gelegentlichen
spontanen Zerfall eines solchen Paares beim Auftauchen eines verfügbaren
Weibchens. Weibchenpaare sind bei Gänsen noch niemals beobachtet worden,
sie sind auch durch unterschiedliche Geschlechterverhältnisse in der Schar
nicht induzierbar.
Genaue Untersuchungen der räumlichen Nähe zwischen ruhenden Individuen
konnten erst durchgeführt werden, als zwei Personen zur Verfügung standen,
welche die etwa 130 Gänse in der Schar »am Gesicht« erkennen konnten.
So fanden Didone Frigerio und Brigitte Weiss heraus, dass Töchter auch
nach Jahre und selbst wenn sie selber schon verpaart sind, sich näher bei
ihren Müttern aufhalten, als dies aufgrund einer Zufallserwartung der Fall wäre
(Frigerio u. a. 2001a). Dies war für Söhne nicht der Fall. Wie bei vielen sozialen
Wirbeltieren leben also auch Graugänse offenbar in einer »weibchengebundenen Gesellschaft«. Es ergeben sich weibchenzentrierte Clanstrukturen also
dadurch, dass Töchter in der Nähe ihrer Mütter, Männchen aber in der Nähe
ihrer Partnerinnen bleiben.
Stellt sich die Frage, warum die ohnehin in der Schar lebenden Individuen
so erpicht auf engeren sozialen Anschluss sind. Das ist für die heterosexuellen Paare für die Fortpflanzungszeit einfach zu beantworten, denn für
Reproduktion braucht man einen heterosexuellen Partner. Aber warum werden
Paarbindungen ganzjährig aufrechterhalten, warum bleiben die Familien und
dann die Geschwistergruppen so lange zusammen, warum schließen sich
gar zwei Männchen bei Weibchenmangel zu einem Paare zusammen? Unter
den vielen Gründen (Lamprecht 1987) sind solche Zusammenschlüsse, die
Lorenzschen Triumphgeschreigemeinschaften (Fischer 1965), vor allem soziale
Allianzen. So erreichen Gänse eine wesentlich höhere Stellung in der ScharRangordnung, als sie es alleinstehend jemals erlangen könnten. Die »Singles«,
meist ältere Männchen, die ihre Partnerin verloren, sind tatsächlich die »underdogs« in der Schar. An den Rand gedrängt, fallen sie häufig einem Fressfeind
zum Opfer. Ist die Erregung in der Schar hoch, etwa vor einer Fütterung, bilden
sich oft Fronten zwischen Gänsegruppen, die einander mit vorgestreckten
Hälsen androhen. Dabei handelt es sich um Auseinandersetzungen zwischen
den oben erwähnten, weibchenzentrierten Clans. Mit dem strukturellen Muster
gaben wir uns nicht zufrieden. Wir fragten vielmehr nach der Funktion solcher Clanstrukturen. Welchen Vorteil bringt es für eine Tochter, in der Nähe
der Mutter zu bleiben. Es zeigte sich, dass »sozial unterstützte« Individuen,
also solche, die sich im Scharverband in der Nähe ihrer sozialen Alliierten
aufhalten, mehr Auseinandersetzungen gewinnen, länger fressen und gerin-
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
119
gere Stresshormonwerte zeigen als nicht-unterstützte (Frigerio und Weiss in
Vorber.). Gerade die Weibchen müssen übers Jahr sehr auf ihre Energiebilanz
achten, um ihre Fortpflanzungschancen zu wahren, die Qualität der »sozialen
Unterstützung« kann daher entscheidend sein.
Am höchsten in der Scharhierarchie stehen die Junge führenden Paare, gefolgt
von ebendiesen Jungen. Es folgen in Reihenfolge absteigender Ranghöhe die
homosexuell verpaarten Ganter, die heterosexuell verpaarten Ganter, verpaarten Gänse und Mitglieder von Geschwistergruppen. Ranghöhe ist nicht von
Körperkraft abhängig, sondern von Motivation und sozialer Unterstützung durch
die Sozialpartner (Lamprecht 1986a, Frigerio u. a. ). Ranghöhe bestimmt die
Verfügbarkeit von Partnern und anderen Ressourcen, wie etwa (geklumpter)
Nahrung, aber auch vorteilhafter Positionen innerhalb der Schar, ist also recht
unmittelbar relevant für die Fitness eines Individuums. Die Untergruppen einer
Graugansschar können daher teils als kooperative Einheiten unter Verwandten,
teils als »machiavellische Allianzen« zwischen nicht-Verwandten gesehen werden. Gänse leben in einer Schar, weil sie durch Freßfeinde dazu gezwungen
werden. Die erwähnten sozialen Allianzen sind erforderlich, die individuellen
Interessen im Konkurrenzfeld der Schar zu wahren.
Trotz großer individueller Variation findet man je nach Geschlecht und sozialer Stellung typische Verhaltensausprägungen, die durch unterschiedliche
Aggressionsbereitschaft, und Sicherverhalten gekennzeichnet sind. So sind
Familienganter die aggressivsten Individuen in der Schar. Sie stehen ständig
»unter Strom«, sichern viel und fressen relativ wenig. Sie bestimmen maßgeblich die Rangstellung einer Familie (Lamprecht 1986 a,b). Je jünger und zahlreicher die Gössel, desto stimulierter sind die Ganter. Die Familienweibchen sind
wesentlich weniger aggressiv und außenorientiert, sie sichern und fressen viel.
Der Nachwuchs ist natürlich verfressen, müssen die vegetarischen Gössel von
einem Schlupfgewicht von etwa 120 g ausgehend, innerhalb von 10 Wochen
ihr Fluggewicht von etwa 2 500 g erreichen. Und immerhin sichern und drohen
vier dreiwöchige Junge zusammen etwa so viel wie der Ganter. Gantern in
Ganterpaaren sind noch aggressiver und »aufgedrehter« als heterosexuell
gebundener Männchen. Graugänse leben im Rhythmus der Jahreszeiten. Im
Frühling sind die Testosteronspiegel der Ganter am höchsten (Hirschenhauser
u. a. 1999a), folgerichtig sind sie am aggressivsten. In der Winterschar, bei
minimalen männlichen Geschlechtshormonwerten sind Ganter dagegen am
friedlichsten. Wetterverhältnisse modulieren das Verhalten recht direkt: Je tiefer
Temperatur und Luftdruck, desto friedlicher.
Lebensgeschichten
Von Anbeginn herrschen ungleiche Startbedingungen für individuelle soziale Karrieren: Schon die Eier eines Geleges sind unterschiedlich groß. Da
Überleben in den ersten Tagen mit dem Schlupfgewicht zusammenhängt, haben
aus den größeren Eiern schlüpfende Gössel einen Startvorteil – ein klarer Fall
von »mütterlicher Manipulation«. Da Mütter nur über eine begrenzte Kapazität
verfügen, Energie in Nachkommen zu übertragen, streuen sie ihre Gunst ungleichmäßig. Anstatt viele kleine (mit geringer Überlebenschance) oder wenige
große (mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit) Eier zu produzieren, legen sie
eine mittlere Anzahl ungleichmäßig großer Eier. In guten Jahren kommen alle
120
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Nachkommen daraus durch, in schlechten Jahren vielleicht immerhin noch die
Tiere aus den großen Eiern. Aber das ist noch lange nicht alles. Mütter manipulieren auch massiv und am Genom vorbei die Persönlichkeit ihrer Nachkommen.
So variieren Mütter auch die Menge an Hormonen in den Dottern ihrer Eier. Und
aus einem Ei mit viel Androgen (z. B. Testosteron) schlüpfen aggressiv-forsche
Gössel, aus den Eiern mit wenig Androgenen dagegen zurückhaltend-scheue
Individuen.
Bereits nach wenigen Tagen brechen kurze aber heftige Kämpfe zwischen
den Gösseln aus, eine Rangordnung wird etabliert. Die jungen Männchen sind
bereits erheblich aggressiver und in der Regel dominant über ihre weiblichen
Geschwister. Die erfochtene Rangordnung zwischen den Geschwistern kann,
muß aber nicht stabil bleiben. Wenn etwa ein Gössel erkrankt, rutscht es automatisch ans Ende der Hierarchie. Nach etwa zwei Monaten sind die Gössel
flügge und verbleiben noch bis ins darauffolgende Frühjahr im Familienverband.
Wenn die Eltern wieder in Balzstimmung kommen und wohl auch beim
Nachwuchs erstmals »Frühlingsgefühle« erwachen, trennt sich die Familie.
Die Jungen beginnen, erste Beziehungen zu künftigen Partnern zu knüpfen,
was sich darin äußert, dass man mit »Winkelhals« Interesse bekundend nebeneinander her läuft, bzw. sich wie beiläufig stets in der Nähe aufhält. Diese
»Verlobungen« zerfallen im Frühsommer wieder, bilden aber oft den Grundstein
für langanhaltende Partnerschaften. Die einjährigen Geschwister schließen sich
wieder zusammen und verbringen manchmal sogar ein zweites Jahr mit ihren
Eltern, wenn diesen keine neuerliche Aufzucht gelang. Im zweiten Frühjahr
des Lebens wird es schließlich ernst. Es kommt zur Paarbildung, oft zwischen
einem dreijähriger Ganter und einer zweijährigen Gans. Meist handelt es sich
dabei um die vorjährigen »Verlobungspartner«. Eine erfolgreiche Brut und
Jungenaufzucht kann aber noch auf sich warten lassen und gelingt in der Regel
erst älteren, erfahrenen Weibchen, bzw. Paaren.
Im langzeitmonogamen »Typus-Fall« bleiben die Paarpartner über ein Jahrzehnt
zusammen. Unsere ältesten stabilen Paare waren 17, bzw. 19 Jahre verpaart.
Nach Auswertung der Daten von 112 Weibchen, die 171 Paarungen, bzw. 566
Verpaarungsjahren entsprechen, beträgt die durchschnittliche Verpaarungsdauer
etwas über 3 Jahre. Die Bindungsdauer vor einer »Scheidung«, also einer
Trennung ohne dass ein Partner stirbt oder verschwindet (immerhin bei 20 %
aller Paare der Fall), beträgt nur etwa 2,9 Jahre, während Paarungen, die durch
Unfall oder Tod des Partners beendet werden (etwa 80 % der Partnerschaften),
im Schnitt 3,4 Jahre bestehen. Weil Gänse relativ häufig am Nest Fuchs oder
Adler zum Opfer fallen, beträgt die durchschnittliche Lebensdauer der Weibchen
7, jenes der Männchen dagegen 8 Jahre. Über 10jährige Ganter haben nach
Verlust ihrer Partnerin in der Regel wenig Chance, sich wieder zu verpaaren. Oft
existieren sie als Einzelgänger noch einige Jahre am Rand der Schar, bis sie,
psychosomatisch geschwächt, Parasiten oder Freßfeinden zum Opfer fallen.
Andere wiederum gehen »Männerfreundschaften« ein und können dermaßen
sozial stabilisiert, ein hohes Alter erreichen, wie etwa beim im Herbst 1993 mit
27 Jahren verschwundenen »Herrn Viel« der Fall. Beziehungsprobleme treffen
vor allem Männchen, die es jahrelang trotz vieler Versuche es nicht schaffen,
eine Partnerin stabil an sich zu binden. »Beziehungslose« Weibchen treten
dagegen relativ selten auf, kommen aber ebenfalls vor; sie zeichnen sich durch
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
121
immer häufigere Umverpaarungen aus. In beiden Fällen liegen die Ursachen
dieser recht fitnessdämpfenden »sozialen Inkompetenz« wahrscheinlich in sozialen Störungen während der Jugendentwicklung.
Nur etwa 14 % der Weibchen wurden älter als 10 Jahre, darunter die erfolgreichsten. Gerade im Alter, oft nach mehr als einem Jahrzehnt stabiler
Partnerschaft, werden Trennungen wieder häufiger, wobei meist die Weibchen
ihren alten Partner zugunsten eines jüngeren aufgeben, wie die Paargeschichte
von Blasius und Sinda illustriert (Exkurs 8).
Der Jahresgang des Scharlebens
Eine Gänseschar hält keineswegs das ganze Jahr über gleichmäßig eng
zusammen. Das Jahr ist voller sich regelmäßig wiederholender Ereignisse,
welche die Notwendigkeiten des Soziallebens widerspiegeln (Abb. 4). Anfang
März steigt bereits die Aggressionsbereitschaft der Männchen, Rivalen kämpfen um die Gunst von Weibchen, die Familien zerfallen, Paare sondern sich
ab, sie suchen nach einem Nistplatz nicht zu nahe an den anderen, wo das
Weibchen, gut getarnt, durch Ausmulden im dürren Gras ein Nest anlegen kann.
Abbildung 4: Saisonale Wechsel im Leben von Graugänsen: Balz, Brut,
bzw. Jungenaufzucht erfolgen außerhalb des engen Scharverbandes. Nach
Beendigung der Großgefiedermauser, während der Gänse flugunfähig sind,
schließen sich Brüter und die Mehrheit der Nichtbrüter zur Sommerschar zusammen. Ein Wintereinbruch gibt das Signal für den Zug ins Winterquartier.
Kurz nach der Ankun� vom Frühjahrszug im Brutrevier zerfallen die
Familien vom Vorjahr und schließlich auch der Scharverband. Nach Rutschke
(1997), Hirschenhauser u.a. (1999a).
122
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Anschließend legt die Gans alle 2 Tage ein etwa 150–200 g schweres Ei in ihr
einfaches, gut getarntes Nest. Nach jeder Eiablage wird es wieder sorgsam
zugedeckt. Gebrütet wird erst, wenn das Gelege komplett ist. Während dieser
Zeit kopulieren die Paarpartner täglich einige male, sie halten eng zusammen,
meist weniger als einen halben Meter. Erst wenn das letzte ihrer 3–6 Eier gelegt
ist, beginnt die Gans mit der Brut. Eine 3 kg schwere Gans legt also innerhalb
von 12 Tagen etwa ein Kilogramm an Eiern, zu deren Bildung hauptsächlich ihre
Fettreserven herhalten müssen.
Während das Weibchen 28 Tage lang alleine brütet und dabei täglich nur 2 bis
3 mal je 10 Minuten Pause einlegt, hält sich das Männchen entweder unauffällig
in der weiteren Umgebung des Nestes auf, wohl, um den Neststandort nicht zu
verraten. Oder er gesellt sich zur Restschar, um etwa noch weitere Kopulationen
mit jüngeren und daher später brütenden Weibchen zu ergattern. Die kurzen,
seltenen Brutpausen verbringt das Paar gemeinsam. Nur diese wenigen
Minuten pro Tag stehen der während dieser Zeit stark abgemagerten Gans
zur Nahrungsaufnahme zur Verfügung. Es kommt sogar vor, dass ihre Gans
alle ihre Reserven zu früh aufbraucht und nur wenige Tage vor dem Schlüpfen
ihre Brut aufgeben muss. Die Gössel schlüpfen synchronisiert, meist innerhalb
von weniger als einer Stunde. Dazu verständigen sie sich bereits Tage vor dem
Schlüpfen durch drei verschiedene Laute, die auch zur Kommunikation mit der
Mutter dienen: Ein sozialer Kontaktlaut (ein melodische wi-wi-wi), ein Protestlaut,
der anzeigt, dass sich das Gössel im Ei nicht wohl fühlt (ein hohes, einsilbiges
Fiepen, das Konrad Lorenz auch das »Pfeifen des Verlassenseins« nannte),
und schließlich ein angenehmes Trillern, welches anzeigt, dass es dem Gössel
im Ei gut geht und es gleich einschlafen wird. Die brütende Mutter reagiert
recht spezifisch auf diese Laute und hält auch selber akustisch Kontakt mit den
Jungen in den Eiern. Wenn für Handaufzucht Gössel im Brutschrank schlüpfen,
ahmen die Aufzieher bereits vor dem Schlupf diese akustische Kommunikation
nach, was zum frühen gegenseitigen Kennenlernen wichtig ist. Zugegeben,
besonders intelligent sieht es natürlich nicht aus, wenn erwachsene Leute ihren
Kopf in einen Brutschrank stecken und mit Eiern sprechen.
Mit dem Schlüpfen der Jungen, März oder April, schließt sich der Ganter wieder eng dem Weibchen und seinen Gösseln an, die Junge führenden Paare
bilden lockeren Gruppen. Etwa zwei Wochen nach dem Schlupf setzt die
Großgefiedermauser ein, was die Gänse flugunfähig und recht scheu macht.
Die erfolgreichen Paare werden gleichzeitig mit ihrem Nachwuchs im Juli flügge.
Sollten bis etwa 10 Tage nach dem Schlüpfen die Jungen sterben, was nicht ungewöhnlich ist, können die zunächst erfolglosen Eltern ihre Großgefiedermauser
verzögern. Gelegentlich wird so spät noch ein Nachgelege produziert, die
zweiten Jungen schlüpfen daher mit einer Verzögerung von gut 40 Tagen und
die Eltern gehen etwa 14 Tage nach dem Schlupf des Zweitgeleges in die
Großgefiedermauser und synchronisieren so die eigene Flugunfähigkeit mit
jener der Jungen. Gesteuert wird dieses exakte Timing über ein Wechselspiel
von Steroid- und Schilddrüsenhormonen. Die Federn können nur abgestoßen werden, wenn die Geschlechtssteroide, Testosteron und Östrogen, am
Minimum liegen. Alle Umweltreize, die diese Geschlechtshormone hoch halten,
so auch eine zweite sexuell-reproduktive Phase, verhindern die Mauser. Die
Gössel eines Zweitgeleges haben übrigens so spät im Jahr noch schlechtere
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
123
Chancen, als die ersten. Obwohl scheinbar bei warmen Wetter im üppigen
Grün stehend, sterben sie buchstäblich wie die Fliegen. Gründe dafür sind der
geringere Proteingehalt der bereits voll ausgebildeten Vegetation und offenbar
ein erhöhtes Infektionsrisiko mit diversen Parasiten.
Mit der erneuten Flugtüchtigkeit findet sich die Schar mit anfänglichen Reiberein
wieder zusammen. Die neuen Familien pochen auf ihren hohen Rang, jeder muss
wieder einigermaßen seinen Platz in der Gesellschaft finden. Die Sommerschar
unternimmt oft in Untergruppen gespalten, tägliche Weidezüge, um abends
wieder gemeinsam auf einer sicheren Wasserfläche zum Übernachten einzufallen. Im Spätherbst steigen die Gruppengrößen und die Stabilität der Schar. Im
November sammeln sich Scharen zu riesigen Gruppen vor ihrem gemeinsamen
Abflug ins Winterquartier. So etwa versammeln sich zehntausende Graugänse
im burgenländisch-ungarischen Grenzgebiet, dem Hanzag, und weiden dort
auf den abgeernteten Feldern. (wo sie auch zu tausenden jährlich sinnlos
abgeknallt werden). Sie warten auf das Signal zum Aufbruch in Form eines
Wintereinbruchs. Nun sind die Gänse am schwersten, die Fett-Tanks sind gefüllt, genügend Energie für einen langen Flug. So liegt das Normalgewicht einer
Graugans übers Jahr bei etwa 22 kg. Im November kann dieselbe Gans weit
über 3 kg wiegen. Ein solcher Ballast verzögert zwar eine schnelle Flucht, wirkt
sich aber im Gleitruderflug, bei etwa 60 km »Ground speed« kaum mehr aus.
Nur wenn Eis und Schnee die nahrungsspendenden Flächen versiegeln, brechen die Gänse zum mehrere tausend Kilometer weiten Zug nach Nordafrika
auf, um oft nur wenige Wochen später zurückzukommen und nach dem
Zerfallen der Scharen erneut mit dem Brutgeschäft zu beginnen. Immer öfters
passiert es, dass kein Winteraufbruch die Gänse in Ostösterreich zum Abflug
zwingt. Sie verwenden dann einfach ihren eigentlich für den Zug vorgesehenen
Winterspeck, um das über den Winter magerer werdende Nahrungsangebot
auszugleichen und sind dann im Frühjahr bereits vor Ort, wie im Falle jener
Gänse, die am Neusiedlersee brüten, oder haben nur noch eine vergleichsweise
geringe Distanz in ihre Brutgebiete in Nordosteuropa zu überwinden. Sollten
im Gefolge der globalen Erwärmung die Winter in Ostösterreich milder, bzw.
schneeärmer werden (was keineswegs sicher ist), werden die mitteleuropäischen Wildgänse immer öfter auf ihren Zug verzichten. Die Grünauer Schar ist
nie fortgezogen. Die Gründerindividuen wurden handaufgezogen, es standen
also keine zugerfahrenen Eltern zur Verfügung. Und da die Zugrouten in Form
von Familientraditionen weitergegeben werden, wurde die Schar sesshaft. Bei
Eis und Schnee werden die Gänse von uns genügend gefüttert. Die Kälte ist
kein Problem, wer schon je in das Brustgefieder einer Gans gegriffen hat, kennt
die Qualität ihres körpereigenen Daunenschlafsacks. Bei großer Kälte werden
sogar die Beine eingezogen, der Schnabel unter den Flügel gesteckt und ausgeharrt. Aber auch unsere grünauer Gänse bauen ihren Winterspeck bis ins
Frühjahr wieder auf ein normales Maß ab, auch unsere Weibchen geraten im
Gefolge der Brut regelmäßig in ähnliche energetische Probleme, wie ihre völlig
wild lebenden Kolleginnen, unserer Fütterung zum Trotz. Die über Jahrmillionen
evolutionär entwickelten Regelmechanismen sind eben nicht durch unsere läppische menschliche Fürsorge außer Kraft zu setzen.
124
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Jede Menge Misserfolg: Wie schafft es eine Gans, erfolgreich Nachwuchs
aufzuziehen?
Sinda, die erfolgreichste Gans in der Grünauer Schar zog mit 2 Männchen in 17
Brutsaisonen insgesamt 30 flügge Junge groß. Das ist Allzeit-Scharrekord. Wie
bei sozialen Tieren die Regel, verteilt sich der Fortpflanzungserfolg sehr ungleichmäßig über die Schar. Wenige Individuen hinterlassen viele Nachkommen, viele
Brüterinnen dagegen wenige oder gar keine. Wie aus den abgeschlossenen
Lebensgeschichtedaten von 192 Weibchen der Grünauer Schar der vergangenen 20 Jahre hervorgeht, haben nur etwa ein Drittel je erfolgreiche Brutversuche
unternommen, also überhaupt Nester gebaut und Eier erbrütet. Nur 47 dieser
192 Gänse (25 %) schafften es, flügge Junge aufzuziehen, und nur 10 Weibchen
(5 %) schafften es, mehr als 10 flügge Junge aufzuziehen.
Junge, unerfahrene Weibchen, die selber meist noch kein Nest anlegen, »verlieren« ihre Eier auf der grünen Wiese. Häufiger allerdings versuchen sie, diese in
die Nester anderer Weibchen dazuzulegen. Sie werden damit zu innerartlichen
Brutparasiten (Petrie und Møller 1991). Weigmann und Lamprecht (1991) zeigten bei koloniebrütenden Streifengänsen, dass dieses Dazulegen nicht zufällig
geschieht, sondern dass die parasitierenden Weibchen ältere, erfolgreiche
Weibchen bevorzugen. Falls die Parasitinnen entdeckt werden, vertreiben die
Nestbesitzerinnen diese auch gewaltsam. Gelegegrößen, die solchermaßen
auf über 10 anwachsen, werden meist verlassen. Es ist gerechtfertigt von
»Parasitismus« zu sprechen, da die Schlupfraten der Eier der Nestbesitzerinnen
signifikant sinken, wenn dazugelegt wird. Die Schlupfraten der parasitischen
Eier sind noch geringer, aber größer als Null. Daher ist der Brutparasitismus
besonders für junge, unerfahrene Gänse eine Strategie, zumindest auf Kosten
anderer ein Minimum an eigenen Nachkommen zu erzielen. Sie machen eben
das beste aus einer schlechten Situation.
Drei unterschiedliche Mechanismen können dazu führen, dass die sozialen
Geschwister in einer Familie nicht, oder nur teilweise die Nachkommen des
Paares sind: Seitensprünge, Brutparasitismus, sowie das Durchmischen
von Gösselgruppen wenige Tage nach dem Schlüpfen. Da Eltern und Junge
einander kurz danach noch nicht individuell kennen, zieht gewöhnlich das
dominante Paar nach einer zu engen Annäherung und einer Durchmischung
der beiden Geschwistergruppen mit allen Gösseln davon. Dem unterlegenen
Paar könnte das eigentlich recht sein, da nun schließlich andere die Mühen der
Kinderaufzucht übernehmen. Dem ist aber nicht so. Sind mehr als 6 Schlüpflinge
in einer Geschwistergruppe, dann wird der Huderplatz im Gefieder einer Gans
knapp. Und schlecht gehuderte Gössel erwischen in den ersten paar Wochen
recht leicht eine Infektionskrankheit und sterben. Zudem scheint es wichtig für
den Paarbestand und den weiteren Fortpflanzungserfolg eines Paares zu sein,
den Winter in Begleitung von Nachwuchs zu verbringen.
Gänse brauchen meist einige Anlaufzeit, um wirklich reproduktiv erfolgreich
zu werden. Die älteren, 10 bis über 20jährigen Gänse produzieren im Schnitt
zwei flügge Junge pro Jahr, die jüngeren, 2 bis 9jährigen dagegen nur 0,5.
Tatsächlich ist die signifikant positive Beziehung zwischen Alter und Erfolg
nur bei den älteren Gänsen festzustellen. Dies bedeutet nicht, dass nicht auch
Jüngere gelegentlich erfolgreich sein können. In zwei Fällen seit 1990 zogen
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
125
sogar zweijährige Gänse, noch ohne Begleitung eines Ganters im Alleingang erfolgreich Junge auf, aber das sind Ausnahmen. Zumindest die grünauer Gänse
werden also erst wirklich erfolgreich, wenn es ihnen gelingt, älter als 10 Jahre zu
werden. Nur 25 von 192 Weibchen (13 %) schafften dies, obwohl kein menschlicher Jagddruck auf der Schar liegt. Haupttodesursache sind Raubfeinde, wie
Fuchs, Adler, aber auch Unfälle und Parasiten.
Da Parasiten eine wichtige Rolle bei Partnerwahl, bzw. allgemein, im Zusammenhang mit den Verhaltensmechanismen spielen, welche Evolution bewirken,
werden unsere Gänse, oft zum großen Unverständnis mancher Besucher, nicht
veterinärmedizinisch betreut. Das wäre ein wesentlich stärkerer Eingriff in die
Schar, als die tägliche Zufütterung. Denn Parasiten und Parasitenresistenz sind
in Partnerwahl und daher als Triebfedern für Evolution von größter Wichtigkeit.
Gute Partnerschaften wiederum scheinen sich fördernd auf das Immunsystem
und daher auf Parasitenresistenz auszuwirken. Wenn der Fortpflanzungserfolg
in einer Gruppe derart ungleichmäßig verteilt ist, und anscheinend sehr von der
sozialen Kompetenz und Erfahrung eines Individuums abhängt, liegt wohl die
große evolutionäre Bedeutung dieses Themas klar auf der Hand.
Exkurs 10: Projekte an der Konrad Lorenz Forschungsstelle
Wie für alle Forschungsinstitutionen der Fall, ist die aktuelle fachliche Ausrichtung der Konrad Lorenz Forschungsstelle ein Produkt ihrer Geschichte,
der internationalen Entwicklungen und der vorhandenen Möglichkeiten. Das
nach wie vor wichtigste »Forschungsmodell«, die freilebende Graugansschar,
hinterließ uns Konrad Lorenz. Nach seinem Tod begann nach der Neugründung
der Forschungsstelle im Jahre 1990 die Arbeit quasi bei Null. Eine anfängliche
Orientierungsphase fokussierte unsere Arbeit auf Schnittstellen zwischen der
mechanistischen Ebene (Verhaltensphysiologie) und evolutionären Funktionen
(Ökoethologie; s. Exkurs 1). Denn dafür eignen sich die halbzahmen, aber
freilebenden Tiere am besten. Damit stehen wir, ohne dass dies unser eigentliches Ziel gewesen wäre, direkt in der Lorenzschen Forschungstradition. So
ist der Einfluss von Steroidhormonen auf Verhalten und der modulierenden
Rückkopplung von Verhalten und äußeren Reizen auf diese Hormone ein
zentrales Thema. Steroidhormone (Geschlechtshormone: Androgene und
Östrogene, sowie Stresshormone: Glukocorticoide) sind Schlüssel der Verhaltensanpassung an Umweltbedingungen. Sie vermitteln die grundsätzlichen
Entscheidungen, in Reproduktion zu investieren und sie steuern, wofür die
zur Verfügung stehende Energie verwendet wird, Verhalten, Wachstum oder
Vermehrung. Graugänse sind daher Modelle zur Erforschung grundlegender
Fragestellungen. Dennoch sind natürlich diese Ergebnisse auch in Hinblick auf
»die Biologie der Graugans« relevant. Das gilt für alle unsere Tiermodelle.
Weitere Modellsysteme neben den Gänsen sind seit etwa 1993 die Kolkraben
und seit 1997 die Waldrappe. Bestrebungen, das Spektrum unserer Tätigkeit auf
Fische, Kleinsäuger- und Vogelgesellschaften auszuweiten, wurden wieder eingestellt. Mit begrenzten Mitarbeitern und Ressourcen auf zu vielen »Hochzeiten
126
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
zu tanzen« wäre nicht zielführend. Es bleibt eine hinreichende Breite, die auch
in den Natur- Arten- und Umweltschutzbereich ausstrahlt. In der Folge findet
sich eine knappe Zusammenfassung unserer Arbeit im vergangenen Dutzend
von Jahren. Die Zitate sollen als exemplarische Belege dienen. Eine aktuelle
und vollständige Darstellung der Forschung findet sich auf unserer Homepage:
http://www.univie.ac.at/zoology/nbs/gruenau
Graugänse (Anser anser)
Während einer anfänglichen Orientierungsphase von einigen Jahren beobachteten wir die Auswirkungen der Differenzierung der Geschlechter und sozialen
Kategorien von Gänsen, unverpaart, verpaart mit und ohne Nachwuchs, verwitwet, etc. auf deren Verhalten. Wir interessierten uns für Interaktionen der
Tiere mit ihren natürlichen Fressfeinden, insbesondere Stein- und Seeadler
(Kotrschal u. a. 1992). Und wir forschten experimentell am Zusammenhang
zwischen Nahrungsdichte, -qualität und -verteilung , Dominanz und Konkurrenz
(Kotrschal u. a. 1993). Die Scharentwicklung wurde von Hemetsberger (2001)
zusammengefasst.
Die soziale Organisation der Schar bleibt Forschungsthema. Allein die Fähigkeit, zweier Mitarbeiterinnen, die Gänse der Schar an ihrem Gesicht zu
unterscheiden, gestattete es, die räumliche Verteilung der Individuen in der
Schar zu erfassen (Frigerio u.a. 2001a). Dabei zeigte sich, dass sich Töchter
auch nach Jahren noch näher bei ihren Müttern aufhalten, als durch Zufall
zu erwarten. Die Männchen dagegen orientieren sich in an ihren Weibchen.
Warum diese weibchenzentrierte Klanstrukturierung? Weiterführende Untersuchungen zeigten, dass »soziale Unterstützung« offenbar ganz wichtig für
die Scharindividuen ist. So gewinnen Gänse in Nähe ihrer Verbündeten mehr
Auseinandersetzungen, scheiden dabei weniger Stresshormone aus und gewinnen Zeit zur Nahrungsaufnahme, selbst wenn diese Verbündeten einfach
anwesend sind, sich also nicht einmischen (in Vorbereitung).
Schon bald war klar, dass die freilebende, aber gut zugängliche Schar am besten
für experimentelle Fragestellungen am Schnittpunkt zwischen physiologischen
Mechanismen und evolutionären Funktionen geeignet ist. Angeregt durch den
Ordinarius für Ethologie an der Universität Wien, den Verhaltensendokrinologen
John Dittami, interessierten wir uns schon um 1993 für Steroidhormone als
Motivationsfaktoren für Verhalten. Anfängliche Versuche, mit Blutproben zu
arbeiten, stellten sich als wenig zielführend heraus. Obwohl es weder für die
Tiere sonderlich belastend, noch technisch schwierig ist, ein paar Tropfen Blut
aus der Bein- oder Flügelvene zu zapfen, waren doch unsere Gänse wenig
begeistert. Sie wurden scheuer, konnten daher für wiederholte Probennahme
kaum gefangen werden. Zudem beeinflusste solch eine invasive Prozedur die
zu messenden Parameter, etwa das Stresshormon Kortikosteron.
Eine seitdem anhaltende, intensive und fruchtbare Zusammenarbeit
mit dem Institut für Biochemie (Leitung Prof. Bamberg) an der Wiener
Veterinärmedizinischen Universität, insbesondere mit Erich Möstl und
Rupert Palme, schuf Abhilfe. Unsere Kollegen entwickelten hochempfindliche Enzymimmunoassays zur Bestimmung von Abbauprodukten der
Steroidhormone aus Kot oder Urin. Der geniale Trick bestand in der Anwendung
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
127
»gruppenspezifischer« Antikörper. Diese Moleküle binden nicht hochspezifisch,
sondern an stabilen Seitenketten, welche den meisten Abbauprodukte eines
bestimmten Steroidhormons gemeinsam ist. Dadurch wird die Bestimmung
wesentlich genauer, als würde man versuchen, die im Vergleich recht geringen ausgeschiedenen Mengen des Original-Hormons zu erfassen. Es geht
dabei weniger um die absoluten Mengen im Kot, sondern über ihre zeitliche
Veränderung im Zusammenhang mit Verhalten. Gänse sind dafür hervorragende Modelltiere, denn die Darmpassagezeit liegt im Mittel bei etwa 3 Stunden
und es wird alle 20 bis 30 Minuten Kot abgesetzt. Modulieren Ereignisse in
diesen Zeiträumen die entsprechenden Hormontiter im Blut, so wird dies im
Kot messbar. Geduldige Studenten sammeln also Kotproben und gewinnen
dadurch ein gutes, zeitlich hochauflösendes Fenster in den Hormonaushalt der
interessierenden Individuen, deren Verhalten man ja vorher beobachten oder
auch experimentell manipulieren kann.
Es zeigte sich zunächst, dass die Methode biologisch sinnvolle Ergebnisse
erbringt. Versuche mit Hausgänsen bei Professor Peter Peczely, an der Landwirtschaftsuniversität im ungarischen Gödöllö bestätigten schließlich, dass
Ereignisse im Plasma sich tatsächlich im Kot niederschlagen (Hirschenhauser
u. a. 2000, Kotrschal u.a. 2000). Die Methode zeigte, dass nicht einfach die
niederrangigen Ganter in der Schar zu den Gestressten zählen (Kotrschal u.a.
1998). Auf diese Weise konnten genau die Jahresgänge der Steroidhormone
bei Männchen und Weibchen ermittelt (Hirschenhauser u. a. 1999a) und
gezeigt werden, dass sich die Qualität einer Paarbindung im hormonellen
Gleichklang niederschlägt (Hirschenhauser u.a. 1999b ). Zudem untersuchten
wir die Entwicklung der Hormonprofile vom Schlüpfen bis zum Flüggewerden
(Frigerio u.a. 2001b) und die engen Beziehungen zwischen Stresshormonen
und Wetterlage (Dorn in Vorb.).
Im Moment interessieren uns ganz besonders die Zusammenhänge zwischen
Persönlichkeit und individuellem Stressmanagement (Daisley u. a. 2003).
Und es zeigte sich, dass Individuen, die generell stark auf Umweltreize
reagieren auch besonders geneigte Innovatoren sind (Pfeffer u. a. 2002).
Damit ergab sich eine starke Verbindung zu unserem zweiten Standbein, der
Kognitionsforschung. So zeigte sich, dass einfache Mechanismen des sozialen
Lernens zur Traditionsbildung bei Gänsen und wahrscheinlich bei Wirbeltieren
generell führen können (Fritz u. a. 2000, Fritz und Kotrschal 2000).
Kolkraben (Corvus corax)
Ein ständig im Tal, in Nähe des Wildparks anwesende Gruppe von Raben war
Anlass genug, mit ihnen zu arbeiten. Diese großen, schwarzen Vögel faszinierten Menschen immer schon. Ob Götterbote oder lästiger Konkurrent, unzählige
Anekdoten belegen, dass Raben kluge, aber auch vorsichtige Tiere sind.
Nachdem wir uns anfangs über die Grundmuster von Ökologie und Verhalten
Übersicht verschafft hatten (Drack und Kotrschal 1995), nahmen wir uns vor,
die Stärken, aber auch die Grenzen ihrer geistigen Leistungsfähigkeit zu untersuchen. Es interessierte relativ wenig, ob Raben bis 5 oder gar bis 9 zählen
können. Vielmehr geht es um die Frage, wozu Individuen ihre Fähigkeiten
nutzen, in welchem biologischen Zusammenhang sich die »Rabenintelligenz«
also entwickelte.
128
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
Wenig überraschend zeigte sich, dass Raben voneinander durch Imitation
lernen können (Fritz und Kotrschal 1999). Die freilebenden Raben koordinieren
sich, um Zugang zu Nahrung zu erlangen (Bugnyar und Kotrschal 2001) und sie
tauschen Informationen über Rufe aus (Bugnyar u.a. 2001). Selbst uns beeindruckte die Fähigkeit von Raben, etwa im Zusammenhang mit Futterverstecken,
einender Informationen vorzuenthalten, bzw. ihre Absichten voreinander zu
verschleiern (Bugnyar und Kotrschal 2002b). Diese Fähigkeit zu »taktischem
Betrug« wurde bislang nur für Schimpansen nachgewiesen und gilt als eine
der Hauptkomponenten für die Entwicklung der menschlichen Intelligenz. Wohl
im Zusammenhang der Notwendigkeit, im Zusammenleben mit gefährlichen
Tieren, wie Wölfen, Füchsen und Menschen zu überleben, sind Raben allerdings äußerst vorsichtig Neuem gegenüber. Diese »Neophobie« könnte Raben
daran hindern, ihre geistigen Fähigkeiten optimal zu nutzen. Andererseits zeigte
sich, dass es an den Aufzuchtbedingungen liegt, wie stark die Neophobie zur
Ausprägung kommt. Wir interessieren uns daher für die Möglichkeit, dass die
Manipulation der Neophobie der Nachkommen durch die Eltern die Bildung
konservativer sozialer Traditionen (etwa wo man brütet, etc.) stark beeinflussen könnte (Kotrschal u. a. 2001a). In diesem Zusammenhang wird auch der
Einfluss der Persönlichkeitsstruktur untersucht.
Waldrappe (Geronticus eremita)
Nachdem wir bei den Gänsen und Raben unsere Linie gefunden hatten, begannen wir über die Ansiedlung einer dritten Modellgruppe zu Vergleichszwecken
nachzudenken. Dohlen und sogar Sperlinge waren im Gespräch. Unsere Wahl
fiel auf einen beinahe ausgestorbenen, weder mit Gänsen, noch mit Raben besonders verwandten Vogel, einen koloniebrütenden Ibis, den Waldrapp. Gerade
noch 200 Tiere gibt es davon an der marokkanischen Atlantikküste und eine
Handvoll im türkischen Birecik. In den Zoos der Welt vermehren sich die Tiere
allerdings so gut, dass bereits »Geburtenkontrolle« betrieben werden musste.
Erste Versuche, die Vögel wieder in freifliegenden Kolonien zu halten, waren
aus unterschiedlichen Gründen gescheitert.
Wir begannen also 1997 mit maßgeblicher Unterstützung unseres Vermieters,
Ernst August, Prinz von Hannover und des Schönbrunner Tiergartens mit der
Ansiedlung einer freifliegenden Gruppe an der Forschungsstelle. Anfangs
war es ein Weg von Blut, Schweiß und Tränen. Wir lernten teuer durch
Versuch und Irrtum. Heute allerdings fliegt eine Gruppe von 20–30 (je nach
Zuwachs und Verlusten) Waldrappen durchs Almtal. 2001 und verstärkt das
Jahr darauf brüteten die Vögel erstmals als Kolonie im Freiflug. Das Füttern
wird im Sommerhalbjahr beinahe eingestellt, vier Fünftel der Nahrung finden
die Vögel auf den Wiesen um Grünau, wo sie genügend Regenwürmer,
Engerlinge, Schnecken, etc. erbeuten. Schritt für Schritt sollen sie immer mehr
Unabhängigkeit erlangen. Damit gibt es erstmals seit 350 Jahren wieder eine freifliegende Brutkolonie von Waldrappen in Mitteleuropa. Um den Tieren eine neue
Zugroute zu lehren, zog eine Gruppe von Studenten der Forschungsstelle um
Johannes Fritz und Angelika Reiter 2002 erstmals Waldrappe am Scharnsteiner
Flugfeld auf. Tatsächlich folgten die Vögel den Ultraleichtflugzeugen kreuz und
quer durchs Salzkammergut. 2003 soll die Alpenüberquerung folgen, zunächst
in die toskanische Maremma, die ein geeignetes Überwinterungsgebiet zu sein
Ein prägendes Erlebnis: Mit Gösseln leben
129
scheint. Damit könnte der Grundstein für eine tatsächliche Wiederansiedlung
des Waldrapps in Mitteleuropa gelegt sein. Weitere Informationen zu diesem
spannenden Flugprojekt sind unter www,waldrappteam.at zu finden.
Schrittweise beginnen wir an den Rappen zu forschen. Die Handaufzucht
wurde als experimenteller Ansatz genutzt, etwa um den frühen Einfluss von
Geschwistern auf die Entwicklung zu untersuchen (Tintner und Kotrschal 2002).
Von Praktikumsstudenten 2002 durchgeführte Pilotprojekte zeigten die Linien
der Forschung an den Waldrappen in den nächsten Jahren auf. So etwa fanden wir, dass sich Männchen bei der Nahrung teilweise darauf spezialisieren,
Weibchen als »Suchmaschinen« zu benutzen, um ihnen dann die gefundenen
Nahrung abzunehmen. Zudem zeigte sich, dass Paarpartner sehr um Brut und
Brutpflege recht symmetrisch kooperieren, Männchen und Weibchen also ganz
ähnlich investieren. Sogar das Testosteron, das männliche Geschlechtshormon
wird bei beiden Geschlechtern in gleichen Konzentrationen ausgeschieden
(in Vorbereitung). Dies könnte daran liegen, dass die Männchen ihre Spiegel
an Testosteron wegen ihrer Beteiligung an der Brutpflege niedrig halten. Für
Forschungsthemen in den nächsten Jahren ist also gesorgt.
Sozusagen »nebenbei« sammelten wir über diese letzten Jahre auch eine
ganze Menge Know-how zur Wiederansiedlung der Waldrappe, nicht nur in
Randbereichen ihres ehemaligen Lebensraumes, den Steinsteppen Nordafrikas
und Kleinasiens, sondern in ihrem ursprünglichen Zentralgebiet, Mittel- und
Südeuropa.
Eine kurze Chronologie des Waldrapps:
■ Um Christi Geburt: Waldrappe sind weit um das Mittelmeer verbreitet, mit
ersten, vom Menschen begünstigten Brutkolonien nördlich der Alpen.
■ 1555: Der schweizer Naturgeschichtler Gessner beschreibt ausführlich
die Waldrappe und ihre Beziehung zum Menschen.
■ um 1650: Waldrappe verschwinden mit Ende des 30-jährigen Krieges
aus Europa.
■ Ende 19. Jhdt.: Waldrappe werden auf der arabischen Halbinsel wiederentdeckt, die »östliche Population« (arabische Halbinsel, Kleinasien) ist
bereits von der »westlichen Population« (Nordafrika, besonders Marokko,
Atlas-Gebirge) getrennt.
■ Um 1920: Die großen Kolonien in Jordanien und anderen Gebieten der
arabischen Halbinsel dienen als Zielscheiben für Schießübungen und
verschwinden.
■ Bis 1990: Die große Kolonie im türkischen Birecik erlischt durch Missmanagement; einige Vögel überleben bis heute im zeitweisen Freiflug.
Heute zunehmend Bestrebungen, eine Nachzuchtgruppe der östlichen
Waldrappe in Gefangenschaft zu etablieren.
■ 1960–1990: Die Zahl der Kolonien in Marokko geht von 36 (um die 8000
Tiere) auf 1 (200 Vögel) zurück, vor allem durch direkte Verfolgung. Der
Nationalpark Sous Massa wird eingerichtet.
130
Tradition und Gegenwart an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau
■ 1960–1980: Es werden immer wieder Vögel aus N-Afrika in Zoohaltung
genommen und unter Leitung von schweizer Zoos und unter maßgeblicher Beteiligung des Innsbrucker Alpenzoos (Zuchtbuchführerin des
internationalen Erhaltungszuchtprogramms ist Dr. Christiane Böhm)
eine Zoopopulation erfolgreich aufgebaut, die heute etwa 2000 Tiere
umfasst.
■ 1987: Ein erster Versuch des Innsbrucker Alpenzoos, handaufgezogenen
Waldrappe im Freiflug zu halten (Leitung: Dr. Ellen Thaler) ist teilweise
erfolgreich, wird aber nach einem halben Jahr abgebrochen.
