Die Rolle des Zufalls in der Evolution aus Sicht einer

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Die Rolle des Zufalls in der Evolution aus Sicht einer
Physikerin
Barbara Drossel, TU Darmstadt
(Der Originalartikel erschien im Jahrbuch „Glaube und Denken“ der Karl-Heim-Gesellschaft,
Jhg. 23, im Jahr 2010, S. 105-118.)
Immer wieder begegnet man im christlichen Umfeld der Auffassung, dass die
Evolutionstheorie ein Feind des christlichen Glaubens sei und deshalb bekämpft werden
müsse. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Die Einen sehen einen Widerspruch zwischen
einem Millionen Jahre dauernden Evolutionsprozess und dem im ersten Kapitel der Bibel
beschriebenen Schaffen Gottes. Die anderen sehen in wissenschaftlichen Theorien über die
Entstehung des Universums und der biologischen Spezies eine Konkurrenzerklärung zur
Schöpfung durch Gott. Viele sehen einen Widerspruch zwischen Gottes „es war sehr gut“
am Ende der Schöpfungsgeschichte und dem vom Kampf ums Überleben und von viel
Sterben begleiteten Darwinschen Prozess. Und nicht zuletzt wird an der Rolle des Zufalls im
Evolutionsprozess Anstoß genommen. Mit dem Zufall verbindet man dabei die Vorstellung,
dass der Prozess willkürlich und ungeplant abgelaufen sei, viele Fehlversuche beinhaltet habe
und in der stattgefundenen Form extrem unwahrscheinlich gewesen sei. Insbesondere zu den
ersten beiden Einwänden gibt es viele gute Literatur, die das Verhältnis von Gottes
Schöpfungshandeln zu einer naturwissenschaftlichen Beschreibung der dabei ablaufenden
Prozesse klärt. Für naturwissenschaftliche Laien ist hier besonders das Buch „Creation or
evolution – do we have to choose“ von Denis Alexander1 zu empfehlen. Die Frage nach der
Rolle des Leids im Evolutionsprozess hängt eng mit der Theodizeefrage zusammen, und sie
war das Thema einer Konferenz in der päpstlichen Sommerresidenz in Castel Gandolfo im
Jahre 20052. Der Rolle des Zufalls ist der vorliegende Artikel gewidmet. Im Folgenden
möchte ich zunächst den Stand der Evolutionstheorie diskutieren, da sie oft verzerrt und
vereinfacht dargestellt wird, was unnötige Probleme aufwirft und Konflikte schürt. Dann
möchte ich den zweiten Schlüsselbegriff dieses Artikels, den Zufall, aus wissenschaftlicher
Sicht erklären. Im dritten Teil schließlich werden beide Themen miteinander verbunden und
das Zusammenspiel von Zufall und Naturgesetz im Evolutionsprozess diskutiert. Daraus
ergibt sich eine überraschende andere Sicht der Rolle des Zufalls in der Evolution.
1. Evolution
1.1.
Die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Evolution“
Der Begriff „Evolution“ wird mit verschiedenen Bedeutungen verwendet, die leider oft
durcheinander gebracht werden. Nach Michael Ruse3 sollte man drei Bedeutungen dieses
Begriffs klar voneinander trennen. Die erste Bedeutung ist die „Tatsache Evolution“, nämlich
dass alle biologischen Spezies über einen gemeinsamen Stammbaum miteinander verwandt
sind. Die zweite Bedeutung ist die „Evolutionstheorie“, die postuliert, durch welche Art von
1
Erschienen im Jahr 2008 im Verlag Monarch Books.
Der Tagungsband hierzu ist „Physics and Cosmology. Scientific Perspectives on the Problem of Natural Evil”
(herausgegeben von Nancey Murphy, Robert John Russell, William R. Stoeger. The University of Notre Dame
Press, 2007. ISBN 978-88-209-7959-1)
3
Michael Ruse, The Evolution-Creation Struggle, Harvard University Press 2005.