■ 1997: Nach Innsbrucker Muster wird an der Konrad Lorenz
Forschungsstelle in Grünau begonnen, eine freifliegende Kolonie anzusiedeln (als Modell für Grundlagenforschung und um Daten für die
Erhaltung der Art zu gewinnen). Von 11 Handaufgezogenen Jungvögeln
überleben 5 den ersten Winter, die meisten kamen bei Langstreckenflügen
im Herbst ums Leben. Zwei Vögel kommen aus großer Distanz (Frankfurt
an der Oder) in wenigen Tagen wieder selber zurück. Wir lernen, dass
handaufgezogene Waldrappe aus Zoonachzucht selbständig Nahrung
finden und orientiert über weite Distanzen fliegen können.
■ 1998: 16 Vögel werden handaufgezogen, es überleben nur 6 Waldrappe
aus 1997 und 1998 bis ins Frühjahr 1999. Wir überlegen, aufzugeben,
ändern aber dann das Management und schließen ab 1999 die Vögel zur
Zugzeit und in der Nacht in der Voliere ein.
■ 1999: 12 Nestlinge werden handaufgezogen, keine Verluste mehr im
Freiflug.
■ 2000: 5 Nestlinge werden handaufgezogen. Wir haben seit 1999 keine
Verlusten mehr, es fliegen 22 Vögel (4 Jahrgänge) frei. Bau einer großen
Waldrapp-Voliere mit Brutwand im Cumberland-Wildpark, Übersiedlung
im Herbst, wird von den Vögeln sofort gut angenommen.
■ 2001: Es werden keine Vögel per Hand aufgezogen, aber erste Brutversuche ergeben 2 flügge Jungvögel, die zunächst problemlos mit den
anderen fliegen. Allerdings stirbt ein Jungvogel im Winter, der andere ist
nach Flügelbruch in Frühjahr nur mehr bedingt flugfähig.
■ Sommer 2002: In Syrien werden wenige Brutpaare, wahrscheinlich ein
Rest einer ehemals viel größeren Kolonie entdeckt.
■ 2002 in Grünau: Erstmals gibt es massiv Nachzucht, 22 Eier in 9 Nestern.
Die Vögel sind nun in dauerndem Freiflug (werden in der Nacht nicht
mehr eingeschlossen) und füttern ihre Jungen vorwiegend mit Nahrung,
die sie selber finden. Ein Weibchen verschwindet während des JungeFütterns, möglicherweise als Tribut an den Wanderfalken. Es werden
schließlich 4 Junge Flügge und gehen gut in den Winter. Die Brutvögel
waren noch unerfahren, wir erwarten für die nächsten Jahre steigenden
Bruterfolg.
Gleichzeitig begannen die Vorarbeiten für eine Alpenüberquerung der Waldrappe
hinter Leichtflugzeugen (www.waldrappteam.at). Sollte es gelingen, den
Der »Fortschri�« in der Wissenscha�
131
Vögeln wieder eine neue Zugroute beizubringen, steht der Wiederbesiedlung
Mitteleuropas durch den alten europäischen Kulturfolger nichts mehr im Wege.
Fische
Fische, die Vielfalt ihrer Gehirne und Lebensweisen, ihre leistungsfähigen
Chemosinne lagen im Zentrum meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit vor
1990 und war auch danach noch von Bedeutung (Kotrschal 1991, 1995, 1996,
Kotrschal u. a. 1990, 1998, Kotrschal und Palzenberger 1992). Diese Linie sollte
auch an der Konrad Lorenz Forschungsstelle verstärkt in Richtung Verhalten fortgeführt werden. Die Bäche um Grünau boten eine einfache Lebensgemeinschaft
von Forellen, Koppen und Elritzen, mit denen man arbeiten konnte. So konnten
wir mittels vollautomatischer Beobachtung über Video und Computer nachweisen, dass selbst geringste Mengen von chemischen Reizen möglicher
Raubfeinde, der Forellen das Verhalten von Koppen, bzw. die Schwimmpfade
von Elritzen stark beeinflussen kann (Essler und Kotrschal 1994, 1995). Konrad
Lorenz selbst hatte viel mit Fischen gearbeitet, aber nur relativ wenig darüber
geschrieben (z. B. in seinem »Aggressionsbuch« 1963). Ich verbrachte daher
geraume Zeit im Archiv des Altenberger Konrad Lorenz Institutes, um zumindest
die Arbeit des alten Konrad Lorenz an seinen Halfterfischen (Zanclus cornutus)
in seinem großen Riffaquarium zusammenzufassen (Lorenz u. a. 1998).
Da es leider nicht möglich war, an der KLF die Laborsituation zu verbessern
und da wir mit unseren freilebend Vogelmodellen ohnehin ausgelastet waren,
wurde die Arbeit mit Fischen an der Forschungsstelle Mitte der 1990er Jahre
aufgegeben.
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch
was zu forschen?
Die Entwicklung der Arbeit an der kleinen Konrad Lorenz Forschungsstelle
kann als Spiegel der Entwicklung des Faches gelten – Ethologie in einer
Nussschale sozusagen. Eine Themenauswahl der modernen Brennpunkte
der Verhaltensbiologie muss notwendigerweise unvollständig und subjektiv
bleiben. Sich mit tierischem Verhalten zu beschä�igen mag ja gut und schön
sein, aber sind nicht aller wesentlichen Fragen in der Verhaltensbiologie bereits erforscht? Liegen nicht die »Brennpunkte« der Biologie, also jene Gebiete
in denen die bedeutendsten Wissenszuwächse geschehen, längst anderswo,
etwa in der Molekularbiologie und Genetik? Selbst für Profis ist es schwierig, den breiten Überblick und damit eine abwägende Urteilsfähigkeit zu
bewahren. Der Einwand des Überholtseins ist schon deswegen zu entkrä�en,
weil die Binsenweisheit, dass sich für jede gefundene Antwort mehrere neue
Fragen au�un, auch für die Verhaltenswissenscha�en gilt. Und dabei geht es
keineswegs nur darum, detailverliebt immer weiter in die Tiefe zu bohren, es
bahnen sich auch immer wieder neue Entwicklungen, »große Würfe« an.
132
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
Der »Fortschritt« in der Wissenschaft
Disziplinen in den Naturwissenscha�en rutschen nicht einfach ins »Out«,
weil irgendwann einmal alles »ausgeforscht« wäre, im Gegenteil. Ihr Glanz
verblasst meist, weil anderswo Speerspitzen rascher ins wissenscha�liche
Neuland vorstoßen, diese daher meist zu Recht als aktueller eingestu� werden (Kuhn 1981). Junge, begabte und karrierebewusste Naturwissenscha�ler
versuchen, ganz vorne mit dabei zu sein. Auch die geldgebenden Institutionen
investieren ihre begrenzten Ressourcen am liebsten in glänzende, neue
Entwicklungen und jung-dynamische Forscherpersönlichkeiten. Denn
Mi�elmaß lohnt in keiner Beziehung. So hat auch die Wissenscha� und ihre
Finanzierung – wie so vieles in der menschlichen Kultur – nicht nur mit rationaler Kosten-Nutzenrechnung, sondern vor allem mit Prestige zu tun.
Wissenscha�sentwicklung und -steuerung ist ein komplexer, vielschichtiger
Prozess. Für bereits etablierte Richtungen trocknen allmählich die Ressourcen
aus. Wissenscha�liche Entwicklungen finden also durchaus auf einem Markt
sta�. Die Effekte staatlicher Lenkungsversuche bleiben gering, verglichen mit
der durch den freien We�bewerb zwischen den Wissenscha�lern produzierten
Eigendynamik. Neuerungen kommen nur aus der Wissenscha� selber, durch
Individuen, die im Forum der internationalen Wissenscha�lergemeinscha�
wirken. Dieses Forum ist denn auch die einzige qualitätssichernde Instanz.
Die effizientesten Wissenscha�sförderungsmaßnahmen der Politik besteht
darin geeigneten Individuen optimale Arbeitsbedingungen zu bieten. Hilflos,
konterproduktiv und ärgerlich dagegen sind staatlich-politische Versuche,
auf Inhalte Einfluss nehmen zu wollen. Was für die Kunst gilt, tri� gleicherweise auch auf die Wissenscha� zu: Beide gedeihen definitionsgemäß nur in
völliger Freiheit. Dass staatlich-politisch-bürokratische Gängelungsversuche
unter Verschwendung von Mi�eln in die falsche Richtung führt, zeigt die
Wissenscha�spolitik der EU in bedrückender Weise. Durch Bestrebungen
»von oben« Forschung zu lenken, die Förderung der »angewandten« bei
gleichzeitiger Vernachlässigung der Grundlagenforschung wollte man
Europa gegenüber den USA und Asien auf die technologische Überholspur
bringen. Es ist nicht gelungen. Heute haben, wie vorherzusehen, Staaten und
Wirtscha�sräume die Nase vorne, die auf die Förderung des Individuums
und der Grundlagenforschung setzten.
Im Biologie-internem We�kampf katalysierten die gewaltigen Fortschri�e der
Molekularbiologie den Abstieg anderer Fachgebiete. So ist die Morphologie,
die Lehre von den Bauplänen und Strukturen die älteste aller biologischen
Disziplinen. Sie blühte unter dem Dach der idealistischen Philosophie,
rutschte aber Mi�e des 20. Jahrhunderts, obwohl immer noch wichtige
Basisdisziplin für jegliche Biologie, in ihrer Bedeutung in den Keller. Und
dies, obwohl auch hier noch längst nicht alles »ausgeforscht« ist. Andererseits
führten gerade molekularbiologische Techniken wieder zu einer Renaissance
der Entwicklungsbiologie.
Der in die Forschung investierte Aufwand konzentriert sich an den
»Brennpunkten«. Dazu zählten etwa die Anstrengungen zur Entschlüsselung
Die Zukun� der Verhaltenswissenscha�en
133
des menschlichen Genoms, im Bereich der Immunologie oder der zunehmende Fokus auf die Frage wie sich während der Individualentwicklung der
genetische Code in Merkmalsausbildung überträgt. Viel kostengünstigere,
aber deswegen nicht weniger wichtige Brennpunkte in der Verhaltensbiologie
sind die Mechanismen der Partnerwahl, die »mü�erliche Investition«, die
Konflikte zwischen den Geschlechtspartnern oder zwischen Eltern und
Nachkommen, die Steuerung des individuellen Energiebudgets, usw. Als
Brennpunkte könnte man Gebiete definieren, in denen Konzeptentwicklung
und das Sammeln empirischer Daten rasch und parallel erfolgen, o� katalysiert von methodischen Fortschri�en.
Was als neuer Durchbruch gilt, hängt von der Einschätzung der wissenscha�lichen Gemeinscha� ab, aber auch von Eloquenz und A�raktivität der
Proponenten. Dieses Muster des mosaikartigen Fortschri�s in der Wissenscha�
erklärt, warum hinter den Durchbrüchen und Brennpunkten stets viele
weiße Flecken im Wissenscha�spuzzle zurückbleiben. Die grundlegenden
Erkenntnisse aller Naturwissenscha�en beruhen auf exemplarischer Arbeit.
So etwa wurden von Verhaltensbiologen nur von einem geringen Promillsatz
der auf der Erde vorhandenen Tierarten sogenannte Ethogramme, also
Verhaltensinventare von Arten erstellt. Diese Art der Erhebung von Mustern
war im Prinzip nur so lange sinnvoll, bis im Artvergleich die zugrundeliegenden Fragen, etwa nach Herkun� und Funktion von Verhaltensweisen,
oder über die stammesgeschichtlichen Beziehungen heute lebender Arten
beantwortet waren. Ein Beispiel wäre die klassisch-vergleichende Lorenzsche
Arbeit über Anatiden (Schwäne, Enten, Gänse). Es wäre ohne zugrundeliegende Fragestellung völlig sinnlos, in der Liste der Artnamen bei A zu beginnen und lückenlos die Verhaltensinventare der Arten bis Z zu katalogisieren,
mit dem Hintergedanken, dass sich schon interessante Fragen finden würden,
wenn nur mal die vollständigen Daten vorlägen. Wissenscha� besteht immer
im Herstellen von (ursächlichen) Zusammenhängen. Die Anhäufung von
Faktenmengen um ihrer selbst willen ist immer sinnlos.
Die Struktur des wissenscha�lichen Fortschri�s ist analog zum Au�au und
den Eigenscha�en etwa des menschlichen Oberschenkelhalsknochens: Um
seine Tragfähigkeit zu erreichen, wäre es unnötig und unökonomisch, dass
unser Körper diesen Knochen aus massivem Material au�aut; es genügen
Knochenspangen in Richtung der Beanspruchung. Der Großteil des Volumens
des Knochens kann daher leer bleiben. Damit wird hohe Beanspruchbarkeit
bei geringem Materialverbrauch und Gewicht erreicht. Ganz ähnlich muss
in der Wissenscha� der Unterbau an Daten die neuen Brennpunkte tragen
können. Es ist daher weder nötig, noch sinnvoll (es sei denn unter dem Blickwinkel des Sammlers), alle Wissenslücken im Unterbau schließen zu wollen.
Die Zukunft der Verhaltenswissenschaften
Zur Rechtfertigung der zukün�igen Verhaltenswissenscha�en reicht es
daher nicht aus, auf die vielen weißen Flecken unseres Wissens über das
Verhalten der Tiere hinzuweisen, es müssen neue Brennpunkte identifiziert
werden. Das ist zum Glück nicht schwierig. Gerade deswegen hat die fol-
134
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
gende Themenwahl viel mit einer Lo�erie gemeinsam, denn im Sack der
Verhaltenswissenscha�en stecken viele Gewinnlose. Verhalten ist und bleibt
eben die Grenzfläche zwischen Individuen und ihrer Umwelt. Dass das
Geschehen in zehn oder zwanzig Jahren bereits wieder ganz woanders liegen
kann, versteht sich aus der Dynamik unserer Wissenscha� von selbst.
Zu den aktuell bleibenden Frontgebieten der Ethologie zählt sicherlich die
weitere Erforschung der evolutionären Bedingtheit des Menschen. Es geht
um Themen wie Eigennutz und Altruismus, Kooperation und Konflikt,
Sexualität und Beziehung zwischen den Generationen. Sogar zur Biologie
der Kultur oder menschlicher Religiosität wird heute geforscht. Das bedeutet
natürlich nicht, dass die Ethologie einen Alleinvertretungsanspruch erhebt.
Aber es bedeutet doch, dass der Mensch als Ganzes, bis in die tiefsten Winkel
seiner Seele, evolutionär entstanden ist und dass daher alle menschenbezogenen Erscheinungen eine biologisch-evolutionäre Komponente haben
müssen. Hier ist und war die gesellscha�spolitische Relevanz und auch
Verantwortung und Missbrauchsgefahr am größten.
In engem Zusammenhang mit dem evolutionären Konkurrenzspiel
der Menschen (und jeder anderen sexuell reproduzierenden Art) um
Fortpflanzungserfolg muss die Bedeutung des Informationsflusses gesehen
werden. Die unterschiedliche Fähigkeit, Information in eigenem Interesse
zu manipulieren, stellt wahrscheinlich einen wichtigen Hebel dar, den nur
scheinbar unüberbrückbaren Widerspruch zwischen dem Konzept der biologischen Fitness und dem Kulturwesen Mensch aufzulösen.
Besondere Beachtung verdienen die Wechselwirkungen zwischen Verhalten
und dem Gehirn als Steuerzentrum und seinen untergeordneten Instanzen,
wie etwa die hormonproduzierenden Gewebe. Man beginnt zu verstehen,
dass nicht nur die Kommandoke�e über nerven- und hormonelle Signale in
die Peripherie wichtig ist, sondern dass auch das Zentrum ständig durch die
einlangenden Sinneseindrücke und die Rückkopplungen aus dem Verhalten in
gewissen Grenzen plastisch reagiert. Kurz: Statische »Dinosaurierkonzepte«,
wie der frühere enge genetische Determinismus (der Glaube an die Allmacht
der Gene und ihre 1:1 Entsprechung in den Merkmalen) sind Vergangenheit.
Warum das Verhaltenswissenscha�ler spannend finden? Konrad Lorenz und
Erich von Holst konnten zeigen, dass Tiere nicht bloß reaktive Automaten
sind, also nur auf Außenreize hin aktiv werden, sondern auch »spontan«
agieren. Dahinter versteckt sich allerdings nichts Metaphysisches. Gemeint ist,
dass nicht nur Reize von außen, sondern auch innere Reizzustände Verhalten
steuern, beispielsweise Emotionen und andere motivierende Faktoren, wie
etwa Steroidhormone. So verrechnet das Nervensystem ständig die innere
und äußere Reizlage, berücksichtigt individuelle (über Lernen) und in der
Stammesgeschichte (über Selektion) gemachte Erfahrungen und produziert
so Verhalten. Wobei der emotional-triebha�e bzw. rationale Ursachenanteil
natürlich variieren kann. Während im Fall von Verhalten im Zusammenhang
von Sexualität und Liebe sicherlich die instinktiven Anteile überwiegen, wird
Die Zukun� der Verhaltenswissenscha�en
135
die Entscheidung, das Auto am Abend in die Garage zu fahren oder nicht
vorwiegend rational zustandekommen.
Solch rational bedingtes Verhalten ist kein Monopol des Menschen. Es darf
angenommen werden, dass viel mehr Tiere kognitiv zu viel mehr fähig sind,
als wir ihnen zugestehen wollen (Kamil 1998, Marler 1984b, She�leworth
1998). Schließlich sind hoch entwickelte kognitive Leistungen ein sehr
effizienter Weg der Anpassung von Individuen an eine variable Umwelt
(Griffin 1991, 1992). Der Nachweis komplexer kognitiver Mechanismen, also
auszuschließen, dass einfachere Mechanismen zur ursächlichen Erklärung
bestimmter Verhaltensweisen ausreichen, ist aber meist sehr schwierig. Dies
ist einer der Gründe für den generellen Nachholbedarf bei der Erforschung
der ökologischen und sozialen Relevanz von Tieren. Dazu kommen konzeptionelle und historische Hürden. Obwohl ein »Langzeit-Brennpunkt« der
Verhaltenswissenscha�en, war die Kognition lange Zeit im 20. Jahrhundert
ein »Unwort«. Konrad Lorenz und andere traten zu dessen Beginn auch
gegen allzu vermenschlichende Interpretationen tierischen Verhaltens im
Gefolge des Naturbildes der Au�lärung an. So entstand durch die frühe
Ethologie der Eindruck, Tiere seien triebgesteuerte Verhaltensautomaten.
Diese Pendelbetrachtung von Verhalten, zwischen triebha�er bzw. rationaler
Steuerung belebt letztlich seit Aristoteles die Literatur. Ob gerade die Triebe
oder der Verstand als Verhaltensverursacher in Mode war, bestimmte der
gesellscha�lich-zeitgeistige Hintergrund. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts
waren es ausgerechnet die ursprünglich an Mechanismen ursprünglich
nicht interessierten Öko-Ethologen, die eine Renaissance der biologischen
Kognitionsforschung bewirkten. John Krebs und seine Gruppe in Oxford
etwa richteten ihre Aufmerksamkeit auf jene Gehirngebiete verschiedener
Singvögel, die mit dem Verstecken und Wiederfinden von Nahrung zu tun
haben (Clayton 1994). Heute ist Kognitionsforschung unter evolutionärem
Blickwinkel verbreitet und erfolgreich. Der gesellscha�liche Hintergrund
mag zwar immer noch Moden bewirken, welche die interessierenden
Fragestellungen beeinflussen, die Ergebnisse dagegen sind Kinder der streng
hypothetico-deduktiven Methodik der modernen Naturwissenscha�en. Das
seit mehr als zwei Jahrtausenden aktuelle Gegensatzpaar rational-instinktiv
löst sich im Wohlgefallen evolutionärer Erklärungen auf.
Schließlich gilt es, immer wieder Brücken zwischen Psychologie und Ethologie
zu schlagen. Während die biologische Seite ein sehr tragfähiges, einheitlichevolutionäres Theoriengebäude besitzt, ist der Versuch beinahe hoffnungslos,
die vielen Richtungen der Psychologie unter einen Theorie-Hut zu bringen.
Es wäre schon viel gewonnen, bekäme man die Hauptströmungen sozusagen ins gleiche Hutgeschä�. Dabei geht es nicht darum, reizvolle Vielfalt zu
beseitigen. Sehr wohl aber geht es gegen Beliebigkeit. Niemand kann heute
leugnen, dass der Mensch als biologisches Wesen seine Wurzeln tief in der
Evolution hat. Es folgt daraus, dass menschliches Verhalten in seiner komplexen Gesamtheit naturwissenscha�lich erklärbar sein muss. Somit haben
sicherlich nicht alle Theoriesysteme gleichermaßen recht. Entscheidend ist
die Widerspruchsfreiheit mit evolutionsbiologischen Erkenntnissen, mit
136
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
einem »natürlichen«, also induktiv-empirisch gewonnenen, evolutionären Menschenmodell. Damit und nicht mit doktrinärer Intoleranz hat zu
tun, dass man rein spekulative Systeme menschlicher Nabelschau heute
getrost als »falsch« ablehnen darf. Eine Synthese zwischen Psychologie
und der Verhaltensbiologie auf Basis des evolutionären Theoriengebäudes
scheint möglich und wird auch seit dem 19. Jahrhundert immer wieder
versucht (z. B. Jü�emann 1992). Ein besonders vielversprechendes Gebiet
der Synthese bietet sich mit der zunehmend biologischen Erklärung individueller Unterschiede in Temperament und Persönlichkeit. Es zeigt sich,
dass quer durch die Wirbeltiere Individuen in Gruppen in ihrem Umgang
mit den Herausforderungen des Lebens recht gleichartig umgehen. Von
den Mäusen über die Gänse bis zum Menschen gibt es forsch-zupackende
und scheu-zurückhaltende Individuen. Auch ein neuer Brennpunkt der
Verhaltensbiologie.
Brennpunkt Konflikte, z. B. zwischen Eltern und Nachkommen
Der evolutionäre Mechanismus bedingt Konkurrenz innerhalb von Gruppen,
daher sind Konflikte vorprogrammiert. In allen Systemen gilt für Individuen
der »reproduktive Imperativ«, also die eigene Vermehrung zu optimieren.
Die Grundkonflikte sind evolutionäres Erbe, sozusagen die »Erbsünden«.
Die Form der Konfliktaustragung variiert zwischen Kulturen und Individuen.
Nach dem Paradigmenwechsel zur Individualselektion gehören Konflikte zu
den aktuellesten Themen der modernen Verhaltensbiologie.
Konflikte sind allgegenwärtig, zwischen den Geschlechtern etwa, weil das
reproduktive Potential der Geschlechter unterschiedlich ist und daher männlichen und weiblichen Strategien optimal zu reproduzieren voneinander
abweichen müssen. Auf der weiblichen Seite ist der Fortpflanzungserfolg
gewöhnlich durch die Effizienz bestimmt, Energie in Nachkommen umzuwandeln, während das Potential der Männchen einerseits von den väterlichen Fähigkeiten, andererseits vom Kontakt mit fertilen Weibchen abhängt.
Zwischen Eltern und Nachkommen kommt es zu Konflikten, weil erstere
selten so viel zu geben bereit sind, wie letztere fordern. Für die Eltern geht
eine Überinvestition in einzelne Nachkommen zu Lasten ihrer zukün�igen
Vermehrung, vermindert also ihren Lebensreproduktionserfolg. Dagegen
bedeutet für den Nachwuchs jede zusätzlich von den Eltern erreichte
Zuwendung eine Fitnesserhöhung.
Konfliktfreie Gesellscha�en oder Partnerscha�en sind daher ein unerreichbares Ideal. Es geht nicht darum, sie völlig zu vermeiden, sondern auszutragen.
Die damit zusammenhängenden Auseinandersetzungen sind auch nicht bloß
als als Nebeneffekt evolutionär bedingter Interessensgegensätze zu sehen,
sondern können funktionell wichtig sein. So etwa dienen die ständig wiederkehrenden Zyklen von Konflikt und Versöhnung in Primatengesellscha�en
der Standortbestimmung des Einzelnen. Ähnliches gilt wohl auch für
menschliche Zweisamkeit. Letztlich sind Individuen dazu »verdammt«, das
eigene Wohlergehen immer auch bis zu einem gewissen Grad auf Kosten anderer erreichen und gegen andere verteidigen zu müssen.
Brennpunkt Konflikte, z. B. zwischen Eltern und Nachkommen
137
Intensität und Art der Konflikte sind innerartlich keine Konstanten. So
ist davon auszugehen, dass ursprüngliche, recht egalitäre Jäger und
Sammlergesellscha� parallel mit der Erfindung der Vorratshaltung (also
kontrollierbarer Ressourcen) zu hierarchischen Sozietäten mutierten, mit
einer entsprechenden Zunahme und Verschiebung der Konflikte (Power
1988). Konflikte sind daher weder unnatürlich, noch pathologisch, sie gehören untrennbar zum Alltag sozialer Tiere. Die Zukun� der Biosphäre wird
maßgeblich davon abhängen, weltweit vernetzt, nachhaltige Formen der
Austragung von Konflikten in und zwischen menschlichen Gesellscha�en
zu finden. Letztlich hängt die Lösung der brennendsten Probleme der
Menschheit, Bevölkerungsexplosion, Überkonsum in den Industriestaaten,
Erderwärmung, etc. ursächlich mit intelligenter Konfliktlösung zusammen.
Töchter oder Söhne?
Eine besondere Form des Eltern-Kind-Konfliktes stellt die Geschlechterbevorzugung durch Eltern dar: Dass verschiedene Kinder ihren Eltern nicht gleich
viel wert sind, ist eine Tatsache, gegen die sich unser Moralempfinden zu
Recht wehrt. Man wurde auf die evolutionäre Dimension dieses Problems
durch vergleichende Untersuchungen aufmerksam und postulierte auf theoretischer Basis eine geschlechtsabhängig differenzierte elterliche Investition:
Es sollte so viel in weibliche versus männliche Nachkommen investiert werden, dass sich die »Produktionskosten« für die Nachkommen unterschiedlichen Geschlechts und der zu erwartende Fitnessgewinn (für die Eltern) aus
der zukün�igen Reproduktionskapazität von Töchtern gegenüber Söhnen die
Waage halten. Die Sache kann noch komplizierter werden, wenn man den immer vorhandenen Interessenskonflikt zwischen weiblichem und männlichem
Elter berücksichtigt. Die optimale Strategie für die Mu�er muss sich nicht mit
der des männlichen Partner decken – eine der vielen Quellen von Konflikten
zwischen den Geschlechtern (Voland 2000).
Auch Menschen scheinen diese evolutionären Strategiespiele unbewusst und
unter dem Deckmantel des »kulturellen Überbaus« weiterzutreiben. In einer
Reihe von Gesellscha�en etwa werden Knaben höher geschätzt, was sich in
einer geringeren Fürsorge für weibliche Nachkommen und in einer höheren
Sterblichkeit der Mädchen niederschlägt. Die moderne Möglichkeit, aus dem
Fruchtwasser das Geschlecht des noch ungeborenen Kindes zu bestimmen,
wird in manchen Kulturen v. a. Ostasiens als Entscheidungsgrundlage für
geschlechtsspezifische Abtreibungen missbraucht. Lautet der Befund auf
Mädchen, wird gewöhnlich abgetrieben. Dies führte bereits zu einem deutlichen Überhang von jungen Männern in China, mit noch nicht absehbaren
Folgen für die Gesellscha�. Eine uralte, durch Kulturtradition gefestigte
Reproduktionsstrategie tri� plötzlich auf eine neue technische Möglichkeit
und eröffnet den Eltern Manipulationsmöglichkeiten, die es über die bisherige, lange Menschheitsgeschichte nicht gab. Das ist zwar, wie viele evolutionäre Strategien, kaum mit einer universellen menschlichen Ethik vereinbar,
war aber in den ursprünglichen Kulturen für Eltern fitnessfördernd. Dass sich
solche Vorlieben auch in wandelnden sozioökonomischen Umfeldern halten,
138
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
deutet auf die Trägheit mancher in evolutionären Strategien begründeten
Kulturtraditionen hin.
Dass bei den Menschen nicht einfach Mädchen benachteiligt werden, sondern
es tatsächlich auf den Wert von Nachkommen für die Eltern ankommt, zeigt
das Beispiel der ungarischen Roma. Dort werden eher Knaben vernachlässigt, mit dem Ergebnis, dass es bei den Kindern ein mädchenverschobenes
Geschlechterverhältnis gibt. Der Grund scheint zu sein, dass Knaben in ihrem Leben kaum Berufschancen vorfinden und daher als Unterstützer für
ihre Eltern von geringem Wert sind. Mädchen dagegen haben gute Chancen,
ethnische Ungarn zu heiraten und damit erheblich zum Klaneinkommen beizutragen (Voland 2000).
Eltern töten (ihre) Kinder
Im Extremfall kann der Konflikt zwischen Eltern und Kindern sogar zum
Kindesmord führen, wenn dadurch der Lebens-Reproduktionserfolg der
Eltern verbessert werden kann (Alcock 1996). Was zunächst paradox klingt,
ist durchaus weit verbreitet. Bei vielen Tieren werden Gelege aufgefressen
oder verlassen, wenn sie nicht groß genug sind, um den Brutpflegeaufwand
zu rechtfertigen und damit Zeit und Ressourcen blockieren, die besser ein
ein lohnenderes Reproduktionsereignis investiert werden. Bei Schweinen
etwa werden Föten resorbiert, wenn nicht genügend davon vorhanden sind.
Verständlich, denn das zeitlich-energetische Engagement wäre ähnlich, wie
in einen größeren Wurf, das Ergebnis aber entsprechend mager. Es ist daher
effizienter, gleich neu zu beginnen.
Auch ein Blick auf menschliche Gesellscha�en zeigt, dass gezielte
Abtreibungen, bzw. Kindestötungen wahrscheinlich immer schon eingesetzt
wurden, um den Reproduktionserfolg der Eltern zu optimieren. Denn Kinder
werden bei den untersuchten Jäger-Sammler-Gesellscha�en häufig dann
getötet, wenn der zeitliche Abstand zum vorhergehenden Kind zu gering
war, der Mu�er also nicht genügend Ressourcen zur Versorgung zweier
Kinder gleichzeitig zur Verfügung stehen. Eine weitere Standardsituation
ist der Tod eines Elternteiles (Daly und Wilson 1987); nicht immer sind andere Gruppenmitglieder bereit, für Halbwaisen (potentiell auf Kosten der
eigenen Reproduktion) zu sorgen, mit denen sie kaum verwandt sind. Die
Wahrscheinlichkeit dieser unglücklichen Kinder, an Unterversorgung zu
sterben, steigt daher sprungha� an. Solche Kindestötungen werden von der
Mu�er oder den nahen Angehörigen offenbar als sachliche Notwendigkeit
vollzogen, nie aber aus Mordlust. Es sind genügend Fälle beschrieben, in
denen die Mu�er oder nahe Verwandte ihren tiefen Schmerz über ihre
Handlungen ausdrücken (Eibl-Eibesfeldt 1995).
Natürlich haben wir unser Kainsblut nicht beim Eintri� in die moderne
Gesellscha� abgegeben. Abtreibungsraten etwa sprechen eine klare Sprache.
Und Kriminalstatistiken belegen eindeutig, dass die größte Gefahr für ein
noch abhängiges Kind vom neuen Freund der Mu�er ausgeht. Sollte das
evolutionäre Erbe bei Kindesmissbrauch und -tötung immer noch im Spiel
sein, so ist auf Basis soziobiologischer Theorie vorhersagbar, dass sich gene-
Brennpunkt Konflikte, z. B. zwischen Eltern und Nachkommen
139
tische Verwandtscha� in diesem Bereich stark niederschlagen sollte. Das ist
tatsächlich der Fall. Daly und Wilson (1999) zeigten an sozial abgeglichenen
Gruppen (Kriminalstatistik aus Kanada), dass das Risiko von unter zweijährigen Kindern etwa 70 mal (!) größer ist, in Obhut von Stiefeltern ums Leben zu
kommen (635 Kinder pro Million Eltern-Kind Dyaden und Jahr), als bei ihren
leiblichen Eltern (9 pro Million Eltern-Kind Dyaden und Jahr). Immerhin 20
mal größer ist dieses Risiko noch bei den 3–5jährigen. Die Zahl der Tötungen
geht mit dem Alter zwar stark zurück, es werden aber in allen untersuchten
Altersklassen mehr Kinder durch Stiefeltern als durch ihre leiblichen Eltern zu
Tode gebracht.
Natürlich ist der evolutionäre Hintergrund nicht bewusst. Sehr o� ist die
unmi�elbare Ursache eine niedrige Toleranzschwelle Stie�indern gegenüber,
eine erhöhte Bereitscha�, Gewalt anzuwenden. Es gibt offenbar eine starke
Voreinstellung, zwar die genetisch eigenen, nicht aber fremde Kinder aufzuziehen. Natürlich bedeutet das nicht, dass alle Zieheltern Monster sind, aber
die Zahlen sprechen für sich. Tötungen sind wahrscheinlich nur die Spitze
des Eisberges. Es ist anzunehmen, dass ähnliche Zahlenverhältnisse auch
für körperliche und seelische Misshandlungen, sowie sexuellen Missbrauch
gelten, wie die täglichen Meldungen im Chronik-Teil der Tageszeitungen andeuten. Diesbezügliche Zahlen sind aber wesentlich schwieriger zu erheben,
die Dunkelziffern sind wahrscheinlich sehr hoch.
Kindesmisshandlungen bis hin zur Tötung häufen sich auch bei gestörten
elterlichen Beziehungen und gesellscha�lich und/oder materiell bedingtem
Stress der Eltern. Und immer noch scheint auch die Behinderung eines
Kindes ein Faktor zu sein. Die Wahrscheinlichkeit von Kindesmisshandlung
steigt also überall dort, wo die Chancen des Kindes auf Erlangen einer
kompetitiven Stellung bezüglich seiner Reproduktions- und Informationstr
ansferkapazität (s. unten) gering sind. Es ist ein unbequemer Schluss: Trotz
aller sozialer Einrichtung scheint die Macht der einst adaptiven evolutionären Mechanismen ungebrochen. Gegensteuern kann man, wenn überhaupt,
nur über Bildung, Bewusstmachen und Vernun�, über die Akzeptanz von
Randgruppen, die Erhaltung der sozialen, auch staatlichen Solidarität, um
Eltern nicht in für Kinder gefährliche Notlagen kommen zu lassen. Und
Unterstützung der besonders gefährdeten Gruppen, etwa von Stief- und
Adoptiveltern. Grundvoraussetzung für erfolgreiches Gegensteuern ist eine
richtige, also evolutionäre Diagnose zu stellen. Weil gerade auf diesem Gebiet
viele Zusammenhänge immer noch hypothetisch sind, wird die Soziobiologie,
insbesondere des Menschen, noch lange ein Brennpunkt der ethologischen
Forschung bleiben.
Wieviel soll in einen Nachkommen investiert werden?
Weniger dramatisch, aber nicht minder verbreitet und unsere Idealvorstellungen von Gerechtigkeit ebenso verletzend ist die Tatsache, dass Eltern
nicht in alle ihre Nachkommen gleichmäßig investieren. Beispiele für die
Manipulation der Nachkommen durch ihre Eltern sind buchstäblich allgegenwärtig, inner- und zwischenartlich. Das beginnt bereits bei der un-
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Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
gleichmäßigen Investition in die Eier eines Geleges, weswegen das »mü�erliche Investment« (Stamps 1991) ein zentraler Aspekt der Manipulation von
Nachkommen darstellt. So wirkt sich die Eigröße und damit die Größe des
Schlüpflings stark auf dessen Überlebenswahrscheinlichkeit aus. So legen
Graugänse nur in Ausnahmefällen mehr als sechs Eier. Theoretisch bestünde
die Möglichkeit, alle Ressourcen des Geleges in einem einzigen Ei zu konzentrieren. Aus diesem Super-Ei schlüp� ein Super-Gössel, welches ziemlich
sicher überlebte und ein entsprechend erfolgreicher Reproduzent werden
würde. Warum aber mehr in einen Nachkommen stecken, als unbedingt
erforderlich? Warum andererseits nicht 12 halb so große Eier legen? Wie
einfach einsehbar, ist die Investition in einzelne Nachkommen nicht beliebig
verringerbar. So sollte sich das Verhältnis zwischen Zahl und Investition in
den einzelnen Nachkommen nach »evolutionären Erfahrungswerten« richten und insgesamt von der Warte des Elter daraus ausgerichtet sein, dessen
Lebensreproduktionserfolg zu optimieren. Ein bestimmter Nachkomme
sollte also nicht sicher überleben und reproduzieren, sondern mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Letztlich ist auch die Entscheidung der Investition in
Nachkommen mit einer Grenzwertkurve zu beschreiben (Exkurs 7).
Nun sind aber auch innerhalb eines Geleges die Eier ungleich groß, bei
Gänsen und bei den meisten anderen Vögeln. Das erste Ei ist immer etwas
leichter als das zweitgelegte, welches immer das Größte ist. Dann nimmt die
Größe mit jedem weiteren Ei regelmäßig ab und das letztgelegte ist immer
das leichteste. Es scheint also, als ob jede Gans mit ihrem Gelege dasselbe
Lo�eriespiel betriebe, denn die Überlebenswahrscheinlichkeit von Gösseln
nach dem Schlupf hängt direkt mit dem Körpergewicht, und das wiederum
mit dem Eigewicht zusammen. Bei sehr günstigen Umweltbedingungen (bezüglich Parasiten, We�er, soziale Situation, etc.) wird es daher gelingen, alle
Nachkommen großzuziehen, bei weniger günstigen entsprechend weniger.
Mit einer Differenzierung der Größe der Nachkommen wird erreicht, dass von
schlechteren Bedingungen nicht alle gleichmäßig betroffen sind, sondern die
kleinsten die »Sollbruchstellen« darstellen, welche zuerst sterben. Die Option,
gleich sechs große Eier zu legen, besteht für eine Gans wegen der begrenzten
Ressourcen, bzw, der begrenzten Kapazität ihres Reproduktionsapparates
nicht. Sie könnte vielleicht vier große legen, was natürlich in einem Jahr mit
günstigen Bedingungen suboptimal wäre, sie würde dann auf Nachkommen
verzichten. Aber auch die Variabilität in der durchschni�lichen Eigröße zwischen Individuen ist bemerkenswert. Sie kann bei den Graugänsen zwischen
150 g und 200 g variieren. Dabei halten Individuen über die Jahre ihre durchschni�lichen Eigewichte recht konstant (Hemetsberger 2001). Genetische
Faktoren, aber auch die Bedingungen während des Heranwachsens bestimmen dieses weibchenspezifische Eigewicht. So fällt etwa auf, dass handaufgezogene Gössel, die, weil besser ernährt und versorgt, meist etwas größer
werden, als gansaufgezogene, im Schni� auch etwas größere Eier legen. So
können bereits die ersten Wochen nach dem Schlupf die Lebensfortpflanzung
schancen eines Individuums beeinflussen.
Brennpunkt Konflikte, z. B. zwischen Eltern und Nachkommen
141
Die Möglichkeiten der Eltern, ihre Nachkommen zu manipulieren, sind
mannigfaltig. Genaugenommen beginnt es bereits bei der Partnerwahl und
der damit zusammenhängenden Festlegung der genetischen Konstitution.
Auch das Geschlecht der Nachkommen kann manipuliert werden. Am einfachsten funktioniert das bei manchen Reptilien, beispielsweise Schildkröten
oder Alligatoren, über die Bru�emperatur. Die Eier werden in verro�ende
Pflanzenhaufen oder Sand abgelegt. Sorgen auf diese Weise die Mü�er durch
ihre Ortswahl für tiefere Temperaturen, schlüpfen Weibchen, bei höheren
dagegen Männchen. Nur innerhalb eines engen Temperaturbereiches ist das
Geschlecht der Schlüpflinge ausgeglichen.
Bei Vögeln oder Säugetieren, dagegen, bei denen das Geschlecht genetisch
festgelegt ist, sollte man eigentlich keine Einflussmöglichkeiten der Mü�er
auf das Geschlecht der Nachkommen erwarten. So etwa wird bei den
Säugetieren das Geschlecht eines Nachkommen durch die befruchtende
Spermazelle festgelegt. Durch die Reifeteilung, entstehen aus männlichen
Keimzellenvorläufern mit doppeltem Chromosomensatz (xy) Spermien entweder mit einem x- oder y-Geschlechtschromosom. Und das annähernd in
gleichen Anteilen. Wenn also der Zufall bestimmt, welches Spermium eine
Eizelle (die alle das x-Chromosom besitzen) befruchtet, sollte man statistisch
ziemlich genau 50 % weibliche, bzw. männliche Nachkommen erwarten. Die
tatsächlichen Geschlechterraten der Nachkommen weichen o� erheblich
davon, ab, etwa bei Rothirschen, bei denen rangtiefe Weibchen vorwiegend
Töchter gebären, ranghohe dagegen Söhne (Clu�on-Brock u. a. 1982). Über
welchen Mechanismus Mü�er dies bewerkstelligen, ist unbekannt.
Weiters können Mü�er über Hormone erheblich die Frühentwicklung ihrer
Nachkommen beeinflussen. Aus Vogeleiern etwa, die etwas mehr Androgene
(männliche Geschlechtshormone) enthalten als andere, entstehen aggressivere, durchsetzungsfähigere, aber auch unvorsichtigere Individuen schlüpfen,
als etwa aus Eiern desselben Geleges, die mit etwas weniger Hormon ausgesta�et wurden (Schwabl u. a. 1997 , Daisley u. a. 2003). Ähnliches ist auch für
Säugetiere anzunehmen (Nelson 2000, vom Saal 1979, Whalen 1982), was allerdings aufgrund der komplizierten Verhältnisse um den Stoffaustausch über
die Plazenta viel schwieriger zu untersuchen ist, als bei Vögeln. Vogelmü�er
gleichen so den Nachteil Spätgeschlüp�er aus (Schwabl u. a. 1997), oder aber,
sie unterstützen, wie bei den Reihern, ihre Erstgeschlüp�en (Sockman und
Schwabl 2000). Zudem reagieren die Mü�er auf ihre soziale Situation und
können so mehr Androgene ins Ei packen, um damit konkurrenzfähigere
Nachkommen zu erzielen, sollte dies nötig sein.
Schließlich besteht besonders bei hochsozialen Organismen die Möglichkeit durch
die Art der Informationsweitergabe, über Familienklima und »Erziehungsstil«
die Persönlichkeitsstruktur und das spätere Verhalten der Nachkommen
beeinflussen. Menschen sind beileibe nicht die einzige Art auf der Welt mit
der Möglichkeit, Ihre Nachkommen durch sozialen Informationstransfer zu
beeinflussen. Dies tun sogar Graugänse oder ganz allgemein, alle sozialen
Tiere mit einer längeren Bindungsphase zwischen Elter(n) und Nachkommen.
Von Mu�erlinien bei Rhesusaffen oder Japanmakaken ist bekannt, dass sich
142
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
die Persönlichkeit der Nachkommen am mü�erlichen Verhalten formt.
Selbstsichere Mü�er ziehen selbstsichere Kinder groß, nervöse Kinder nervösen Nachwuchs (Hinde und Stevenson-Hinde 1986). Schon unterschiedliches Hantieren von Säuglingen kann zu weitreichenden Unterschieden im
Verhalten Erwachsener führen, wie vor allem an Mäusen und Ra�en gezeigt
wurde (Carlier u. a. 1983, Hennessy u. a. 1982). Somit können individuelle
Eigenscha�en generationenlang, am Genom vorbei weitergegeben werden.
Da auf diese Weise wesentliche Komponenten des Verhaltens, wie z. B. die
Vorliebe für bestimmte Nahrung, für Partner, der Stil, den Herausforderungen
des Lebens zu begegnen erlernt sein können (natürlich nur im Rahmen der
genetischen Gegebenheiten), wirken Kulturtraditionen solchermaßen wieder maßgeblich auf die genetische Entwicklung von Populationen zurück.
So stehen biologische und kulturelle Information in beständiger, inniger
Beziehung.
Das evolutionär begründete Verhältnis zwischen Eltern und Kindern muss
notwendigerweise asymmetrisch sein. Kinder sind die Interessensträger ihrer
Eltern (strenggenommen: die For�räger der genetischen und kulturellen
Information, welche sie von ihren Eltern mitbekommen, nicht umgekehrt).
Nachkommen benötigen die Eltern als Lieferanten für Ressourcen und
verlangen dies gewöhnlich auch länger und intensiver, als die Eltern sie zu
unterstützen gewillt sind. Denn elterliche Investition in einzelne Nachkommen
hat Grenzen. Die Eltern ermöglichen ihren Nachkommen im eigenen
Interesse einen möglichst sicheren Start ins Leben, der mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit gewährleistet, dass diese Nachkommen wiederum ihre
eigenen Fortpflanzungschancen wahren können. Mehr nicht, den das würde
auf Kosten des Lebensfortpflanzungserfolges der Eltern gehen.
Nachkommen sind ihren Eltern selten »dankbar«, etwa indem sie diese später
unterstützen. Dies geschieht in manchen Helfersystemen, wenn Fische oder
Vögel mithelfen, ihre eigenen Geschwister aufzuziehen. Aber diese Helfer
tun dies auch nur im eigenen Interesse, der Fitnessgewinn für die Eltern ist
sozusagen Nebeneffekt. Dass Kinder ihre Eltern ehren und erhalten sollten
ist eine moralisch noble Forderung und ist auch funktionell in Gesellscha�en
zu begründen, die stark auf der Erfahrung der Alten beruhen. In der globalisierten Informationsgesellscha� ist dies nicht mehr der Fall. Daher erleben
wir es gerade in unseren modernen Gesellscha�en, dass Eltern nicht nur
die Helferrollen beim Aufziehen ihrer Enkelkinder übernehmen, sondern
sich durch handfeste materielle Zuwendungen die Aufmerksamkeit und
Achtung ihrer Nachkommen sichern. Evolution läu� mit der Zeit, nicht in
Gegenrichtung. Das erklärt – entschuldigt es aber natürlich nicht – dass es
immer mehr von ihren Kindern vernachlässigte Alte geben wird, als umgekehrt. Heute verfügen die älteren Generationen (es werden aufgrund der
steigenden Lebenserwartung immer mehr) über eine Reihe von Alternativen:
Entweder sie emanzipieren sich von der traditionellen Rolle der investierenden Großeltern und führen auch postreproduktiv ihr eigenes Leben, oder
sie erkaufen sich weiterhin durch Betreuung und materielle Zuwendung
für Kinder und Enkel Aufmerksamkeit. Der momentane Wohlstand erlaubt
Brennpunkt Konflikte, z. B. zwischen Eltern und Nachkommen
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meist beides. Mit zunehmender Pflegebedür�igkeit steigt aber trotzdem die
Wahrscheinlichkeit, dass Alte in eine Institution abgeschoben werden.
Begehrlichkeit und das Anzeigen von Status
Habenwollen und Raffgier ist mit der stetig zunehmenden Erdbevölkerung
eines der Schlüsselprobleme der modernen Menschheit. Beides zusammen
führt zu einem schwindelerregend kurzsichtigem Umgang mit Ressourcen.
Die »Falle des Kurzzeitdenkens« (Eibl-Eibesfeldt 1999) ist tatsächlich die
bedrohlichste Gefährdung der Menschheit, weit gefährlicher noch, weil
universeller als Massenvernichtungswaffen. Selbst Ökonomen entdeckten in
den letzten Jahrzehnten, dass die Akteure in der Wirtscha� keine rationalen
Spieler sind. Die Verhaltensbiologen können erklären warum.
Begehrlichkeit ist keine typisch menschlich-pathologische Erscheinung. Um
einigen ebenso verbreiteten, wie falschen Klischees entgegenzutreten: Auch
Tiere sind von sich aus weder altruistisch noch bescheiden. Auch Tiere töten
nicht immer nur, um zu überleben und wissen nicht immer »was gut für sie ist«.
Und schon gar nicht schonen sie von sich aus ihre Lebensgrundlagen. Ein offenbar irrationaler Umgang mit Ressourcen tri� unter bestimmten Bedingungen
auch für Tiere zu. Beispielsweise dann, wenn ein Marder in einen Hühnerstall,
ein Wolf oder Hund in eine Schafweide eindringt und dann weit mehr Tiere
tötet, als er fressen kann. Hier werden offenbar von Beutekonzentrationen, die
evolutionär nicht vorgesehen war, Auslösemechanismen angesprochen. Die
auf Beutemachen gedrillten Instinkte dieser Tiere lassen ihnen unter diesen
Bedingungen offenbar keine Wahl.
Jeder Aquarianer, bzw. Hundebesitzer weiß, dass ein wenig soziale
Konkurrenz o� Wunder wirken kann, schlecht fressende Lieblinge and
Fu�er zu bringen. Kritisch wird es dann, wenn soziale Konkurrenz dazu
führt, dass ein Bruchteil der Menschheit den Großteil der Ressourcen beansprucht und damit nebenbei auch noch gigantische Umweltprobleme verursacht, die dann aber schließlich alle treffen. Und das nicht, weil in unserer
Industriegesellscha� diese Ressourcen zum (bequemen) Überleben benötigt
würden, sondern weil es sich dabei letztlich um Einsätze im sozialen Spiel um
Status handelt.
Außerirdische würden wahrscheinlich manche unserer Gewohnheiten recht
amüsant finden: Warum ist etwa ein gelbes Metall namens Gold wertvoll? Und
warum investieren manche Leute Unsummen in Picasso (aber nur, wenn auch
Picasso draufsteht)? Im Chefzimmer repräsentiert dann eine Kopie, die zeigt,
was irgendwo im Safe liegt. Nichts ist vor der menschlichen Sammelwut sicher, nicht einmal so offensichtlich Nutzloses, wie gebrauchte Bierdeckel oder
Briefmarken. Abgesehen von solchen offensichtlichen Skurrilitäten würde
den Marsbewohnern wahrscheinlich der weitgehend uniforme Lebensstil
über weite Landstrich merkwürdig auffallen. Über Quadratkilometer gleiche
Einfamilienhäuschen auf den gleichen Normgrundstücken, umgeben von
Normhecken, bewohnt von den gleichen Normfamilien mit zwei adre�en
Kindern, mit recht ähnlichen Mi�elklasseautos in den sauberen Garagen.
Genormter Urlaub, zweimal im Jahr, ob man sich den nun leisten kann oder
144
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
nicht. Woher kommt dieser Normierungsdruck? Können oder wollen die
Menschen nicht anders?
Was die Marsbewohner da beobachten, ist letztlich eine Folge der sozialen
Konkurrenz, des Ringens um Prestige, wie Amoz Zahavi es ausdrücken
würde. Objekte werden vor allem dann begehrenwert, wenn sie auch
für andere wertvoll sind, ganz unabhängig davon, ob dieser Gegenstand
nun irgendeinen praktischen Nutzen für den Besitzer hat oder nicht.
Verhaltensbiologen werden freilich darauf hinweisen, dass das Anhäufen
begehrter, aber an sich nutzloser Objekte das Ansehen und letztlich den
Partnermarktwert des Betreffenden erhöht.
Sind Menschen also doch nur Laubenvögel? Schmücken Sie sich mit Besitz
und allerlei ungenießbaren Schnickschnack nur deswegen um anderen zu
gefallen? Die Wertschätzung für Gold und Edelsteine scheint Beleg genug
dafür. Krabbelkinder finden prinzipiell jenes Spielzeug am interessantesten,
mit dem sich gerade der andere beschä�igt. Wahrscheinlich, um den eigenen Stellenwert zu testen und die Präferenz des anwesenden Erwachsenen,
aber das ist eine andere Geschichte … Herrschende führen ihre Kriege um
Ressourcen, die auch von anderen beansprucht werden, oder gar nur wegen
der Prestigesucht der Feldherren. Und Fußballvereine konkurrieren lieber
um den Europacup, als um den Entenhausener Wanderpokal, sogar wenn gar
kein finanzieller Anreiz damit verbunden wäre. Es geht also letztlich nicht nur
ums Fußballspiel, denn diese Neigung könnte man ja auch in Entenhausen befriedigen, sondern um den Besitz einer Auszeichnung, den auch andere große
Vereine haben wollen. Natürlich, es ist das Gesetz des Marktes. Wert definiert
sich über Nachfrage. Verwundert hören wir von den Potlatch-Festen mancher
nordwestamerikanischer Indianer, in deren Verlauf die Clanchefs einander zu
beeindrucken suchen, indem sie wertvolles Clanvermögen verschenken, vernichten, bis hin zum Abbrennen der eigenen Häuser. Verhalten wir uns nicht
generell ganz ähnlich in unserer Jagd nach dem Götzen »Status«? Wenn es in
vielen Gegenden der Erde immer noch Ansehen bringt, viele Kinder zu haben,
oder zumindest zu zeugen, dann verknüp� sich Begehrlichkeit harmonisch
mit dem Problem der Überbevölkerung, und das alles unter der Decke des
»biologischen Imperativs«, also der Optimierung der eigenen Vermehrung.
Kommunikationsbarrieren beschränkten immer die geographische Ausdehnung jener Konkurrenzsysteme, die wir Kulturen nennen. Diese
Barrieren sind mi�lerweile großteils weggefallen. Nun flimmert täglich
weltweit normiert über die Bildschirme, was wir als begehrenswert erachten sollten. Dieser uneingeschränkte Informationsfluss führt auch zu
einer Nivellierung der Kulturen, vor allem über die Vereinheitlichung der
Zielobjekte der Begehrlichkeit und über eine Normierung der statusrelevanten Verhaltensweisen. Coke, Chesterfield und Mickey Mouse eroberten
Europa nach den Zweiten Weltkrieg als Symbole einer (zumindest materiell)
überlegenen Lebenskultur, waren fesch, gut für den Partnermarktwert. Man
investierte und konkurrierte, um sich mit diesen begehrten Symbolen auszusta�en. Ihr Glanz verblasste über die Jahre, ihr Einfluss auf die Lebenskultur
in Europa aber ist dauerha�.
Brennpunkt Konflikte, z. B. zwischen Eltern und Nachkommen
145
Der Malinchilismo, also die Bevorzugung fremden Kulturgutes über das
eigene ist nicht nur in Mexiko und Österreich, sondern weltweit verbreitet.
Bestimmte Formen des Anders-Seins machen offenbar interessant. Diese
Begehrlichkeit nach dem Appeal des Neuen war es offenbar auch, welche in
den letzten Jahrtausenden zu einer Überschichtung zuerst der süd- und dann
der zentraleuropäischen Völker durch den Lebensstil der Ackerbauern aus
Nah-Ost führte. Funde, sowie sprachwissenscha�liche und genetische Daten
(Barbujani 1991) deuten an, dass dieser alteuropäische Kulturenwandel nicht
in kriegerischen Wellen, sondern relativ friedlich und kontinuierlich mit einer Ausbreitungsgeschwindigkeit von knapp 100 km pro Generation erfolgte.
Andererseits kann das Gefühl der Überlegenheit eine Kultur auch auslöschen.
So geschehen wahrscheinlich in West-Grönland, wo um das Jahr 1000 nach
Christus Wikingersiedler Viehzucht nach Muster ihrer angestammten Heimat
betrieben. Als nach kalten Sommern die Heuernte nicht mehr ausreichte, das
Vieh über den Winter zu bringen, verschwanden diese Siedlungen wieder.
Die benachbarten Inuit lebten und leben von Fischfang und Jagd. Man fand
zwar Wikingergegenstände in Ausgrabungen von Inuitsiedlungen, nie aber
umgekehrt. Die Wikinger gingen in Glorie unter, weil sie offenbar von einer
»minderen« Kultur nichts annehmen wollten.
Moden als ritualisiertes Sich-Unterscheiden von anderen sind Fundamente
der Kulturen, schaffen Kleingruppenidentität und begünstigen den
Kulturenwandel. Wie es in den Salons des vorletzten Jahrhunderts »chic«
war, sich französisch zu geben, ha�e man im alten Rom einen Hang zum
Griechischen, also zu einer Kultur, die der eigenen militärisch unterlegen war.
Das o� aufwendige Mitmachen von Moden kann als Konkurrenzverhalten
gesehen werden, welches den eigenen Partnermarktwert steigert. Wenn in der
österreichischen Industriestadt Linz etwa, die Leute in den Straßen die neueste Mode schon vor den Schaufensterpuppen einschlägiger Geschä�e tragen,
so zeigt dies eindeutig, welche Werte dort gelten. Man trägt die Abzeichen
des eigenen Einkommens auf der Haut. Nur arme Irre werden glauben, dass
man in solchen Gemeinscha�en mit geistigen Qualitäten punkten kann. Wir
leisten uns täglich unsere kleinen Potlatch-Feste, denn der Marktwert ist wiederum die Basis für die Entscheidungen in der Partnerwahl. Kultur wurzelt
also ganz direkt in der Biologie. Das muss weiland wohl auch schon Arnold
Gehlen bewusst gewesen sein, als er meinte, dass Menschen von Natur aus
Kulturwesen wären.
Menschen sind Konkurrenzmodelle. Eine Hauptgefahr für andere Menschen
und die Biosphäre liegt darin, dass es diese Konkurrenz um Status an sich
hat, inhaltlich sehr rasch abstrakt zu werden und sich von der ökologischen
Basis abzuheben. Denn es geht letztlich darum, das zu besitzen, was auch
dem anderen Ansehen bringt, ganz gleich was. So kamen die südamerikanischen Kulturen unter die Räder, aus diesem Grund werden heute
Nashörner oder Tiger ausgero�et, wurden im letzten Jahrhundert die letzten
Dronten, die letzten tasmanischen Beutelwölfe gefangen, weil es das Ego
der Museumsdirektoren so wollte. Die skurrilen Auswirkungen dieses eskalierenden Prozesses kann man überall beobachten, wo es Menschen gibt.
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Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
Repräsentiert wird bei der Kleidung, der Wohnung, mit der A�raktivität des
Autos und des Partners, mit den wunderbaren Fähigkeiten der Kinder und
schließlich mit der gut gepflegten Grabstä�e.
Weit über die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse hinaus werden Menschen
danach trachten, Eigentum anzuhäufen, weil damit eben Prestige und
Kontrolle über andere, besonders über die Reproduktion, verbunden ist. Es
bleibt eine enorme Herausforderung für alle Sparten der Verhaltensforschung,
die Mechanismen, die evolutionären Wurzeln dieser Prozesse um die soziale
Konkurrenz zu durchleuchten und Möglichkeiten zur Individualisierung, zu
einer De-Eskalation der Konkurrenz um Ansehen aufzuzeigen.
Brennpunkt Informationsfluss
Er freue sich über mein Geschenk, aber die Botscha� seiner Worte widerspricht dem Ausdruck in seinem Augen. Ein Pfau schlägt ein Rad, die Henne
lässt sich besteigen. Ein Wahlplakat wirbt für XY, zeigt strahlende Menschen
auf grasgrüner Wiese, meint also: Wir haben ein Herz für Menschen und
Umwelt. Weidende Gänse locken andere Gänse an, weil bodenpickende
Artgenossen bedeuten, dass es dort was zu fressen gibt, also nichts wie hin.
Dieselben Gänse werden von einem Fuchs umschlichen; sie nähern sich vorsichtig, mit hoch erhobenen Hälsen und seltsam quiekenden Lauten, worauf
der hungrige Räuber aufgibt. Eine Meise ru� Alarm, die anderen Vögel in
der Gruppe stürzen in Deckung, der Warner dagegen bleibt und verzehrt in
Ruhe einen dicken Nachtfalter – als einziger weiß er, dass der Warnruf eine
»Lüge« war. Eine junge Frau plaudert mit einem Zufallsbekannten, wir� den
Kopf zurück, lacht, findet die Augen des Armani-Jeansträgers faszinierend;
der junge Mann verschränkt die Arme hinter seinem Kopf, lehnt sich zurück,
lacht, spricht seltsam angeregt und wundert sich, warum er ihr die dumme
Geschichte seines Autofahrersieges gegen den Protz in der dicken Limousine
erzählt. Weit über ein Jahr hat es im Süden Äthiopiens nicht mehr geregnet,
eine schlimme Zeit für einen Trupp von Pavianen, die trotz mehr als 12 Stunden
Nahrungssuche beinahe verhungern; alle Wasserlöcher im Streifgebiet waren
versiegt. Ein altes Männchen, einst Klanherr über viele Weibchen, nun aber, in
seinem 16. Lebensjahr längst von jüngeren Paschas abgelöst, mit fadenscheinigem Fell, wackeligen Zähnen, Altersflecken im Gesicht, wieder kindisch
geworden, zu nichts mehr nütze denn als Spielpartner für Kinder, erinnert
sich: In einem langen Tagesmarsch führt er seine Gruppe in eine Höhle, deren
Wasser seinem Klan das Leben gere�et ha�e, als er selbst noch ein junges
Männchen war. Die Trockenheit fordert ihren Tribut unter den Pavianklans.
Die Familie des Alten überlebt fast vollzählig (Kummer 1992a).
In allen diesen Kurzgeschichten geht es um den Informationsfluss. So kann
man etwa nur konkurrieren, wenn man über Konkurrenten und Ressourcen
informiert ist und ob es einem gut geht, weiß man nur, wenn man suboptimale Bedingungen erfährt. Tiere wie Menschen nehmen ständig relevante
Information auf, informieren sich selber und einander, ob sie wollen oder
nicht. Verhalten ist die Grenzfläche zwischen Individuum und Umwelt,
Verhalten entsteht in Reaktion auf Information, Verrechnung mit bereits ge-
Brennpunkt Informationsfluss
147
speicherter Information (evolutionär oder individuell) und erzeugt unablässig Information. Alle Organismen nehmen ständig Information auf und geben
solche ab. Sehr o� versuchen Lebewesen, diesen Informationsfluss zu minimieren. So etwa hat der regungslose Tiger kein Interesse daran, dem belauerten Hirsch seine Anwesenheit spüren zu lassen. Und die Kunst überzeugender Lügner besteht darin, sich nicht durch widersprüchliche Körpersprache
zu verraten. Andererseits kann es nötig sein, den Informationsfluss zu
optimieren. So etwa sollten balzende Männchen die Weibchen keinesfalls
über ihre Top-Kondition im Unklaren lassen; quer durchs Tierreich werden dazu »ehrliche«, weil kostspielige und daher fälschungssichere Signale
verwendet, die eindeutig, stereotyp und redundant in ihrer Struktur sind.
Auch für beschlichene Beutetiere wäre es fatal, dem Räuber nicht eindeutig
klarzumachen, dass sie entdeckt sind. Verständlich im Zusammenhang mit
der Vielfalt an Funktionen des Informationstransfer, dass dem eine mindestens ebenso große Vielfalt an Verhaltensweisen dienen, die direkt dem
Informationstransfer dienen (Signale), bzw. Information über Zustand oder
Absichten eines Individuums enthalten.
Information und der Umgang mit ihr ist geradezu ein Grundmerkmal lebender Systeme. Information entsteht zwischen Sender und Empfänger, sie existiert ohne die beiden nicht. So etwa ist der Kot, den ein Fuchs auf einem Stein
absetzt so lange nur eben Kot, bis ein anderer Fuchs vorbeikommt, der aus
dieser Hinterlassenscha� mi�els seiner Nase Informationen über Individuum,
Geschlecht, Status und Zustand des Markierenden entnehmen kann. Und
eine Tageszeitung ohne Leser ist bestenfalls Verpackungsmaterial. Strukturen
gewinnen Bedeutung, also einen spezifischen Informationsgehalt erst durch
Interpretation. So etwa bedeutet eine knorrige Eiche, wie Jakob von Uexküll
(1934) bemerkte, für den Forstmann Kapital und potentielle Arbeit, für das
Käuzchen einen geeigneten Nistplatz, für das phantasievolle Kind einen düsteren Riesen mit weit ausladenden Armen, für den Straßenbauer bedeuten
Baum samt zugehöriger Bürgerinitiative ein lästiges Hindernis, usw.
Der Informationsaustausch als universelle Eigenscha� lebender Systeme
ist als wissenscha�liches Thema ebenso bedeutend wie schwierig zu bearbeiten. Um Kommunikation tatsächlich nachzuweisen, müssen nicht
nur Sender und Signal gefunden werden, es ist vor allem die Wirkung der
Information auf den Empfänger zu zeigen. Da zudem nicht immer klar ist,
ob Verhaltensweisen, Strukturen, chemische Substanzen usw. tatsächlich im
Dienste der Kommunikation entwickelt wurden oder von der Umgebung
eines Individuums bloß informell genutzt werden, ist es gar nicht einfach,
naturwissenscha�lich an diesem Komplex von Phänomenen zu arbeiten.
Relativ klar ist die Sache bei Signalen, wo Sender und Empfänger zweifelsfrei feststehen. O� handelt es sich dabei um ritualisierte Strukturen, bzw.
Verhaltensweisen, also um solche, die aus einem anderen Funktionskreis
rekrutiert und meist extrem stereotypisiert wurden. Dies war immer schon
eine der Kernzonen der Verhaltensforschung. Klassisch etwa die Arbeiten
von Julian Huxley zur Balz des Haubentauchers (1914). Und Konrad Lorenz
(1941) erstellte aufgrund homologer Balzbewegungen bei den Anatiden
148
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
(Gänse, Enten und Schwäne) in den Grundzügen bis heute gültige Verwandtscha�sbeziehungen. Die meisten dieser Balzbewegung leiten sich übrigens
vom Putzen oder der Nahrungsaufnahme ab. Weit weniger einfach ist die
Beurteilung ob, und in welchem Ausmaß Verhaltensweisen, die nicht direkt
den Signalen zugerechnet werden können, auch eine Signalkomponente
enthalten, bzw. von Anwesenden benutzt werden, um Information über
das handelnde Individuum zu beziehen. Was ist etwa von einem gänsischen »Triumphgeschrei« zu halten, bei dem ein Ganter zunächst einen
Scharnachbarn angrei�, dann mit geschwellter Brust zu seinem Weibchen zurückkehrt und mit ihr ein Grußritual vollzieht. Die Funktion als Signal an das
Weibchen scheint jene des Vertreibens konkreter Rivalen weitaus zu überwiegen. Aber es ist schwierig, dies auch experimentell zu zeigen. Anzunehmen,
aber noch schwieriger nachweisbar wäre die Signalfunktion dieser extrovertiert-lauten Zeremonie an die Schargenossen.
In Folge sollen einige Aspekte von Kommunikation diskutiert werden,
wie etwa Ritualisierung, Körpersprache und Mimik, aber auch das sogenannte »Gedankenlesen« und »Lüge und Betrug«, also das Streuen von
Falschinformation oder auch das Zurückhalten von Information.
Ritualisierung – Signalbildung
Balzende Vögel hängen kopfüber, entblößen zi�ernd bunte Federpartien,
geben seltsame Laute von sich, bringen den Weibchen (meist symbolische)
Geschenke, die Vielfalt ist enorm. Signale vermi�eln eindeutige Botscha�en,
meist durch wiederholte Darbietung. Ritualisiertes Verhalten ist meist auffällig, sieht »übertrieben« aus. Es soll die »Sales resistance« also auf Seiten des
Empfängers den Widerstand überwinden, auf eine Botscha� zu reagieren.
Ritualisierte Signale findet man praktisch bei allen Tieren. Sie sind »ehrlich«,
weil Fälschung entweder nicht möglich ist oder gefährlich wäre. Natürlich
»möchten« letztlich alle Männchen einer Art den Weibchen gefallen und
dermaßen möglichst viele Nachkommen zeugen. So sind Gecken ein evolutionäres Resultat weiblicher Zuchtwahl. Die Weibchen zwingen die Männchen
damit, durch Ausbildung teurer Merkmale Flagge bezüglich ihrer Qualität zu
zeigen. Eine Pfauenschleppe ist nicht nur energetisch teuer herzustellen, sie
ist auffällig, verringert die Fluchtgeschwindigkeit und erhöht so das Risiko
des Männchens, einem Fressfeind zum Opfer zu fallen. Prunkmerkmale können nicht gefälscht werden. Ein schlecht ernährter, parasitenbeladener Pfau
kann einfach nicht prächtig aussehen. So signalisiert das Pfauenmännchen,
dass es trotz des Handicaps der Schleppe gut aussieht, daher für die gegebene
Umwelt gute, parasitenresistente Gene haben muss (Zahavi 1984, 1997). Nur
ein starker Hirsch kann über einen entsprechenden Zeitraum eine entsprechende Röhrfrequenz halten, nur ein großes Erdkrötenmännchen kann tief
quaken, usw. Die von den Weibchen angezüchteten Handicaps können sehr
unterschiedlich sein. Es sind ursächlich die hohen Testosteronspiegel, die
Menschenmänner aller Kulturen Jahre vor ihren Frauen sterben lassen. Denn
dieses Hormon vermi�elt jene sekundären Geschlechtsmerkmale, wie breites
Kinn, dominantes, konkurrenzorientiertes Verhalten, kurz: Jenen Machismo,
den Frauen an Männern schätzen, von dem sie aber zumeist behaupten, dass
Brennpunkt Informationsfluss
149
sie es nicht tun. Männer, die sich nicht an diesem Hormonwe�lauf beteiligen,
hinterlassen statistisch weniger Nachkommen, die Selektion begünstigt also
die Testosteron-Konkurrenztypen.
Dass die Männchen haremshaltender Arten, wie etwa See-Elefanten, Hirsche,
Rinder, Gorillas, auch Menschen, meist viel größer als ihre Weibchen sind,
hat mit der Konkurrenz zwischen Männchen, bzw. mit Vaterscha�ssicherung
zu tun, die dadurch erreicht wird, dass man »seine« Weibchen gegen die
Avancen von Rivalen abschirmen kann. Letztere sind übrigens auch nicht die
rein passiven Objekte männlicher Politik, sie haben (in Grenzen) Haremswahl
und wehren sich meist aktiv gegen Kopulationsversuche subdominanter
Männchen. Kämpfe zwischen Rivalen beginnen zunächst immer mit Drohen
und mit ritualisiertem Vergleichen der Körpergröße, sei es bei Buntbarschen,
Hirschen oder Sumo-Ringern. Die Rivalen machen sich groß, umkreisen
einander gespreizt. Damit ist der Kampf meist schon zu Ende, bevor er begann. Und kommt es zum Kampf, dann meist ebenfalls ritualisiert, was die
Verletzungsgefahr in Grenzen hält. Beschädigungskämpfe sind selten. Sie
treten eigentlich nur auf, wenn es um einen sehr hohen Einsatz geht, etwa
das Reproduktionsmonopol in der Gruppe. Bluffen, also stärker scheinen,
als man wirklich ist, würde die Gefahr erhöhen, selber verletzt zu werden,
käme es zum Kampf. Darin liegt auch schon die Antwort auf die Frage, wem
ritualisiertes Kämpfen eigentlich nützt. Vor nicht allzu langer Zeit wäre der
»Überlebenswert für die Art« noch die allgemein akzeptierte Erklärung gewesen. Heute wissen wir, dass Gruppenselektion wenig Rolle spielt, es daher
kein Naturgesetz ist, den Gegner nicht zu töten. Ritualisiertes Kämpfen senkt
das Verletzungsrisiko, nicht nur des Gegners und wahrt damit zukün�ige
Reproduktionschancen. Es wäre zudem für das Überleben der meisten Arten
nicht unerheblich, Männchen durch Beschädigungskämpfe einzubüßen; für
die Erhaltung der Reproduktionsleistung wären auch wenige Männchen
ausreichend.
Ritualisierte Verhaltensweisen werden aus bereits vorhandenen selektioniert, die meist in einem ganz anderen Funktionszusammenhang entstanden, was so nebenbei einen schönen Beleg für die Realität des Lorenz`schen
Erbkoordinationskonzeptes darstellt (Exkurs 3). Wie die Vergleichende
Verhaltensforschung zeigt, entsteht etwa das Bodenpicken oder -zeigen
balzender Hühnervögel aus Nahrungspicken. Die Drohbewegungen von
Möwen und vielen anderen Arten entstehen aus Komfortverhalten, bzw. aus
dem noch immer rätselha�en »Konfliktverhalten«, das Grinsen der Menschen
und Schimpansen aus defensivem Zähnezeigen.
Körpersprache und Mimik
Kampf und Balz sind recht eindeutige Bereiche der Kommunikation. Sender
und Empfänger, Kosten und Nutzen sind relativ klar zu ermi�eln. Wie steht´s
aber mit Körpersprache und Mimik? Wie ein einfacher Artvergleich zeigt,
dienen Gestik und Mimik wahrscheinlich der innerartlichen Kommunikation.
Die Bedeutung der Mimik im aggressiv-defensivem Bereich bei hochsozialen Tieren, etwa Affen oder Hunden, ist einfach verständlich. Ein zähneflet-
150
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
schender Hund wirkt wohl auf alle Menschen bedrohlich. Die Interpretation
der Mimik der weniger sozialen Katzen (Leyhausen 1965) kann schon viel
schwieriger sein und die wenig ausgeprägte Mimik der eher einzellebenden
Bären zu deuten, ist Fachleuten, bzw. anderen Bären vorbehalten.
Es scheint, als ob Mimik und Körpersprache notwendige Mi�el des
Informationsflusses zum gegenseitigen Nutzen zwischen den Individuen
einer Gruppe wären, etwa um gegenseitiges Einschätzen und die eigene
Einordnung zu ermöglichen. Durch dieses Ausdruckverhalten beeinflussen
die Mitglieder einer Gruppe einander, stimmen ihre Handlungen aufeinander
ab. Mehr als 70 % der Information fließen sogar beim Dauerredner Mensch
nichtverbal. Es ist daher klar, dass diese Kommunikation auf gemeinsamen
(evolutionären) Konventionen beruhen muss (Eibl Eibesfeldt 1995). Dies sind
die eigentlichen Bindungsmechanismen in sozialen Gruppen. Es sollte daher
auch Körpersprache und Mimik »ehrlich« sein. Evolutionäre Voreinstellungen
für körpersprachliches »Lügen« wäre evolutionär wohl nicht stabil. Tatsächlich
schaffen es Menschen gewöhnlich nur nach Training, auch ihre Körpersprache
überzeugend mit verbalem Lügen überzeugend abzustimmen.
Humanethologen (z. B. Grammer 1988, 1993) berücksichtigen vor allem den
nichtverbalen Ausdruck und leisten damit einen wichtigen Beitrag, von einer
vorwiegend kopflastigen Beurteilung menschlichen Verhaltens wegzukommen
und die tatsächlichen Mechanismen unseres Zusammenlebens zu erforschen.
Mimik und Körpersprache sind die Basis für alle Gemeinscha�saktivitäten in
unserer menschlichen Kultur, selbst (oder gerade) in Wirtscha� und Politik.
Darum sind auch Banke�e zwischen Staatsoberhäupter (neben ihrer Funktion
des gegenseitigen Beeindruckens) ganz konkrete, friedenserhaltende
Maßnahmen. Und Körpersprache und Mimik drängen im Zusammenhang
mit Flirt und A�raktivität zwischen Partnern die verbale Sprache in eine
Statistenrolle. Auch deswegen wird auf diesem Gebiet he�ig geforscht.
»Gedankenlesen«
Wenn nun aber Räuber ihrer Beute gegenüber oder Mitglieder von sozialen
Gruppen ihren Rivalen gegenüber ihre Absichten so gut wie möglich zu
verschleiern suchen, dann wird es natürlich auch schwierig für den menschlichen Beobachter. Dieser Bereich wurde von dem gar nicht metaphysisch
angehauchen John Krebs mit »Gedankenlesen« betitelt. Dies bezieht sich
darauf, dass empfindsame Tiere und Menschen die Absichten anderer vorhersagen können, ohne dass rationalisierbar wäre, auf welchen Kanälen
bzw. wie diese Information fließt. Mit Übernatürlichem oder irgendwelchen,
noch unentdeckten »Gehirnschwingungen« hat das nichts zu tun, eher damit, dass Teile unserer Wahrnehmung aus dem Unbewussten heraus besser
funktionieren, als über den Umweg des Bewusstseins. Ein anderer englischer
Ethologe, der längere Zeit über Räuber-Beute-Beziehungen vor allem zwischen Elritzen und Hechten arbeitete, lieferte eine für das »Gedankenlesen«
bezeichnende Anekdote: Elritzen inspizieren gelegentlich einen Hecht in der
Nachbarscha�, indem sich einige Tiere in gefährliche Nähe begeben, um
dann wieder zum Schwarm zurückzukehren. Minuten vor einem Angriff des
Brennpunkt Informationsfluss
151
Hechtes aber wird dieses Verhalten eingestellt, obwohl für den Beobachter
keinerlei Zustandsänderung am ohnehin sehr bewegungsarmen Hecht erkennbar war. Gut, also doch irgendwelche »Schwingungen«? Wohl kaum,
denn Studenten waren fähig, von Videoaufnahmen solcher Hechte ebenfalls
richtig vorherzusagen, wann dieser Hecht angreifen würde, wiederum ohne
erkennen zu können, auf welchen Verhaltensänderungen ihre Vorhersage
beruht. Diese Geschichte belegt, dass zumindest in diesem Fall unbewusste
visuelle Wahrnehmung im Spiel gewesen sein muss, Reize also, die unser
Gehirn sehr wohl registriert, die aber die Schwelle ins Bewusstsein nicht überschreiten. Verständlich, denn das »Gedankenlesen« scheint speziell in der
Kommunikation zwischen Räuber und Beute wichtig zu sein. Dabei geht es
um Geschwindigkeit, langsames bewusstes Nachfragen ist dabei hinderlich.
Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Art der unterschwelligen
Kommunikation inner- und zwischenartlich eine wichtige Rolle spielt, und
zwar überall dort, wo eine Seite daran interessiert ist, »dichtzumachen«, die
andere Seite dagegen auf diese Information angewiesen ist. Das tri� vor allem auf Räuber - Beutebeziehungen zu, in denen die Beute definitionsgemäß
dem Räuber immer einen Schri� voraus sein muss, wahrscheinlich auch in
der Abschätzung der Eigenscha�en, sonst wäre sie bereits ausgestorben.
Potentiell betri� diese subtile Kommunikation auch alle Konflikte, an denen
das Sozialleben der Tiere ja ziemlich reich ist. Es wird daher eine wichtige,
wenn auch schwierige Aufgabe für die Zukun� das »Gedankenlesen« naturwissenscha�lich zu erschließen.
»Lügen«
Wenn Menschen zu ihrem eigenen Vorteil schwindeln können, Information
verbergen, bzw. Falschinformation streuen, warum nicht auch soziale
Tiere? Lügen können wird sogar als Merkmal für hochentwickelte geistige
Fähigkeiten von Tieren angesehen (Griffin 1992). Selbst Sperlinge können
selektiv verheimlichen: Sie rekrutieren, rufen also ihre Artgenossen heran, wenn sie Brotbrösel finden, die sie an Ort und Stelle, unter möglichem
Raubfeinddruck aufpicken müssen. Dieselbe Menge Brot in Form eines einzigen Stückchens wird dagegen still in ein Versteck getragen und dort alleine
verzehrt.
Dass Hunde lügen können, ist zwar im streng naturwissenscha�lichen Sinn
nicht nachgewiesen, wohl aber jedem Hundehalter bekannt. Aber es wird im
Tierreich auch nachweislich gelogen: Relativ häufig ist die missbräuchliche
Verwendung von Alarmrufen bei Vögeln, die damit erreichen, dass sie nach
der Flucht der anderen in Ruhe die vorhandene Nahrung nutzen können. Der
einzige, der »weiß«, dass keine Gefahr droht, ist der Alarmrufer selber, die
anderen müssen flüchten, denn es könnte ja ernst sein. In einer südamerikanischen Fressgemeinscha� verschiedenere Arten von Kleinvögeln, von denen die
meisten relativ weit unten im Gebüsch oder am Boden nach Nahrung suchen,
fungiert ein zuoberst fliegender Insektenfresser als Warner, vertri� aber als
solcher meist seine eigenen Interessen. Nur etwa jedes zehnte Mal entspricht
dem Alarmruf eine reale Gefahr, in der Mehrzahl der Fälle schreit er Alarm,
152
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
wenn von den unter ihm Jagenden ein besonders fe�es Insekt aufgestöbert
wurde. Die Betrogenen gehen in Deckung, der Lügner frisst das Insekt (Munn
1986). Denn schließlich bedeutet Hereinfallen auf den Betrug eine versäumte
Mahlzeit, aber es wäre lebensgefährlich, diese Warnung zu ignorieren.
Von Whiten und Byrne (1997) wurden 253 Fälle von »taktischem Betrug«
bei Affen zusammengetragen. Fast alle diese Fälle betreffen Menschenaffen
(vgl. Byrne 1995). Ob Lemuren und Affen »zu dumm« zum Schwindeln sind,
oder ob das daran liegt, dass vorwiegend Menschenaffen beobachtet wurden,
bleibt offen (Hauser 2001). Jedenfalls sollte, um erfolgreich tricksen und bluffen zu können, eine gewisse Fähigkeit vorhanden sein, aus der Perspektive der
Absichten und Gedanken anderer zu operieren. Diese Fähigkeit konnte bislang nur an Schimpansen nachgewiesen werden (Hare u. a. 2001). Allerdings
wäre es ein Fehler, nach hochentwickelten macciavellischen Fähigkeiten
(Whiten und Byrne 1997) nur bei Affen, Menschenaffen und Menschen zu
suchen. So konnte gezeigt werden, dass auch Raben begnadete Schwindler
sein können (Bugnyar und Kotrschal 2002 a,b). Beim Verstecken von Fu�er
versuchen die Verstecker dies außer Sichtweite von Beobachtern zu tun. Denn
nur wenn (selbst aus größerer Distanz) ein Konkurrent es scha�, direkt zuzusehen, wird er das Versteck auch finden. Beobachter tun daher so, als würden
sie gar nicht hinsehen und steuern das Versteck erst an, wenn der Verstecker
bereits wieder weg ist. Ob diese scheinbaren Strategiespiele allerdings das
Ergebnis eines einfachen Lernprozesses sind, beispielsweise einfach durch
die Erfahrung, dass Verstecken in Sichtweite eines Artgenossen den Verlust
des Leckerbissens bedeutet, oder ob sie wirklich, wie etwa bei Schimpansen,
auf der Fähigkeit beruhen, darauf zu reagieren, was der andere weiß, ist noch
abzuklären. Dass allerdings Raben geradezu sagenha�e geistige Fähigkeiten
haben, wissen alle, die mit ihnen arbeiten.
Gerade weil der Informationsfluss (über Genom und über geistige Fähigkeiten)
und dessen Manipulation eine Schlüsselposition beim Verständnis der
Evolution einnimmt, wird die Kognitionsforschung wohl noch lange ein
höchst interessanter Brennpunkt der Verhaltensbiologie bleiben.
Ist der Mensch ein Tier?
Durch Darwin wurde die Menschheit ihrer Sonderstellung beraubt und in
die zoologische Stammesgeschichte integriert, auch was ihr Verhalten betri�. Trotzdem war die Psychologie des letzten Jahrhunderts nicht gerade
evolutionär orientiert. Erst mit der rasanten Entwicklung der Soziobiologie
in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gewannen biologische
Erklärungen für menschliches Verhalten zunehmend an Bedeutung. In der
Verkleidung der »Evolutionary psychology« erlebt die Humanethologie in
den USA gerade einen Höhenflug.
Die traditionellen, ethisch und politisch motivierten Widerstände gegen
welche die Humanethologie beständig anzukämpfen ha�e, sind auch
heute noch spürbar. Dass eine biologische Diagnose, etwa zur Grundlage
der Geschlechterrollen, nicht deren Zementierung bedeutet, sollte klar sein.
Ist der Mensch ein Tier?
153
Verhaltenswissenscha�ler haben sich zunächst um das Sein, nicht um das
Sollen zu kümmern und korrekte Diagnosen sind die Voraussetzung für
Veränderung. Es wird ja auch der Meteorologe nicht für die We�erprognose
geprügelt, warum also der Biologe für die von ihm überbrachte Botscha� von
den triebha�en Komponenten menschlichen Verhaltens?
Der Mensch sei vom Natur- zum Kulturwesen geworden, kann man o� hören.
Der komplexe »kulturelle Überbau« überdecke alles, was möglicherweise an
stammesgeschichtlichem Erbe noch in uns steckt, so die Distanzierung vom
Tier in uns. Natürlich erleichtert die kulturelle Vielfalt die Analyse nicht gerade, aber letztlich ist das Denken im Gegensatz Natur - Kultur wegen der
innigen Verzahnung der Ebenen nutzlos. Natürlich gibt es Erscheinungen
in modernen Gesellscha�en, die nicht auf Anhieb in unsere evolutionären
Schemata zu passen scheinen. Wenn Organismen wirklich darauf getrimmt
sind, die Zahl ihrer reproduktiven Nachkommen zu optimieren, ist die demographische Wender, der Trend zur Zwei- Ein- oder sogar Kein-Kind-Familie
soziobiologisch nicht zu erklären, oder doch (s. Exkurs 11)? Denn wenn das
nicht der Fall ist, dann steckt die Theorie in ernsten Problemen. Und wie ist
Homosexualität zu erklären, die ja nicht reproduktiv sein kann? Kann eine
Synthese zwischen den scheinbaren Gegensätzen biologisches Erbe - kultureller Überbau erreicht werden? Ich behaupte: ja! Zur Erläuterung muss allerdings etwas ausgeholt werden, um erst anschließend menschliche Sozial- und
Reproduktionssysteme in biologischen Zusammenhang zu stellen.
Natur und Kultur: Bindeglied Informationsfluss?
Exkurs 11: Bevölkerungsexplosion und -stagnation
Um global nachhaltig zu wirtschaften fehlen nicht nur Einsicht und Know how, ist
nicht nur die Vorherrschaft des Kurzzeitvorteils hinderlich, dafür gebt es schlicht
auch schon zu viele Menschen auf der Welt. Dafür sind aber weniger die stark
reproduzierenden Massen in den Entwicklungsländern, sondern vor allem die
auf Basis von fossilen Energien und Ressourcenverschwendung zu Reichtum
gekommenen Bewohner der entwickelten Länder verantwortlich. Dies führt
direkt zu den bekannten ökologischen Problemen wie Ozonloch und globale
Erwärmung. Die Übervölkerung vieler wenig entwickelter Länder des Südens
bedingt eine Natur- und Lebensraumzerstörung und eine damit einhergehende
Verwüstung und Verödung bislang unbekannten Ausmaßes. Alle diese miteinander vernetzten Erscheinungen beschneiden die Lebensgrundlage künftiger
Generationen.
Wie kommt es zu diesem reproduktiven Ungleichgewicht? Es liegt neben vielen anderen Gründen letztlich am »biologischen Imperativ«: Menschen sind
wie alle anderen Lebewesen auf der Welt evolutionär darauf getrimmt, ihren
Fortpflanzungserfolg zu optimieren. Über den längsten Zeitraum menschlicher Evolution sorgten funktionierende Gruppenstrukturen und energetische
Beschränkungen (was nicht Mangelernährung bedeuten muss) dafür, dass die
Populationsdichten nicht explodierten. Dass es immer schon eine Eigenschaft
154
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
menschlicher Gruppen war, die Nachbarn zu massakrieren, mag dazu beigetragen haben. Bereits seit einiger Zeit sind offenbar diese einfachen alten
Mechanismen in unserer weltweiten Vermischung der Kulturelemente mit den
Segnungen unserer Industrie- und Informationsgesellschaft nicht mehr wirksam;
massakriert wird zwar weiterhin, das hat aber wesentlich weniger Einfluss auf die
Populationsdichten wie die weltweite Renaissance der Infektionskrankheiten.
Gerade in Schwellenländern reichen trotz Armut die vorhandenen Ressourcen
aus, mehr Kinder aufzuziehen, als früher. Der zugrundeliegende evolutionäre
Imperativ der Reproduktion ist mit anderen evolutionären Strategien quervernetzt. So ist es in vielen Kulturkreisen für Männer immer noch sehr prestigeträchtig, viele (vor allem männliche) Kinder zu zeugen. Diese evolutionären
Erbstrategien im Gemenge mit geringer Bildung, Aufklärung, Rechtlosigkeit der
Frauen, kontraproduktiven Traditionen, zerbröselnden Staatlichkeiten, konservativ-katholischen Positionen, etc. bilden sehr ungünstige Randbedingungen für
erfolgreiche Empfängnisverhütung. Die ungebrochene Bevölkerungsexplosion
in den Ländern des Südens führte in den letzten Jahrzehnten ungebremst zu
einem immer weiteren Auseinanderdriften der Wohlhabenden und Armen, der
hegemonialen Wirtschaft der Privilegierten und den neokolonial von dieser
Wirtschaft beherrschten recht- und machtlosen Zulieferern und Abnehmern für
Überschüsse und Ramsch. Die Welt insgesamt ist vergleichbar mit dem zynischen Zustand Indiens, wo 10 % Mittelstand Wirtschaft und Demokratie tragen,
die restlichen 90 % der Bevölkerung sind menschlicher »Füllstoff«, politischwirtschaftlich unbedeutend und abgeschrieben. Die Dämme zwischen den zwei
Welten werden wohl nicht auf Dauer zu halten sein.
Evolutionär schwierig zu erklären ist dagegen das starke Absinken der
Geburten in den industrialisierten Ländern, der »Pillenknick«, die »demographische Wende«. Man sollte eigentlich annehmen, dass die alten evolutionären Strategien in Verbindung mit der Verfügbarkeit von Ressourcen zu
sehr hohen Reproduktionsraten führen sollten. Das Gegenteil ist der Fall, die
Null- bis Zweikindfamilie dominiert. Ist es die Einsicht in die Notwendigkeit
der Geburtenbeschränkung, haben wir als moderne Arbeitssklaven keine Zeit
mehr für Kinder, sind wir zu materialistisch-egoistisch geworden? Alle diese
Argumente mögen stimmen, nur eines ist nicht möglich: Wir können innerhalb
weniger Generationen nicht zu »neuen Menschen« geworden sein, die ihre
evolutionäre Bürde über Bord warfen. Sind wir tatsächlich nicht, denn auch
Menschen in den Industriestaaten zeigen sozio-sexuelles Verhalten, als ob es
noch immer höchste Priorität wäre, Nachkommen zu produzieren.