2
Prozessen und Mechanismen die Entwicklung der Arten vonstatten gegangen ist. Die dritte
Bedeutung schließlich ist der „Evolutionismus“, also eine naturalistische Weltanschauung, die
der Auffassung ist, dass die wissenschaftliche Beschreibung eine vollständige Beschreibung
der Welt liefert und dass es keine darüber hinaus gehende Realität gibt. Diese
Weltanschauung steht natürlich im Gegensatz zum christlichen Glauben, dass Gott die
sichtbare Welt geschaffen hat. Die „Tatsache Evolution“ ist durch die Fossilien, die
Biogeographie, die vergleichende Anatomie, und insbesondere durch die Molekulargenetik so
vielfältig belegt, dass sie unter fachkundigen Wissenschaftlern praktisch universell akzeptiert
ist. So beschreibt zum Beispiel der ehemalige Leiter des Genomprojekts, Francis Collins, in
seinem Buch „Gott und die Gene“ 4 die vielfältigen Spuren, die die Entwicklungsgeschichte
der Menschen in ihrem Erbgut hinterlassen hat und die ihn davon überzeugen, dass der
Mensch gemeinsame Vorfahren mit dem Schimpansen und auch mit der Maus hat. Die
Evolutionstheorie ist selbst einer Entwicklung unterworfen und hat seit Darwins Zeiten viele
neue Forschungsergebnisse aufgenommen. Auf der Jahrestagung der „Europäischen
Gesellschaft für Evolutionsbiologie (ESEB)“ in Turin im August 2009 hielt Massimo
Pigliucci einen interessanten Plenarvortrag über die Geschichte und den Stand der
Evolutionstheorie, dessen wesentliche Punkte wegen ihrer Bedeutung für unser Thema im
Folgenden zusammengefasst werden. Das Buch zu dem Workshop, auf dem dieser Vortrag
gründet 5 wird dieses Frühjahr (2010) erscheinen.
1.2. Die Entwicklung der Evolutionstheorie
Die Evolutionstheorie befasst sich mit den Mechanismen, die hinter dem Evolutionsprozess
stehen. Diese werden nach und nach immer besser erkannt. Massimo Pigliucci vergibt für die
verschiedenen Entwicklungsstufen der Evolutionstheorie zur Veranschaulichung
Versionsnummern, wie man sie Computerprogrammen gibt. Version 1.0 der
Evolutionstheorie ist der Darwinismus, der die natürliche Selektion als die treibende Kraft
etabliert. Version 1.1 ist der Neodarwinismus, der auf Wallace und Weissman zurückgeht und
die Vererbung erworbener Eigenschaften (Lamarckismus) ablehnt, da Vererbung nur über die
Keimbahn geschieht. Version 2.0 geht auf Fisher, Haldane und Wright zurück, die ab den
1920er Jahren die mendelschen Gesetze mit einer mathematisch-statistischen Formulierung
von Evolutionsprozessen verbanden. Die von ihnen begonnene moderne Synthese von
Genetik und Evolution fand ihre Vollendung (Version 2.1) durch die Arbeiten von
Dobshanski, Huxley, Mayr, Simpson, Stebbins, u.a., die in die Theorie die Variationen
natürlicher Populationen, den Prozess der Speziesbildung und die verschiedenen
Paarungssysteme integrierten. Heute entwickelt sich laut Pigliucci die Evolutionstheorie zu
einer Version 3.0, die als erweiterte moderne Synthese die vielen aktuellen
Forschungsergebnisse zur Evolution integriert. Hier ist zunächst die Verbindung von der
Evolutionsbiologie mit der Entwicklungsbiologie zu nennen („Evo-Devo“). Man ist heute der
Auffassung, dass wichtige evolutionäre Änderungen durch solche Mutationen bewirkt
wurden, die die Embryonalentwicklung modifiziert haben. Die Embryonalentwicklung baut
aus dem „Genotyp“ (dem Erbgut) den „Phänotyp“ (den Organismus mit seinen Funktionen
und seinem Verhalten). Während Mutationen den Genotyp verändern, wirkt die Selektion auf
den Phänotyp. Der Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp ist extrem komplex.
Man kann dies sogar schon an einer einzelnen Zelle sehen, deren faszinierendes Netzwerk
4
Francis S. Collins, Gott und die Gene: Ein Naturwissenschaftler begründet seinen Glauben. Gütersloher
Verlagshaus, 2007. Das englische Original erschien unter dem Titel „The Language of God“ (Free Press, 2007).
5
Evolution-The Extended Synthesis. M. Pigliucci und G.B. Müller (Hrg), MIT Press (2010).
von ineinander greifenden Signalkaskaden, Stoffwechselvorgängen und
Genregulationsmechanismen von der Systembiologie bisher erst ansatzweise verstanden ist.