Wenn im Verlauf der Evolution vor allem Strategien selektioniert wurden, welche
die individuelle Weitergabe von Information (zunächst über Genom, dann zunächst zunehmend, über Kulturtraditionen) optimieren, dann könnte die letztliche
Erklärung für die demographische Wende im sich verschiebenden Verhältnis und
Wertigkeit genetischer gegenüber kultureller Information zu finden sein. Über
lange evolutionäre Zeiträume stach das Gen das Mem, im Industriezeitalter kam
es zur Wende und im Informationszeitalter (oder in den Informationskulturen)
sticht das Mem eindeutig das Gen. Wenn der Prestigegewinn für Individuen
von der Menge gesellschaftlich relevanter Information abhängt, dann wäre
erklärbar, warum die demographische Wende in unterschiedlichsten Ländern,
Ist der Mensch ein Tier?
155
bzw. gesellschaftlichen Schichten immer mit einem bestimmten industriellen
Entwicklungsstand eintritt. Mit einer bestimmten Schwelle beginnen offenbar
die kulturellen Informationsinhalte mit den genomischen gleichzuziehen. Diese
Hypothese wird im Abschnitt »Natur und Kultur: Bindeglied Informationsfluss«
(s. unten) diskutiert. Selbstverständlich werden monokausale Ansätze der
demographischen Wende nicht gerecht – das Phänomen verlangt nach
vielschichtigen Erklärungen. Eine grundlegende Erklärung entsteht aus der
Zusammenführung von Biologie und Kultur.
Die Kernaussage des Darwinismus vom »survival of the fi�est«, also den
»Überleben des Tüchtigsten« ist euphemistisch, denn wer sonst als »der
Tüchtigste« sollte überleben? Damit ist allerdings heute kein Kampf mit
Zähnen und Klauen gemeint, nicht einmal individuelles Überleben, sondern
subtile Unterschiede zwischen den Individuen in ihrer Anpassung an die
Umwelt, ihrer Konkurrenzfähigkeit und sozialer Kompetenz. Ökonomische
Individuen können mehr Nachkommen produziere, deren Gene setzen sich
letzlich in einer stabilen Umwelt über die Generationen durch. Das evolutionäre Maß für Fitness ist daher die Anzahl der wieder reproduktiv aktiven
Nachkommen, weshalb man besser vom »Vorteil der tüchtigsten Erbanlage
über die Generationen« sprechen sollte.
Warum aber sollte es für einen hier und heute lebenden Organismus erstrebenswert sein, möglichst viele Nachkommen zu hinterlassen, wenn er zum
Zeitpunkt, da er die Früchte seiner Bemühungen bewundern könnte, also
den Klan der Ur- und Ur-urenkel, schon tot ist? Mit anderen Worten, was
ist der Lohn aller Reproduktionsanstrengungen? Warum sollte es eigentlich
einziges Ziel im Leben jedes Organismus sein, mehr Nachkommen als andere
zu hinterlassen, die wiederum mehr Nachkommen als andere hinterlassen,
die wiederum … ? Diese Frage ist falsch gestellt. Hier geht es nicht um das
Sollen, sondern um das Sein. Es scheint übrigens eine typisch menschliche
Geistessucht zu sein, dass alles einen letzten »Sinn« haben muss, als von Haus
aus plan- und zweckmäßig so geplant war. Das eben ist der »reproduktive
Imperativ« sicherlich nicht. Die Zufälligkeit auch der menschlichen Existenz
wirkt bedrohlich, erzeugt Angst, doch nur ein Staubkorn im Weltall zu sein,
nicht gewollt von einem allmächtigen Go�, auf alle Ewigkeit geborgen in
seinen Armen. Aber diese Sinnfragen zu diskutieren, ist nicht Sache der
Biologie, der notwendigerweise reduktionistischen und materialistischen
Naturwissenscha�en, das ist eine Frage des Glaubens. Es scheint ungeheuer
schwierig, zu akzeptieren, dass die Evolution weder in geplante Richtungen
läu�, weder gut noch böse ist, sie ist einfach. Daher sind auch evolutionäre
Verhaltensantriebe des Menschen, die etwa zu Seitensprung oder sogar
Kindstötung führen können, von ihrer Entstehung her weder gut noch böse
– es gibt sie einfach. »Gut und Böse« sind mit dem ethisch-reflektierenden
Menschen verknüp�e Bewertungen. Die evolutionär fundierte menschliche
Moral entstand im sozialen Zusammenhang, zur Sicherung jener Gruppen,
welche Individuen zur Wahrung der eigenen Interessen benötigen. Somit lautet die Antwort auf die Frage, warum für alle heute lebenden Organismen der
156
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
»reproduktive Imperativ« gilt, dass über eine stetige Konkurrenz innerhalb
von Populationen und Arten eben nur in Hinblick auf Reproduktion optimierte Genotypen übrig blieben.
Was ist das eigentlich Ergebnis dieser Fortpflanzerei? Die Körper von
Individuen sind vergänglich, zerfallen wieder in ihre Ausgangsstoffe.
Diese mögen schließlich am Wege des Sto�reislaufs und über Pflanzen als
Bestandteil eines Organismus fungieren, oder über Abbau, Sedimentation,
etz. wieder ein Teil der anorganischen Natur werden. Wir sind aus geborgtem kosmischen Material aufgebaut. Welch hübsches Thema für philosophische Diskussionen! Hier geht es aber am Thema vorbei, lautet die Frage doch
schließlich, wie es kommt, dass aus einer beschränkten Anzahl dieser kosmischen Elemente die ungeheuere Fülle und Komplexität des Lebens entsteht
und erhalten wird. Es geht um die Natur des individualisierenden Prinzips,
welches über Generationen perpetuiert, die Seele der Evolution bildet.
Vergänglich sind selbst jene an sich recht stabilen Moleküle, welche den zellulären Informationsspeicher der Organismen, die Desoxyribonukleinsäure,
die DNS, au�auen. Auch sie wird nach dem Tod des Individuums in ihre
Ausgangsbestandteile zerfallen. Sie wird auch bei jeder Zellteilung zunächst
um die Häl�e ausgedünnt. Ihre beiden Stränge, die wir als diploide (doppelter Chromosomensatz) Organismen in unseren Zellkernen enthalten,
wird im Zuge der Reifeteilung haploid. Das heißt, dass Eier und Spermien
je einen einfachen Chromosomensatz enthalten, wobei es Zufallselemente
bei der Trennung der DNS-Stränge gibt, was dafür sorgt, dass nicht nur jede
Keimzelle genetisch einzigartig ist, sondern auch Nachkommen niemals exakte 50/50-Kopien ihrer Eltern sind. Aber auch diese Details bringen uns hier
nicht weiter.
Das einzige, was relativ konservativ, wenn auch, wie diskutiert, nicht gänzlich
unverändert über die Generationen weitergegeben wird, ist die Sequenz der
DNS-Basenpaare. Diese kodiert die Baupläne für alle Proteine und auch das
An-und Abschaltens der Gene, die unseren Körper au�auen und funktionieren lassen. Tatsächlich wird also nicht die Materie über Generationen weitergegeben, sondern Information. Was treibt also Organismen, als Informationsvermi�ler zwischen den Generationen zu fungieren? Das Argument, dass
es schließlich keine Organismen in der heutigen Form gäbe, würde dieser
Mechanismus nicht existieren, ist natürlich nicht stichhaltig, weil Evolution
eben nicht vorausschauend funktioniert und Individuen naheliegendere
Interessen haben, als ein komplexes geistiges Konzept, wie die »evolutionäre
Entwicklung« voranzutreiben.
Aus naturwissenscha�licher Sicht gibt es keinen »Sinn« in der Evolution,
will man nicht transzendentale Erklärungen bemühen. Die Frage nach der
treibenden Kra� dieses tatsächlich »sinnlosen« Reproduzierens im Lichte
neuerer Erkenntnisse der molekularen Genetik mag wohl Richard Dawkins
(1977) dazu gebracht haben, die zunächst irrwitzig scheinende Hypothese
zu entwickeln, dass es die Gene sind (oder genauer: Der Informationsgehalt
derselben), welche die Organismen zur eigenen Reproduktion benutzen; das
Individuum als Kopierapparat, manipuliert von den Kopien, die er eigentlich
Ist der Mensch ein Tier?
157
glaubt, autonom zu produzieren. All unser Tun und Wollen werde durch
unsere Gene so manipuliert, dass möglichst viele Kopien derselben perpetuiert werden. Direkte Belege dafür lieferten übrigens Molekularbiologen,
die zeigten, dass der Konkurrenzkampf zwischen den Genen sogar noch im
Individuum weitergehen kann (Hurst 1992). Letztlich schaltet dieses despotische Informationsmoloch sein temporäres Vehikel, das Individuum, zu einem
für ihn günstigen Zeitpunkt wieder ab, leitet den Vorgang des Sterbens ein.
Dieser mächtige Informationsinhalt ist mehr als ein Gleichnis, er beherrscht
uns tatsächlich und ist trotzdem für unsere Vorstellungskra� kaum grei�ar;
auch ein Prinzip, das allen evolutionären Strategien gemeinsam ist. Sie offenbaren sich unserem Bewusstsein erst auf hartnäckiges Nachfragen, wir funktionieren nur als unaufgeklärte Individuen »gut« im Sinne der Evolution. Für
den beherrschenden »Paten« Information ist es offenbar wichtig, sich nicht
durchschauen zu lassen, zu viel Einsicht lässt Sklaven aufmümpfig werden.
Die Fernsteuerung durch unsere Gene, bzw. deren Informationsgehalte,
scheint perfekt. So gesehen ist Orwells »großer Bruder« tiefe Realität, seit es
Menschen, ja sexuell reproduzierende Organismen überhaupt gibt.
War es Menschen bislang selbstverständlich, die Gene als (ihrer Individualität
untergeordnete) Teile ihrer selbst zu betrachten, so verursachte die
Dawkinsche Umkehrung der Welt – die Denkmöglichkeit, dass wir weit
davon entfernt sind, die freien Träger unserer Gene zu sein, sondern vielmehr von diesen subtil versklavt werden – einen Schock und verursachte
vielfache Proteste, auch von Seiten namha�er Biologen. So wie Kontroll- und
Bedeutungsverlust für Menschen immer einen Schock verursacht, sei es die
Einsicht, dass etwa der Wolf in Gestalt des Hundes über den Vektor Mensch
zu einem der erfolgreichsten Wirbeltiere aller Zeiten wurde (wer benutzt da
wen?) oder dass sich eben die Erde um die Sonne dreht, nicht umgekehrt.
Es ist unerheblich, ob die wild anmutende Dawkinsche Theorie gefällt oder
nicht – sie blieb über die letzten Jahrzehnte sehr plausibel.
Das eigentliche Thema des evolutionären Reproduktionsspieles lautet also
Informationstransfer. Die Menschwerdung spielte sich im Zusammenhang
mit der Konkurrenz zwischen Mitmenschen ab, die eigenen Gene möglichst
effizient in die nächste Generation zu bringen. Dass die Erbinformation
ausgerechnet in Basentriplets verschlüsselt im Doppelstrang der DNA vorliegt, ist dabei unbedeutend, ist prinzipiell nicht anders oder geheimnisvoller als die Abfolge der Bits und Bites in den verschiedenen elektronischen
Speichermedien. Die vor einer Milliarde Jahre oder mehr in der Ursuppe
schwimmenden Ribonukleinsäuren standen für ein informationsspeicherndes und -vermehrendes System zur Verfügung, waren dafür offenbar besser
geeignet als andere organische Urverbindungen. Information braucht ein
Vehikel, sonst, welches sie nicht nur perpetuiert, sondern auch ein Auslesen
der Informationsinhalte erlaubt. Der perpetuierende Moloch Information
erlangte seine kreative Dominanz in der Evolution nur durch die DNS.
»Information« ist daher kein metaphysisches Prinzip; Speicherung und
Wandel durch Mutation und Selektion, sowie die Art ihre Übertragung in
Proteinstrukturen sind durch das übertragende Medium bestimmt.
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Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
Es sind die Emotionen als eingebaute Verhaltensantriebe, die uns durch die
Gassen der evolutionären Strategien treiben, Schlafwandlern gleich, denn das
Wissen über diese Zusammenhänge ist nicht einmal im Unterbewusstsein präsent. Dienen wir der evolutionären Informationstransferpflicht, dann werden
wir mit Lust, bzw. Befriedigung belohnt. Emotionen sind Zuckerbrote und
Peitschen evolutionärer Strategien. Die Art der Informationsspeicherung und
-vervielfältigung diktiert den Organismen die Randbedingungen ihres Lebens.
Alles, was Verhaltenswissenscha�ler interessiert, Partnerwahl, Konkurrenz,
Kommunikation, usw. steht letztlich im Dienste der Optimierung der individuellen Informationsweitergabe, zunächst in Form von Nachkommen.
Damit gibt es von der Ausrichtung des Verhaltens her kaum eine Trennlinie
zwischen unserem biologischen Erbe und dem »kulturellen Überbau«. Die
Entwicklung und die Weitergabe von Memen, also kulturellen, den Genen
analogen Informationseinheiten geschieht analog, also funktionsgleich zur genetischen Information (Dawkins 1977, Lorenz 1967). Konsequent betrachtet,
ist die Weitergabe kultureller, oder aber genetischer Information ein funktionell identischer (analoger), wenn auch nicht herkun�sgleicher (homologer)
Prozess. Die Spielregeln sind dieselben, der Effekt auf die Fitness ebenfalls, so
diese nicht als Verpackungseinheiten, also als Zahl der wieder reproduktionsaktiven Nachkommen, sondern als deren Informationsgehalt definiert wird.
Im evolutionären Geschehen wurden unsere Vorfahren zunächst darauf
getrimmt, effizient Pakete von Erbinformation in Konkurrenz mit anderen weiterzugeben. Heute sind es innerhalb der Eliten der High-TechInformationsgesellscha� (weltweit gesehen eine kleine, aber regierende
Minderheit) eher Meme (Dawkins 1977), also Pakete kulturellen Inhalts, die
in Konkurrenz mit anderen um die Aufmerksamkeit anderer weitergegeben
werden. Dies wirkt auch direkt auf die genetische Fitness zurück, welche allerdings zunehmend zur Nebenfront wird. Unser modernes Leben ist dicht
mit Konkurrenzentscheidungen um Meme durchzogen: Welchen (möglichst
»intelligenten«, daher ausbildungsintensiven) Beruf sollte unser Kind ergreifen, in welchem Supermarkt wird eingekau�, welche Wohnung gewählt, in
welchen Vereinen sozialisiert man sich, welches Buch sollte man lesen, welche TV-Sendung sehen ... ? Konkurrierende Informationspakete, wohin man
schaut – die vielen Sendekanäle der Fernsehsatelliten, die fast unendliche Fülle
im Internet, all das zeigt das Grunddilemma der Informationsgesellscha�
schlechthin: Menschen verfügen nur über einen erstaunlich engen Zugang
ins Bewusstsein, können also etwa nur einen Sendekanal gleichzeitig beobachten, müssen sich daher entscheiden. Die konkurrierenden Stationen
und Medien wiederum versuchen, auf diese Entscheidungen Einfluss zu
nehmen, denn Einschaltquoten bestimmen über Gedeih oder Verderb von
Sendungen und Stationen, genauso, wie der Gentransfer über Fortbestand
oder Konkurs »genetischer Unternehmen«, also von Individuen und deren
Verwandtscha�sklans bestimmt.
Ein zunächst seltsames, aber dann doch recht erhellendes Phänomen sind
die Nachrichtenstationen, etwa CNN, von denen es weltweit immer mehr
gibt, die untereinander darum konkurrieren, uns »Information« zu verkau-
Ist der Mensch ein Tier?
159
fen, also mehr oder weniger interpretierte Berichte von Ereignissen. Der
Konsum dieser Informationen hat offenbar Unterhaltungswert, verdeutlicht
die Informationssucht der Menschen. Wie sonst wäre es erklärbar, dass viele
Menschen freiwillig und tagtäglich großteils grauenha�e Nachrichten über
Katastrophen und Gewalt über sich ergehen lassen, die überwiegend für
ihr gegenwärtiges Leben völlig irrelevant sind, sich also über etwas informieren, das zu wissen eigentlich mit keinerlei Nutzen verbunden ist? Ob
es nun im australischen Busch brennt, oder Züge in Indien entgleisen – was
haben wir von diesen Informationen? Eine grundlegende Antwort scheint zu
sein, dass Menschen eben notorisch informationssüchtig sind, ein williges
Publikum für Märchenerzähler, Dor�ratsch, oder die TV-Nachrichtenkanäle.
Menschen suchen und assimilieren Information und es bereitet ihnen offenbar Schwierigkeiten, sie auf spezifische Relevanz zu filtern.
Die Verhaltensstrategien, welche die für Effizienz in diesen Informationstransferspielen sorgen, sind uralt: Kommunikation und Manipulation von
Konkurrenten und sozialen Partnern, damit diese im eigenen Interesse handeln sind Eigenscha�en, die vielen sozialen Tieren zueigen sind und finden
sich besonders ausgeprägt bei Raben, Schimpansen und Menschen. Diese
Strategien wurden im Zusammenhang mit dem genetischen Fitness-Spiel
entwickelt. Auch ursächlich verschmolzen Gen- und Mempropagierung
immer mehr. Mem-Handling-Kapazität wurde im Bereich der menschlichen
Partnerwahl immer wichtiger. Der Turbo wurde wahrscheinlich mit der
rasanten Entwicklung der menschlichen Sprache, vor etwa 700 000 Jahren
eingebaut. Die Kapazität, mit Memen umzugehen, die für die anderen
Mitglieder der eigenen Gesellscha� von Bedeutung sind, wirkt direkt auf
den Informationsfluss über Gene zurück. Ressourcenreiche Männer wirken
auf Frauen aus gutem Grund immer schon anziehend: Reichtum wirkt zeitlos
sexy. Heute spielt aber vielfach die Informationstransfer-Kapazität dieselbe
Rolle, welche zudem zur Kontrolle der materiellen Ressourcen immer wichtiger wird. Wirtscha�bosse, Techniker, Computerwissenscha�ler usw. sind
darauf angewiesen, ihre kognitiven Fähigkeiten anders einzusetzen als
etwa der klassische Fließbandarbeiter. Kopfarbeiter verdienen gewöhnlich
mehr als Handarbeiter und haben daher auch einen höheren Marktwert auf
der Partnerbörse. Berufe mit hohem gesellscha�lichem Ansehen sind ausnahmslos informationsintensiv. Sie können, müssen aber nicht mit hohem
Einkommen einhergehen, wie das Beispiel der jungen Wissenscha�ler an
den Universitäten zeigt. Aber auch deren Zukun�spotential ist hoch. Die
Essenz sowohl der biologischen, als auch der kulturellen Reproduktion ist die
Weitergabe relevanter »Selbst«-Information; die Spielregeln der biologischen
Evolution sind weitgehend mit jenen der Kulturevolution identisch. Dabei ist
»Selbst«-Information als jene zu definieren, welche die eigene Fitness (nun in
einem breiteren, auch gesellscha�lichen Sinn) fördert und somit die Chancen
auf ihre eigene Perpetuierung verbessert.
Der Kulturevolution zugrundeliegende Mechanismen sind alle mit Informationsfluss verbunden: 1. die differentielle Vererbung der Gene, 2. individuelles Lernen und 3. kulturelle Übertragung durch soziales Lernen und
160
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
Traditionsbildung. Von der Warte der Informationsausbreitung und der
Konkurrenz zwischen Informationsinhalten sind 1 und 3 beinahe identisch,
während das Ergebnis von 2 mit dem Tod eines Individuums verlorengeht, so
es dieses nicht scha�, seine akkumulierte Weisheit in die Kulturtradition eingehen zu lassen. Es scheint kein Zufall, dass sich die demographische Wende
in unterschiedlichen Teilen der Welt immer wieder parallel zum Wandel von
der Industrie- zur Informationsgesellscha� vollzog. Es sollte unmaßgeblich
sein, ob die fitnessrelevante »Selbst«-Information aus dem alten biologischen
Speicher DNS oder aus unseren modernen Archiven der Kultur kommt. Die
kulturelle Information wird proportional zu ihrer Menge und zur Relevanz
und Fitness-steigernden Bedeutung ihres Inhalts im Verhältnis zur genomischen Information an Bedeutung gewinnen.
In den technisierten Gesellscha�en des 20. und 21. Jahrhunderts gesta�en
uns Hochtechnologie-Hilfsmi�el immer mehr an gesellscha�lich relevanter
Information zu speichern und zu verarbeiten, sogar mehr, als in unseren Genomen
enthalten ist. Somit verschiebt sich in der Konkurrenz zwischen Erbinformation
und kulturellen Inhalten das Gleichgewicht rasch zugunsten letzterer. So ist es in
einer Bildungs- und Informationsgesellscha� aus »Sicht des Informationsgehalts«
vernün�iger, wenn wir als ihre Perpetuenten uns nicht einfach physisch
»auf Teufel-komm-raus« vermehren. In der Regel, und zwar abhängig vom
Einkommen, können Eltern vieler Kinder weniger in die Bildung (und damit in
die Zukün�ige Kapazität, mit Information umzugehen) einzelner Nachkommen
investieren, als Eltern weniger Kinder. Und diese wenigen, gut gebildeten Kinder
werden individuell mit einer größeren Wahrscheinlichkeit das Potential aufweisen, mit einer großen Menge relevanter Information (= Bits × Fitnessrelevanz)
umzugehen, als viele nur mäßig gebildete.
So verschwimmen der Grenzen zwischen Analogie (Funktionsgleichheit)
und Homologie (Herkun�sgleichheit) bei der Betrachtung evolutionärer und
kultureller Vorgänge. Es gilt, die Entwicklung von einer physischen Reproduzentengesellscha�, die wir bislang waren, in die Informationsgesellscha�
auf evolutionärer Basis durch testbare Arbeitshypothesen zu vernetzen.
Wenn dieselben Verhaltensanlagen und psychologischen Mechanismen
sowohl für die Propagierung genetischer, als auch kultureller Information
taugt, mehr noch: Wenn es eine innige Beziehung zwischen kulturellen
Fähigkeiten und A�raktivität von Partnern gibt, wir also (in Konkurrenz mit
unseren Mitmenschen entstandene) Hochleistungs-Informationsüberträger
sind, wird die Diskussion über Kultur einfacher und komplexer zugleich.
Für Konrad Lorenz (1967) waren Kulturen »Pseudoarten«, die Ähnlichkeiten
zur biologischen Artbildung lagen für ihn auf der Hand. Es scheint, als
wäre das Informationsfluss-spezialisierte Wesen Mensch über eine Art
»Runaway-Selektionsprozess« zustandegekommen, ähnlich wie man sich
die Evolution von durch »Fishersche Prozesse« entstandenen sekundären
Geschlechtsmerkmale vorstellt: Je besser unsere Fähigkeiten zum Informationstransfer sind, desto schneller dreht sich die Entwicklung. Antrieb ist
die Konkurrenz um begrenzte Ressourcen durch geistige Fähigkeiten, um
Ist der Mensch ein Tier?
161
letztlich Status und Partnermarktwert. Immer schon und vermehrt heute sind
Wissen, soziale Kompetenz und hohe Kulturfähigkeit sexy.
Es dauerte einige Millionen Jahre, bis aus der Verzahnung der Leistungsfähigkeit der Hirnrinde mit kulturell tradierten Informationen die Menschen
auch dank technischer Hilfsmi�el die Fähigkeit entwickelten, als Individuen
extragenomische Dichten des Informationsflusses zu erreichen, die mit jenen
des Genoms und der sexuellen Vermehrung vergleichbar sind. Es ist vielleicht
kein Zufall, dass gleichzeitig, oder kurz vor dem Erreichen dieser »kritischen
individuellen Informationskapazität« in den betroffenen Gesellscha�en die
demographische Wende eintrat, also eigentlich die Entkopplung der Fitness
von der Reproduktion. Mit herkömmlichen evolutionär-soziobiologischen
Argumenten ist dies kaum erklärbar, wohl jedoch, wenn man die vom
Individuum propagierte genomische und extragenomische Information gleichsetzt. Artvergleiche stehen für den Test dieser Hypothese nicht zur Verfügung,
da es nur Menschen bislang scha�en, eine mit dem Genom im Ausmaß konkurrierende kulturelle Informationsinhalte aufzubauen. Da aber menschliche
Gesellscha�en in Hinblick auf die kulturelle Informationskapazität recht unterschiedlich entwickelt sind, sollten Vergleiche zwischen Kulturen geeignet
sein, Vorraussagen dieses Gedankenmodells zu überprüfen.
Anfänglich mag die Zunahme unserer Hirnrinde an Volumen und
Komplexität durch den aufrechten Gang, das damit verbundenen Freiwerden
der Hand, durch die langsam einsetzende Sprachfähigkeit, durch soziale und
viele andere Faktoren und eine Kombination derselben katalysiert worden
sein. Hypothesen zu den Ursachen für diesen Prozess der Menschwerdung
gibt es sehr viele. Die meisten von ihnen mögen etwas zur Erklärung
des Phänomens beitragen. Eine gewisse Entwicklungshöhe bezüglich
Kommunikationsfähigkeit war dann die Eintri�skarte in den RunawaySelektionsprozess, aus dem sich, ausgehend von mündlicher Überlieferung,
unsere Fähigkeit zum aktiven Umgang mit großen und relevanten Mengen
an extrakorporaler Information ergab. Somit ist die Informationsgesellscha�
ein ebenso zwangsläufiger wie vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung.
Analog zur Selektion am Informationsträger Individuum, welche in der biologischen Evolution zuweilen über eskalierende Prozesse zu funktionieren
scheint, gab es ähnliche Entwicklungen im Verlauf der Kulturevolution. Sie
bilden die eigentliche Basis dafür, dass kulturelle Information in ernstha�e
Konkurrenz zur genomischen treten konnte. Allein die parallel zur kulturell relevanten Informationsmenge gestiegene Speicherkapazität für solche
Information explodierte nach einem gemächlichen Anstieg von der Antike
in die Neuzeit während der letzten Jahrzehnte. Vermutlich würde heute der
gesamte Inhalt der antiken Bibliothek von Alexandria auf ganz wenigen CDs
Platz finden. Das it aber noch recht wenig beeindruckend, verglichen mit unserem Zellkern, welcher die gesamte Information zum Au�au unseres Körpers
enthält. Und jeder von uns trägt diese gewaltige Informationsmenge in mehreren Milliarden Kopien im Körper. Die kulturellen Informationsspeicher
sind auf dem Weg, sich der Effizienz des biologischen Speichers anzunähern,
162
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
bzw. übertreffen diese bereits, beispielsweise was die Wandelbarkeit der
Informationsinhalte betri�.
Sollte diese Hypothese des Fitnessgewinns durch Transfer von relevanter
»Selbst«-Information, gleich, ob aus dem Bio- oder Kulturspeicher zutreffen,
dann ergeben sich daraus eine Reihe von Zukun�sperspektiven. So etwa wäre
der in allen möglichen wirtscha�lichen oder religiösen Gewändern daherkommende Nord-Südkonflikt auch ein Konflikt zwischen Informationsüber
tragungssystemen. Die westlichen Informationsgesellscha�en verzichten auf
biologische Reproduktion, die vorindustriellen Gesellscha�en haben keinen
Zugang zu den Kulturtechniken des Informationsmanagements. Dies würde
sich höchstens durch größte Bildungs-und Entwicklungsanstrengungen,
nicht aber durch Almosen vom Tisch der Reichen ausgleichen lassen.
Auch innerhalb unserer westlichen Informationsgesellscha� kommt es ebenso
klar, wie gefährlich zur Kastenbildung: Die Eliten herrschen durch ihre
Fähigkeit, mit kultureller Information umzugehen. War für Karl Marx die
Kontrolle über das Kapitals und die Produktionsmi�el das Machinstrument
der Industriegesellscha�, so ist es in der Informationsgesellscha� die
Kontrolle über die Informationsflüsse. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung
wird darin nicht voll eingebunden sein und eine Art »Arbeiterkaste« bilden,
deren politisches Wohlverhalten durch Indoktrination sichergestellt wird, die
einen Markt für die von der Info-Oberschicht hergestellten Produkte bildet,
sonst aber herzlich wenig Bedeutung hat. Schon heute werden ganz offensichtlich die Informationstechnologien TV und Internet genau dafür genutzt.
Die Medien »demokratisieren« die Gesellscha� nicht, im Gegenteil sie polarisieren. Aus einer radikal-evolutionären Sicht des Informationstransfers wären
Gegenmaßnahmen weder nötig noch »erwünscht«. Jene Informationsinhalte,
bzw. ihre Träger, die mit dem höchsten Fitnessgewinn verknüp� sind, würden
sich in darwinistischer Verdrängungskonkurrenz ohnehin am Markt durchsetzen. Das kann aber wohl nicht im Interesse einer nachhaltigen Stabilität
unserer Gesellscha�en liegen. Maßnahmen zum Informationsmanagement
sind gefordert.
Diese Skizze möglicher Vernetzungen zwischen biologischer und kultureller
Information sollte auch dazu dienen, die Künstlichkeit der Dichotomie zwischen biologischen und kulturellen Prozessen aufzuzeigen und im Ansatz
eine radikale Synthese zwischen Natur- und Kulturevolution vorzuschlagen.
Damit sollen die gesellscha�lichen Phänomene evolutionär erklärbar und
über ein daraus ableitbares Set von Hypothesen auch naturwissenscha�lich
testbar werden.
Sexualität: Motor und Ergebnis der Evolution
Dass wir Menschen zoologische Wesen sind, deren im Genom verankerte
Prozessstrukturen maßgeblich Verhalten bestimmt, ist besonders am elementaren Kommunikations- und Sozialverhalten ersichtlich (Grammer
1988). Noch wird allgemein bezweifelt, dass sogar unser Kulturverhalten
in Rückkopplung mit den evolutionären Wurzeln abläu�. Sexualität und
Vermehrung dagegen werden bereitwilliger, als anderes menschliches
Ist der Mensch ein Tier?
163
Verhalten der Biologie zugeschlagen. Es kann ja tatsächlich schön und lustbringend sein, auf diesem Gebiet das »Tier im Menschen« gewähren zu
lassen. Das gilt für den ersten Flirt mit einem Partner, bei dem offenbar »etwas« mit uns durchgeht, bis zum Geschlechtsverkehr (Grammer 1993). Aber
wer schließlich wann mit wem, wie und warum, das wird maßgeblich von
den kulturellen Randbedingungen geprägt, die wiederum mit evoluierten
Strategien verwoben, bzw. selber Produkte derselben sind. Entsprechend
flexibel fallen die sozio-sexuellen Systeme des Menschen aus, aber das gibt es
auch bei anderen sozialen Tieren (Daly und Wilson 1983, Lo� 1991).
Die persönliche Einstellung zu Liebe, Sexualität und Partnerbindung wird
unterschiedlich sein, es mag Lust- oder Problembetonung überwiegen, die
grundlegenden Strukturen menschlicher Sexualität werden aber selten hinterfragt. In unserer Kultur gilt es offenbar als schicklich, sich nur an einen einzigen Partner gleichzeitig zu binden, manchmal ein Leben lang; man pflegt
einander mehr oder weniger sexuell treu zu sein und Kinder miteinander
aufzuziehen. Männern anderer Kulturen wiederum ist es erlaubt, mehrere
Frauen gleichzeitig zu heiraten, so sie es sich leisten können. Tatsächlich überwiegen im Kulturenvergleich diese polygynen Systeme und nur in etwa 20%
der Kulturen herrscht soziale Monogamie. Geht man allerdings vom realen
Sexualverhalten aus, dann sind auch die westlichen Kulturen in einem erheblichen Ausmaß polygyn (Daly und Wilson 1983, Voland 2000).
Im Tierreich existieren alle denkbaren Systeme, von der strikten monogamen
Einehe, z. B. bei Gibbons und – mit Einschränkungen – bei vielen Vögeln, bis
zur Promiskuität, wie etwa bei Schimpansen oder Ra�en; gelegentlich sind
sogar die Nachkommen in einem einzigen Wurf von mehreren Vätern gezeugt. Es gilt, dass das soziale System, also wer mit wem zusammenlebt, bzw.
Nachkommen aufzieht, sich nicht unbedingt mit den sexuellen Mustern decken muss. So etwa sind »alternative Paarungssysteme«, etwa Seitensprünge
bei sonst monogamen Paaren, weit verbreitet. Es gibt jenes Geschlecht bei der
Partnerwahl den Ton an, das mehr in die individuellen Nachkommen investiert, also meistens die Weibchen. Im Extremfall steuern die Männchen nur
das Sperma zu den Nachkommen bei, wie etwa beim Balzarenasystem der
Birkhühner. Es kann aber auch vorkommen, dass der weibliche Einfluss auf
die Partnerwahl weniger offensichtlich ist, wie etwa bei den Haremssystemen
der See-Elefanten, bei den Rothirschen oder den Pavianen. Männchen konkurrieren um diese Harems und die Weibchen müssen sich fügen, so scheint
es. In den meisten Fällen bevorzugen die Weibchen allerdings die dominanten
Haremshalter und wehren sich gegen Kopulationen mit anderen Männchen.
Männchen können sich an der Jungenaufzucht beteiligen, wie etwa bei den
Menschen, der damit unter den Säugetieren eher eine Ausnahme darstellt.
Väterliche Jungenfürsorge gibt es vor allem bei den Vögeln. Gelegentlich können sich die traditionellen Geschlechterrollen sogar umkehren: Die Männchen
investieren mehr in den Nachwuchs, als die Weibchen. So besorgen bei
manchen Rallen (Teichhühner), beim Odinshühnchen oder den Straußen
die Männchen das Brutgeschä�, bei den Fischen tun dies etwa Seenadeln
und Seepferdchen. Diese Vielfalt der Systeme entlockt uns Menschen meist
164
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
kaum mehr als erbautes Staunen. Mit unserem eigenen, von Zoologie und
Evolution scheinbar so abgehobenem Geschlechts- und Familienleben hat das
natürlich nichts zu tun, oder doch?
Um menschliches Verhalten verstehen zu können, ist es nötig, dieses in
Perspektive mit der restlichen Zoologie zu setzen (Borgerhoff-Mulder und
Judge 1993). Die Grundregel des evolutionären Spieles ist für alle Organismen
auf der Welt dieselbe und lautet, mehr Nachkommen zu hinterlassen, als die
Artgenossen. Diesem Ziel wird alles andere untergeordnet, darum drehen
sich letztlich alle Strategiespiele, auch jene der Menschen. Wir tun immer
noch so, »als ob«. Die Antriebe dafür sind in uns, aber es ist uns natürlich
nicht bewusst.
Brennpunkt Konflikte zwischen den Geschlechtern
Für das Verständnis von Fortpflanzungsstrategien ist es nötig, die von der
sexuellen Vermehrung geschaffenen Randbedingungen zu erörtern. Bereits
in die Geschlechtszellen wird geschlechtsspezifisch asymmetrisch investiert.
Während Männchen bloß die Erbinformation zum späteren Nachkommen beisteuern, stellt das Weibchen ein Ei bereit, welches neben der Erbinformation
auch noch die gesamten Ressourcen für den Start der Embryonalentwicklung
enthält. Tatsächlich hat das männliche Genom während der ersten
Zellteilungen nichts mitzureden und alle unsere Mitochondrien (die
Kra�werke der Zellen), sowie deren Erbinformation wird ausschließlich
über die Weibchen weitergegeben. Diese anfängliche Asymmetrie kann noch
verstärkt werden, wenn die Weibchen die Eier in ihrem Körper »erbrüten«,
Embryonen als »Parasiten« in sich tragen, über eine Gebärmu�er ernähren
und schließlich die geborenen Jungen mit einem körpereigenen Sekret, der
Milch, ernähren. Diese extreme Form der Asymmetrie in der elterlichen
Investition findet sich bei den Säugetieren. Säugermännchen können allenfalls Ressourcen für Weibchen und Nachkommen bereitstellen, ziehen es aber
meist vor, sich nicht an der Aufzucht zu beteiligen. Anders bei den meisten
Vögeln. Dort werden relativ große Eier gelegt und in einem Nest bebrütet.
Dies bietet den Männchen Gelegenheit, sich im Vergleich zu Säugetieren bereits frühzeitig direkt an der Aufzucht der Jungen zu beteiligen, was bei den
meisten Vogelarten auch der Fall ist.
Diese asymmetrische Grundinvestition der Geschlechter in die Nachkommen
führt recht direkt zu asymmetrischen Strategien im Fortpflanzungsverhalten
und zu Konflikten zwischen den Geschlechtern. Jenes Geschlecht, welches
mehr investiert, meist das weibliche, ist in seinem Fortpflanzungspotential
durch die eigene Effizienz limitiert, Ressourcen in lebensfähige Nachkommen
umzuwandeln. Dies begrenzt die mögliche Anzahl der Nachkommen. Die
Streubreite des Fortpflanzungserfolges ist meist geringer als bei den Männchen.
Bei letzteren dagegen kann die Nachkommenzahl proportional zu ihrem
Zugang zu fertilen Weibchen steigen. Das männliche Fortpflanzungspotential
ist daher gewöhnlich durch die Paarungsmöglichkeiten begrenzt. Dies erklärt auch die wesentlich höhere Variabilität im Fortpflanzungserfolg der
Männchen im Vergleich zu den Weibchen: Bedingt durch die Konkurrenz
Brennpunkt Konflikte zwischen den Geschlechtern
165
um fruchtbare Weibchen, zeugen gewöhnlich wenige Männchen relativ
viele Nachkommen, viel mehr, als etwa ein einzelnes Weibchen je produzieren könnte. Viele Männchen dagegen hinterlassen wenige bis gar keine
Nachkommen. Das ist bei Hirschen oder Seelöwen nicht viel anders als beim
Menschen. Die Rekorde zeigen die Unterschiede im Potential besser, als die
Durchschni�e: Während es Molay Ismail (»der Blutdürstige«), ein marokkanischer Herrscher des letzten Jahrhunderts laut »Guiness Buch der Rekorde«
auf 888 selbstgezeugte Nachkommen brachte (er war also nicht nur »blutdürstig«), gebar die Rekordfrau, eine Russin, in 27 Schwangerscha�en »nur«
69 Kinder (Serien-Mehrlingsgeburten).
Diese Asymmetrie führt dazu, dass Weibchen durch falsche Partnerwahl viel
zu verlieren haben, also bei Paarungs- und Bindungsentscheidungen recht
wählerisch sein sollten. Die konkurrierenden Männchen dagegen verlieren
durch eine ungünstige Paarung in der Regel bloß ein wenig Sperma. Sie
sollten daher stets konkurrenz- und kopulationsbereite Draufgänger sein,
denn die Anzahl möglicher Partnerinnen ist stark durch die Tatsache eingeschränkt, dass die weiblichen 50 % der Populationen meist zum Großteil mit
dem Aufziehen von Nachwuchs beschä�igt und daher nicht empfängnisbereit sind. Die Einbe�ung in die aktuelle Ökologie und in soziale Netzwerke,
der genetische Hintergrund und die individuelle Entwicklung beeinflussen
schließlich die Feinabstimmungen im sozialen und sexuellen Bereich.
Weibliche und männliche Strategien
Die weiblichen Beziehungen zum männlichen Geschlecht spannt sich zwischen zwei Polen. In Arenabalzsystemen bemühen sich mehrere bis viele
Männchen um die Gunst des Weibchens, welches seine Wahl tri�, sich das
Sperma zur Befruchtung ihrer Eier abholt und gleich wieder von dannen
zieht. Die gesamte Investition von Ressourcen in die Nachkommen trägt
ausschließlich das Weibchen. Im anderen Extrem übergeben Weibchen
ihre Eier möglichst früh den Männchen zur Betreuung. Daher können
Männchen in diesen Systemen auch mehr in Nachkommen investieren, als
Weibchen, werden also für die Weibchen zur gesuchten Ressource und zum
Konkurrenzobjekt. Es kommt zur Umkehr der Geschlechterrollen. Beispiele
dafür sind manche Watvögel und Rallen: Weibchen verteilen ihre Eier meist
auf die Nester mehrerer Männchen und verteidigen diesen ihren »Harem«
von Dienstleistern auch gegen andere Weibchen.
Obwohl damit eigentlich auch die Männchen abgehandelt wären, fehlen
doch noch wesentliche Elemente der Männchenstrategien zur Optimierung
des männlichen Fortpflanzungserfolges. Es geht vor allem um die Sicherung
der eigenen Vaterscha�, entweder durch Monopolisieren der Weibchen oder
durch Spermakonkurrenz, mit allen denkbaren Übergängen. So gewährleisten
Haremssysteme, etwa bei See-Elefanten, Löwen oder Gorillas, dass eines der
meist sehr viel größeren Männchen seine Weibchenschar recht effektiv gegen
Kopulationsversuche von Konkurrenten abschirmen kann. Wenn auch immer
wieder verschiedene »Beimännchen« in diesen Systemen recht erfolgreich
Kopulationen erschleichen. Wenn die Abschirmung »per Bizeps« funktio-
166
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
niert, reicht es aus, dass Geschlechtsorgane und Hoden der Haremshalter
gerade eben groß genug ausgebildet sind, um Nachkommen zu zeugen.
Die Hauptinvestition auf der männlichen Seite liegt in einem kampfstarken
Körper, entstanden in der Konkurrenz zwischen Männchen um Weibchen.
Eine Differenzierung in sehr große Männchen und kleine Weibchen ist
die Folge. Das andere Extrem ist die in promisken Systemen ausgeprägte
Spermakonkurrenz, etwa bei den Schimpansen. Spermakonkurrenz spielt
aber auch in monogamen Systemen eine Rolle, bei denen Seitensprünge
als alternative Strategie vorkommen. In diesen Fällen gelingt es den
Männchen nicht, die sexuelle Aktivität der Weibchen zu kontrollieren.
Fertile Weibchen kopulieren o� in rascher Folge mit mehreren Männchen,
deren Sperma dann innerhalb des Weibchens um die Befruchtung ihrer
Eier konkurriert. Neben der vom Weibchen kontrollierten Zeitpunkt einer
Kopulation ist daher auch die Menge des abgegebenen Spermas ein Faktor
in der Konkurrenz um Fortpflanzungserfolg. Daher zeigen die Männchen
in solchen Sperma-Konkurrenzsystemen relativ große Hoden, während der
Geschlechtsdimorphismus in der Körpergröße eher gering bleibt.
Vergewaltigung ist als alternative männliche Reproduktionsstrategie im
Tierreich weit verbreitet. So versuchen, Männchen von geringem sozialen
Status (und daher geringer A�raktivität für die Weibchen) Kopulationen zu
erzwingen. Die gerade beim Menschen recht häufigen Vergewaltigungen
haben sicherlich vielschichtige Ursachen. Es geht um Dominanzausübung
gegenüber Frauen, Minderheiten oder unterlegenen Kriegsparteien. Diese
Ursachen und Funktionen sind aber nie ganz von Vergewaltigung als alternative männliche Reproduktionsstrategie getrennt zu sehen (Thornhill und
Thornhill 1992), zumal menschliche Sexualität sehr o� mit Dominanz- und
Gewaltausübung einhergeht. Vergewaltigt wird zwar von Männern aller
Altersgruppen und sozialen Schichten, gehäu� aber durch jüngere Männer
mit geringem sozioökonomischen Status, denen es gewöhnlich schwer fällt,
eine Partnerin zu finden. Dass die Neigung zu vergewaltigen u. U. evolutionäre Wurzeln aufweist, entschuldigt allerdings nichts, denn wir müssen keine
»Sklaven unserer Gene« sein.
Variable Sozialsysteme
Exkurs 12: Quellen und Bedeutung der individuellen Variabilität
des Verhaltens
Das Verständnis des Selektionsprozesses beruht seit Darwin auf der individuellen Variabilität von Merkmalen und den zugrundeliegenden Genen. Denn
Individuen sind die Einheiten, an denen Selektion über unterschiedlichen
Fortpflanzungserfolg wohl am stärksten wirkt. Bestimmte Zusammensetzungen
von Allelen (die unterschiedlich ausgeformten, homologen Gene) bewähren sich in
konkreten Umwelten besser und setzen sich über erhöhten Fortpflanzungserfolg
durch. Individualität ist daher das Substrat für die Mikroevolution. Individualität
Brennpunkt Konflikte zwischen den Geschlechtern
167
ist für die moderne Verhaltensbiologie nicht einfach lästiges Rauschen in den
Populationsdaten, sondern Untersuchungsgegenstand. Öko-Ethologen und
Soziobiologen untersuchen die Zusammenhänge zwischen der individuellen
Variabilität im Verhalten und der Fitness (= Zahl der wieder reproduktiv aktiven
Nachkommen).
Individualität entsteht zwischen Genen und Umwelt (Exkurs 8). Und auch
Hormoneinflüsse in der Frühentwicklung können sehr wichtig werden. So ist
schon länger bekannt, dass die Positionierung eines Fötus im Gebärmutterhorn,
etwa bei Mäusen individuelles Verhalten nach der Geburt stark beeinflussen
kann (vom Saal 1979). Weibchen, die zwischen zwei Brüder zu liegen kamen, sind als Erwachsene aggressiver und entfernen sich weiter vom Nest,
als Weibchen, die in utero zwischen Schwestern lagen. Weil Steroidhormone
Membranen passieren, können geringe Mengen des von den Brüdern produzierten Testosterons die Entwicklung der Weibchen beeinflussen; ähnliches gilt
für das von den Schwestern produzierte Östrogen, welches entsprechend auf
die Männchen wirkt.
Ganz ähnlich können Mütter direkt in die Frühentwicklung ihrer Nachkommen
eingreifen. So wurde bei Vögeln gezeigt, dass die von der Mutter in die Eidotter
eingelagerten Androgene den Verhaltensphänotyp (die »Persönlichkeit«,
das »Temperament«) der Nachkommen beeinflussen kann. So lagern etwa
Singvogelweibchen in der Legereihenfolge zunehmend mehr Testosteron
in ihre Eier ein. Bei den Schlüpflingen bewirkt dies verstärktes Betteln und
Konkurrenzfähigkeit. Als Effekt dieser ungleichmäßigen Verteilung der mütterlichen Gunst betteln die aus den letzten Eiern des Geleges später schlüpfenden und daher kleineren Jungen intensiver als ihre Tage vorher geschlüpften
Geschwister und können so ihren Startnachteil zumindest teilweise wieder
wettmachen (Schwabl u. a. 1997). Anders etwa bei Reihern, bei denen das
erstgeschlüpfte Junge fast immer das zweitgeschlüpfte tötet. In diesem Fall
»unterstützt« die Mutter den Brudermörder durch Einlagerung von mehr
Testosteron im ersten Ei (Sockman und Schwabl 2000). Versuche mit zusätzlich
mit Testosteron versehenen Eiern ergaben eine profunde, wahrscheinlich lebenslange Beeinflussung der Persönlichkeit (Daisley u. a. 2003). Tiere aus Eiern
mit viel Testosteron gehen aktiver mit den Herausforderungen des Lebens um,
als Individuen aus Eiern mit wenig Hormon, sie sind aggressiver, packen neue
Situationen rascher an, erforschen neue Objekte schneller, aber oberflächlicher,
sind sozial weniger stark bezogen, neigen eher zur Bildung von Routinen und
sind weniger geneigt, umzulernen, als die sanfteren, zurückhaltenderen Tiere
aus Eiern mit wenig Testosteron (Koolhaas u. a. 1999). Zudem zeigte sich, dass
diese Unterschiede in den Temperamenten maßgeblich beeinflussen, welche
Rollen Individuen in sozialen Gruppen übernehmen (Pfeffer u. a. 2002). Ob
und wie Mütter diesen einfachen Mechanismus nutzen, um ihre Nachkommen
zu »manipulieren«, ist gegenwärtig einer der Brennpunkte der internationalen
Verhaltensforschung.
Schon lange stehen im Zusammenhang mit der Partnerwahl individuelle
Unterschiede im Mittelpunkt des Interesses. Dies gilt etwa für die sogenannte
fluktuierende Asymmetrie (Watson und Thornhill 1994). In allen Populationen
weichen Individuen in ihren körperlichen Merkmalen scheinbar zufällig von der
168
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
idealen Bilateralsymmetrie ab. Dies wird durch geringe Störungen während
der Individualentwicklung verursacht, ausgelöst etwa durch schlecht verträgliche mütterliche und väterliche Genome, durch Inzucht, Infektionen und
Parasiten. Die Weibchen vieler Arten wählen Paarungspartner oft aufgrund der
Ausformung »extravaganter« Merkmale. Dazu gehört das Prachtgefieder der
Pfauen ebenso, wie das der männlichen Paradiesvögel, gepaart mit reichlich
seltsamen Balzverhalten. Über sexuelle Selektion haben die Weibchen den
Männchen diese Merkmale oft in einem Ausmaß angezüchtet, dass diese
hart an die Grenze der Überlebensfähigkeit gedrängt werden. Dabei scheuen
die Weibchen nicht nur auf die Größe, sondern auch auf die Symmetrie der
Merkmale (Møller 1994). Dabei fand man auch eine zunächst überraschende,
positive Beziehung zwischen der Größe des relevanten Merkmals und seiner
Symmetrie. Wahrscheinlich wird beides durch eine eine relativ störungsfreie
Entwicklung positiv beeinflusst. Tatsächlich fand man, dass Symmetrie ofenbar
ein Schlüsselkriterium für die Partnerwahl einer Reihe von Tieren darstellt, von
Insekten bis Vögel und sogar Mensch.
Warum aber soll gerade die Symmetrie ein für die Partnerwahl wichtiges
Merkmal darstellen? Geht man davon aus, dass Partner nach Qualität gewählt werden, dann braucht es entsprechende Kriterien. Dafür eignet sich
die Symmetrie ganz hervorragend. Asymmetrie ist ein Zeichen für instabile
Entwicklung, welche eine Reihe von Ursachen haben kann, welche aber letztlich
alle auf genetische Eigenschaften zurückzuführen sind. Ganz egal, ob durch
erhöhte Parasitenanfälligkeit, genetische Inkompatibilität oder Inzucht hervorgerufen: Ein asymmetrischer Bewerber demonstriert augenscheinlich, dass
seine Fitness, und daher auch die Fitness der von ihm gezeugten Nachkommen
bezogen auf die aktuelle Umwelt nicht gerade optimal ist.
Individuelle Unterschiede können aber auch auf Basis vorhandener
Lernbereitschaften erlernt sein. Dazu zählen etwa durch Prägung erworbene
Vorlieben bezüglich Sozial- oder Sexualpartner oder sogar Präferenzen für
Lebensraum oder Nahrung. Da solche früh erlernten Vorlieben meist lebenslang
stabil bleiben, sind sie ebenfalls Merkmale der Persönlichkeit. Die Sozial- bzw.
Nachfolgeprägung bei nestflüchtenden Jungvögeln wurde durch Konrad Lorenz
hinlänglich bekannt. Es handelt sich dabei um einen sehr raschen Lernprozess.
Kommt etwa das gerade geschlüpfte Gössel nur wenige Minuten in Kontakt mit
Menschen, bevor es Gänse sah, wird es bis zu seiner natürlichen Ablösung von
den Elter, mit etwa einem Jahr Menschen Gänsen als Sozialpartner bevorzugen. Die Vorbilder für die später einsetzende sexuelle Prägung sind zumindest
bei manchen Vögeln oft die eigenen Geschwister. Wäre der Mechanismus zu
eng angelegt, würde dies zur Bevorzugung von Geschwistern und damit zu
Inzucht führen. Darum ist bei den meisten Wildtieren Inzestvermeidung meist
stark ausgeprägt. Nestflüchtende Vögel vermeiden es in der Regel, sich mit
jenen Individuen zu verpaaren, mit denen sie aufwuchsen. Bateson (1983) testete die Partnerinteressen von Wachteln und kam zum Schluss, dass Cousinen
zweiten und dritten Grades gegenüber engeren Verwandten, bzw. gänzlich
Nicht-Verwandten am meisten interessieren. Die Tiere verfügen also über die
erstaunliche Fähigkeit des »Phenotype matching«, ihre eigene Erscheinung mit
dem anderer zu vergleichen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Die Regel
Brennpunkt Konflikte zwischen den Geschlechtern
169
scheint also zu lauten, einen Partner zu bevorzugen, der (die) eine gewisse
Ähnlichkeit zum Vorbild aufweist.
Diese wenigen Schlaglichter auf das Phänomen der Individualität sollten zeigen,
dass nicht nur Menschen davon betroffen sind und dass individuelle Variabilität
nicht nur als eine für Forscher lästige Begleiterscheinung zu sehen ist, es ist
der springende Punkt im Mechanismus der Evolution und daher natürlich von
höchster Relevanz für die Evolutionsforschung.
Lässt sich angesichts der vielfältigen Formen des Zusammenlebens zwischen
den Geschlechtern – Dauerehe, Ehe auf Zeit, sukzessive Polygynandrie, homosexuelle Gemeinscha�en, Seitensprünge, usw. – eine verhaltenswirksame
Rolle traditioneller evolutionärer Strategien überhaupt noch vertreten? Wie es
aussieht, durchaus!
Gerade weil evolutionär entstanden, sind sexuelle und soziale Systeme
in Grenzen plastisch. »Sexuell« und »sozial« sind dabei keine Synonyme.
Soziale Systeme definieren sich über das Gesellscha�ssystem, über das Wie
des gemeinsamen Aufziehen des Nachwuchses. Sexuelle Systeme dagegen
sind dadurch definiert, wer mit wem Nachkommen zeugt. Erzeuger und
Aufzieher müssen zumindest auf der männlichen Seite nicht identisch sein.
Genausowenig wie ein starres System beim Menschen existiert, gibt es »das«
Sozialsystem des Schimpansen, des Löwen oder der Heckenbraunelle. Soziale
Systeme sind entsprechend den geschichtlichen, ökonomischen und damit
ökologischen Randbedingungen innerhalb gewisser Grenzen variabel (Lo�
1991). Evolutionäre Strategien steuern im Hintergrund. Dass in der Regel
das Sozialsystem kein gutes Artmerkmal darstellt, zeigt das Beispiel der
Heckenbraunelle. Dieser eher unscheinbare europäische Singvogel verändert
sein Sozialsystem ganz nach Bedarf, selbst innerhalb einer Saison, von einer
Brut zur nächsten. So treten, abhängig von Nahrung und Populationsdichten
neben der Monogamie auch Polygynie (meist ein Männchen, zwei Weibchen),
Polyandrie (zwei Männchen, ein Weibchen) und Polygynandrie (meist zwei
Männchen und zwei Weibchen) auf (Davies 1992).
Ähnlich vielfältig wie bei der Heckenbraunelle sind die Partnersysteme beim
Menschen. Mit oder ohne gesellscha�liche Billigung findet man Monogamie,
meist mit Seitensprüngen, Polygynie, selten Polyandrie und ein wenig
Promiskuität. Beziehungen bestehen entweder zwischen mehreren Partnern
simultan, oder die Partner sind sukzessiv monogam, wechseln also in mehr
oder weniger rascher Folge. Trotz dieser offensichtlichen Vielfalt fand man mit
Hilfe der vergleichenden Öko-Ethologie und durch den Kulturenvergleich
evolutionär bestimmte Muster.
Es besteht kein Zweifel, dass Menschen zu den hominiden Primaten, also
zu den Menschenaffen zählen. Immerhin teilen wir mehr als 98 % der genetischen Information mit Schimpanse und Bonobo, etwas weniger mit
Gorilla und Orang Utan. Damit ist es möglich, Menschen mit ihren nächsten
170
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
Verwandten zu vergleichen, etwa bezüglich des sozio-sexuellen Systems.
Menschenmänner stehen zwischen den relativ zum Körper großhodigen
Schimpansen und den sehr kleinhodigen Orangs, Gorillas und Gibbons,
wobei Schimpansen promiskuitiv sind, letztere dagegen entweder monogam
oder bilden Harems. Bei den Haremshaltern sind die Männchen sehr groß,
Weibchen dagegen recht klein, bei den Monogamen oder auch beim promisken Schimpansen ist der Geschlechterdimorphismus in der Körpergröße
beinahe ausgeglichen. Menschen stehen wiederum in der Mi�e. Daraus wäre
ableitbar, dass Menschen monogam bis polygyn (ein Mann, mehrere Frauen)
leben und dass Männer bis zu einem gewissen Grad Frauen für sich monopolisieren. Dass dies so ist, zeigt recht drastisch ein täglicher Blick auf die
Chronikseiten der Tageszeitungen: Ständig werden Frauen zu Opfern ihrer
gewal�ätig-eifersüchtigen Männer, selten dagegen umgekehrt. Die relative
Hodengröße deutet übrigens auch an, dass auch Spermakonkurrenz eine
Rolle spielen könnte. In einem breiten Kulturenvergleich waren von 849
menschlichen Gesellscha�en weltweit mehr als ein Dri�el gesellscha�lich
polygyn, ein weiteres Dri�el monogam bis gelegentlich polygyn (nach Daly
und Wilson 1983); insgesamt lag der Anteil polygyner Gesellscha�en bei 83%.
Nur 16% waren monogam (ein Mann und eine Frau), gar nur 0,5% polyandrisch (einen Frau heiratet mehrere Männer gleichzeitig). Die Ergebnisse der
Öko-Ethologie und der Anthropologie stimmen also überein, die Wurzeln
des Menschen in die evolutionäre Vergangenheit sind offenbar recht stark.
Menschenmänner steuern meist Ressourcen für ihren heranwachsenden Nachwuchs bei. Und Frauen beanspruchen Männer nicht nur zum
Kopulieren, sondern versuchen sie über diverse Mechanismen langfristig zu
binden. Männliche Strategien zur Sicherung ihrer Vaterscha� bewegen sich
zwischen eifersüchtigem Hüten und Monopolisieren, wie bei Gorillas üblich,
und Spermakonkurrenz, wie bei den Schimpansen (s. unten).
Frauen »schufen« sich die Männer
Aufgrund der asymmetrischen Investition in die Nachkommen stehen die
reproduktiven Strategiespiele in der gesamten Zoologie, besonders aber
beim Menschen, unter weiblicher Kontrolle. Auf den Punkt gebracht, sind
beinahe alle männlichen Merkmale evolutionär Produkte der weiblichen
Wahl. Die o� laute, auffällige Selbstdarstellung der Männer, beginnend im
Kindergartenalter, ihr Konkurrenzgehabe, auch ihr Hang zur Macht, ist letztlich vom weiblichen Geschlecht verursachtes Substrat für weibliche Wahl.
Dass Eva aus einer männlichen Rippe geschaffen worden sein sollen, ist
daher im Lichte der Erkenntnisse der modernen Biologie eine typisch männliche Erfindung. Frauen waren weitgehend erfolgreich, sich Männer nach ihren
Ansprüchen zu formen. Etwas weniger extrem formuliert: Weibchen und
Männchen, Frauen und Männer, sind das Ergebnis von Koevolution, eines
evolutionären Rüstungswe�laufes im zwischengeschlechtlichen Interessenskonflikt um optimale Reproduktion. Die Ausbildung des einen Geschlechts
wäre ohne das andere nicht vorstellbar.
Brennpunkt Konflikte zwischen den Geschlechtern
171
Konflik�rächtiges Mi�el zum Zweck: der Seitensprung
Der Seitensprung als scheinbar widersinnige Begleiterscheinung nahezu aller
monogamer Systeme verdient hier eine detaillierte Betrachtung. Er gilt als
»Alternative Paarungsstrategie« und wir� erhellende Schlaglichter auf die
Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Grundstrategien zur
Optimierung der Fortpflanzung.
Quer durch die Zoologie existieren, wie erwähnt zwei gegensätzliche
Männchenstrategien zur Vaterscha�ssicherung: Entweder gelingt es,
Weibchen zu monopolisieren, sie vor den Avancen anderer Männchen abzuschirmen, oder es herrscht Konkurrenz zwischen den Männchen auf der Ebene
des Spermas. Die Vorhersage aus dem oben diskutierten Artenvergleich
wäre daher, dass Menschenmänner sowohl versuchen, ihre Partnerinnen zu
monopolisieren, als auch einen Hang zum Seitensprung entwickeln sollten
und daher in Spermakonkurrenz involviert sind (Smith 1984, Voland 2000).
Seitensprünge erhöhen direkt die Chancen der Männer um mehr Nachwuchs
(den dann andere großziehen). Beides tri� zu: Seitensprünge sind relativ
häufig, etwa 50 % der paargebundenen Menschen in unseren Breiten geben
zu, dass sie gelegentlich oder regelmäßig seitenspringen. Zudem zeigen
die Kriminalstatistiken, dass Männer häufig gewal�ätig eifersüchtig sind
und ihre Kopulationsziele mitunter mit äußerster Brutalität verfolgen; die
Schwelle zur Vergewaltigung ist auch bei »ganz normalen Männern« sehr
niedrig (Thornhill und Thornhill 1992).
Die weiblichen Strategien verlaufen etwas komplizierter, wenn auch weniger
offensichtlich als die männliche, sie ist daher auch noch weniger gut erforscht.
Da die Grundfunktion der Monogamie, evolutionär gesehen, vor allem die
Bereitstellung von Ressourcen durch Männer für Frauen und die gemeinsamen Kinder ist, sollten Frauen zunächst versuchen, einen Mann mit gutem
»Ressource holding potential« (also möglichst keinen armen Schlucker) an
sich zu binden. Beim Langzeitpartner spielt übrigens der männliche Status für
die weibliche Wahl eine erhebliche Rolle. Zwei miteinander zusammenhängende Merkmale bei Menschenfrauen, welche innerhalb der Menschenaffen
einzigartig sind, werden im Zusammenhang mit dem für die erfolgreiche
Aufzucht der Kinder notwendigen An-sich-binden des Mannes diskutiert:
Die permanent, also auch außerhalb der Stillperioden vorhandenen Brüste,
die als Schauapparat ständig den hohen reproduktiven Wert der Frau signalisieren, sowie die »Verheimlichung« des Zeitpunktes des Eisprungs, also
der höchsten Empfängnisbereitscha�, vor dem Paarpartner. Bei allen anderen
Menschenaffen verkünden die Weibchen durch Brunstschwellungen und
geruchlich den Östrus an, nicht so beim Menschen. Um also sicherzugehen,
die Väter ihrer zukün�igen Kinder zu sein, müssen die männlichen Partner
ständig ihre Frauen vor Rivalen abschirmen. Da sie den richtigen Zeitpunkt
im Gegensatz zu den im Östrus sexueller als sonst gestimmten Frauen nicht
kennen, müssen Männer o� mit ihren Frauen kopulieren, was zu einer zusätzlichen Verstärkung der Bindung (über Oxytocin im Gehirn), der Liebe,
führen kann. Denn Geschlechtsverkehr dient bei Monogamen nicht nur der
unmi�elbaren Zeugung von Nachkommen, er verstärkt auch die Bindung
172
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
zwischen Individuen, nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen
Dauerpartnerscha�en bei den Primaten, ja sogar bei Gänsen. Auch innerhalb
der Ehe wird in der Regel wesentlich häufiger kopuliert, als zum Zeugen
des Nachwuchses erforderlich wäre. Frauen binden dadurch Männer samt
deren Ressourcen an sich (Hunter u. a. 1993). Ein Hauch von »Prostitution«
(Gegenleistung für Sex) gehört daher zu jeder Zweierbeziehung und das nicht
nur beim Menschen, sondern bei allen Tieren, bei denen sich die Weibchen
von den Männchen nicht nur die Gene, sondern auch Ressourcen holen.
Was aber sind die evolutionären Ursachen für die weibliche Bereitscha� zum
Seitensprung? Nochmals: Die eigentliche evolutionäre Funktion des Mannes
in der Partnerscha� ist es, die Kinder der Frau(en) zu versorgen. Der Frau
bleibt es daher unbenommen, sich die Gene für ihre Kinder von anderen
Männern zu holen, solange der eigene »Versorger« nichts davon merkt. Denn
der würde seine Investition in die Kinder der Frau in dem Maße verringern,
wie es unwahrscheinlich ist, dass er selber Erzeuger dieser Kinder war. Wie
aktuell dieses Thema ist, zeigt der Boom bei den o� heimlich vor allem von
Männern in Au�rag gegebenen Vaterscha�stests. So unterstützen Männer
einer besonders promisken westafrikanischen Gesellscha� die Kinder ihrer
Schwestern wesentlich intensiver (mit denen sind sie ja auf alle Fälle verwandt), als die Kinder ihrer eigenen Frau, bei denen seine Vaterscha� recht
unsicher ist (Daly und Wilson 1983, Voland 2000).
Was haben Frauen davon, Kinder nicht nur vom eigenen, sondern auch
von anderen Männern zu bekommen? Die Anzahl der Nachkommen ist
durch Fremdkopulationen meist nicht zu steigern, denn die hängt ja von
der weiblichen Effizienz ab, Nachkommen großzuziehen. Sicherlich resultieren daraus eine genetisch reichhaltigere Kinderschar. Außerdem soll es
vorkommen, dass der eigene Mann nicht sonderlich a�raktiv ist. Daher ist
es evolutionär stimmig, im Zuge von Seitensprüngen a�raktive Männer zu
bevorzugen, da diese wiederum a�raktive Söhne erwarten lassen, die in
der Gunst um Frauenherzen, als »Philander« erfolgreicher sein könnten, als
die vom Langzeitpartner gezeugten Söhne, ebendiese Frau zur Großmu�er
zu machen. Tatsächlich ist bekannt, dass die weibliche Libido rund um
den Eisprung – hormonbedingt – ansteigt, insbesondere die Bereitscha� zum
Seitensprung. Zudem zeigte sich in Bewertungsversuchen, dass Frauen einen
männlichen Sexual»du�«stoff, des Andostenons, durchwegs als unangenehm
empfinden, ausgenommen rund um den Eisprung. Ein Mechanismus also,
der dazu beiträgt, dass vor allem empfängnisbereite Frauen die Gegenwart
von Männern tolerieren, bzw. schätzen. Frauen also »wissen« (bewusst oder
unbewusst) über ihren Zustand Bescheid und handeln auch danach. Den
Männern dagegen ist dieser evolutionär-strategische Zeitplan unbekannt,
was den Frauen einen recht beachtlichen, taktischen Vorsprung verscha�.
Sowohl Frauen, als auch Männer sind also evolutionär auf Seitensprünge
eingestellt, aber aus völlig verschiedenen Gründen: Erlaubt diese Alternativstrategie der Frau, die Qualität ihrer Nachkommen zu steigern, so liegt der
Effekt von Seitensprüngen beim Mann in der Steigerung der Zahl möglicher Nachkommen. Frauen bemühen sich also darum, möglichst »fi�en«
Brennpunkt Konflikte zwischen den Geschlechtern
173
Nachwuchs aufzuziehen, während sich die Strategiespiele der Männer darum drehen, tatsächlich die leiblichen Väter ihrer Kinder, und, wenn möglich,
noch vieler anderer Kinder zu sein.
Das Prinzip Spermakonkurrenz
Diese Zusammenfassung weiblicher und männlicher Grundstrategien, des
fein gesponnenen Gefüges von Kooperation und Konflikten zwischen
den Partnern, mag theoretisch-abgehoben anmuten, reichlich irrelevant
für moderne Zivilisationsmenschen. Das ist aber nicht der Fall, wie etwa
die Untersuchungen von Baker und Bellis (1993 a,b) von der Universität
Manchester zeigen. Sie scha�en tatsächlich das Kunststück, Daten über
das Ejakulationsverhalten von Männern und über Spermaretention, das
Zurückhalten oder Ausstoßen des Spermas unterschiedlicher Partner von
Frauen, zu sammeln. Die Auswertung zeigte, dass die evolutionären Spiele
im Zusammenhang mit der Spermakonkurrenz beim Menschen noch wesentlich face�enreicher verlaufen, als zunächst angenommen. Es gelang dieser Forschergruppe, Material von 35 Menschenpaaren, sowie Daten über das
Kopulationsverhalten von beinahe 3600 Frauen zusammenzutragen.
Da schließlich auch Sperma eine begrenzte Ressource ist, sollten Männer
ihre abgegebenen Mengen je nach Wahrscheinlichkeit der möglichen
Spermakonkurrenz und dem »reproduktiven Wert« der Partnerin dosieren. Sperma bleibt bis zu acht Tage in den Krypten des Zervikalbereiches
der Gebärmu�er befruchtungsfähig und ein bereits aufgenommener
Spermavorrat limitiert die Fähigkeit, neues Sperma aufzunehmen.
Tatsächlich war die abgegebene Spermamenge bei nicht ständig zusammenlebenden Paaren größer. Zudem gaben Männer im Verkehr mit »gut gepolsterten« Frauen größere Mengen ab, als bei schlankeren Partnerinnen. Über
die längste Zeit evoluierten unsere Verhaltensdispositionen in einer Welt
beschränkter Nahrungsressourcen. Sichtbare Fe�polster an den richtigen
Stellen bei der Frau (nich unbedingt abdominales Fe�, welches auf Kosten
der Taille geht und o� Parasitenbelastung, chronische Infektionen oder andere widrige Lebensumstände anzeigt; Pond, mündl. Mi�.), einhergehend
mit der typischen »Uhrglasform« zeigten einem Mann daher ihren guten
Ernährungszustand, Gesundheit und Fähigkeit an, ein Kind auszutragen und
aufzuziehen. Das mag so nebenbei als Erklärung für die Erfahrung mancher
»vollschlanker« Frauen dienen, dass sie wohl als Sexualpartnerinnen, weniger aber als auch gesellscha�lich angesehene Sozialpartnerinnen gefragt sind.
Etwas despektierlich ausgedrückt, mögen die Ursachen der sexuelle Vorliebe
mancher Männer für beleibte Damen vergleichbar sein, mit den Vorlieben der
Zivilisationsmenschen für süße, fe�e Nahrung: Was über längste Zeiträume
nur limitiert verfügbar war, gibt es heute in Fülle.
Aber zurück zu Baker und Bellis: Als paradoxe Verschwendung erscheint zunächst das Masturbationsverhalten der Männer. Masturbiert wird vor allem
von jüngeren Männern mit steigender Frequenz bereits drei Tage nach dem
letzten Kontakt. Es werden offensichtlich große Mengen an Sperma vergeudet, die wohl in einer Spermakonkurrenzgesellscha� besser für den nächsten
174
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
sexuellen Kontakt gespart werden sollte. Damit wird allerdings nach dem
Mo�o »Klasse sta� Masse« die Konkurrenzfähigkeit des Spermas erhöht.
Werden nur neu gebildete Geschlechtszellen an die Frau weitergegeben, so
ist eine möglichst lange Überlebenszeit im weiblichen Reproduktionstrakt
gewährleistet.
Es mag der Eindruck entstanden sein, als wären Frauen in der Evolution
nur als passive Spermaempfängerinnen entstanden, dass Vaterscha� via
Spermamenge und -qualität allein in Konkurrenz zwischen den Männern
entschieden würde. Das Gegenteil ist der Fall. Bereits über die Wahl des
Zeitpunktes der Kopulation und natürlich des Partners entscheiden eigentlich die Frauen, wer ihre Kinder zeugt. Nicht nur, dass die Bereitscha� zum
Geschlechtsverkehr vor allem mit Nicht-Paarpartnern bei Frauen um den
Eisprung am größten ist, Baker und Bellis konnten auch zeigen, dass weibliche Orgasmen die Spermaretention entscheidend steuern. Am meisten
Sperma wird zurückgehalten, wenn der weibliche Orgasmus im Zeitraum
bis etwa 40 Minuten nach der Ejakulation erfolgt. Es scheint, als wäre eine
Art Saug-Pump-Mechanismus im Spiel, der Sperma in die Speicher im
Gebärmu�erhals transportiert. Frühe Orgasmen haben darauf kaum Einfluss,
was zählt ist offenbar der gemeinsame Höhepunkt liebender Paare.
Das solchermaßen aufgenommene Sperma blockiert die nennenswerte
Aufnahme weiteren Spermas für etwa 8 Tage. Die Effizienz dieser Blockade
nimmt zwar mit dem zeitlichen Abstand von der Kopulation ab, kann aber
durch zwischenzeitliche Orgasmen (im Schlaf oder durch Masturbation) wiederhergestellt werden. Das bedeutet, dass Frauen naben ihrer Partnerwahl
mi�els ihrer Orgasmen einen großen Einfluss auf die Vaterscha� ausüben können, was etwa im Zusammenhang mit erzwungenen Kopulation durchaus von
Bedeutung sein kann. Tatsächlich scheinen die Orgasmenmuster von Frauen
bei Seitensprüngen dem Sperma des Konkurrenten des Paarpartners einen
numerischen Vorteil zu verschaffen. Folgen dieser weiblichen Strategiespiele
wären, dass etwa relativ viele Kinder durch relativ wenige Seitensprünge
gezeugt werden können, während erzwungener Geschlechtsverkehr gewöhnlich relativ selten zu Schwangerscha�en führt. Der Nachwuchs von
Frauen kann dadurch genetisch vielfältiger werden, als wären alle Kinder
allein vom Paarpartner gezeugt. Der männliche Paarpartner sollte natürlich
von den »Extra-pair copulations«, den Seitensprüngen seiner Partnerin nichts
mitbekommen und schon gar nicht, falls eines »seiner« Kinder fremdgezeugt
wurde, sonst würde seine Bereitscha� sinken, weiter in die Kinder dieser
Frau zu investieren. Die tatsächlichen menschlichen Verhaltensmuster, sowie
das offensichtliche Bedürfnis nach Vaterscha�ssicherheit über einschlägige
Tests unterstützt die Relevanz dieser evolutionären Zusammenhänge.
Das bedeutet natürlich nicht, dass alle paargebundenen Männer und Frauen
ständig seitenspringen müssen, weil sie von ihrer evolutionären Vergangenheit
dazu gezwungen werden. Mündige Menschen müssen nicht allen ihren
Impulsen folgen. Trotzdem, etwa 50 % der paargebundenen Männer und
Frauen in unserem Kulturkreis begehen gelegentlich Seitensprünge und quer
durch die Kulturen werden 5–10 % der Kinder durch außerpartnerscha�liche
Brennpunkt Konflikte zwischen den Geschlechtern
175
Kopulationen gezeugt, was die evolutionäre Relevanz dieser alternativen
Paarungsstrategie auch bei den »modernen Kulturmenschen« belegt.
Menschliches Verhalten: evolutionäres Erbe
Überzeugende Belege, dass menschliches Verhalten nicht beliebig kulturell formbar ist, liefert auch der Vergleich einfacher Verhaltensweisen über
die Kulturen. Irenäus Eibl-Eibesfeldt konnte in seinem beeindruckendem
Lebenswerk zeigen, dass Menschen überall auf der Welt einander auf sehr ähnliche Weise die Zuneigung ausdrücken, grüßen, einander verspo�en, prahlen,
Knaben spielen lieber rauhe Spiele, als Mädchen, usw. (Eibl Eibesfeldt 1995,
1999, Grammer 1988). Dass sich diese Ähnlichkeiten in den Verhaltensweisen,
diese »menschlichen Universalien« unabhängig voneinander so parallel entwickelt hä�en, ist genauso unwahrscheinlich, wie die Annahme, dass die früheren Kolonialherren die Welt lückenlos mit ihren Verhaltensmustern angesteckt hä�en (zumal die meisten der von Eibl Eibesfeldt kontaktierten Völker
mit diesen noch keinen Kontakt ha�en). Es drängt sich daher der Schluss auf,
dass es Verhaltensdispositionen gibt, die allen Menschen zu eigen sind.
Zahlreiche Untersuchungen zur Nahrungssuche, zum Sozial- und Sexualsystem in Abhängigkeit von den ökologischen Randbedingungen, zur
elterlichen Investition und Verwandtenförderung wurden an den rasant
verschwindenden, ursprünglichen Jäger- und Sammlerkulturen durchgeführt, beispielsweise an den !Kung-Buschleuten der Kalahari oder den
Yanomami-Indianern des Amazonas-Tieflands. Bei diesen Kulturen war
der Bezug zwischen ökologischen Bedingungen und Lebensform noch
recht unmi�elbar und wenig durch einen komplexen kulturellen Überbau,
durch Vorratshaltung, Erbformen, usw., verschleiert, wie bei Hirten- und
Bauerngesellscha�en (Schiefenhövel u. a. 1993). Diese Untersuchungen zeigten, wie unmi�elbar das Zusammenleben in menschlichen Gruppen mit der
Ökologie zusammenhängt.
Sind wir »Sklaven unserer Gene« ?
Als Regel kann gelten, dass die in uns wirkenden evolutionär angelegten
Verhaltensgründe nicht bewusst werden. So ist einem vom Sammler- ins
Bauerndasein umsteigenden !Kung-Buschmann nicht bewusst, warum er
in der Methode des Umgangs mit Gruppenmitgliedern vom sozial kompetenten Gespräch in Despotismus umschwenkt. Und nur selten verkehren
Mann/Frau, um Nachwuchs zu zeugen, sie steigen wohl kaum mit den festen
Vorsatz ins Be�, ihre »Fitness« zu erhöhen. Es treiben uns die unmi�elbaren
Motivationen. Natürlich tut man´s weil es Lust bereitet, sonst wäre die
Menschheit (oder jegliche andere sexuell reproduzierende Tierart) längst ausgestorben. Ein Cocktail von Opiaten und Hormonen im Gehirn bietet einen
starken Belohnungsanreiz. Das ist aber eine Erklärung auf physiologisch-psychologischer Ebene, welche eine zusätzliche Erklärung auf letztlicher, evolutionärer Ebene nicht nur nicht ausschließt, sondern sie geradezu erfordert.
Und natürlich bedeutet eine evolutionäre Disponiertheit nicht, dass wir
nach diesen Voreinstellungen handeln müssen. Es entschuldige niemand
176
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
eheliche Untreue mit dem von Öko-Ethologen schließlich a�estierten Drang
zum Seitensprung! Entscheidungsfreiheit wird durch die Erkenntnisse der
evolutionären Verhaltensbiologie nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil,
verbessert. Aber wenn so ziemlich alles an unseren Handlungsmotivationen
aus evolutionärem Erbe besteht, wie sollte man dann überhaupt in der Lage
sein, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen? Ist dann nicht ohnehin
alles (genetisch) vorbestimmt? Es ist beinahe schon ein Gemeinplatz, zu betonen, dass wir trotzdem nicht völlig von unseren Genen beherrscht werden.
Wir sind aber auch nicht völlig frei. Deshalb die Allgegenwart der Gewalt gegen Kinder und Frauen, Vergewaltigung, Fremdenangst, usw. Menschliches
Handeln hängt immer noch an den Fäden des unpersönlichen, richtungs- und
»sinnlosen« Puppenspielers Evolution. Wie stark, das hängt von uns selber
ab. Wir sind uns selber und den anderen schuldig, nicht wegzuschauen,
uns nicht selber zu belügen, die richtige Diagnose zu den grundlegenden
Funktionen menschlichen Verhaltens zu stellen, die ewige Vermischung des
Sollen mit dem Sein, der moralischen Forderung mit dem Ist-Zustand, die
Spekulation zur Seite zu schieben und die Basis menschlichen Verhaltens naturwissenscha�lich zu erforschen. Das evolutionäre Menschenbild zu ignorieren und durch ein idealistisches Wunschbild zu ersetzen, wäre angesichts
der Probleme in der heutigen Welt genauso verbrecherisch, wie das Verhalten
eines Arztes, der zwar den Krebs sieht, diesen aber, weil unangenehm nicht
diagnostiziert und den Patienten mit guten Wünschen und Vitaminpillen
wegschickt. Nun sind evolutionäre Strategien keine Krankheit. Und weil sie
in ihren Wirkungen und Auswirkungen berechenbar sind, grei� auch die
Krebsanalogie nicht. Aber dass unser für das Leben in Kleingruppen evoluiertes Verhalten unter den Bedingungen unserer Zivilisation und in einer
globalisierten Welt nicht immer optimal ist, liegt auf der Hand.
Bezüge menschlichen Verhaltens zu Genen und Evolution herzustellen, dies klingt wieder einmal, denkt man an Sozialdarwinismus, Dri�es
Reich, Rassismus und Sexismus, nach einer reichlich verstaubt-anrüchigen
Menschensicht. Aber diese Bezüge sind Realität, der wir uns zu stellen haben, genau wie aus der negativen geschichtlichen Erfahrung heraus extreme
Wachsamkeit gegenüber jeglichem ideologischen Missbrauchsversuch angesagt ist. Unsere Dispositionen sind keine Krankheiten. Sie sind aber auch
nicht einfach gut, weil natürlich, weil evolutionär entstanden. Als ein Stück
Natur sind die evolutionär entstandenen Dispositionen des Menschen a
priori weder gut, noch schlecht, sie sind einfach. Oder anders ausgedrückt:
Moral ist zunächst keine evolutionäre Kategorie. Gut und Böse, Ethik und
Moral, kommen erst durch menschliche Wertung in die Welt (vgl. de Waal
1997), die selber wiederum ein Produkt einer engen Kopplung zwischen
evolutionären Dispositionen, kulturellen Elementen und gesellscha�lichen
Konventionen darstellt. Es besteht die Notwendigkeit, unser Kostüm an
sozialen Reaktionsnormen ständig an die aktuellen gesellscha�lichen und
Lebensumstände anzupassen.
Eine Diagnose ist gewöhnlich der erste Schri� einer Therapie. Dem »biologischen Imperativ« der Fitnessmaximierung ist nur durch Bewusstseinsbildung
Brennpunkt Biologie des Subjektiven: Emotionen
177
zu begegnen. Tatsächlich wird niemand gezwungen, zum weiteren Schaden
der Menschheit egoistisch zu handeln. Eine der Wurzeln für die objektiv
dumme und gesellscha�lich schädliche Fremdenfeindlichkeit ist sicherlich
die evolutionär begründete Distanz gegenüber Nicht-Gruppenmitgliedern,
so die Arbeitshypothese. Obwohl daher dieses skeptischen Gefühl Fremden
gegenüber als natürlich anzusehen ist, ist es deswegen nicht auch schon
automatisch gut und akzeptabel, wir sind auch nicht daran gebunden. Es
ist im Prinzip relativ einfach, wenn auch bildungsaufwändig, durch den
Einsatz unserer Großhirnrinde den evolutionären Einflüsterungen erfolgreich Widerstand entgegenzusetzen und einem anderen alten evolutionären
Erbe, unserer Sozialisierungsfähigkeit (Chance 1988), unseren freundlichen
Kontaktmechanismen (Eibl Eibesfeldt 1995, 1999) die Bahn freizumachen.
Die evolutionären Dispositionen sind immer auch eine Grundaussta�ung für
die Janusrollen des Dr. Jekyll und des Mr. Hyde. Nicht Flucht in Mystik und
Irrationalität, sondern nur die kompromisslose Förderung einer humanen,
pluralistischen und liberal-weltoffenen Bildung kann Menschen und menschliche Gesellscha�en gegen die gefährlichen Seiten ihres evolutionären Erbes
schützen.
Unser enormes, ebenfalls evolutionär entstandenes Gehirn (Riedl 1981a)
gibt uns – so es nicht in die von ihm selber aufgestellten Fallen der deduktionistischen Spekulation und des Dogmatismus tappt (Lorenz 1992) – die
Möglichkeit, uns über die eigene Existenz bewusstzuwerden und damit
mit unserer evolutionären Bedingtheit, nicht gegen sie, nie vorher in der
Stammesgeschichte gekannte Freiheit zu erlangen. Ideologien, Glaube
und menschenzentrierte Weltsichten helfen nicht weiter, sind o� aus
Gruppenzwängen resultierende Hindernisse, welche u. a. den Herrschenden
ihre Machtausübung erleichtern. Unsere respektable Hirnrinde ist offenbar
als einziges, zur Rationalität befähigtes Instrument geeignet, uns in ein möglichst relevantes Bild dieser Welt bewusst einzuordnen. Natürlich entsteht
Wirklichkeit erst in unseren Gehirnen (Maturana und Varela 1987), der evolutionäre Bezug von Wahrnehmung und Gehirn sichert allerdings gegen die
Ansicht, dass die Welt nur ein subjektives, bzw. gesellscha�liches Konstrukt
darstellt. Allein die Tatsache, dass Individuen erfolgreich kommunizieren
können, stellt den Bezug zu einer real existierenden Welt her, wenn wir auch
nie in der Lage sein werden, eine (für uns gar nicht relevante) »Wirklichkeit«
außerhalb unserer Wahrnehmung zu erkennen. Die Naturwissenscha�en
stellen die Werkzeuge bereit, uns weitgehend vor Selbstbetrug zu schützen
(Exkurse 5,6). Der Geist der Au�lärung ist gefordert.
Brennpunkt Biologie des Subjektiven: Emotionen
Emotionen sind die Antriebssysteme der Evolution: Liebe, Hass, Interesse,
Lust, usw. sind zumindest theoretisch ein weites, lohnendes Forschungsgebiet
der Ethologen, Physiologen und natürlich der Psychologen. »Theoretisch«
bezieht sich hier auf die angeführten biologischen Disziplinen, für welche
die Grundstimmungen der Tiere ein äußerst schwieriges Terrain darstellen.
Das führte sogar zum obskuren Auswuchs, ihre Verhaltensrelevanz, ja ihr
178
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
Vorhandensein gänzlich zu leugnen (Skinner 1938, 1971). Anders als unsere
Kollegen aus der Humanpsychologie können wir meist die von uns untersuchten Individuen nicht direkt nach ihren Gefühlen befragen. Ansetzen
kann man nur am beobachtbaren Verhalten, wie schon Darwin (1872) in seinem
Buchtitel festhielt. Körpersprache und Mimik verraten, in welcher Stimmung
sich Tiere befinden (Lamprecht 1972, Lorenz 1982).
Wie real Emotionen sind, zeigt die Selbsterfahrung und der tägliche Kontakt
mit Mitmenschen und Haustieren. Trotzdem sind sie wissenscha�lich
nur sehr schwer zu fassen. Gänzlich unmöglich wird es auf der Ebene der
»Qualia«, des subjektiven, bewussten Erlebens dieser Emotionen. Wenn
ein Hund nach Wasser sucht, ist er wahrscheinlich durstig. Der physiologisch, von einem spezialisierten hypothalamischen Hirnzentrum ausgelöste
Suchvorgang ist also wahrscheinlich durch die Empfindung von Durst bei diesem Hund motiviert, samt zugehörigem Unlustgefühl, das nach den Trinken
in eine gewisse Befriedigung umschlägt. Aber wissen werden wir es natürlich
nie, wie bzw. ob dies der Hund subjektiv und bewusst empfindet.
Lorenz selbst (1992) betonte die letztliche Unerforschbarkeit der subjektiven
Seite der Emotionen. Deshalb plädierte er für eine strikte Trennung der physiologischen, objektivierbaren Grundlagen und deren subjektiven Wirkungen der
Emotionen. Solipsisten betonen formal richtig, dass wir nur unsere eigenen
Emotionen und Gedanken erfahren und erleben können, dass es uns aber
nicht möglich sei, die Qualität dieser psychologischen Kategorien bei anderen
Menschen, geschweige denn Tieren (vgl. Griffin 1991) nachzuvollziehen. Dass
sich Lorenz (1963) intensiv mit der Aggression beschä�igte, steht dazu nicht
im Widerspruch, führt sie doch zu beobachtbaren Verhaltensweisen. Daher
wird echtes Einfühlen in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer Menschen
oder Tiere immer ein Wunschtraum bleiben. Es ist keine Frage der noch nicht
zur Verfügung stehenden Werkzeuge, sondern eine logische Schranke, die
diesen Zugang für alle Zeiten verwehren wird. Es ist zwar gefährlich, aber
nicht verboten, von sich auf andere zu schließen. Ist das Einfühlen in die
subjektive Welt der uns so nahestehenden Schimpansen und Gorillas schon
gewagt, so ist dies etwa im Falle der vorwiegend geschmacksorientierten
Welse oder der elektro-orientierten Nilhechte schlicht unvorstellbar. Die
vielen Versuche der Vergangenheit und Gegenwart, die Barrieren zwischen
den Artenwelten zu überwinden (z. B. Uexküll 1934) müssen schon deswegen
fruchtlos bleiben, weil wir nicht wissen, was das Gehirn dieser Tiere mit der
einkommenden Sinnesinformation macht. Haben Sie schon mal versucht, einem Farbenblinden die subjektive Qualität der Farbe Rot zu erklären?
Einen besonders geniales Fenster ins Gehirn eines Tieres fand Irene Pepperberg (1991, 1999). Sie nutzte dabei die Fähigkeit von Papageien, Laute zu
imitieren und trainierte einen handaufgezogenen Graupapagei mit Hilfe von
sozialen Konkurrenten, Gegenstände mit Worten zu benennen. Nach jahrelanger Arbeit verfügte »Alex« über ein Repertoire von mehreren hundert
Begriffen, kann Konzepte und Kategorien bilden, Farben und Materialien
benennen und kann mit Hilfe einfachster Sätze ausdrücken, was er will
(Pepperberg 1999).