Ein besseres Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem Erbgut und der Entwicklung
und Funktionsweise eines Organismus ist unabdingbar für ein besseres Verständnis von
evolutionären Abläufen. Dieser Zusammenhang wird durch die phänotypische Plastizität
noch zusätzlich verkompliziert, also dadurch, dass genetisch identische Organismen je nach
Umweltbedingungen während ihrer Entwicklung einen verschiedenen Phänotyp ausbilden
können und somit gleichzeitig an mehrere Umweltsituationen angepasst sein können. Ein
weiterer wichtiger Baustein der Version 3.0 ist die Erkenntnis, dass Fitnesslandschaften viele
neutrale Richtungen haben. Eine Fitnesslandschaft ist der quantitative Zusammenhang
zwischen dem Genotyp eines Organismus und seiner Fitness, also seiner Fähigkeit zu
überleben und Nachkommen zu produzieren. Wenn es neutrale Richtungen in dieser
Landschaft gibt, kann ein Organismus mit hoher Fitness trotz Mutationen gut angepasst
bleiben. Die Individuen einer Spezies können also genetisch immer verschiedener werden und
dabei gleichermaßen an ihre Umwelt angepasst sein. Die dadurch entstehende Vielfalt bietet
Raum für Anpassungsmöglichkeiten, wenn sich die Umwelt ändert. Ebenfalls wichtig in der
Version 3.0 sind die verschiedenen Selektionsebenen. Lange Zeit herrschte die Auffassung,
dass die Selektion im Wesentlichen auf Individuen wirkt, die besser oder schlechter an ihre
Umgebung angepasst sein können. Inzwischen gibt es aber immer mehr Belege dafür, dass die
Gruppe, in der sich das Individuum befindet, häufig einen mindestens genauso starken
Einfluss auf das Überleben hat. Dies bedeutet, dass in vielen Fällen die Gruppe als Ganzes der
Selektion unterworfen ist. Diese Überlegung lässt sich zu höheren Hierarchieebenen
fortsetzen. Letztlich spielt das gesamte Ökosystem eine entscheidende Rolle für das
Überleben von Organismen. Zur Version 3.0 gehören noch zwei weitere Effekte, die die auf
ein Individuum wirkenden Selektionskräfte reduzieren. Der eine ist die
„Nischenkonstruktion“: Ein Organismus ist nicht unbedingt darauf angewiesen, die für ihn
passende Nische in der Umwelt zu finden. Er kann sich seine Nische gestalten. Ein Meister in
der Nischenkonstruktion ist der Mensch, der es sich in allen Klimazonen auf der Erde
wohnlich eingerichtet hat und dort ziemlich unabhängig von seiner genetischen Konstitution
überleben kann. Der zweite Effekt ist die Weitergabe von nichtgenetischer Information an die
nächste Generation. Hier ist zunächst die Epigenetik zu nennen, also die vielen Markierungen,
die an der DNA angebracht sind, und die Art und Weise, wie die DNA zusammengepackt
wird. Aber auch viele nicht genetisch fest verdrahtete Verhaltensweisen werden an die
nächste Generation weitergegeben, wie z.B. Jagdstrategien oder das Verwenden von
Werkzeugen. Schließlich ist noch das große Gebiet der Selbstorganisations- und
Komplexitätstheorie zu nennen. Viele Muster oder Strukturen bilden sich automatisch aus,
wenn gewisse Bausteine zusammenkommen, während andere Strukturen aus denselben
Gründen unmöglich sind. Dies bedeutet, dass es hier nichts zu tun gibt für die Selektion, da
höhere Gesetze bestimmen, was passiert.
Die Schlussfolgerung aus all diesen Erkenntnissen ist, dass natürliche Selektion längst nicht
so wichtig ist, wie man lange Zeit geglaubt hat, da die eben aufgezählten Effekte ebenfalls
eine bedeutende Rolle spielen. Die Evolutionstheorie wird dadurch komplizierter, und sie
wird dadurch befreit von einigen negativen Etiketten wie „Kampf aller ums Überleben“,
„beständiges Aussieben des Untauglichen“, „Recht des Stärkeren“. Leider begegnet man trotz
dieser aufregenden Entwicklungen immer wieder der Auffassung, dass der Evolutionsprozess
eigentlich schon vollständig verstanden sei und dass durch zufällige Mutationen und
anschließende Selektion alles erklärt werden könne.
1.3.