Brennpunkt Biologie des Subjektiven: Emotionen
179
Gegen den Hintergrund der Tatsache, dass Menschen evolutionär entstanden
und in stammesgeschichtlich abgestu�er Form mit allen Tieren genetisch
verwandt sind, wäre die Annahme unrealistisch, bei anderen Menschen oder
auch nahe verwandten Tierarten wäre alles ganz anders. Größte Vorsicht
vorausgesetzt, ist der »stammesgeschichtliche Plausibilitätsschluss« eine
Denkmöglichkeit, zumindest für die Erstellung testbarer Hypothesen (Qualia
bleiben natürlich ausgeklammert). Schlüsse auf Plausibilitätsbasis sind vor
allem innerhalb der Art berechtigt. So funktionieren die sozialen Systeme der
Menschen, ähnlich dem Straßenverkehr, auf Basis des Vertrauensgrundsatzes:
Der Annahme also, dass die Reaktionen anderer (auf die eigenen Handlungen
bzw. Emotionsäußerungen hin) mit hoher Wahrscheinlichkeit berechenbar
sind. Das funktioniert nur auf Basis einer gemeinsamen Normenwelt, im
Falle des Straßenverkehrs und anderer kultureller Bereiche, einer gesetzlichen Norm, im Fall der Sozialsysteme die Gesamtheit unserer evolutionären
Verhaltensnormen, angetrieben von unseren Gefühlen und Gedanken. Da
also anzunehmen ist, dass Menschen durch ihre gleichartigen Emotionen
verbunden sind, gibt es wenig Grund, Tieren ähnliche Emotionen, das
zugehörige Denken und Bewusstsein generell abzusprechen. Graduelle
Unterschiede zwischen den Arten sind wahrscheinlich. Wenn Emotionen als
Verhaltensantriebe für Menschen wichtig sind, dann kommen diese stammesgeschichtlich (ähnlich unserer Sprachfähigkeit) sicherlich nicht aus dem
Nichts, sondern aus der evolutionären Entwicklungsreihe.
Verliebte Affen, deprimierte Gänse?
Lorenz sprach im privaten Kreis dem Vernehmen nach durchaus augenzwinkernd über verliebte Gänse und deprimierte Fische. In seiner Schreibe
standen diese Begriffe, so er sie überhaupt verwendete, in Anführungszeichen.
Dies sollte ihren Gebrauch im analogen Sinne bedeuten. Oder er vermied
diese Begriffe gänzlich, wie in seinem »Lehrbuch der vergleichenden
Verhaltensforschung«. Selbst der Begriff »Emotion« fehlt in diesem Werk.
Diese große Vorsicht erscheint aus der Entwicklung der Ethologie verständlich. Gerade Lorenz und die anderen Gründerväter der Ethologie widmeten
ihre besten Jahre dem Kampf gegen vermenschlichende Interpretation tierischen Verhaltens. Emotionen sind in diesem Zusammen besonders heikel, und
jede Verwendung humanpsychologischer Terminologie macht einen immer
noch zur leichten Beute nicht immer ganz kollegialer Kritik. Dazu kommt,
um es zu wiederholen, dass Emotionen, wenn überhaupt, nur an ihren
Verhaltensäußerungen zu erkennen sind. Die zugehörigen Mechanismen im
Gehirn blieben bis in jüngste Zeit einer direkten Erforschung recht unzugänglich. Die komplexen hierarchischen Beziehungen zwischen den Emotionen
wurden auch von Konrad Lorenz wiederholt behandelt, beispielsweise in
Kapitel VII (über mehrfach motiviertes Verhalten) seines Lehrbuches (1978). So
vertragen sich Liebe und Aggression recht gut und es kann zu einem raschen
Wechsel zwischen derart motiviertem Verhalten kommen; hingegen werden
verängstigte Tiere weder fressen, noch balzen oder einander angreifen.
Sind Bezeichnungen für menschliche Emotionen auch bei Tieren verwendbar? Ein Ganter, der seine Partnerin verlor, geht mit eingezogenem Hals
180
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
umher, er fällt in der sozialen Rangordnung zurück und bringt seiner
Umwelt nur noch mäßige Aufmerksamkeit entgegen. Sein Erscheinungsbild
spricht für eine Depression. Aber genau hier beginnt das Dilemma. Bereits die
Bezeichnung »Depression« für den seelischen Zustand unseres Ganters ist
eine Vermenschlichung, impliziert sie doch, dass der Zustand des Ganters
dem eines Menschen in einer ähnlichen Situation gleichkommt. Eine recht
gewagte Annahme. Mehr noch: Um die gemeinsame Bezeichnung zu rechtfertigen, sollte die Depression beim Ganter nicht nur funktionell gleich zum
Menschen sein, sondern auch homolog, also herkun�sgleich zur menschlichen
Depression, sie sollte also beim Gans und Mensch über Hirngebiete stammesgeschichtlich gleicher Herkun� und möglichst auch noch über dieselben
Hirnmechanismen entstehen.
Ob gespannte Aufmerksamkeit, Liebe, soziale Aggression, oder Depression,
die Symptome sind bei Vögeln, Fischen oder Säugetieren weitgehend ähnlich. Sogar Menschenkinder, die noch nie vorher eine lebende Gans sahen,
interpretieren gewöhnlich intuitiv einen angreifenden Ganter als »zornig«.
Dass so universelle Gemeinsamkeiten der Wirbeltiere immer wieder parallel
zueinander entstanden sein sollen – etwa als Einstimmung des Organismus
auf ökologisch-soziale Notwendigkeiten, wie Partner- und Nahrungswahl,
Feindvermeidung, usf. – daran ha�e mit Sicherheit auch Konrad Lorenz seine
Zweifel, was sein salopper Sprachgebrauch verdeutlichen mag. Aber ein universelles (herkun�sgleiches) System der Emotionen anzunehmen, dafür fehlten bis vor kurzem die Daten, wenn es auch, wei erwähnt, aus der Logik der
evolutionären Entwicklung wahrscheinlich war.
Homologie der Emotionen?
Emotionen waren immer schon das tägliche Brot der Humanpsychologen.
Ihre intensive Beschä�igung mit den menschlichen Grundstimmungen begründete ein starkes Interesse an den zugrundeliegenden Hirnstrukturen
und -mechanismen (Panksepp 1998). Tiermodelle wurden entwickelt, um
Experimente durchführen zu können, die sich am Menschen aus naheliegenden Gründen verbieten. So werden an Ra�enmodellen Psychopharmaka
in Richtung menschliche Depression erprobt. Aufgrund der weitgehenden
Wirkgleichheit dieser Drogen innerhalb der Säugetiere kam man auf die
Idee, es handle sich bei der Depression und anderen Emotionen von Ra�en
nicht bloß um zum Menschen analoge Systeme, sondern möglicherweise tatsächlich um stammesgeschichtlich identische Hirngebiete, also um homologe
Schaltkreise. Fortschri�e in Histo- und Neurochemie, in der Neuroanatomie
und bei der Au�lärung der Aktivitätszustände von Wirbeltiergehirnen ließen
diese zunächst kühne Annahme wahrscheinlicher werden. So entwarf eine
neue Generation vor allem US-amerikanischer Experimentalpsychologen,
unter ihnen Jaak Panksepp (1989, 1998), die Theorie der über ihre Substrate
und Funktionen definierten Grundemotionen.
Es könnten fünf Grund-Emotionssysteme sein: Ein Appetenz-System bewirkt
allgemeine Aufmerksamkeit und Verhaltensbereitscha�. So etwa ist eine
Katze, die auf eine Maus lauert, nicht etwa aggressiv, sondern schlicht auf
Brennpunkt Biologie des Subjektiven: Emotionen
181
Beute-machen konzentriert (Leyhausen 1965). Das Ärger-Zorn-System dagegen bereitet innerartlich aggressive Interaktionen vor. Letzteres wird etwa
in Konkurrenz um Ressourcen aktiviert, auch zwischenartlich und nach
Maßgabe des zu erwartenden Gewinns. So etwa ist bei einem Jäger, der auf
einen Hirsch pirscht, das Appetenzsystem, nicht aber das Aggressionssystem
aktiviert, während die Bekämpfung von potentiellen Konkurrenten, wie etwa
Fuchs, Luchs oder Wolf beim gleichen Jäger durchaus aggressiv motiviert
sein kann. Für Fluchtbereitscha� ist ein Furcht-Angstsystem zuständig. Und
vor allem bei sozialen Wirbeltieren sind zwei weitere Emotionskreise ausgebildet, das Depressionssystem, welches bei Trennung vom Sozialkumpan
aktiviert wird, sowie das System soziales Spiel, welches aber tatsächlich nur
bei einigen sozial hochentwickelten Säugetieren und Vögeln nachzuweisen
ist und möglicherweise kein selbständiges System darstellt, sondern einfach
als besonders lustbetontes Verhalten zu sehen ist. Sollte diese Hypothese
zutreffen, dann wäre eine breite Synthese erreicht. Gerade deswegen ist aber
besonderes Misstrauen geboten. Zu behaupten, es sei alles schon bewiesen,
wäre vermessen. Längst sind nicht alle Nervenverbindungen der Emotionen
identifiziert und in schöner Regelmäßigkeit werden neue Substanzen entdeckt, die als Neurotransmi�er oder -modulatoren im Gehirn wirken. Die
Kunde von der Universalität der Emotionssysteme bleibt daher eine zwar
verlockende, aber noch ungenügend untermauerte Hypothese.
Die Herausforderung wiegt umso schwerer, da heute ein enger Zusammenhang zwischen rationalem Denken (oder kognitiven Vorgängen allgemein)
und Emotionen gesehen wird. Es war der Schweizer Psychologe J. L. Ciompi
(1993), der auf diesen Zusammenhang hinwies. Die Inhalte mit denen sich
unsere ach so rationale Hirnrinde beschä�igt, müssen alle durch ein Zentrum
für Emotionalität, das limbische System. Inhalte werden also immer emotional eingefärbt. Und diese Einfärbung bestimmt auch die Abru�arkeit von
Gedächtnisinhalten.
Emotionalität und Individualität
Schließlich steht Emotionalität auch in engem Zusammenhang mit einem
weiteren Brennpunkt der modernen Verhaltensbiologie, der Erforschung
der biologischen Mechanismen und Funktionen von Persönlichkeit. Bei
Tieren wie Menschen findet man in sozialen Gruppen zurückhaltende und
forsche Individuen. Entlang dieser Achse, beim Menschen als introvertiert-extrovertiert bezeichnet, unterscheiden sich Individuen in Gruppen am meisten
voneinander. Oder anders ausgedrückt: Individuen unterscheiden sich ihrer Art, mit die Herausforderungen des Lebens umzugehen (Koolhaas u. a.
1999). Bei allen bislang untersuchten Wirbeltieren, Mäuse, Meisen, Gänse,
Wachteln, Menschen, usw. gibt es sogenannte »proaktive« Individuen, die
mit Situationen aktiv umgehen; sie sind forscher, aggressiver, konkurrenzstärker, aber auch oberflächlicher, achten generell weniger auf die Reize aus
der Umwelt und sind anfälliger gegenüber Fressfeinden, als die sogenannten
»Reaktiven« (vgl. Exkurs 12). Diese innerhalb der Wirbeltiere, vielleicht sogar aller Tiere so einheitlicher Differenzierung der Persönlichkeit, entspricht
der Differenzierung der Temperamente, also der Emotionalität. Den aggres-
182
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
siven, extrovertierten, forsch-unerschrockenen, aber auch leichtsinnigen
»Proaktiven« stehen die zurückhalten, scheu-introvertierten, vorsichtigen
»Reaktiven« gegenüber. Dazwischen gibt es alle Übergänge.
Diese Differenzierung der Persönlichkeiten, bzw. Temperamente zeigt sich
auch in der zugrundeliegenden physiologischen Mechanismen, insbesondere was den Umgang mit Stress betri�. Proaktive aktivieren besonders
stark ihre »rasche« Stressreaktion, sie schü�en intensiv Adrenalin aus dem
Nebennierenmark aus, während die Reaktiven eher dazu neigen, die »langsame« Stressachse in Schwung zu bringen, also Glukokortikoide, etwa das
Kortisol, aus der Nebennierenrinde auszuschü�en (Koolhaas u. a. 1999). Dies
kann sogar zu stressbedingten Erkrankungen, bis zum Tod von Individuen
führen, die sozialen Stressoren nicht ausweichen können (von Holst 1998).
Diese Differenzierung der Emotionalität zwischen Individuen ist teils genetisch determiniert, teils nehmen darauf Steroidhormone während der
Frühentwicklung einen starken Einfluss (Exkurs 12). Und auch soziale
Einflüsse können sehr bedeutend sein. So fand Sulloway (1996) auf seiner Suche nach den Quellen menschlicher Kreativität, dass sich Erst- und
Zweitgeborene wesentlich stärker voneinander unterscheiden, als dies
durch den ähnlichen genetischen Hintergrund zu erwarten wäre. Während
Erstgeborene gewöhnlich die loyalen Verbündeten ihrer Eltern spielen, neigen Zweitgeborene zu Aufmümpfigkeit und Rebellion. So sind Neuerer und
Revolutionäre der Weltgeschichte 16 mal häufiger Zweit- als Erstgeborene.
Zweitgeborene scheinen bereits früh im Buhlen um die Zuwendung der
Eltern eine andere soziale Nische zu besetzen als die Erstgeborenen, was ihre
Persönlichkeit lebenslang beeinflusst.
Die Persönlichkeit bestimmt nicht nur beim Menschen maßgeblich die Rollen
der Individuen in der Gesellscha� mit. So neigen Proaktive eher dazu, dominant zu werden und so auch von den Fertigkeiten anderer zu profitieren.
Dagegen finden sich unter den Reaktiven eher die findigen Neuerer, die es
etwa durch geduldiges Probieren schaffen, einen neue Nahrungsquelle zu
erschließen (Pfeffer u. a. 2002). Die Proaktiven nähern sich zwar rascher unbekannten Objekten an, als die Reaktiven, sie explorieren aber auch oberflächlicher und sind daher weniger gut geeignet, komplexe Aufgaben zu lösen.
Es stellt sich natürlich die Frage, ob es evolutionär vorteilha� ist, entweder
Proaktiv oder Reaktiv zu sein. Wenn dem so wäre, sollte man eigentlich erwarten, dass man in natürlichen Populationen kaum Mischformen findet. Das
ist aber nicht der Fall, die meisten Individuen stehen in ihrer Persönlichkeit
zwischen den Extremen, was aber noch nicht bedeuten muss, dass keinen
einschlägigen Selektionsdruck gibt. Ob es besser ist, forsch (proaktiv) oder
zurückhaltend (reaktiv) zu sein, hängt u. a. von der Variabilität der Umwelt
ab und davon, was die anderen in der Gruppe tun. So nimmt man an, dass
Proaktive eher in stabilen Umwelten und mit reaktiven Gruppengenossen
Vorteile genießen und umgekehrt. Und möglicherweise sind die vorsichtigeren Reaktiven bessere, weil länger überlebende Erstbesiedler, als die allzu forschen und daher unvorsichtigen Proaktiven. Man beginnt, die Mechanismen
Brennpunkt Biologie der Erkenntnis
183
der Ausbildung von Persönlichkeiten zu verstehen, ist aber noch weit davon
entfernt, die evolutionären Funktionen einigermaßen stimmig interpretieren
zu können. Dieses Gebiet wird daher noch lange ein Brennpunkt verhaltensbiologischer Forschung bleiben.
Brennpunkt Biologie der Erkenntnis: Was Tiere denken und was wir
darüber zu wissen glauben
»Kognition, Denken und Bewusstsein« sind ebenso wie die »Emotion«
Begriffe, die einerseits schwierig zu definieren, andererseits mit dem methodischen Inventarium der Naturwissenscha�en kaum zugänglich waren.
Darum mieden die meisten der »klassischen Ethologen« diese Bereiche wie
der Teufel das Weihwasser. Dies auch deswegen, weil sie selber zu Beginn des
20. Jahrhunderts antraten, um vermenschlichen Interpretationen tierischen
Verhaltens einen Riegel vorzuschieben. Die feige Hyäne, den stolzen Stier,
den kühnen Adler oder den mutigen Löwen, sie finden wir noch bei Brehms
Tierleben; die Gründer der Ethologie wollten damit nichts mehr zu tun haben
und schoben für lange Zeit diesen Ball an die Psychologen.
Gebrochen wurde der Bann paradoxerweise nicht durch die mechanistisch
orientierten Ethologen, sondern in den 1980er Jahren ausgerechnet von jenen Öko-Ethologen, welche den Organismus zunächst nur als »Blackbox«
betrachteten. Da die Öko-Ethologie aber im Grunde daran interessiert
ist, individuelle Entscheidungen zu erklären und sich zeigte, dass Tiere
nicht immer nach den Grundsätzen der Optimalitätstheorie handeln, entstand das Bedürfnis, die kognitiven Mechanismen zu verstehen. Auch die
Primatologie, die Erforschung der Affenartigen einschließlich Mensch, trug
das Ihre dazu bei, das Feld zu beleben. So regten Anekdoten vor allem zur
sozialen Intelligenz von Affen die Forschung an. Ist es etwa wirklich ein
Zeichen von großer Intelligenz, wenn Niederrangige versteckte Nahrung erst
bergen, wenn die Hochrangigen außer Sicht sind, dass letztere Desinteresse
mimen, um die Niederrangigen in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Im
Extremfall könnte man es dabei mit Triebhandlungen zu tun haben, oder
aber mit einfachen Lernprozessen. Ob sich Individuen gar vorstellen können,
was die anderen denken, welche Absichten sie haben oder verbergen könnten, ist schwierig nachzuweisen. Trotzdem belebten diese Themen auch die
Konjunktur der Kognitionsforschung an anderen Tieren. Dasselbe gilt für die
Fähigkeit, mi�els Symbole zu kommunizieren, für die Mechanismen des sozialen Lernens, usw. Zudem entspricht es einem menschlichen Grundbedürfnis,
zu wissen, wie andere Lebewesen mit der Welt zurechtkommen, wie sie die
Welt sehen, sie erleben. Da uns die subjektive Seite, also das was die Gehirne
anderer Arten aus der Welt machen, nie zugänglich sein wird stoßen wir
hier allerdings auf eine der Grenzen der naturwissenscha�lichen Methodik.
Menschen scheinen übrigens die einzige Tierart zu sein, die sich auch jenseits
des Räuber-Beute oder Konkurrenzzusammenhang für andere Arten interessiert, sieht man von Anzeichen solchen Interesses bei unseren nächsten
Verwandten, den Schimpansen ab (de Waal 1982, 1997, Wilson 1986). Die
derart motivierten Ergebnisse der Kognitionsforschung der letzten 25 Jahre
184
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
ließen weitere Bastionen menschlicher Einzigartigkeit bröckeln. Und gegenwärtig beschä�igt man sich schon mit dem notorisch schwierig zu fassenden
Bewusstsein (Stamp-Dawkins 1994).
Worum es in der Kognitionsforschung eigentlich geht, ist zunächst schwierig
zu fassen, da es meist keine eindeutigen, allumfassende Definitionen von
geistigen Fähigkeiten gibt und da es nahezu unmöglich ist, unser eigenes,
bewusstes Erleben draußen zu lassen, dass also die Selbsterkenntnis beinahe
unvermeidliche Quelle wissenscha�licher Erkenntnisse ist, was natürlich zu
vermeiden wäre. Das mag seltsam anmuten, denn wie soll man auf einem
Gebiet wissenscha�lich arbeiten, wenn man die Inhalte nicht einmal eindeutig definieren kann? Dazu meinte Griffin (1991), dass auch andere Begriffe in
der Biologie, wie etwa der Stoffwechsel, nicht eindeutig definierbar sind und
dennoch Physiologen fruchtbare Arbeit leisten. Zudem sei von einer möglichen Einengung durch Definitionen zu warnen.
Operational könnte man Denken als Fähigkeit sehen, mögliche Resultate verschiedener Handlungen gegeneinander abzuwägen und dann das zu tun, was
am wahrscheinlichsten das angestrebte Resultat bringt. Dazu ist Bewusstsein
übrigens nicht nötig (Ristau 1991). Der erweiterte Denkbegriff umfasst letztlich
alle Verrechnungsvorgänge im Gehirn, sodass es unter diese Definition fällt,
wenn Entscheidungen »aus dem Bauch heraus« getroffen werden, also unter
Umgehung bewussten, oder zumindest rationalen Denkens. Trotzdem verlangt dies natürlich die Bildung interner Repräsentationen dieser Welt, Bilder
und Annahmen über die Umwelt, wenn-dann-Beziehungen, Kategorien.
Für Konrad Lorenz waren die kognitiven Fähigkeiten der Tiere offenbar ein
Aspekt des alten Leib-Seele Problems. Nirgends sprach er dies so klar an, wie
in seinem »Russischen Manuskript« (Lorenz 1992). Dort schrieb er sinngemäß, dass eine restlose Einsicht in die materielle Seite eines physiologischen
Vorganges uns nicht um Haaresbreite dem Verständnis der Frage näherbringt,
welche Beziehung zu den parallel laufenden psychischen Erscheinungen besteht. Er unterschied also klar eine objektiv mess- und beobachtbare Seite des
psychischen Geschehens und eine subjektive, prinzipiell naturwissenscha�lich nicht erforschbare Seite. Dies stellt sich selbst in einer Zeit als haltbar heraus, in der nicht-invasive Verfahren räumlich gut auflösende Einblicke in die
Funktion des menschlichen Gehirns gesta�en. Die mit diesen Funktionen einhergehenden Empfindungsqualitäten, die »Qualia« werden allerdings immer
Gegenstand der Kommunikation bleiben müssen, ein direkter Zugang dazu
ist nicht möglich. Lorenz meint dazu, dass zwischen den beiden apriorischen
Anschauungsformen der subjektiven Betrachtung der beseelten organischen
Ganzheit jede denkmögliche Brücke fehle. Das Verhältnis der subjektiven
und der objektiven Seite beseelten Lebensgeschehen sei grundsätzlich »a-logisch« (S. 247). Daran hat sich nichts geändert.
Dies bedeutet natürlich nicht, dass Plausibilitätsschlüsse gänzlich verboten
wären. Denn wenn unser Erkenntnisapparat adaptiv entstanden ist, dann
sollte das auch für jenen Teil gelten, der subjektives Erleben vermi�elt.
Schließlich können wir über Emotionen und ihre Ausdrücke in Körpersprache
Brennpunkt Biologie der Erkenntnis
185
und Mimik kommunizieren, wir können diese zum Abschätzen der Absichten
anderer und zur Synchronisation von Gruppenaktivitäten benutzen. Daher
ist natürlich die Annahme berechtigt, dass das zugehörige Erleben zwischen
den Individuen einer Art, oder sogar zwischen nahe verwandten Arten, zumindest ähnlich sein wird, aber wissen können wir es nicht.
Kognition und die Ökonomie von Entscheidungen
Diese Art evolutionärer »Common sense psychology« darf natürlich
nicht in die reine Spekulation führen. Sie bewegt sich auf dem Boden der
Naturwissenscha�en, solange daraus testbare Hypothesen abgeleitet werden
können. Eine Sicherheitsleine wissenscha�licher Vorsicht stellt der immer
noch allseits akzeptierte Grundsatz von Lloyd Morgan (1894) dar, dass wir
auf keinen Fall ein Element des Verhaltens als Ergebnis einer »höheren« psychischen Ebene interpretiert werden dürfen, wenn sie auch als Resultate einer
»tieferen« Ebene erklärt werden kann. Das Prinzip der einfachsten Erklärung
also. Wenn es genügt, den Donner als Kavitationseffekt des Blitzes zu erklären, sind dazu höhere Erklärungsebenen, etwa der Zorn Go�es unnötig; ob
man sie als falsch ansieht, hängt natürlich vom Glauben des Einzelnen ab und
ist damit nicht Gegenstand der Naturwissenscha�.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob im Zusammenhang mit Kognition dieses
Prinzip der einfachsten Erklärung wirklich so gut geeignet ist. Denn wie beurteilt man, was »höher« ist, und was bedeutet dies im Zusammenhang mit
der Kognition? Was sind die Kriterien für »hoch« oder »nieder«, welche psychischen Prozesse sind einfacher, bzw. komplizierter als andere? Hier geht
man offenbar von einem dem menschlichen Geist entsprungenem Konzept
aus, von der angenommenen scala naturae – Abfolge der Handlungsantriebe
in der stammesgeschichtlichen Entwicklung: Von »niederen« Reflexke�en
über Erbkoordinationen mit Taxiskomponenten bis zu »höheren«, mehr
oder weniger rational gesteuerten Willkürhandlungen. Auf der Ebene
des Lernens betrachtet lautet die Abfolge »von unten nach oben« wohl:
Habituation, bedingter Reflex, Versuch-und-Irrtum-Lernen, Einsicht und
andere »höhere« Lernformen. Fraglich, ob dieses immer das fruchtbarste
Modell für die Kognitionsforschung sein muss. Der Hauptantrieb für die
evolutionäre Entwicklung vom einfacheren zum komplexeren war sicherlich die Konkurrenz zwischen den unterschiedlichen Nervensystemen, um
Ressourcen, im We�lauf zwischen Räuber und Beute, usw. Entscheidende
Vorteile ha�en meist diejenigen, die auch nur ein klein wenig flexibler waren,
als ihre unmi�elbaren Konkurrenten. Und kaum etwas ist in dieser Hinsicht
effizienter, als gut entwickelte Denkfähigkeit. Daher ist anzunehmen, dass in
den meisten Großgruppen ein starker Druck auf der Entwicklung kognitiver
Fähigkeiten lag. In dieser Logik gilt Lloyd Morgans Grundsatz nicht mehr automatisch. Vielmehr sollten Tiere dann kognitiv (bis rational) handeln, wenn
sie damit schneller sind und im Vergleich zu Triebhandlungen kostengünstiger aussteigen, als ihre Konkurrenten – wenn sie es können, also die Fähigkeit
dazu evolutionär entwickelt wurde. Und herauszufinden, ob, und was genau
sie können und lernen können, ist eine der zukün�igen Aufgaben der evolutionären Kognitionsforschung. Ansta� automatisch das Prinzip der ein-
186
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
fachsten Erklärung anzunehmen, sollte überlegt werden, welche kognitiven
Mechanismen im Zusammenhang mit den zu bewältigenden ökologischen
und sozialen Aufgaben am günstigsten, bzw. zweckmäßigsten wären.
Dabei muss die Entscheidung nicht immer klar zugunsten der Ratio ausfallen, sonst hä�en etwa Menschen ihre evolutionären Wurzeln längst abgestrei� und würden sich im sozio-sexuellen Bereich nicht immer noch so
verhalten, als käme es auf Reproduktionsoptimierung an. »Instinkte« haben
ihre Berechtigung, wenn Verhaltensautomatismen abwägendem Denken
überlegen sind. Soziale Kommunikation und Sex sind gute Beispiele für
solche Verhaltensbereiche. Und im Zusammenhang mit Flucht könnten
etwa »höhere« kognitive Mechanismen schlicht zu langsam sein, es könnte
zu gefährlich sein, auf die stammesgeschichtliche Erfahrung zu verzichten
und auf individuelles Lernen zu setzen. Auf Basis der Ökonomie in der
Natur argumentiert beispielsweise Don Griffin dafür, dass gerade Tiere mit
kleinen Nervensystemen und begrenzter Speicherkapazität, wie Insekten
»höhere« kognitive Fähigkeiten benötigen. Auf die Spitze getrieben werden
könnte dieses Umkehr-Argument wohl bei den mit freiem Auge gar nicht
mehr sichtbaren Milben. Als Alternative dazu weiß man heute, dass Insektenund andere kleine Nervensysteme aufgrund der Vernetzung einfacher ReizRektionsregeln zu erstaunlichen Leistungen befähigt sind, auch wenn sie
nicht über komplexe kognitive Mechanismen verfügen.
Vergangenheit und Zukun� der ethologischen Kognitionsforschung
Vor allem Psychologen beschä�igten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit
den kognitiven Fähigkeiten von Tieren. Man wollte über das Tiermodell die
psychischen Phänomene bei den Menschen besser verstehen. Die Einsicht,
dass kognitive Module in Anpassung stammesgeschichtlich tradierter
Strukturen an die spezifischen Lebensumstände einer Art zu interpretieren
sind, basiert auf der Pionierarbeit von Konrad Lorenz und sollte sich erst
gegen Ende dieses Jahrhunderts durchsetzen. So dominierten sehr menschenzentrierte Fragestellungen, etwa welche Tiere bis 3, 5 oder 7 zählen
könnten. Oder es tauchte im Zusammenhang mit dem Erlernen komplizierter Labyrinthe durch Ra�en die Frage auf, ob dies etwas mit Einsicht zu tun
hä�e. Schausteller zogen mit rechnenden Pferden und Hunden durch die
Lande, etwa dem »klugen Hans«. Dieser Gaul konnte durch Klopfen mit den
Hufen das Ergebnis komplizierter Rechenoperationen richtig anzeigen. Diese
Fähigkeit verschwand allerdings schlagartig, wenn er seinen Besitzer, bzw.
das Publikum nicht mehr sehen konnte und so auch nicht mehr auf dessen
unbewusst gegebene Signale reagieren konnte. Das Pferd war also zwar nicht
übermäßig mathematisch begabt, zeigte aber auf seine Weise unglaublich
genaue Beobachtungsgabe.
Warum aber sollte ein Pferd zählen können? Es benötigt genügend Instinkte
und soziale Intelligenz, um seine Herdenmitglieder zu erkennen und richtig
mit ihnen umzugehen, oder als Hengst mit einer Mischung aus Kra� und
Köpfchen zum Pascha einer Stutenherde zu werden. Daneben können
Wildpferde über erstaunliche Ortskenntnisse verfügen, etwa um über hunderte
Brennpunkt Biologie der Erkenntnis
187
von Quadratkilometern Nahrung und Wasser zu finden und ihren Fressfeinden
auszuweichen. Mathematik gehört nicht zu den für Pferde überlebenswichtigen
Fähigkeiten, es wurde daher auch keine Lernfähigkeit für Rechenkunststücke
angelegt, den diese hä�en Pferden weder dazu verholfen, den Wölfen zu entkommen, noch mehr Nachkommen als andere großzuziehen.
Der Anpassungswert von »Intelligenz«
Damit sind wir am Kern der modernen, ethologischen Kognitionsforschung:
Es geht nicht darum, andere Tiere nach ihren Fähigkeiten im Vergleich zum
Menschen als »klug« oder »dumm« einzuschätzen, es geht letztlich nicht
einmal darum, ob, und in welchem Ausmaß Tiere »Intelligenz« zeigen.
Denn solch eine Fragestellung wäre unsinnig (s. unten). Es geht vielmehr
darum, die artspezifischen und individuellen Leistungs-und Lernfähigkeiten
zu erforschen. Geistige Fähigkeiten sind genau wie körperliche Merkmale
als Anpassungen zum Überleben und zur Maximierung von Fitness evoluiert. So verraten die heutigen kognitiven Fähigkeiten von Arten, welche
Selektionsdrucke während der Evolution der zugehörigen Nervensysteme
geherrscht haben müssen. Und natürlich auch, welches »Rohmaterial« die
Selektion zur Verfügung stand. Daher ist es verwunderlich, dass Kopffüßer
(Oktopus und Co.) mit ihren Schneckengehirnen und Wirbeltiere auf
Basis ihrer Fischgehirne offenbar ähnliche Leistungsfähigkeiten erreichten. Möglicherweise ist es uns Wirbeltieren aber auch noch nicht möglich,
wirklich tief in die kognitive Welt der Kopffüßer einzudringen. Da es sich
bei kognitiven Fähigkeiten um evoluierte Strukturen handelt kann sich die
Kognitionsforschung des grundlegenden Arbeitsprogrammes der evolutionären Biologie, der »vier Tinbergenschen Ebenen« (1963) bedienen, es
geht also um die Fitnessrelevanz bestimmte geistiger Fähigkeiten, um die
zugrundeliegenden Vorgänge im Nervensystem, um ihre Entstehung in der
Individualgeschichte und schließlich um deren Herleitung aus der evolutionären Geschichte.
Aber unter welchen Bedingungen kam es zur Entwicklung »höherer« geistiger
Fähigkeiten? Aus den unterschiedlichsten Gruppen gelten bestimmte Arten
als »intelligent«. Man meint damit gewöhnlich, dass das Gesamtverhalten
dieser Tiere den Schluss erlaubt, dass sie recht differenzierte und flexible
Beziehungen zu ihrer Umwelt unterhalten. So ist Oktopussen, Delfinen,
Seelöwen, Hunde, Raben, Schimpansen und Menschen gemeinsam, dass sie
spielen, offenbar gute Problemlöser sind, neugierig ihre Umgebung erforschen, findig und kreativ Nahrung suchen und, sieht man von achtarmigen
Tintenfischen ab, komplexe soziale Beziehungen unterhalten, einschließlich
der Fähigkeit Information nur kontrolliert weiterzugeben, also einander
übers Ohr zu hauen, zu manipulieren. Gerade weil hier die große Gefahr besteht, dass wir bloß unsere eigenen Fähigkeiten und Vorstellungen in andere
Tiere hineinprojizieren, ist es nötig, diese Fähigkeiten zu testen. Meist aber
untermauern die Ergebnisse solcher Test eigentlich nur, was gute Beobachter
ohnehin schon wissen. So stimmt es etwa, dass Raben verglichen mit ihrer
Singvogelverwandtscha� und innerhalb der gesamten Zoologie recht »kluge
Bürschchen« sind. Und Schimpansen gehen koordiniert auf die Jagd und
188
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
schmieden über lange Zeiträume strategische Allianzen. Der eigentliche
Wert der vergleichenden, ethologischen Kognitionsforschung liegt in der
Chance, stimmige Erklärungen zu finden, warum gerade die erwähnten Tiere
innerhalb ihrer Verwandtscha�srunden auf Klugheit setzen. Warum etwa
ist innerhalb der drei Schimpansenarten auf der Welt, Schimpanse, Bonobo
und Mensch das Gehirn ausgerechnet beim Menschen innerhalb der letzten
700 000 Jahre regelrecht explodiert? Warum bauen wir Kathedralen und philosophische Systeme, spielen mit Computern, verfügen über Sprachen und
Zivilisationent, während unsere nächsten Verwandten immer noch als »Tiere«
die afrikanischen Savannen und Wälder, bzw. unsere Zoos bevölkern?
Der englische Primatologe Robin Dunbar (1993) zeigte, dass die relative
Größe der Großhirnrinde innerhalb der Primaten (Affen) positiv mit der
Gruppengröße zusammenhängt, was andeutet, dass die Intelligenz von
Affen und Menschen im sozialen Zusammenhang entstanden sein könnte.
Auch die Sprache passt ins Bild: Sie gesta�et es, mit viel mehr Individuen
Kontakt zu halten als ohne, sogar über Distanz und über die Gegenwart
hinaus. Die »soziale Intelligenzhypothese« ist heute sicherlich eine der stimmigsten, wenn auch natürlich nicht die einzige Erklärung für die menschliche
Kultur- und Sprachfähigkeit und damit für die Menschwerdung. Ähnliches
zeigte sich auch bei den Kolkraben. Ihr Leben als Generalisten, die auf der
Hut sein müssen, von jenen Räubern, denen sie einen Teil der Beute abnehmen, Wolf, Bär, Fuchs, Mensch, usw. nicht selber getötet zu werden, erfordert
Aufmerksamkeit und Übersicht. Darüber hinaus zeigte sich, dass Raben kurzund längerfristige Allianzen bilden und innerhalb ihrer Gruppen »taktisch
betrügen« können. So zeigt die vergleichende Kognitionsforschung, dass
bei unterschiedlichen Wirbeltieren ein starker Selektionsdruck auf geistige
Leistungsfähigkeit besonders dem sozialen Umfeld und der Konkurrenz innerhalb der Gruppe entspringt.
Raben etwa verbringen die ersten Monate nach dem Schlüpfen mit ihren Eltern
und schließen sich die nächsten 3–6 Jahre einer Nichtbrütergruppe an, die
der gemeinsamen Nahrungssuche, als Informations- und Partnerbörse dient
(Heinrich 1989). Und schließlich erobern sie in trauter Einehe ein Territorium
und halten es ein ganzes, o� mehrere Jahrzehnte langes Leben. Im Sommer
besteht die Nahrung aus einem breiten Spektrum von Insekten, Würmern und
anderem Kleingetier. Der Winter aber stellt einen energetischen Flaschenhals
dar. Und auch bald im Frühling, wenn die Paare ihre Jungen aufziehen, liefern
Fallwild oder auch Wolfsrisse, Au�rüche von Jägern oder Mülldeponien und
Wildparks die Nahrung. Befindet sich ein wertvoller Kadaver im Revier eines
Rabenpärchens, so wird es von diesen verteidigt. Wenn nun ein Nichtbrüter
diese tolle Nahrungsquelle entdeckt, ru� er Verstärkung herbei (Heinrich
1989, Bugnyar und Kotrschal 2001, Bugnyar u. a. 2001), denn gegen mehr als
10 Eindringlinge ist die Nahrungsverteidigung der Revierraben wirkungslos.
Damit rekrutiert der Jungrabe aber nicht nur Verbündete, sondern natürlich
gleichzeitig auch Konkurrenten, es entspannt sich ein komplexes Versteckund Überlistespiel. Die Raben hacken je etwa 100 g Fleisch vom Kadaver,
fliegen damit weg, verstecken es, kehren zurück, usw. Das Spiel besteht also
Brennpunkt Biologie der Erkenntnis
189
zunächst darin, mehr als die anderen für sich selber in Verstecken unterzubringen, um damit ein paar Tage oder sogar Wochen über genügend Nahrung
zu verfügen. Man muss gerade weit genug wegfliegen, um unbehelligt zu
verstecken, aber wiederum nicht zu weit, denn das kostet Zeit, könnte die
Zahl der Versteckflüge einschränken, da die Fleischmenge begrenzt ist.
Die Entscheidung zwischen Distanz vom Kadaver, Verstecksicherheit und
Flugkosten ist aber nur eines der relevanten Entscheidungsfelder. Denn die
Raben können nun drei verschiedene Strategien spielen: Selber Fleisch holen
und verstecken, denen die mit Fleisch wegfliegen dieses abnehmen oder aber
die Verstecke anderer ausräumen (Bugnyar und Kotrschal 2002a). Es sind
die dominanten Individuen, die sich besonders in gefährlichen Situationen,
etwa wenn Wölfe anwesend sind, aufs Wegnehmen verlegen. Zwischen den
Versteckern und den Plünderern entspinnt sich ein Spiel um Bluffen und
Täuschen (Bugnyar und Kotrschal 2002b). Verstecke werden nur gefunden,
wenn die Plünderer genau zusehen können, wo versteckt wurde. Folgerichtig
wird hinter Bäumen oder Felsen versteckt, was den potentiellen Plünderern
die direkte Sicht nimmt. Diese wiederum »tun so, als ob« sie gar nicht interessiert wären. Denn bemerkt ein Verstecker, dass er offensichtlich beobachtet
wird, bricht er ab und versteckt anderswo, ebenso, wenn sich der Plünderer
zu früh dem Versteck nähert. Letztere müssen also 1–2 Minuten Geduld aufbringen. Auch das ist übrigens eine große geistige Leistung, wurde doch die
Fähigkeit, zeitverzögert zu plündern unter den Vögeln nur bei Rabenvögel
nachgewiesen. Meisen etwa können dies nicht.
Der versteckende Rabe versucht also, den Ort des Verstecks nicht zu verraten,
während dem Plünderer daran gelegen ist, seine Absichten zu verschleiern.
Dies kann über drei verschiedene Mechanismen erklärt werden. Aktionen
und Reaktionen in diesem Spiel könnten triebha� angelegt sein, also aus
Schlüsselreizen und Erbkoordinationen bestehen. Dies ist angesichts der
Komplexität des Spiels unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher schon, dass ein
einfacher Lernprozess dahintersteckt. Der Verstecker lernt, dass er seinen
Vorrat verliert, wenn er in Sicht eines anderen Raben versteckt, der Plünderer
lernt, dass er nicht zum Ziel kommt, wenn er zu nahe kommt oder nicht lange
genug abwartet. Dazu ist noch keine Einsicht in die Gedanken und Absichten
des jeweils anderen erforderlich, die Vögel wüssten über ihre Umwelt
Bescheid, hä�en also in ihren Gehirnen Repräsentationen erster Ordnung gebildet. Der komplexeste, aber dennoch in diesem Zusammenhang wahrscheinlichste Mechanismus wären allerdings sogenannte Repräsentationen zweiter
Ordnung: Die Vögel wissen nicht nur über ihre direkte Umwelt Bescheid,
sondern auch darüber was die jeweils anderen darüber wissen und können
dies zu ihrem Vorteil nutzen. Das würde sie befähigen, nicht nur nach Regeln
zu spielen, sondern wie Profi-Pokerspieler zu agieren. Denn auch beim Poker
gewinnen die besten Bluffer (die ihre Absichten am besten verbergen, bzw.
darüber täuschen können). Dadurch käme automatisch ein Selektionsdruck
zustande, einerseits besser als die anderen zu bluffen, andererseits den Bluff
der anderen zu durchschauen. Dieses Gebiet ist gerade ein Fokus der biologischen Kognitionsforschung. Gezeigt wurde das Wissen um das Wissen
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Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
anderer zweifelsfrei erst bei Schimpansen (Hare u. a. 2001). Entsprechende
Versuche bei Raben laufen gerade (Bugnyar).
Wie spezialisiert ist »Intelligenz«?
Somit zeigt die vergleichende Kognitionsforschung, dass der Selektionsdruck
auf die Entwicklung von »Intelligenz« vor allem dem sozialen Zusammenhang
entspringt. Aber was bedeutet der Begriff »Intelligenz« eigentlich? Sind
Raben »klüger« als Gänse, weil sie schneller als letztere Schachtel und Dosen
öffnen können? Ganz so »dumm« können Gänse nicht sein, wenn sie sich
über hundert Schargenossen individuell merken können und ihr Verhalten
entsprechend abstimmen, wenn sie über Jahrzehnte in Clans zusammenhalten. Aber es stimmt, dass Gänse den Raben in technischer Hinsicht unterlegen sind, wahrscheinlich weil Raben aufgrund der anderen Ökologie
und Nahrungsaufnahme dazu gezwungen wurden, innovativer und manipulativer als Gänse vorzugehen. Jede Art ist eben so technisch oder sozial
»klug« wie nötig. Und ein wenig besser in technischer oder sozialer Hinsicht
zu sein, wie die anderen scha� entsprechende individuelle Vorteile und
Selektionsdrucke.
Immer noch ist es ein Streitpunkt in der Kognitionsforschung, ob »Intelligenz«
nun generalisiert oder in Modulen entstünde und entsprechend nur in definierten Bereichen oder breit anwendbar sei. Im Falle der »generalisierten
Intelligenz« könnten geistige Fähigkeiten, die etwa im Zusammenhang mit
Raubfeindvermeidung oder der Au�ereitung von Nahrung entstanden,
auch im sozialen Bereich eingesetzt werde, und vice versa. Jede Steigerung der
geistigen Leistungsfähigkeit in einem bestimmten ökologischen oder sozialen
Zusammenhang würde deren Anwendung in anderen Zusammenhängen ermöglichen. Wenn ein Individuum etwa besser als andere wäre, die Absichten
von Fressfeinden zu erkennen, könnte es diese Fähigkeit zu seinem Vorteil
auch im sozialen Bereich einsetzen. Dies mag in eher generalisierten Bereichen
durchaus der Fall sein, bzw. ökologisch generalisierte Arten könnten über
mehr von dieser »breiten« Intelligenz verfügen, als ökologische Spezialisten.
So verstecken manche Meisen etwa tausende, Eichelhäher zehntausende
Samen, bzw. Nüsse für den Winter und finden diese später auch wieder.
Sie tun dies nicht nach irgend einer einfachen Regel, sondern merken sich
in Form kognitiver Karten jedes einzelne dieser Verstecke. Damit ist der
Eichelhäher sicher ein Memory-Weltmeister, aber ist er deswegen auch besonders »intelligent«? Tauben und andere Vögel etwa sind ganz besonders
gut, rotierte Objekte rasch richtig zuzuordnen. Man erklärt sich dies über
die Notwendigkeit, trotz der Rotation von Objekten, die überflogen werden,
diese wiederzuerkennen. Menschen sind im direkten Vergleich zu Tauben
darin lausig schlecht. Aber sind wir darum weniger intelligent, als Tauben?
Einer der Brennpunkte der zukün�igen Kognitionsforschung wird die Frage
sein, wie »transferfähig« kognitive Fähigkeiten sind.
Die Erfahrung lehrt, dass auch innerartlich, etwa innerhalb der Menschen
die Begabungen recht unterschiedlich gestreut vorkommen. Wer kennt
nicht Mathematikgenies mit Problemen im sprachlichen Bereich und um-
Brennpunkt Biologie der Erkenntnis
191
gekehrt. Und so manch ein »Hochbegabter« zeigt Defizite im Bereich der
»sozialen Intelligenz«, also der Kompetenz mit anderen umzugehen. Der
Umkehrschluss ist natürlich nicht erlaubt: Wer sozial kompetent ist, kann
durchaus auch in den Kulturtechniken hochbegabt sein und es kann auch
vorkommen, dass soziale und kulturelle Minderbegabung sich in derselben
Person treffen. Das Eichelhäherbeispiel als eines von vielen Beispiele von
Spezialbegabungen bei den Tieren und die Überlegungen zu den unterschiedlichen Mischungen von Begabungen bei den Menschen zeigen zweierlei: Ersten gibt es eine gewisse modulare Organisation für »Intelligenz«;
dafür sprechen auch klar zuordenbare und zuständige Hirnbereiche, etwa
für Sprache oder für soziale Verantwortlichkeit. Und zweitens ist es nicht
besonders sinnvoll, die »Intelligenz« von Raben, Gänsen oder Menschen
direkt vergleichen zu wollen, oder innerhalb der Menschen sogenannte
»Intelligenzquotienten« (IQ) zu bilden. Denn dazu wird ein breites Spektrum
an geistiger Leistungsfähigkeit mit Hilfe standardisierter psychologischer
Tests untersucht. Das Ergebnis anschließend in einer einzigen Zahl zusammenzufassen ist nahezu unsinnig. Denn die Aussage, dass jemand einen IQ
von 130 aufweist sagt noch nichts über die Art der Leistungsfähigkeit im sozialen, mathematischen oder sprachlichen Bereich, usw. aus.
Der »Lerninstinkt«
Ähnlich steht es übrigens mit Lernfähigkeit. Der alte Streit, ob und in welchem Ausmaß Verhalten »angeboren oder erlernt« sei, ist auch deswegen
sinnlos, weil nur gelernt werden kann, wofür Lernfähigkeit evolutionär
ausgebildet wurde. Auch die »intelligentesten« Arten können nicht alles
lernen. Bereits Konrad Lorenz stellte in seiner Auseinandersetzung mit den
Behavioristen die Frage, warum Lernen denn adaptiv sei, also die Eignung
eines Individuums bezüglich einer bestimmten Umwelt zu erhöhen vermag.
Die Berechtigung dieser Frage wird sofort einsichtig, wenn man sich vorstellt,
welche Unzahl von Umweltreizen ständig auf uns und auf jedes naive Tier
einströmen. Würde einfach alles gleichermaßen Aufmerksamkeit erregen
und gelernt, wäre das sicherlich nicht adaptiv, sondern ganz im Gegenteil.
Es muss also bereits evolutionär angelegte Aufmerksamkeitsstrukturen geben, welche das Lernen in die relevanten Bahnen lenkt und zudem Substrate,
bzw. Bereitscha�en für die zu lernenden Inhalte. Genauso, wie es nicht
möglich ist, Milch mit einem Vogelkäfig zu transportieren, ist es unmöglich,
bei einer Schädigung der entsprechenden Hirnzentren zu lernen. So wird
Sprachlernen nahezu unmöglich, wenn die Sprachzentren geschädigt sind
und sozial verantwortliches Handeln kann nie und nimmer gelernt werden wenn der präfrontale Kortex geschädigt oder unterentwickelt ist, wie
Antonio Damasio nachweisen konnte. Lorenz nannte dies den »angeborenen
Lehrmeister«, dem er die »tabula rasa« der Lerntheoretiker gegenüberstellte
und Peter Marler prägte den schönen Begriff »Lerninstinkt« (instinct to learn).
Heute wissen wir, dass Lorenz und die ethologische Kognitionsforschung
von Anfang an recht ha�en. Die genauen Interaktionen dieser evolutionär
angelegten Fähigkeiten mit den Reizen aus der Umwelt sind und bleiben al-
192
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
lerdings ein Brennpunkt der modernen Ethologie und Kognitionsforschung
(Kamil 1998).
Aber auch Behaviorismus und Lerntheorie steuerten das Ihre zur neuen
Synthese bei. So ist heute klar, dass nicht, wie Konrad Lorenz noch meinte,
Lernmechanismen generell artspezifisch sind. Nervensysteme sind evolutionär äußerst konservativ. Das zeigt sich u. a. in der eher geringen Modifikation
von Wirbeltier- und Arthropodengehirnen über die hunderte Millionen Jahre
der Evolution. Ist auch verständlich, denn man kann nicht lebensnotwendige
Steuerteile »wegen Umbau« einfach stillegen. So kommt es nur zu einer äußerst geringen Veränderung vor allem der alten Hirnteile, weil dies deren lebenserhaltende Funktionstüchtigkeit gefährden würde. »Anbauen« dagegen
ist weniger problematisch und neue kognitive Fähigkeiten entstehen in der
Regel durch Bildung neuer Module. Strenggenommen werden solche neuen
Module, etwa die Sprachzentren des Menschen, so gut wie nie neu gebildet,
sondern entstehen durch Abspaltung aus bestehenden Gebieten, bzw. durch
deren Umwidmung und Aufgabenerweiterung. So sind ist etwa ein Teil der
menschlichen Sprachzentren aus jenem Großhirnzentrum hervorgegangen,
das bei Schimpansen für Gestik zuständig ist. Das erklärt auch die geringe
Zahl der grundlegenden Lernmechanismen. Buchstäblich von den Fischen
bis zum Menschen sorgt die Habituation dafür, dass wir uns an ständig wiederkehrende, ungefährliche Reize gewöhnen, die Pawlowsche Konditionierung
führt dazu, dass wir grundsätzlich irrelevanten Reizen neue Bedeutung beimessen können und die Operante Konditionierung gesta�etes, selbs�ätig durch
Versuch und Irrtum neue Fähigkeiten zu Lernen und Einsichten zu gewinnen.
Dies ist das Grundrepertoire und auch im sozialen Zusammenhang werden Au
fmerksamkeitsstrukturen, nicht aber diese grundlegenden Lernmechanismen
beeinflusst. Art- und individuenspezifische Modifikationen bestehen vor allem in ihrem quantitativen Verhältnis und wie der »angeborene Lehrmeister«
diese Lerninstrumente einsetzt. Trotz über 100 Jahren Kognitionsforschung
fehlen genauere vergleichende Untersuchungen zu geistigen Fähigkeiten
beinahe ganz. Das Gebiet ist daher trotz seiner Tradition einer der immer
aktuellen Brennpunkte der Ethologie.
Zur Artspezifität kognitiver Leistungen tragen auch die einschränkenden
Randbedingungen für kognitive Leistungsfähigkeit bei. So etwa wäre es u. U.
ein Vorteil für eine fressende Gans, genau nachzusehen und zu überlegen,
ob denn der Scha�en am Himmel wirklich ein anfliegender Adler ist. Wenn
nicht, könnte man ja in Ruhe weiterfressen. Allerdings verbietet sich in diesem Zusammenhang zu viel an langsamer Kognition. Einmal zu lange nachgedacht, bedeutet für immer tot. Daher hat kühle Überlegung keine Chance
gegen Panik und Flucht. Dass Angst ein schlechter Ratgeber ist, zeigen in beinahe paradoxer Weise auch die Kolkraben. Obwohl hoch explorativ und sehr
begabt, Probleme zu lösen, beginnen sie sich Monate nach dem Flüggewerden
vor allen neuen Gegenständen und Situationen panisch zu fürchten, obwohl sie daran interessiert bleiben. Ihre ökologischen »Antipoden« die
Bergpapageien (Keas) Neuseelands zeigen dies kaum. Dies lässt zunächst
den Schluss zu, dass sich die Neophobie der Raben als überlebenswichtiges
Ethologie und Psychologie: »Es gibt nur eine Psychologie«
193
Modul im Zusammenleben mit gefährlichen Fressfeinden und Konkurrenten
entwickelte, denn solche gab es in Neuseeland vor der Ankun� des Menschen
nicht. Man könnte daher die Neophobie als notwendiges Übel, als einschränkende Randbedingung für die volle Nutzung der geistigen Fähigkeiten ansehen. Allerdings scheinen Rabeneltern durch Konfrontation ihrer Jungen
mit Situationen und Objekte in den ersten Wochen nach dem Verlassen des
Nestes steuern zu können, wovor sich ihre Nachkommen fürderhin fürchten.
So wäre die Neophobie ein Instrument, das Eltern nutzen könnten, um konservative Familientraditionen zu bilden. Auch auf diesem Gebiet wird intensiv geforscht, so auch an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau.
Ethologie und Psychologie: »Es gibt nur eine Psychologie«
Als die Ethologie mit Konrad Lorenz und den anderen Großen seiner Zeit
laufen lernte, war es zumindest diesen Gründervätern selbstverständlich,
dass sie ein universelles, natürliches System anstrebten, das sich auch für
die Analyse des menschlichen Verhaltens eignete. Die Basis dafür bildete
das Darwinsche Tier-Mensch-Kontinuum. Eine Trennung der Tier- von der
Humanpsychologie wurde weder für notwendig noch zweckmäßig erachtet:
»Junger Mann, es gibt nur eine Psychologie«, erwiderte Konrad Lorenz auf
die Feststellung des jungen Paul Leyhausen in Königsberg, er interessiere sich
für Tierpsychologie. Daran hat sich wohl auch 60 Jahre später nichts geändert.
Wegen der gemeinsamen Wurzeln von Menschen und Tieren in der Evolution
ist dasselbe Set an Theorien und Methoden für beide anwendbar.
Es war ein langer, bis heute andauernder Kampf, diese Einsicht in die
Psychologie zu tragen. Tatsächlich war die vor allem durch Irenäus EiblEibesfeldt etablierte Humanethologie lange Zeit allein auf weiter Flur (da
es eigentlich nur eine Ethologie gibt, wäre die Vorsilbe »Human« vor der
»Ethologie« auch gar nicht nötig gewesen). Dann kam Edward O. Wilson mit
seiner Synthese der Soziobiologie (1975). Sein provokanter Alleinvertretungsanspruch durch die Soziobiologie gipfelte in der Feststellung, diese Disziplin
würde alle anderen Disziplinen, einschließlich Ethologie und Psychologie
»kannibalisieren«. Der laute Aufschrei ist wissenscha�spsychologisch
verständlich, wenn auch Wilson in anderen Worten nicht anderes wiederholte, als das alte »es gibt nur eine Psychologie«. Auf dem Umweg über die
Soziobiologie und die USA und unter dem politisch korrektem Namen »evolutionäre Psychologie« grei� die lange geforderte evolutionäre Synthese der
Psychologie nun sehr rasch um sich. Gründe dafür mag es viel geben, es war
wohl vor allem die größere Innovationsfreude jenseits des großen Teiches, gepaart mit der ernüchternden Einsicht, dass die lange gehegten Theorierahmen
der US-amerikanischen Psychologie, milieutheoretischer Konstruktivismus
gepaart mit Behaviorismus (Skinnersche Lerntheorie) schlicht falsch und für
die Praxis wenig brauchbar sind. Der Sieg für Lorenz und Co. über Skinner
und Co. kam spät, dafür umso vollständiger. Trotzdem wird Lorenz von den
US-amerikanischen »evolutionären Psychologen« nicht mehr zitiert, denn
das gilt wegen der braunen Flecken auf der Lorenz-Biographie als politisch
unkorrekt (Föger und Taschwer 2001, Grammer 2001, Kotrschal u. a. 2001).
194
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
Zudem könnte es sein, dass manche junge KollegInnen ihre Wurzeln nicht
mehr kennen.
Dennoch ist es für Ethologen durchaus ratsam, über den Zaun zu den
Psychologen zu schauen. Das tun Verhaltensbiologen auch zunehmend,
u. a., weil es wenig erkenntnisträchtig ist, Individuen nur als Input-OutputMaschinen zu betrachten. So etwa ist es eine zentrale Fragestellung der
Forschung an der Konrad Lorenz Forschungsstelle, warum manche
Individuen/Paare von Graugänsen und anderer Tiermodelle erfolgreich
Nachkommen großziehen und andere nicht. Dazu kann man sich einfacher Beobachtungen bedienen, um etwa zu überprüfen, ob bestimmte
Verhaltensprofile der Individuen mit ihrem späteren Erfolg oder Misserfolg
zusammenhängen (Hemetsberger 2001). Oder man kann Hormone als Fenster
ins Individuum/Paar verwenden. So etwa zeigte sich, dass vor allem Paare
mit im Jahresgang parallelen Testosteronschwankungen erfolgreich sind
(Hirschenhauser u. a. 1999b). Aber wir brauchen es »noch psychologischer«.
Denn mit der Analyse der aktuellen Paarsituation ist die Sache noch nicht
getan. So müssen auch die individuellen Vorgeschichten der Paarpartner für
die Erklärung herangezogen werden, der soziale Status ihrer Elternfamilien,
ihre Persönlichkeiten, das Ausmaß der mü�erlichen Manipulation, etwa
über die Steroidhormone in den Eiern, Schartraditionen usw. Vor allem aber
scheint es, dass das Verhalten des Paare nicht ausreichend aus der Qualität
der Paarpartner erklärt werden kann. Wie auch beim Menschen (Willi 1975)
scha� Paarbildung neue Systemeigenscha�en. Wir betreiben also zunehmend »Gänsepsychologie« für die Erklärung unserer ureigensten, evolutionären Fragen. Gerade von einer evolutionär orientierten Psychologie sind
auch viele Impulse zurück, in Richtung der Ethologie zu erwarten, sodass die
Grenzen zwischen den Disziplinen zunehmend verschwimmen und in der
Ethologie gesehen wird, was sie von Anfang an ohnehin ist, eine artvergleichende, evolutionäre Psychologie.
Während es aufgrund des gemeinsamen Daches der Darwinschen Theorie
immer nur eine Biologie gab, waren (und sind) es eigentlich hunderte
Psychologien. Die Mehrzahl der Menschenmodelle in der Psychologie waren
und sind, vor allem in der Alten Welt, von ihrer Herkun� her, idealistischdeduktiv. Beginnend bei Sigmund Freud begründete jeder Psychologe, der
etwas auf sich hielt, seine eigene Schule. Und erst langsam und aus der Praxis
kommend fanden Empirie und der zunächst eher abfällig kommentierter
Eklektizismus (die Auswahl der für die Therapie brauchbaren Elemente aus
den unterschiedlichen Theorien und Ansätzen) ihren Weg in die Psychologie.
Die zerspli�erten Systeme der Psychologie wurden immer wieder kritisiert,
so etwa von Lorenz (1954, 1992), oder auch von Psychologen selber. Jü�emann
(1992) etwa, kritisiert vor allem die klassische Deduktions-Lastigkeit in der
Psychologie. Dies bedeutet, dass gewöhnlich am Anfang ein recht »ausgedachtes« Theoriegebäude steht, das man dann durch Erkenntnisse zu stützen
versucht, ansta� umgekehrt, die Theorieentwicklung auf Basis empirisch
erhobener Daten zu betreiben.
Ethologie und Psychologie: »Es gibt nur eine Psychologie«
195
Daraus, so Jü�emann, entstehen zwangsläufig miteinander verknüp�e
Probleme, die Systemimmanenz, Dogmatismus, Reduktionismus, sowie ein
Basisproblem. Als »Systemimmanenz« bezeichnet man die Bildung geschlossener Systeme mit genehmen und unerwünschten Sichtweisen.
Dass dies zur Bildung von »Dogmen« und Wissensverzicht führen muss,
liegt auf der Hand. Unter »Reduktionismus« versteht man nicht nur die
daraus hervorgehende Verkürzung des Gegenstandes, sondern auch ein
damit einhergehendes Methodendiktat. Und unter dem »Basisproblem«
versteht man die mit einem deduktionistischen Ansatz einhergehende
Notwendigkeit, den Untersuchungsgegenstand vorher zu umreißen, was
beinahe zwangsläufig zur Theoriebildung vor der Datensammlung führt. Wie
der Patient Psychologie zu behandeln wäre, ist damit auch klar: An Stelle der
Systemvielfalt hat die Vielfalt der Methoden und Themen zu treten, an Stelle
der deduzierenden Arbeitsweise induktiv-empirische Ansätze, aber das ist
an den Universitäten seit Jahrzehnten ohnehin immer stärker der Fall. So
ist zuviel Lamento über die historische Diagnose der Beziehung zwischen
Ethologie und Psychologie nicht mehr angebracht. Denn das evolutionäre
Menschenmodell setzte sich, von der Biologie ausgehend, zunächst in der
Öffentlichkeit und zunehmend auch in den Humanwissenscha�en durch, so
auch in der Psychologie. Das evolutionäre Gewordensein des Menschen »liegt
so stark in der Lu�«, ist derart »zeitgeistig«, die Ergebnisse der Ethologie und
Soziobiologie (bzw. der »evolutionären Psychologie«) sind so dominant, dass
sich die akademischen Repräsentation der Anthropologie, der Ethnologie,
Soziologie, natürlich der Psychologie und schließlich auch der Philosophie
dem nicht mehr länger verschließen können. Traurig eigentlich, dass letztere als »Mu�er aller Wissenscha�en« die Themenführerscha� großteils
verlor, weil sie die Entwicklungen über die vergangenen Jahrzehnten in
den Naturwissenscha�en unterschätzte, bzw. verschlief. Tatsächlich ist die
Synthese der Natur- und Humanwissenscha�en unter dem Dach der evolutionären Theorie in vollem Gang. Dass nun Psychologen so tun, als hä�en sie
die evolutionäre Betrachtung des Menschen selber erfunden, ist wohl zum
Teil unvermeidlich, ist wissenscha�spsychologisch erklärbar. Wieder einmal
frisst eine Revolution ihre Kinder.
Das Primat der evolutionären Theorie
Die oben erwähnten, Jü�emannschen Gefahren gelten natürlich nicht nur für
die Psychologie, sondern für alle dogmatisch betriebenen naturwissenscha�lichen Disziplinen, daher auch für Soziobiologie und Öko-Ethologie. Es ist
immanent gefährlich, Untersuchungen durchzuführen, um ein bestimmtes
Konzept zu testen. Natürlich bleibt zum Nachweis von Ursachenbeziehungen
gar nichts anderes übrig. Die Dogmatismusgefahr besteht. Die Ethologie
fußt, wie alle anderen biologischen Wissenscha�en, auf der Darwinschen
Evolutionstheorie. Nur Hypothesen und Ansätze, die mit den grundlegenden Thesen und Postulaten dieser Theorie im Einklang stehen, haben eine
Chance, ernstgenommen zu werden. Es scheint, als präsentiere sich die
Ethologie mit ihrem neodarwinistischen Weltbild als monolithischer Saurier,
als Gemeinscha� der Rechtgläubigen der Kirche Darwins. Und wer draußen
196
Die »Brennpunkte« der modernen Ethologie: Gibt es noch was zu forschen?
steht, hat eben keine Chancen, seine Ideen in den vielen wissenscha�lichen
Journalen, den »Kirchenzeitungen« des Systems zu publizieren. Ist die
Evolutionstheorie trotz ihrer Plausibilität nur eine der vielen, ideologischen
»Heilslehren« welche die kulturfähigen Menschen immer schon heimsuchten? Das ist einfach zu entkrä�en. Und es ist äußerst notwendig, das
zu tu. Denn wir leben in einem Zeitalter zunehmender wissenscha�licher
Beliebigkeit. Mit dem Anstrich der Wissenscha�lichkeit (oder nicht mal
das) versehene Aussagen werden von Medien und Öffentlichkeit zunehmend als gleichwertig betrachtet, gleich, ob kohärente Naturwissenscha�
oder metaphysischer Hokus-Pokus. Dieser Beliebigkeit ist entgegenzutreten.
Denn der Anspruch der evolutionären Biologie beruht im Gegensatz zu den
Absolutheitsansprüchen mancher Religionen und Ideologien auf empirisch
erhobenen Daten. Der Kampf mancher fundamentalistischer katholischer
Bischöfe gegen die »Beliebigkeit« sollte daher mit dem gleichermaßen bezeichneten Kampf der Naturwissenscha�en nicht verwechselt werden.
Als einzige Basistheorie entspringt die Evolutionstheorie einer Unzahl
von Forschungsergebnissen, die bereits vor ihrer Erstformulierung durch
Charles Darwin existierten; sie entstand also nicht vorwiegend deduktionistisch, sondern induktionistisch gewonnen. Besonders das Scheitern
aller Falsifikationsversuche ist hoch zu bewerten, da auf kaum einem
anderen Gebiet der Naturwissenscha�en so viel und so beständig von einem derart breiten Kreis von Wissenscha�lern geforscht wurde, wie zur
Evolutionstheorie. Sie darf daher mit den klassischen philosophischen
Konstrukten der Psychologie, die ebenfalls den Namen »Theorie« tragen, aber
im naturwissenscha�lichen Sinne untestbar und daher Mythen sind, nicht in
einen Topf geworfen werden. Die Evolutionstheorie ist das einzige natürliche
System, das nicht nur unser evolutionäres Gewordensein, sondern auch unsere Individualentwicklung aus Ei- und Samenzelle, und unser Verhalten im
Lichte der Funktionen des Körpers widerspruchsfrei erklärt (Tinbergen 1963).
Trotzdem muss die Evolutionstheorie in allen ihren Verästelungen ständig
kritisch hinterfragt werden. Sie ist kein Glaubenssatz, sondern lebendige, naturwissenscha�liche Theorie.
So sind nicht nur unser Körperbau, sondern auch unsere geistig-seelischen
Äußerungen, bis hin zur Kulturfähigkeit und Religiosität genauso evolutionär-biologisch zu sehen, wie Körpersprache und Mimik. Dass es im Bereich
der zwischenmenschlichen Kommunikation »menschliche Universalien« gibt,
also »arteigene Verhaltensweisen«, die aus der evolutionären Geschichte
kommen, war schon Sigmund Freud klar, wurde von Konrad Lorenz konkretisiert und von seinem Schüler Irenäus Eibl Eibesfeldt nachgewiesen
(1986). Und selbst unsere Persönlichkeitseigenscha�en sind, wie umfangreiche Zwillingsstudien belegen, hochgradig genetisch bedingt (Bouchard u. a.
1990). Wenn auch die evolutionär-genetische Bedingtheit der menschlichen
Denk- und Freiheitsfähigeit deutliche Grenzen setzt, so sollten andererseits
diese allen gemeinsame Konstruktion ein Gemeinscha�sgefühl schaffen, welches geeignet ist, allzu große Egoismen und Abgrenzungstendenzen gegen
andere zu überwinden (Schiefenhövel u. a. 1993).
Ethologie und Psychologie: »Es gibt nur eine Psychologie«
197
Menschen als Kulturwesen?
Noch immer scho�en sich manche Kollegen aus den Human- und Geisteswissenscha�en gegen die Forderung, Menschen als biologisch-evolutionäres
Wesen zu sehen, mit der Feststellung ab, der Mensch sei ein Kulturwesen.
Die Gene seien zwar für Körperbau und -funktionen zuständig, aber die
Psyche und Kulturfähigkeit hä�en damit nichts zu tun. Man kann sich u. a.
nur schwer vorstellen, wie die beobachtete Vielfalt ein Produkt der Gene
sein könne. Genau das zeigt aber auch die öko-ethologische Forschung.
Ständig treffen Individuen auf Basis ihrer Dispositionen und endogenen
Strategieempfehlungen Entscheidungen, um letztlich ihre Fitness zu optimieren (Krebs und Davies 1993). Dass also die Annahme genetischer
Disponiertheit gleichbedeutend sei mit Starrheit im Verhalten und in den
Sozialsystemen, ist irrig (Lo� 1992).
Die große Plastizität im menschlichen Verhalten ist gerade gegen den
Hintergrund der menschlichen genetischen Dispositionen nicht nur nicht
verwunderlich, sondern zu erwarten. Das verurteilt uns auch nicht zu einem
strikten genetischen Determinismus, einem weiteren biologisch-evolutionärem Schreckgespenst. Das besondere an der Spezies Mensch ist tatsächlich
nicht der kulturelle Überbau, sondern die ständige Kopplung zwischen dem
neuronalen Substrat und den von ihm geschaffenen kulturellen Inhalten.
Zweifellos beschleunigte diese spiralige Kopplung die Menschwerdung beträchtlich. Und heute lebt die Mehrzahl der Menschheit in Städten, ziemlich
losgelöst von den Lebensbedingungen der Steinzeit, in einer selbstdefinierten
Kulturumgebung. Kühlschränke und Wohnungen, Nahrungsmi�elfabriken,
Opernhäuser und Computer sind genauso zwischen Auge, Hand und Hirn
entstandene Kulturprodukte, wie Idole und Feindbilder, wie Ideologien,
Tempel, letztlich wahrscheinlich sogar Go� selber (Hernegger 1976). Die
Kulturinhalte sind eine Frage der Traditionen und der ökologisch-ökonomischen Randbedingungen, die Antriebe zur kulturellen Betätigung aber
bleiben zutiefst biologisch. Es geht um Ansehen, Einfluss, Verbündete
und – letztlich – Kontrolle über Reproduktion, bzw. Informationsfluss.
Und alle, o� seltsamen Verhaltensäußerungen und Sozialbeziehungen der
Zivilisationsmenschen sind natürlich nicht Ergebnis irgendwelcher von
Geisteswissenscha�lern postulierten Konstrukte, sondern sind konkrete
Verhaltensreaktionen innerhalb der menschlichen Reaktionsnorm, auf die
neuen, vorwiegend kulturbedingten Randbedingungen. Immer noch sticht
das Prinzip Eigennutz den Altruismus und der Kurzzeit- den Langzeitvorteil
(Eibl Eibesfeldt 1998).
Wenn alte Strategiekonzepte zu gesellscha�lichen Problemen führen, wie
etwa durch Konrad Lorenz in seinen »acht Todsünden« (1973) beschrieben,
dann ist das zwar bedauerlich, aber nicht gleich »pathologisch«. Denn es ist
evolutionär nicht unbedingt gefordert, Artgenossen nicht zu schaden, Tiere
wie Menschen verhalten sich eben nicht, um »die Art« zu erhalten, sondern
um ihren eigenen Vorteil gegenüber anderen zu wahren, ohne dabei gleich
die Gruppen, auf die sie angewiesen sind zu sprengen. Was also Konrad
Lorenz als »gesellscha�liche Pathologien« ansah, interpretieren wir heute
198
Nachwort
als Folgen von evolutionär durchaus »normalen«, wenn auch nicht immer
wünschenswertem Verhalten von Individuen. Dies stellt natürlich nicht nur
bloß eine andere Sprachregelung dar, es begründen sich darauf unterschiedliche Lösungsansätze. Denn will man gesellscha�liche Zustände verbessern,
ist eine individuenbezogene Politik in Richtung Bürgergesellscha� wesentlich wirksamer, als Bevormundung, Kollektiv und Strafgesetz. Erfolgreiche
Gesellscha�s- und Sozialpolitik ist nur unter Beachtung der evolutionären
Verhaltensdispositionen der Menschen möglich.
Nachwort
199
Nachwort
Müssen Menschen überleben – hat das Leben »Sinn«?
Aus einer wertneutralen naturwissenscha�lichen Sicht wäre es nicht bedauerlich, wenn die Menschen sich selber und einen Gu�eil der Biosphäre
zugrunderichten. Massenaussterben durch Meteoreinschläge, Vulkanismus,
oder eben im Moment durch die Dominanz des Menschen sind genauso wichtige Triebfedern der Evolution wie die darauffolgenden neuen Artbildungen
in die leergeräumten Lebensräume hinein. Das war die vergangenen 600
bis 800 Millionen Jahre so und wird wohl auch noch ein paar hundert
Jahrmillionen so weitergehen. So sind bereits wesentlich mehr Arten ausgestorben, als heute auf der Erde leben. Die »Halbwertszeit« biologischer Arten
beträgt einige Millionen Jahre. Früher oder später sterben alle aus. Auch die
Menschen in ihrer heutigen Form entstanden bereits mit Ablaufdatum. Ob
unsere Kulturfähigkeit dazu beitragen wird, dass es uns länger als andere
Arten, oder aber viel, viel kürzer geben wird, ist nicht vorhersagbar. Manche
Religionen betrachten den Menschen als »die Krone der Schöpfung« und
als »Go�es Ebenbild«. Mag sein. Im Lichte der materiellen Weltsicht der
Naturwissenscha�en besteht allerdings weder Grund, noch Rechtfertigung,
Menschen eine solche Sonderstellung zuzubilligen. Und auch für die
Sinnsuche ist die Evolution, sind die Naturwissenscha�en das falsche Gebiet.
Dass alles einen »Sinn« haben muss, dass Individuen in ihren Gemeinscha�en,
diese wiederum in Staatwesen und letztlich in einem höheren Wesen geborgen, von einem solchen gewollt sein wollen, ist eine typische Eigenscha� des
menschlichen Geistes und seinem zwangha� quälendem Grübeln über das
Woher und das Wohin. Die Evolution ist ein zielloser Prozess in dem der
Zufall Regie spielt. Daher sind aus naturwissenscha�licher Sicht Menschen
weder geplant, noch gewollt, ihre Existenz hat nicht mehr, aber auch nicht
weniger »Sinn« als die von Regenwürmern.
Es scheint daher unerheblich, ob wir etwas zur »Re�ung der Menschheit«
beitragen oder weiterhin zynisch in Saus und Braus auf Kosten anderer
und nachfolgender Generationen leben. Zumindest für einen Biologen ist es
tatsächlich ein tröstlicher Gedanke, dass uns das Prinzip Informationsfluss
durch das Erbmaterial, die Desoxyribonukleinsäure mit Sicherheit überdauern wird. So unwirtlich können nach dem Abtreten der Menschheit von der
Erde in tausend, hunder�ausend oder vielleicht erst in zehn Millionen Jahren
die Lebensbedingungen gar nicht sein, dass nicht einige Arten von Bakterien,
Würmern, Insekten, vielleicht Ra�en oder andere Anpassungskünstler weiterleben werden. Die Evolution nach Darwinschen Regeln wird weitergehen,
bis die Sonne erkaltet, bzw. als Supernova explodieren wird. Erdgeschichtlich
sind die paar Sekunden, in denen auf der Erde menschliches Leben au�litzt
genauso unerheblich wie unsere Rolle als Staubkorn im Universum.
Während ich diese Zeilen schreibe, spielen Kinder und ein Hund auf der Wiese
vor dem Fenster. Der Anblick wärmt das Herz. Das näherliegende sozialevolutionäre Prinzip lässt dem Gefühl des Verlorenseins in Raum und Zeit
wenig Chance. Es liegt mir offenbar an meinen Kindern und Kindeskindern
200
Nachwort
und deren Glück, sogar gegen die Einsicht dass wir evolutionär ein reines
Zufallsprodukt sind. Nicht ich suche den Sinn, er findet mich in Form meiner
sozialen Verflochtenheit. Und es macht mir nichts aus, mir vorzustellen, dass
jene Moleküle, die meinen Körper au�auen nach meinem Tod wieder zunächst in den ökologischen, dann in den kosmischen Kreislauf zurückfließen
werden. Auch mein Leben war ein letztlich völlig unerhebliches Au�litzen in
Raum und Zeit, das Leben nach dem Tod existiert vielleicht nur in unseren
Gehirnen. Und die verro�en nach unserem Tod sehr rasch.
Oberflächlich betrachtet verströmt das evolutionäre Weltbild Eiseskälte, versagt Geborgenheit. Immer wieder stießen Naturwissenscha�ler die Menschen
von ihren selbstgezimmerten Podesten. Kopernikus und andere nahmen der
Erde ihre zentrale Stellung im Weltall und Darwin, Lorenz und Co nahmen
dem menschlichen Geist seine heere Einzigartigkeit, indem sie ihn als evolutionäre Anpassung darstellten. Jeder zieht aus diesen Erkenntnissen wohl seine
eigenen Schlussfolgerungen, sucht Geborgenheit entweder in der Religion
oder in anderen Ideologien, oder übt sich schlicht in Zynismus.
Das Wissen um unsere erblichen Verhaltensneigungen macht uns nicht zu
Sklaven unserer Gene, enthebt uns nicht des verantwortlichen Handelns, das
sich aus der Zugehörigkeit zur sozialen Art Homo sapiens ableitet. Unsere
Verhaltensneigungen evoluierten, als unsere Vorfahren in Kleingruppen
lebten und ihre Umwelt schon alleine deswegen nicht in größerem Ausmaß
vernichten konnten, weil sie durch ihre geringe Zahl und bescheidenen technischen Möglichkeiten dazu gar nicht in der Lage waren. Überzogen sie die
Tragekapazität ihrer Umwelt, dann zogen sie eben weiter. Schon früh ro�eten
Menschen Tiere aus, etwa die südamerikanischen Mastodonten, die mediterranen Zwergelefanten, die neuseeländischen Riesenstrauße, usw. Auch den
»edlen Wilden« lag eine umweltschonende Ressourcennutzung nicht einfach
im Blut. »Von selbst« werden sich auch die Probleme der modernen Welt
nicht lösen.
Wir haben jedes Recht, bzw. die Pflicht, unser Verhalten in einer übervölkerten
Welt um das Prinzip der Nachhaltigkeit zu gestalten, um unseren Nachkommen
in dieser Biosphäre, sowie allen anderen Arten ein Leben in Würde zu ermöglichen, selbst wenn ich weiß, dass diese Begriffe bloß evolutionär disponierte,
soziales Konstrukte darstellen. Aber ein evolutionäres Weltbild ist die einzig
mögliche, weil unsere Verhaltensneigungen berücksichtigende Basis für eine
humane Welt. Auf die erblichen Komponenten menschlichen Verhaltens
hinzuweisen bedeutet nicht, in billigen genetischen Determinismus zu verfallen, oder gar Menschen das Recht zuzubilligen, menschliches Leben gering
zu achten, Selektion an Menschen zu betreiben oder Menschen zu klonen.
Diese Probleme sind im Grenzfeld zwischen evolutionärem GewordenSein, dem auch die menschliche Religiosität und Ethik entspringen (de
Waal 1997) und Politik anzugehen. Und ein evolutionäres Weltbild hil�, die
Rahmenbedingungen der menschlichen Freiheit zu erkennen.
Biologische Einsichten, etwa dass wir 99 % des Erbmaterials mit Schimpansen
und noch erhebliche Prozentwerte mit Mäusen oder sogar Taufliegen teilen,
201
oder dass die grundlegenden Prinzipien des Verhaltens für alle Organismen
gelten, bieten einen durchaus rationalen Ansatz, sich als Teil des Ganzen der
Natur zu sehen. Ob man dazu Go� als Begleiter braucht, oder ob die von den
Naturwissenscha�en gebotenen Einsichten in evolutionäre Geschichtlichkeit
der eigenen Existenz ausreicht, ist eine Frage des individuellen Glaubens und
berührt das evolutionäre Weltbild nicht. Denn auch ein Absolutheitsanspruch
eines transzendentalen Prinzips ist nicht zu vertreten; es existiert nur in jenen,
die daran glauben. Aus evolutionärer Sicht jedenfalls ist der Mensch nicht
»Krone der Schöpfung«, sondern allenfalls primus inter pares, eine von vielen
Tierarten auf dieser Welt, Damit entfällt das selbstzuerkannte Recht, uns »die
Erde untertan« zu machen. Respekt vor Menschen und der Natur wird neben
dem Wissen um die Zusammenhänge nötig sein, um die Chancen der kommenden Generationen zu wahren.
202
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Glossar
Aggression:
Drohungen oder Angriffe gegen → Artgenossen zur Verteidigung von
→ Ressourcen oder → Status. Angriffe gegen Beute dagegen sind nicht
aggressiv → motiviert.
agonisch:
Dominanzhierarchisch strukturierte Gesellscha�en (z. B. Schimpansen
oder Menschen: Chance 1988). Entstehen auf der Basis von ungleichmäßig verteilten, verteidigbaren → Ressourcen. Siehe auch → hedonisch.
Allele:
Modifikationen → homologer → DNS-Sequenzen, die unterschiedliche
Merkmalsausbildung kodieren.
Alternative Paarungsstrategie:
(bezogen auf das Hauptpaarungssystem) Zum Beispiel Beimännchen
(nicht territoriale, sich Befruchtungen erschleichende Männchen) in einem
System territorialer, → polygyner Männchen, oder → Seitensprünge bei
→ Monogamen.
Altruismus:
Selbstlose Hilfeleistung, Selbstaufopferung. Vermindert die eigene
→ Fitness. Im Rahmen der gegenwärtigen Theorie nur innerhalb von
genetisch Verwandten (siehe → Nepotismus, → Verwandtenselektion).
analog:
Merkmale (körperliche, Verhaltens- oder physiologische), deren
Ähnlichkeit nicht auf → stammesgeschichtlich oder → ontogenetisch
gleicher Herkun�, sondern auf Funktionsähnlichkeit, also konvergenter
→ evolutionärer → Anpassung beruht. Zum Beispiel Schwanzflossen
Fisch–Wal.
Andostenon:
Männlicher Duftstoff, ausgeschieden z. B. über die Duftdrüsen
unter der Achsel. Beeinflusst offenbar in Abhängigkeit vom weiblichen Zyklus die Wahrnehmung möglicher Partner durch Frauen.
Andostenongeruch wird um den Eisprung von Frauen eher positiv
beurteilt, außerhalb dagegen als unangenehm empfunden (Grammer).
angeboren:
Innerhalb einer Art stereotyp gezeigte Verhaltensweisen gelten
insbesondere dann als genetisch fixiert, wenn sie auch von → KasparHauser-Individuen gezeigt werden. Da aber keine Verhaltensweisen
gänzlich ohne Einfluss der Umwelt reifen, spricht man heute eher von
→ »erblich«.
angeborener Lehrmeister:
Lorenzscher Begriff für → Lerndispositionen (stammesgeschichtlich
bedingtes Interesse, Lernbereitscha�en und neuronale Substrate) zur
Erklärung des Umstandes dass → Lernen die Eignung verbessert,
220
Glossar
Gegenposition zur → tabula rasa der → Behavioristen. Peter Marler
prägte dafür den Begriff »Instinct to learn«.
Antrieb, Trieb:
Stärke der → Motivation, bestimmte, meist → instinktive Verhaltensweisen zu zeigen.
Appetenz:
Aktives Anstreben, Aufsuchen von → Reizsituationen (z. B. Beutesuche). Siehe auch → Endhandlung.
Arenabalz:
Gruppen von Männchen balzen gemeinsam, Weibchen suchen sich
nach bestimmten Kriterien aus der Ansammlung Männchen zur
Kopulation aus, bekommen nur Gene, keine sonstigen → Ressourcen.
Art (biologische):
Verschiedenste Definitionen, z. B.: Innerartliche (→ genotypische und
→ phänotypische) Variation von Merkmalen größer als zwischenartliche. Oder: Reproduktionsgemeinscha�: innerartliche Barrieren
geringer als zwischenartliche.
Arterhaltungswert:
Unter der heute als unzutreffend erkannten → gruppenselektionistischen → Theorie war jenes Verhalten Ergebnis der -Selektion, welches
dem »Überleben der → Art« diente (z. B. ritualisiertes Kämpfen). Heute
weiß man, dass Verhaltensweisen und → Strategien zur Maximierung
der eigenen → Fitness → selektionierten; die »Erhaltung der Art« ist
ein Sekundäreffekt.
Asymmetrie, fluktuierende:
Die beiden Körperseiten von bilateralsymmetrischen Organismen sind
niemals exakt gleich, sondern aufgrund verschiedener (genetischer
oder umweltbedingter) Stressfaktoren während der → Individualentwicklung immer mehr oder weniger asymmetrisch ausgebildet. Unter
anderem: indirektes Maß für Inzucht. In einigen Fällen konnte gezeigt
werden, dass symmetrische Paarungspartner bevorzugt werden.
Ausbeutungskonkurrenz:
Individuen monopolisieren → Ressourcen nicht (über → Aggression,
bzw. → Dominanz), sondern sind unterschiedlich effizient in deren
Ausbeutung.
Auslese:
Siehe → natürliche und → sexuelle Selektion.
Auslösemechanismus (AM), angeborener Auslöser (AAM):
Spezifischer Reiz, der eine bestimmte → Erbkoordination auszulösen
imstande ist. Grad an Spezifität kann von Fall zu Fall stark variieren, kann erlernt oder → erblich sein, setzt sich meist aus beiden
Komponenten zusammen. Siehe auch → Schlüsselreiz.
Glossar
221
Bahnung:
Veränderung der Durchgängigkeit → synaptischer Verbindungen zwischen Nervenzellen durch Gebrauch (Hebbsche Synapse). → Synapsen,
an denen häufig → Signalübertragung sta�findet, werden strukturell
verstärkt (vermehrte Einlagerung von → Rezeptormolekülen in die
Membranen). Bahnung wird im Zusammenhang mit → Lernen diskutiert.
Bedingter Reflex:
Durch Iwan Pawlow beschriebener → Lernvorgang bei dem ein
zunächst irrelevanter Reiz zum → Auslöser eines Reflexes (auch → Erbkoordination) wird (Beispiel: Speichelflussreflex des Hundes).
Behavioristen (Behaviorisms):
Schule US-amerikanischer Experimentalpsychologen, deren extremste
Vertreter (z. B. Skinner) die → stammesgeschichtlichen (→ erblichen)
Einflüsse bestri�en und behaupteten, dass alles Verhalten erlernt sei
und Individuen als → tabula rasa zur Welt kämen.
Biologie:
Wissenscha� und Lehre vom Leben, von seinen molekularen Grundlagen über die Organismen bis zur Ausformung sozialer und kultureller Systeme, auf Basis der → Darwinschen → Evolutions→theorie.
Biologismus:
Vereinfachendes oder manipulatives Umlegen biologischer Prinzipien
auf menschliche Sozialsysteme und Kultur. Der Vorwurf des »Biologismus« wird gelegentlich von Nicht-Biologen auch ernsthaften
Versuchen entgegengehalten, menschliches Verhalten von seiner
evolutionären Basis her zu erklären, wird auch dazu benutzt, Biologen
von der vermeintlich geisteswissenscha�lichen Domäne der Kultur
fernzuhalten.
black box:
Zwischen (Reiz-)Input und (Verhaltens-)Output liegender Organismus
oder System, dessen interne Funktionen aber nicht Gegenstand der
Untersuchung sind.
Chromosom:
Verpackungseinheit der → Gene im Zuge der Zellteilung.
Coping style:
lebenslang individuell relativ stabile Art, mit den Herausforderungen
des Lebens umzugehen (Koolhaas u.a. 1999), s. auch → Persönlichkeit,
→ Temperament.
Corticosteroide:
Vor allem aus der Nebennierenrinde stammende → Steroidhormone
(z.B. Kortisol, Kortikosteron) mit vielfältigen Wirkungen, insbesonders Aktivierung von Energie im Zusammenhang mit dem
Stressgeschehen.
222
Glossar
Darwinismus:
Auf der Darwinschen → Evolutions→theorie beruhende Lehre der
→ stammesgeschichtlichen Veränderung der → Arten. Beruht auf
→ individuellerVariation, die wiederum gemeinsam mit zufälligen
Mutationen die Basis für → Selektion und damit der Veränderung von
Gen(→Allel)frequenzen über die Generationen darstellt.
Deduktion:
Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere. Erklärung der Phänomene
der Welt auf Basis bereits bestehender → Theorien. Siehe auch
→ Induktion.
Disposition:
Veranlagung, → stammesgeschichtliches Erbe.
DNS:
Desoxyribonukleinsäure. Aus vier Grundbausteinen (Basen) aufgebaute Molekülkette, die in linearem Code die Information zur
Synthese aller Eiweißbausteine des Lebens enthält. Der Großteil der
DNS ist in den Zellkernen, meist in doppelter (diploider) Ausführung
enthalten, Reifeteilung führt zur Bildung der Geschlechtszellen mit
einfachem (haploidem) Chromosomensatz. Selbständige Stücke von
Erbinformation finden sich aber auch in manchen Zellorganellen. Siehe
auch → Symbiontentheorie.
Dogmatismus:
Angewandte → Deduktion. Inflexibles Festhalten an Ideologien
oder Glaubenslehrsätzen, z. B. auch gegen die Ergebnisse der
Naturwissenscha�en.
Domestikation:
Haustierwerdung durch veränderte Selektionsbedingungen. Geht
mit Instinktabschwächung, besserer Handhabbarkeit und Leistung,
als der Wildtyp, mit Hypersexualität und auch einem verkleinertem
Vorderhirn einher. Früher wurden Haustiere oft als degenerierte
Mängelwesen gesehen, die nur mehr im Hausstand überleben können.
Heute betrachtet man Haustiere als an den Hausstand angepasst und
m.H. des Vektors Mensch o� erstaunlich erfolgreiche Arten.
Dominanz (soziale):
Ermöglicht Zugang zu kritischen → Ressourcen, wird meist → aggressiv erstri�en. Siehe auch → Prestige und → Rang.
Emotionen:
Stimmungslagen, die maßgeblich Verhalten modulieren. Wichtige
→ Motivationsgrundlagen, Antriebe für (unbewusste) evolutionäre
Strategien. Aufgrund ihrer → Subjektivität nur an den resultierenden
Verhaltensweisen erkennbar. Grund-Emotionssysteme sind offenbar
ein gemeinsames → stammesgeschichtliches Erbe der Wirbeltiere.
Glossar
223
Endhandlung:
Nach → Appetenz und → Reiz ausgeführtes Verhalten; o� stereotype
Verhaltensweise (→ Erbkoordination, → Instinkt)
Entropie:
Zerfall von Ordnung unter Abgabe von Energie (→ Negentropie).
Entscheidung:
Der Zwang zur → Optimierung veranlasst Lebewesen ständig,
Entscheidungen zwischen Alternativen zu treffen (z. B. fressen oder
flüchten); dies impliziert nicht die Beteiligung höherer → kognitiver
Prozesse oder des Bewusstseins.
Entwicklungspsychologie:
Beschäftigt sich mit den dynamischen Veränderungen von Psyche,
Wahrnehmung und Verhaltensbereitscha�en des Subjekts während
der → Individualentwicklung.
Epigenetik:
»Vererbung« von Merkmalen am Genom vorbei, etwa über mü�erliche
Hormone, Erziehungsstile, usw. S. auch → mü�erlicher Einfluss.
Erbkoordination:
Auch → angeborene, besser aber, hochgradig → erbliche Verhaltensweise, → Instinkt. Von Lorenz u.a. als Bausteine des Verhaltens
betrachtet, welches Plastizität bezüglich auslösender Reize (→ analog
→ bedingter Reflex) über die → Instinkt-Dressur-Verschränkung
gewinnt.
Erblichkeit:
Ausmaß der vom → Phänotyp gezeigten Weitergabe von Merkmalen
von einer Generation auf die nächste, genetische Bedingtheit. Wird
sowohl vom → Genotyp, als auch von der Umwelt beeinflusst, in welcher die → individuelle Entwicklung sta�findet. S. auch → angeboren.
Erfolg, evolutionärer:
Wird gewöhnlich als Zahl der wieder reproduktiv aktiven Nachkommen
ausgedrückt. Siehe auch → Fitness.
Erkenntnisapparat:
Sinnessysteme zusammen mit den Zentralen Nervensystemen
(ZNS) von Tieren einschließlich → erblicher Dispositionen, welche
die Wahrnehmung der Welt, sowie die Reaktion auf dieselbe beeinflussen. Naturwissenscha�lich geprägter, daher → mechanistischer,
→ reduktionistischer und → materialistischer Ausdruck, der die
Angepasstheit des ZNS (Ergebnis der → Selektion) betonen soll und
seine Zuständigkeit für sämtliche Phänomene des Verhaltens und der
Psyche.
Ethogramm:
Gesamtheit der von einer → Art gezeigten stereotypen Verhaltensweisen
(→ Erbkoordinationen, Katalog artspezifischen Verhaltens). Variiert
224
Glossar
zwischenartlich stärker als innerartlich, Beleg für die → Erblichkeit
von Verhalten.
Ethologie:
Die auf dem → Darwinismus beruhende → Verhaltensbiologie von
Mensch und Tier. Früher meist Bezeichnung für die »klassische«,
Lorenz-Tinbergensche Richtung, heute zumeist für das Gesamtfach
(einschließlich → Öko-Ethologie und → Soziobiologie) gebraucht.
Beruht auf dem Arbeitsprogramm der → »4 Tinbergenschen Ebenen«
(Tinbergen 1963).
Eugenik:
»Rassenhygiene«. Auf unzureichenden genetischen Ergebnissen beruhende Bestrebungen im 19. und 20. Jahrhundert, durch Zuchtwahl die
menschliche Erbsubstanz zu »verbessern«. Höhepunkt der grausamen
Auswirkungen dieser Idee im Hitler Regime (»Ausmerzung lebensunwerten Lebens«). Zum Teil Wiederbelebung der Ideen im Zuge der
Möglichkeiten durch die moderne molekulare Genetik, bis hin zum
Klonen von Menschen.
Evolution:
Prozess und Ergebnis der → stammesgeschichtlichen Veränderung
der Lebewesen im Laufe der Erdgeschichte, nach unserem heutigen
Verständnis, über den → Darwinschen Mechanismus von Mutation
und Selektion.
Evolutionäre Erkenntnistheorie:
Die von Konrad Lorenz u. Vorläufern begründete und von Rupert
Riedl entwickelte Theorie, dass auch unser → Erkenntnisapparat ein in
der → Evolution → selektioniertes Überlebenswerkzeug darstellt und
uns jene Teile der realen Welt vermi�elt, die in der jahrmillionenlangen
Menschwerdung überlebenswichtig waren.
Experiment:
Einziger Ansatz zum Belegen von → Kausalbeziehungen. Entsprechend
einer → Hypothese wird ein einziger Parameter verändert und das
Ergebnis beobachtet.
Extinktion:
Erlöschen, Aussterben von → Arten. Dadurch wird ökologischer
Raum frei, in welchen sich neue → Arten hineinentwickeln können.
Extinktion ist damit eine der wichtigsten Triebfedern der → Evolution.
Feedback:
Siehe → Rückkopplungen.
Fitness:
Maß für den → evolutionären Erfolg, gemessen in Zahl der wieder
reproduktiv aktiven Nachkommen. Je ökonomischer Individuen mit
den ihnen zur Verfügung stehenden → Ressourcen umgehen, je besser
sie Feinde vermeiden, je sozial kompetenter sie sind, desto mehr kön-
Glossar
225
nen sie in die Produktion von Nachkommen investieren, um so höher
daher ihre Fitness.
Gedankenlesen:
Jene Fähigkeit von Tieren und Menschen, die Absichten anderer
Individuen zu erkennen (etwa zwischen Räubern und Beute), ohne
dass sich der (menschliche) Beobachter der damit zusammenhängenden Reize bewusst wird.
Gen:
Abschni� der → DNA, der genetischen → Information mit bestimmter
Funktion (mit → Allelen als verschiedene Varianten davon).
Genotyp:
Gesamtheit der genetischen → Information eines → Individuums.
genetischer Determinismus:
Überholte Ansicht, dass sich der → Genotyp quasi 1 : 1 in den
→ Phänotyp übersetzt, bzw. dass genetische Dispositionen
Strukturen, bzw. Verhalten erzwingt. Unterschätzt → Epigenetik und
→ Ontogenie.
Gestalt:
Gesamtheit der von Lebewesen bzw. Objekten ausgehenden, bzw.
wahrnehmbaren → Reize.
Gruppenselektion:
Heute kaum mehr vertretene Ansicht, dass die Gruppe die Einheit der
→ Selektion sei und dass daher Gruppenmitglieder möglichst altruistisch und harmonisch miteinander auskommen sollten. Siehe auch
→ Individualselektion und → Arterhaltungswert.
Handicaptheorie:
→ Theorie des → Verhaltensbiologen Amoz Zahavi (1984), wonach die
Ausbildung der → sekundären Geschlechtsmerkmale der Männchen
den Weibchen deswegen die Partnerqualität anzeigt, weil es sich eben
nur Männchen mit gutem → Genotyp (Parasitenresistent) und gutem
Zugang zu → Ressourcen leisten können, dieses Handicap extravaganter Strukturen (z. B. verlängerte Schwanzfedern) auszubilden. Ganz
allgemein erhöhen diese überlebens- und (direkt) → fitnessmindernde
Investitionen das → individuelle → Prestige, damit den → Partnermarktwert, damit indirekt die → Fitness.
Hausverstandspsychologie:
Befasst sich mit den Problemen des Alltags, auch wenn Begriffe nicht
eindeutig definierbar sind. Beruht darauf, dass unserer Alltagssprache
implizite und allgemein anerkannte Konventionen zugrunde liegen.
hedonisch:
lustbetont. Zum Beispiel Organisation egalitärer Jäger- und Sammlergesellscha�en (z. B. Schimpansen oder frühe Menschen: Chance 1988),
226
Glossar
über positive soziale Interaktionen. Beruht auf gleichmäßig dünn verteilten, nicht verteidigbaren → Ressourcen. Siehe auch → agonisch.
Heterotrophe:
Organismen, die im Gegensatz zu den Autotrophen (die meisten
Pflanzen) nicht die Baustoffe des Körpers synthetisieren können, sondern diese mit der Nahrung aufnehmen müssen.
Hippocampus:
Alter Teil der Hirnrinde, der mit der Bildung des Langzeitgedächtnisses,
bzw. generell mit räumlicher Orientierung im Zusammenhang steht.
Holismus:
Ganzheitlichkeit. Anzustrebendes Ziel, aber zu meidende Methode
der in ihrem Ansatz zwangsläufig → reduktionistischen Naturwissenscha�en. Hat, ähnlich wie früher der Begriff → Instinkt, einen
mystischen Beiklang.
homolog:
→ Stammesgeschichtlich herkunftsgleiche Merkmale (körperliche,
Verhaltens- oder physiologische), die bei verschiedenen → Arten in
unterschiedliche Funktionszusammenhänge geraten können. Zum
Beispiel Grei�and der → Primaten - Flügel der Fledermäuse.
Hormone:
Körperinterne Botenstoffe, regulieren die Ausbildung von Merkmalen,
den Stoffwechsel, unter direkter oder indirekter Kontrolle des Gehirns.
Schni�stelle zwischen Nerven-und Immunsystem.
Humanethologie:
→ Stammesgeschichtlich vergleichende Untersuchung menschlichen
Verhaltens, mit der Beobachtung nichtverbalen Verhaltens als wichtigste
Rolle. Fokus auf »menschlichen Universalien« (→ Erbkoordinationen)
bzw. evolutionären → Strategien, Partnerwahl, usw. (Eibl Eibesfeldt
1993).
Hypothese:
Satz, der die → Wirklichkeit beschreibt und durch → Tests falsifiziert
werden kann.
Ideale freie Verteilung:
→ Ausbeutungskonkurrenzmodell, das Vorhersagen über die
Verteilung der Konkurrenten in Abhängigkeit von der Verteilung
der → Ressourcen erlaubt. Ideal: weil vorausgesetzt wird, dass
→ Individuen im Besitz aller Informationen sind. Frei: weil angenommen wird, dass → individuenvolle Bewegungsfreiheit haben (nicht
etwa durch → Dominanzstrukturen oder Räuber eingeschränkt).
Idealismus:
Baut Weltbilder auf spekulativen Idealen auf, o� an der menschlichen
Natur vorbei.
Glossar
227
lndividualentwicklung:
Ontogenie. Heranreifen des vom befruchteten Ei bis zur Geschlechtsreife
in ständiger Kopplung zwischen Umwelteinflüssen, einschließlich
→ mü�erlichen Einflüssen und differentiellen Genexpression; der Weg
vom → Genotyp zum → Phänotyp.
Individualselektion:
→ Individuen sind die Einheit der → evolutionären → Selektion,
kaum aber → Gruppen. Daher besteht die stärkste → Konkurrenz um
→ evolutionären Erfolg zwischen den Gruppenmitgliedern. Siehe auch
→ Altruismus.
Individuum:
Diskrete Einheit, dessen Körper aus Zellen mit gleicher Erbinformation
besteht; neben den → Genen (→ Allelen) Haupteinheit der → Selektion.
Definiert über Phänoptyp, der in der Individualentwicklung entsteht.
Induktion:
Bilden von allgemeinen Sätzen (→ Hypothesen) aus erhobenen Daten.
Basisansatz der Naturwissenscha�en. Siehe auch → Deduktion.
Information:
Gesamtheit der verfügbaren Umweltreize. Relevanz entsteht durch
→ stammesgeschichtliche → Disposition, bzw. → Lernen. Siehe auch
→ Ritualisierung.
Informationsparasitismus:
Gruppenmitglieder profitieren vom Wissen anderer, meist über das
Vorkommen von Ressourcen.
inklusive Fitness:
Förderung der eigenen → Allele, auch jener, die sich in den Verwandten
befinden. Grundlage der Hilfeleistung unter Verwandten. Siehe auch
→ Nepotismus und → Verwandtenselektion.
Instinkt:
Unbewusste, innerhalb der → Art stereotype und hochgradig erbliche,
evolutionär entstandene Handlungen des Individuums mit bestimmter
Funktion einschließlich deren Antrieb; Strukturmerkmal wie körperliche Merkmale. O� deckungsgleich mit → Erbkoordination verwendet;
läu� auf → auslösenden → Reiz und/oder bei starker → Motivation
ab. Begriff von Lorenz vor allem wegen seines von den → Vitalisten
stammenden, mystischen Beigeschmacks vermieden.
Instinkt-Dressur-Verschränkung:
Lorenz-Tinbergensche Erklärung, wie Verhalten zustande kommt: aus
stereotypen Bausteinen (→ Erbkoordinationen, → Instinkte), deren
Abfolge und → Reiz(→ Auslöser)Bezug durch Lernen (»Dressur«)
modifiziert wird, wodurch sich Verhalten in einer für das → Individuum
→ adaptive Weise an eine variable Umwelt anpasst.
228
Glossar
Intelligenz:
generell: Paket an geistiger Leistungsfähigkeit in unterschiedlichen
→ kognitiven Domänen (sozial, räumliche Vorstellung, usw.); rasche
Kombination gespeicherter Daten, optimiert Verhaltenslösungen für
ökologische und soziale Herausforderungen. Setzt stammesgeschichtlich entstanden Lernbereitschaften voraus. s. auch → angeborener
Lehrmeister.
Interaktionskonkurrenz:
Individuen monopolisieren → Ressourcen durch → Aggression bzw.
→ Dominanz gegenüber ihren Konkurrenten.
Inzes�abu:
Barriere gegen Sexualität zwischen nahen Verwandten (Eltern-Kinder,
Geschwister). Gänse beispielsweise lernen, wie Eltern und Geschwister
aussehen, und verpaaren sich dann nicht mit diesen → Individuen.
Vermeidet → Inzuchtdepression.
Inzuchtdepression:
Verlust an Vitalität, Resistenz gegen Parasiten, Fruchtbarkeit, usw.
durch Verlust genetischer Variabilität im Zuge der Verpaarung nahe
Verwandter.
Inzuchtgrad:
Ist bei Verpaarung nahe Verwandter hoch, gering dagegen nach
Verpaarung Nichtverwandter. Theoretisch sollte der Inzuchtgrad von
Populationen in variablen Umwelten gering sein, in stabilen Umwelten
dagegen hoch, da Inzucht bewährte Genome erhält. Der Preis dafür
kann aber die → Inzuchtdepression sein.
Kaspar-Hauser-Versuche:
testen → ontogenetische Entwicklung von → Individuen unter (spezifischem) Reizentzug. Treten bestimmte mit dem entzogenen → Reiz
in Zusammenhang stehende Verhaltensweisen dennoch auf, dann
müssen diese hochgradig → erblich sein.
Kausalbeziehung:
Direkte Ursachenbeziehung, Wenn-dann-Beziehung. Zur ergründen
über → Experimente.
klassische Ethologie:
Lorenz-Tinbergenscher, mechanistisch und physiologisch orientierter
Zweig der → Verhaltensbiologie.
Kognition:
Datenverarbeitungsmechanismen des Gehirns, s. auch → Intelligenz,
o� im Sinne »höherer« geistiger Prozesse gebraucht.
Kommunikation:
Austausch von → Information. Gezielt durch → Signale des Senders
an den Empfänger oder als unvermeidlicher Nebeneffekt des
Glossar
229
Verhaltensflusses. Zu gegenseitigem Nutzen, oder um den Widerstand
des Empfängers zu überwinden.
Konflikt:
Interessengegensatz zwischen Individuen. Oft als Ergebnis unterschiedlicher → evolutionärer Strategien (zwischen Paarpartnern,
Eltern-Kindern usw.), die → Fitness zu maximieren. Oder auch im
Zusammenhang mit → lnteraktionskonkurrenz um → Ressourcen.
Konkurrenz:
Vor allem zwischen → Individuen einer → Population, um begrenzte
→ Ressourcen. Siehe auch → Ausbeutungskonkurrenz, → Interaktionskonkurrenz.
Kooperation:
Zusammenarbeit zum beidseitigen Vorteil. Gewöhnlich entweder
unter Verwandten, oder auf Gegenseitigkeit beruhend.
Kreationismus:
Lehre, wonach die Welt samt ihrem → Arteninventar in der gegenwärtigen Zusammensetzung von einem höheren Wesen erschaffen worden
sei. Kreationisten lehnen gewöhnlich die Idee der → evolutionären
Dynamik des → Artenwandels ab.
Kybernetik:
Lehre von Regelungsvorgängen in Technik, → Biologie und
→ Soziologie. Gebräuchlichstes Instrument zur Bildung von InputOutput-Modellen zur Erklärung des der wesentlichen Elemente von
Verhalten.
Leadership:
Führungskompetenz in Zusammenhang mit Kenntnissen oder
Fähigkeiten. Besonders bei → Primaten mit sozialem → Prestige und
sozialer Kompetenz verbunden. → Dominanz muss nicht deckungsgleich mit Leadership sein. Kann mit Erfahrung zu tun haben und/oder
mit Selbstsicherheit.
Lernen:
Aufnahme von Umweltinformation über den Filter der Sinnesorgane
und des Gehirns in einen Gehirn-internen Speicher. Bildet die
Assoziationsbasis und die Grundlage für Entscheidungen, um das
individuelle Verhalten einer variablen Umwelt flexibel anpassen zu
können. Vergessen und Neulernen können als selektive Updates
der Gedächtnisinhalte gesehen werden. Viele verschiedene Arten
und Ebenen des Lernens. Siehe auch → Hippocampus. Setzt
Lernbereitscha�en voraus (s. auch → angeborener Lehrmeister).
Masturbation:
Selbstbefriedigung. Besonders die männliche Masturbation stellte
funktionell ein evolutionsbiologisches Rätsel dar, weil die so abgegebenen Samenzellen keine Eier befruchten können. Könnte nach neuerem
230
Glossar
Verständnis ein Verhalten zur Erhaltung der → Konkurrenzfähigkeit
des Spermas sein (Losewerden überaltertem Spermas). Siehe auch
→ Spermakonkurrenz.
Materialismus:
Anspruch, wonach alle Lebenserscheinungen, also auch geistig-seelische Vorgänge auf Basis der (physiko-chemischen) Interaktionen der
Materie ohne Berufung auf eine metaphysische Instanz erklärbar sein
müssen. Grundlage der → Naturwissenscha�en.
mechanistisch:
Anspruch, wonach alle Lebenserscheinungen, also auch geistig-seelische Vorgänge auf Basis der (physiko-chemischen) Interaktionen
zwischen Systemteilen, bzw. Molekülen ohne Berufung auf eine
metaphysische Instanz erklärbar sein müssen. Grundlage der
→ Naturwissenscha�en.
Mem:
Kultureller Gedächtnisinhalt, Paket kultureller → Information
(Dawkins 1977), analog zum → Gen.
Menschenmodell:
Wichtiger Teil der → individuellen Weltanschauung; grundlegende
Ansicht vom Wesen des Menschen (→ kreationistisch, → evolutionär,
usw.).
Modell:
Nachbildung realer Systeme unter Verwendung weniger essentieller
Komponenten, beruhend auf einer → Hypothese. Decken sich empirische Daten und das Resultat des Modells, so wird wahrscheinlich, dass
die wichtigen Parameter berücksichtigt wurden und die zugrundeliegende → Hypothese zutri�. Nicht als »harter« Test einer → Hypothese
geeignet, kann aber die Basis für entsprechende → Experimente darstellen.
Modulator:
Reguliert Prozesse nach oben oder unten. Etwa biogene Amine in
den Spalträumen des Gehirnes, die das Geschehen an bestimmten
→ Synapsen entweder anregen oder dämpfen.
Monogamie:
Kurz- bis langfristiges Paarungssystem zwischen zwei Individuen. Als
→ evolutionäre Strategie verschiedengeschlechtlicher → Individuen
entstanden, ihren Fortpflanzungserfolg zu optimieren, meist indem
sich beide Geschlechter an der Jungenfürsorge beteiligen.
Motivation:
Dem Verhalten zugrundeliegende (bewusste und unbewusste)
Beweggründe, Stimmungen, Gestimmtheit. »Motivationsfaktoren«
können auch Hormone sein. Auch: spezifische (in Bezug auf eine
bestimmte → Endhandlung) Handlungsbereitscha�, Verhaltensantrieb,
Glossar
231
Drang, → Trieb, von vielen äußeren und inneren Faktoren beeinflusst,
nach Lorenz staubar. Siehe → psychohydraulisches Modell.
Mustergenerator, zentraler:
Nervennetze im Rückenmark und Gehirn, die relativ autonom ein
bestimmtes (o� rhythmisches) motorisches Muster erzeugen. Substrat
für → Reflexe und → Erbkoordinationen.
Mü�erlicher Einfluss:
auch mü�erliche Manipulation. Unmi�elbare, meist physiologische
Einwirkung der Mu�er auf den → Phänotyp der Nachkommen. Zum
Beispiel durch Eigröße oder frühe Steroidhormone.
natürliche Selektion:
Auslese, richtunggebender Prozess der → Evolution. Zwischen
unterschiedlichen → Phänotypen in einer bestimmten Umwelt treten
→ Fitnessunterschiede auf, die im Verlauf der Generationen die
→ Allelfrequenzen in der → Population verschieben. Beruht selten
auf unterschiedlichen Überlebensraten, meist auf unterschiedlichem
Fortpflanzungserfolg.
Naturwissenscha�:
Versucht belebte und unbelebte Natur erklären, beruht letztlich auf der
auf Aristoteles zurückgehenden hypothetiko-deduktiven Methode,
hat sich auf das Mess- und Zählbare zu beschränken, kein Rekurs
auf Metaphysik zulässig. Ist → mechanistisch, → reduktionistisch,
→ materialistisch.
Negentropie:
Zunahme von Ordnung unter Energieaufwand (→ Entropie).
Neotenie:
Erhalt juveniler Merkmale im Adultstadium. Zum Beispiel Erreichen
der Geschlechtsreife bereits im Larvenstadium.
Nepotismus:
Begünstigung von, bzw. → Kooperation unter Verwandten. Evolutionäres Prinzip, das aus → Individualselektion und → inklusiver Fitness
folgt. Siehe auch → Verwandtenselektion.
Neuroethologie:
Zweig der Nervenphysiologie bzw. Ethologie, welcher die kausalen
Beziehungen zwischen Verhaltensweisen und der Funktion des
Nervensystems erforscht.
objektiv-subjektiv:
Objektiviert kann durch → Quantifizierung werden, während
Subjektives einer direkten Beobachtung und damit dem naturwissenscha�lichen Zugriff entzogen ist. So etwa können → Emotionen (bzw.
die mit ihnen verbundenen Empfindungen) nicht direkt, sondern nur
über ihre Auswirkungen auf das Verhalten erfasst werden.
232
Glossar
Öko-Ethologie:
Jener Zweig der → Verhaltensbiologie, welcher die → Fitnessrelevanz
von Verhalten untersucht, etwa wie Tiere ihre Entscheidungen bezüglich → Ressourcennutzung, Partnerwahl, Raubfeindvermeidung usw.
optimieren und was sie daran hindert, → optimal zu handeln.
Östrogen:
Verhaltensrelevantes, vor allem weibliches → Steroidhormon aus
den Eierstöcken, welches wie auch die anderen Steroidhormone in
der → Ontogenie organisierend, z.B. im Gehirn wirkt. Siehe auch
→ Testosteron und → Corticosteroide.
Ontogenie:
Siehe → Individualentwicklung.
Optimalität:
Da die → Individuen in → Populationen um → Fitness → konkurrieren,
aber → Ressourcen und Zeitbudgets begrenzt sind, müssen sie möglichst optimale Entscheidungen treffen. Wobei es darum geht, kann je
nach Lebensstadium bzw. Situation unterschiedlich sein. Häufig wird
entweder der Energiegewinn maximiert, die Raubfeindgefährdung
oder das Risiko zu verhungern minimiert usw. Optimalitätsmodelle
können gewöhnlich zur Vorhersage von → Entscheidungen in der
Nahrungs- und Partnerwahl oder Feindvermeidung genutzt werden.
Orgasmus:
Lustvoller weiblicher Höhepunkt beim Geschlechtsakt bei Menschen
und wahrscheinlich vielen Wirbeltieren. → Evolutionsbiologische
Relevanz umstritten. Belohnung und damit → Motivation für
Sexualverhalten. Scheint aber eine Funktion in der Retention von Sperma
des bevorzugten Partners zu haben. Siehe auch → Spermakonkurrenz.
Paradigma:
Musterbeispiel mit starkem Theoriebezug.
Partnermarktwert:
Maß der A�raktivität potentieller Partner für das andere Geschlecht.
Siehe auch → Prestige.
Partnerwahl:
Geschlechtspartner finden sich in den seltensten Fällen zufällig, sondern wählen einander nach den verschiedensten Kriterien aus. Meist
sind die Weibchen das wählerische Geschlecht, da sie in der Regel
mehr in die Nachkommen investieren als Männchen. Bestimmt die
→ Allelkombinationen der Nachkommen und damit den Gang der
Evolution.
Persönlichkeit:
Grundlegende, lebenslang relativ stabil bleibende Gesamtheit der
Verhaltensneigungen, auf Herausforderungen der Umwelt zu reagie-
Glossar
233
ren. S. auch → coping style, → Temperament, z. B. introvertiert-extrovertiert.
Phänotyp:
Individuelles Resultat der Interaktion des → Genotyps mit der Umwelt,
in welcher die → Individualentwicklung sta�fand.
Physiologie:
Lehre der Körperfunktionen. Hormon-, Stoffwechsel-, Neurophysiologie etc.
Polyandrie:
Paarungssystem, bei dem ein Weibchen mit mehreren Männchen
zusammen ist, bzw. Nachwuchs zeugt. Männchen beteiligen sich o�
maßgebend an der Brutpflege. Eher selten.
Polygamie:
Paarungssystem, bei dem ein Partner des einen Geschlechts mit mehreren Partnern des jeweils anderen Geschlechts zusammen ist, bzw.
Nachwuchs zeugt. Synchrone: gleichzeitig; sukzessive: Partner des
anderen Geschlechts wechseln in mehr oder weniger rascher Folge.
Siehe auch → Polyandrie, → Polygynie.
Polygynie:
Paarungssystem, bei dem ein Männchen mit mehreren Weibchen
zusammen ist bzw. Nachkommen zeugt, die meist die Jungenfürsorge
alleine leisten. Häufig.
Polykausal:
Mehrere Ursachen bedingen eine Wirkung, die Regel in komplexen
Systemen, während → reduktionistische → Experimente der Naturwissenschaften zumeist monokausal (eine Ursache, eine Wirkung)
angelegt werden müssen.
Polymorphismus:
Mitglieder einer → Population bilden distinkte Formen unterschiedlichen Körperbaus oder Färbung aus.
Population:
Von ihrer geographischen Verbreitung her und auch reproduktiv
zusammenhängende Untergruppe einer → Art.
Potlatch-Fest:
Von manchen nordwestamerikanischen Indianerstämmen wurden
Nachbarclans zu Festen eingeladen, deren Hauptzweck es war,
einander durch wertvolle gegenseitige Geschenke oder durch
Vernichtung wichtiger Güter zu beeindrucken und zu beschämen. Je
größer der vernichtete Wert, um so größer der → Prestigegewinn. Es
wurden gelegentlich sogar die eigenen Häuser abgebrannt. Siehe auch
→ Handicap.
234
Glossar
Prägung:
Rascher Lernvorgang entlang einer evolutionär disponierten Lernbereitschaft. Verschiedene Formen der Prägung: Nachfolge-, Orts-,
sexuelle Prägung. Bei Nachfolgeprägung lernt ein schlüpfendes Enten
oder Gänseküken, dem ersten sich bewegenden und Laute abgebenden
Objekt zu folgen, dessen es ansichtig wird. In abnehmender Bedeutung
sind folgende Objekteigenschaften wichtig: Laute, Bewegung,
Aussehen. Nachhaltiger Lernvorgang, aber u.U. umkehrbar.
Prestige:
Soziales Ansehen, erhöht vor allem den männlichen → Partnermarktwert. Wird in → hedonischen Gesellscha�en durch soziale Fähigkeiten
erworben, in → agonischen vor allem durch Kontrolle von → Ressourcen
(Besitz). Siehe auch → Potlatchfest.
Primaten:
Affen. Zum Beispiel Hominide Primaten: Menschenaffen: Gibbons,
Orang Utans, Gorillas, Schimpanse, Bonobo und Menschen.
Promiskuität:
Relativ indiskriminatives Akzeptieren vieler Sexualpartner. Meist mit
starker → Spermakonkurrenz verbunden.
Psychohydraulisches Modell:
Lorenzsches → Triebmodell: die Vorstellung, dass die → Antriebstärke
bezüglich einer gewissen → Endhandlung mit der Zeit ansteigt, wenn
diese nicht ausgeführt wird, → analog zu einem aufstauenden WasserReservoir. Der Füllzustand liegt im Gleichgewicht mit der Stärke des
auslösenden Reizes (im Modell als gegen ein Federventil wirkendes
Gewicht dargestellt). Die Endhandlung läuft also entweder nach
starkem → Triebstau oder nach starkem → Auslöserreiz ab. Siehe auch
→ Motivation.
Psychologie:
Wissenscha� vom Wesen, bzw. den geistig-seelischen Vorgängen des
Menschen, welche die Auswirkungen seelisch-geistiger Vorgänge auf
Verhalten sowie die Interaktionen mit der (sozialen) Umwelt untersucht.
Quantifizierung:
Unabdingbarer Ansatz der Naturwissenscha�en, um Objektivierung
und Reproduzierbarkeit zu erreichen.
Randbedingung:
Schränken die (→ optimale) Handlungsfreiheit ein (etwa das durch
Raubfeinddruck erzwungene Meiden reicher Nahrungsquellen,
die durch die Notwendigkeit der Mineralstoffzufuhr erzwungene
Aufnahme von Wasserpflanzen durch Elche, obwohl Landpflanzen
energetisch günstiger wären und [als zweite Randbeding] die Nahrung
saufnahmekapazität des Darmes beschränkt ist usw.).
Glossar
235
Rangordnung:
Meist durch → aggressive Interaktionen ausgefochtene (nicht
notwendigerweise lineare) → Dominanzhierarchie innerhalb von
→ Individuen einer sozialen Gruppe, die um dieselben → Ressourcen
konkurrieren. Darum gibt es oft getrennte Männchen- und
Weibchenrangordnungen. Siehe auch → agonisch und → hedonisch.
Da gewöhnlich die Hochrangigen profitieren, sind Rangordnungen
Quellen → agonistischer Interaktionen, es ist daher ein Irrglaube, dass
sie Gruppen stabilisieren, weil »befrieden«.
rational:
Bewusstes, abwägendes Überlegen als Basis für Handlungen. Im
Gegensatz etwa zu → instinktiv.
Reaktionen:
→ physiologische Vorgänge oder Verhaltensweisen, die bestimmten
→ Reizen folgen.
Reduktionismus:
Die grundlegende Untersuchungsmethode der Naturwissenscha�en,
komplexe Systeme auf einfache, möglichst → monokausale UrsacheWirkzusammenhänge zu reduzieren, damit sie untersucht werden
können.
Reflex:
In einem Nervennetz, als → Mustergenerator kodierte, unbewusste
Verhaltensweise, die auf einen bestimmten → Reiz hin weitgehend
unabhängig vom → Motivationshintergrund abläu�. Durch → Lernen
können bedingte Reflexe gebildet werden.
Reflexologie:
Pawlowsche Lehre von den Reflexke�en. Auch komplexe Verhaltensweisen werden als Ketten von Reflexen gedeutet. Flexibilität
entsteht durch den »bedingten Reflex«. In der ersten Hälfte des
letzten Jahrhunderts aktuell, Grundlage für die Lorenz-Tinbergensche
→ Ethologie.
Reiz:
Anlass für den Ablauf eines → Reflexes oder anderer Verhaltenselemente.
Reproduktionspotential:
Mögliche Nachkommenzahl (von Individuen). Wird meist zwischen
den Geschlechtern innerhalb von → Arten verglichen. Ist bei jenem
Geschlecht höher, welches weniger in Nachkommen investiert, meist
bei den Männchen. Basis für viele evolutionär angelegte → Konflikte.
Ressourcen:
Für Individuen lebens- und reproduktionsnotwendige Kategorien
ihrer Umwelt: Lebensraum, Nahrung, Geschlechtspartner. Gewöhnlich
236
Glossar
Anlass für → Konkurrenz zwischen den Mitgliedern einer → Population
und, auf ökologischer Ebene, auch zwischen Arten.
Rezeptor:
Kann als Rezeptorzelle jenes Sinnesorgan bedeuten, in dessen Membran
der Primär- → Reiz in elektrische Potentialänderungen umgesetzt wird.
Rezeptormoleküle dagegen sind meist große, o� membrangebundene
Prozeine, an welchen chemische, entweder interne oder externe (im
Falle der chemosensorisehen Organe) Botenstoffe gebunden werden
und in Folge entweder die Öffnung eines lonenkanals und/oder den
Beginn einer Second-messenger-Kaskade bewirken, die schließlich die
Physiologie der Zelle bis hin zur Genexpression beeinflusst.
Ritualisierung:
→ Evolution von Verhaltensweisen, bzw. Strukturen im Dienste der
→ lnformationsübertragung, meist durch Funktionswandel (z. B. aus
Putzbewegung wird Balzbewegung). So entstehen → Signale, deren
Redundanz und Prägnanz der Eindeutigkeit bzw. der Überwindung
der »sales resistance« auf Seiten des Empfängers durch den Sender
dienen.
Rückkopplung:
Feedback. Die Wirkung beeinflusst wiederum ihre Ursache. So
wirken Hormonspiegel im Blut meist hemmend auf eine weitere
Ausschü�ung desselben → Hormons. In einem anderen Beispiel steigert der Sieger einer Auseinandersetzung durch eine Erhöhung seines
Selbstbewusstseins die Wahrscheinlichkeit eines Sieges bei darauffolgenden Auseinandersetzungen.
Schlüsselreize:
Vorstellung der → klassischen Ethologie, wonach es (erbliche) → Auslöser gäbe, die wie ein »Schlüssel« in ein »Schloss der Wahrnehmung«
passen und eine → Erbkoordination auslösen. Heute weiß man, dass
meist, wenn überhaupt, nur grobe Reizkonstellationen erblich → disponiert sind und sehr viel → Lernen, bzw. Lernbereitscha� im Spiel ist.
Begriff wird daher heute kaum mehr verwendet.
Seitensprung:
Alternative → evolutive bzw. reproduktive → Strategie monogamer
Paarpartner, um ihre individuellen Reproduktionserfolge zu optimieren. Männliche Seitensprünge können direkt zu einer Erhöhung der
Nachkommenzahl führen, weibliche Seitensprünge dagegen zu deren
Diversifizierung. Siehe auch → Reproduktionspotential.
Selektion:
Auslese. Siehe → natürliche und → sexuelle Selektion.
sexuelle Selektion:
Auslese von Merkmalen im Zusammenhang mit der → Konkurrenz
in der sexuellen Vermehrung entweder innerhalb eines Geschlechtes
(z. B. Kampfstärke, Körpergröße bei den Männchen) oder zwischen den
Glossar
237
Geschlechtern (z. B. extravagante Merkmale der Männchen als Ergebnis
der weiblichen Zuchtwahl). Die so → selektionierten Merkmale können bzw. müssen überlebenshinderlich sein (siehe → Handicap), um
als verlässliches → Signal der Partnerqualität zu dienen. Siehe auch
→ Prestige und → Partnermarktwert.
Sichern, Sicherrate:
Aufmerksamkeitshaltung der meisten Wirbeltiere, bei welcher Hals und
Körper nach oben durchgestreckt und alle eigenen Körperbewegungen
mit Ausnahme jener der Augen und Ohren eingestellt werden. Meist
im Zusammenhang mit Feindvermeidung zu beobachten. Auch als
→ Signal an potentielle Räuber und sogar innerhalb der Gruppe diskutiert.
Signal:
Im Dienste der → lnformationsübertragung → evoluiertes Merkmal
(Körperbau oder Verhalten). Siehe auch → Ritualisierung. Ist dann
»ehrlich«, wenn mit Kosten verbunden und daher fälschungssicher.
Skinner-Box:
Testkäfig, in welchem Tieren Lernaufgaben auf der Basis des
→ Lernens durch Versuch und Irrtum gestellt werden können. Siehe
auch → Behaviorismus.
Sozialdarwinismus:
Begleiterscheinung des frühen → Darwinismus und eines starken
→ genetischen Determinismus. (Gesellscha�liche) Unterschiede wurden für »blutsbedingt« (→ erblich) und daher unabänderlich gehalten.
Sehr einflussreich bis zur Mi�e des 20. Jahrhunderts. In den Köpfen
vieler Leute immer noch präsent. Siehe auch → Eugenik.
Soziobiologie:
Vor allem auf dem Prinzip der → inklusiven Fitness beruhender, in der
→ Öko-Ethologie verwurzelter Zweig der → Ethologie, der sich mit
den → evolutionären Strategien und der → Fitnessrelevanz sozialen
Zusammenlebens beschä�igt.
Soziologie:
Empirisch orientierte Wissenschaft vom Zusammenleben der
Menschen. Vermeidet meist vergleichende Ansätze bzw. ein evolutionäres Menschenmodell. Diese Kritik tri� auch weitgehend auf die
→ Psychologie zu.
Spermakonkurrenz:
→ Konkurrenzsystem der Männchen um Nachkommen. Wenn es
Männchen nicht gelingt, Geschlechtspartnerinnen zu monopolisieren
(siehe → Monogamie, bzw. → Polygynie), konkurrieren sie v. a. über
die Spermamenge und den Kopulationszeitpunkt um die Vaterscha�.
Verbreitet, z. B. bei manchen Meerschweinchen, Hunden, Schimpansen,
in abgeschwächter Form auch beim Menschen.
238
Glossar
Stammesgeschichte:
Rekonstruktion des durch → Evolution der → Arten im Laufe der
Erdgeschichte entstandenen Gefüges der Verwandtscha�sbeziehungen
und seiner historischen Entstehung.
Status (sozialer):
Position bzw. Einordnung eines → Individuums in ein soziales
Gefüge. Zu beschreiben über Parameter wie: Alter, Geschlecht, soziale
Bindungen, → Dominanz, → Rang, → Prestige usw. Meist mit maßgeblicher Auswirkung auf → Reproduktionserfolg und daher → Fitness.
Steroidhormone:
Gruppe von teilweise stark verhaltensrelevanten Hormonen (Sexualität,
Stress), die aufgrund ihrer Fe�löslichkeit Zellmembranen gut durchdringen und zum Großteil direkt im Zellkern auf Genexpression, aber
auch über Membran → rezeptoren rasch auf Verhalten wirken.
Strategie:
Auf → Fitnessoptimierung des → Individuums abgestimmtes
Verhalten bzw. Summe → optimaler → Entscheidungen. Es wird
kein höheres, → kognitiv gesteuertes Taktieren impliziert, sondern
es werden eher unbewusste, auf → evolutionären Prädispositionen
beruhende → Entscheidungen angenommen.
Symbiontentheorie:
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Zellen mit echtem Zellkern Symbiosen
aus Zellen verschiedener Herkunft darstellen. So scheinen etwa
Mitochondrien und Chloroplasten aus integrierten Blaualgen-ähnlichen Zellen entstanden zu sein.
Synapse:
Kontaktstelle der Signalweitergabe zwischen Nervenzellen oder zwischen Nerven- und Muskelzellen. An der Mehrzahl der Synapsen wird
das elektrische Signal in ein chemisches (→ Transmi�er) übersetzt,
welches in der nachgeschalteten Zelle wiederum zu Änderungen des
Membranpotentials führt.
Tabula rasa:
wörtl.: »leere Tafel«. Ausdruck der Vorstellung extremer
→ Behavioristen (Lerntheoretiker), dass alle → Individuen als unbeschriebene Blä�er zur Welt kommen, daher unbegrenzt erzieh- und
formbar wären. Gegenposition zu den → Ethologen, die Systeme
evolutionär entstandener → Dispositionen nachweisen konnten.
Taxis:
Zielorientierung einer Bewegung entlang eines → Reiz-Gradienten.
Temperament:
Emotionaler Ausdruck der → Persönlichkeit.
Glossar
239
Testen von Hypothesen:
Voraussagen aus der → Theorie müssen durch Experimente bzw.
Beobachtungen potentiell überprü�ar bzw. falsifizierbar sein, sonst
sind sie nicht naturwissenscha�lich. Stark → deduktiver Ansatz, dem
Konrad Lorenz als Anwalt der → Induktion misstrauisch gegenüberstand.
Testosteron:
Männliches → Steroidhormon, vor allem aus den Hoden, in die
Ausbildung der sekundären männlichen Geschlechtsmerkmale involviert, → motiviert auch → Aggression.
Theorie:
Eine Gruppe kohärenter → Hypothesen.
Tierpsychologie:
Vorläuferin der Ethologie mit Blüte um die Jahrhundertwende.
Vor allem → Psychologen forschten an Fragen der → kognitiven
Leistungsfähigkeit. Oftmals vermenschlichenden Interpretationen
tierischen Verhaltens waren eine dem jungen Konrad Lorenz starke
→ Motivation für seine wissenscha�liche Arbeit.
Transmi�er:
Botenstoffe, die an der vorgeschalteten Zelle der → Synapse bei
Ankommen eines elektrischen Signals freigesetzt werden und in der
nachgeschalteten Zelle der Synapse wiederum ein elektrisches Signal
bewirken.
Trieb(handlung, arteigene):
Siehe → Erbkoordination → Instinkt.
Typus:
Das (bezüglich seines Verhaltens bzw. Körperbaus etc.) Ideal einer
→ Art. Überbleibsel einer → kreationistischen (idealistischen) Biologie,
welches angesichts der innerartlichen Variabilität, auf welcher der
→ Darwinsche Mechanisms der → Evolution beruht, abzulehnen
ist. Sehr wohl nützlich bleibt aber beispielsweise der Vergleich von
»Bauplantypen« zwischen Großgruppen. In der systematischen
Biologie wird als »Typus« jenes Individuum bezeichnet, auf welchem
die Erstbeschreibung einer → Art beruht.
Vergleichende Verhaltensforschung:
Nur der → Artvergleich ermöglicht es, wie wir seit Whitman, Heinroth
und Lorenz wissen, die → evolutionäre Herkun� von Verhaltensweisen
zu erkennen, um damit auch menschliches Verhalten aus der
→ Stammesgeschichte heraus zu erklären. Dem vergleichenden Ansatz
verdanken wir die Entdeckung aller, auch für den Menschen gültigen
Prinzipien der Verhaltensbiologie, z. B. → Strategien der Geschlechter,
→ Verwandtenselektion u. v. a. m.
240
Glossar
Verhaltensforschung:
Etwa deckungsgleich mit → Verhaltensbiologie, bzw. → Ethologie.
Umfasst alle Richtungen der Erforschung von Verhalten unter dem
→ Theoriengebäude der → Evolutionsbiologie.
Verhausschweinung:
(des Menschen). Plakativer Ausdruck der Idee von Konrad Lorenz,
dass Menschen »selbstdomestiziert« und → neotän seien. Auf den ersten Blick überzeugend, da (Zivilisations-)Menschen einige Merkmale
von Haustieren, wie Fe�ansatz, schwach ausgebildetes Bindegewebe,
Mopsköpfigkeit, Hypersexualität etc. aufweisen. Allerdings trifft
ein zuverlässiges Merkmal für → Domestikation, ein im Vergleich
zur Wildrasse verkleinertes Gehirn, gerade auf den Menschen nicht
zu; auch gibt es keine haltbaren Belege für → Instinktausfall, wie er
für Haustiere typisch ist. Die Idee der Verhausschweinung ist daher
→ naturwissenscha�lich nicht haltbar und fällt wohl in die Kategorie
»rationalisiertes Vorurteil«.
Verwandtenselektion:
Durch Hilfeleistung unter Verwandten kommt es zu → Selektionsvorteilen für die Sippe. Siehe auch → Nepotismus.
Vier Tinbergensche Ebenen:
Forschungsprogramm der → Ethologie, bzw. der gesamten evolutionärorganismischen → Naturwissenscha�en. Verhalten (und jedes andere
Merkmal) ist auf den Ebenen der zugrundeliegenden → Mechanismen,
der → Fitnessrelevanz, der → evolutionären Geschichte und der
→ ontogenetischen Entstehung zu erforschen und zu erklären.
Vitalismus:
Richtung der frühen Verhaltensforschung, die den → Instinkt als
Ausdruck des göttlichen Willens annahm, ihn daher weder einer
Erklärung bedür�ig noch zugänglich hielt und sich damit außerhalb
der → materialistischen Naturwissenscha�en stellte.
Wahrheit:
Begriff, der in den → Naturwissenscha�en fehl am Platz ist, da diese
die Annäherung an die Wirklichkeit anstreben, sie aber niemals erreichen. Daher sind naturwissenscha�liche Sätze immer Wahrscheinlichkeitsaussagen und erlauben nie letzte Gewissheiten.
Wahrnehmung:
Durch die evolutionär entstandene Aussta�ung mit Sinnesorganen und
Gehirn bedingte, subjektive Wirklichkeit von Arten und Individuen.
Warnlaut:
Wird von einem oder mehreren → Individuen einer Gruppe bei
Annäherung eines Fressfeindes abgegeben. Vereinzelt Differenzierung
nach Freßfeindtyp nachgewiesen. Funktion (cui bono?) des
»Warnlautes« nicht immer klar. Oft konvergent, wird daher auch
zwischenartlich verstanden.
Glossar
241
Wirklichkeit:
Die unabhängig von unserer Wahrnehmung existierende Welt.
Solange es Menschen gibt, wird es wohl ein Thema philosophischer Diskurse bleiben, ob eine solche Welt außerhalb unserer
→ Wahrnehmung existiert oder nicht. Für die → Naturwissenscha�en
ist dieser Diskurs wenig bedeutend, da es letztlich unmaßgeblich ist,
ob unsere Forschungsergebnisse die letztliche Wirklichkeit beschreiben oder nur Ergebnis menschlicher Konventionen auf Basis unseres
→ Erkenntnisapparates darstellen. Wir können ohnehin nur innerhalb
des Rahmens dieser → evolutionären Konventionen denken. S. auch
→ Wahrheit.
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