Wo der Zufall hereinspielt
An welcher Stelle manifestiert sich der Zufall in der Evolution? Der Zufall ist sowohl auf der
genetischen Ebene beteiligt, als auch bei den Umweltbedingungen. In diesem Beitrag werde
ich nicht auf letztere, also die Auswirkungen von zufälligen, also fluktuierenden und nicht fest
vorhersagbaren Umweltbedingungen eingehen. Auf genetischer Ebene gibt es mehrere Arten
von zufälligen Prozessen. Dies ist zum einen die Mischung des Erbguts der beiden Eltern bei
der sexuellen Fortpflanzung. Zum anderen finden zufällige Mutationen statt. Zum dritten
können alle Organismen in kleinerem oder größerem Ausmaß durch horizontalen Gentransfer
fremde DNA aufnehmen. Dieser Gentransport zwischen Spezies geschieht zum Beispiel
durch Viren. Freilich werden nur solche genetischen Veränderungen an die nächste
Generation weitergegeben, die sich in der Keimbahn ereignen. Weiter unten werden wir die
verschiedenen Arten von Mutationen genauer betrachten und diskutieren, inwiefern sie
zufällig sind und inwiefern daraus folgt, dass auch ihre Auswirkungen zufällig sind. Doch
zunächst müssen wir uns damit befassen, was unter Zufall zu verstehen ist.
2. Zufall
2.1.
Wahrscheinlichkeiten
Ein Physiker spricht dann vom Zufall, wenn ein Ereignis nicht im Voraus berechnet werden
kann. Solche Ereignisse sind zum Beispiel der Ausgang eines Münzwurfs, die Anordnung der
Regentropfen auf der Steinfliese, der Zerfall eines radioaktiven Atoms, oder der nächste
Autounfall. Dass ein Ereignis nicht vorhergesagt werden kann, bedeutet nicht, dass es völlig
willkürlich und regellos stattfindet. Auch der Zufall hat seine Gesetze. Wir wollen das am
Beispiel eines Würfels erläutern. Auch wenn man nicht vorhersagen kann, welche Zahl als
nächstes kommt, kann man doch sagen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die nächste
Zahl eine 6 ist, 1/6 beträgt. Außerdem weiß man, dass wenn man sehr oft würfelt, der Anteil
der Würfe mit dem Ergebnis 6 sich immer mehr dem Wert 1/6 nähert. Man kann andere
Würfel konstruieren, die ungleiche Flächen haben und deshalb die verschiedenen möglichen
Zahlen mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten ergeben.
Um mit dem Zufall wissenschaftlich arbeiten zu können, benötigt man also
Wahrscheinlichkeiten. Es gibt im Prinzip zwei Wege, um Wahrscheinlichkeiten zu ermitteln.
Der eine Weg geht über eine genaue Kenntnis des Prozesses. Beim Würfeln wissen wir, dass
jede Zahl mit der Wahrscheinlichkeit 1/6 resultieren muss, weil keine der sechs Zahlen
bevorzugt ist. Der andere Weg, Wahrscheinlichkeiten zu erhalten, geht über Statistiken.
Davon leben zum Beispiel die Versicherungen. Sie wissen zwar nicht, wessen Haus als
nächstes brennen wird, aber sie wissen, wie häufig Brände sind. Daraus ergibt sich die
Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Feuers bei einem bestimmten Versicherten, und so
kann man Versicherungsprämien berechnen.
Wenn man weder die Abläufe genau versteht, die hinter einem Ereignis stecken, noch eine
gute Statistik hat für diese Sorte Ereignis, weiß man auch keine Wahrscheinlichkeiten und
kann keine quantitative Wissenschaft zu diesem Ereignis betreiben. Dies möchte ich an zwei
Beispielen illustrieren: Mein erstes Beispiel ist die Feinabstimmung der Naturkonstanten. Es
hat sich herausgestellt, dass wenn die Werte der Naturkonstanten nur ein wenig anders wären,
das Universum keine Sterne, Planeten und Leben hervorbringen könnte. Daraus folgern
einige, dass es sehr unwahrscheinlich gewesen sein muss, dass unser Universum entstanden
ist. Dies führt dann auf die Theorie des „Multiversums“, also von sehr vielen Universen, von
denen jedes einen zufälligen Satz von Naturkonstanten hat, und auf diese Weise könne es
doch passieren, dass eines auch die für eine komplexe Chemie und für Leben richtigen
Konstanten hat. Die unausgesprochene Annahme, die hinter diesen Gedanken steckt, ist die,
dass beim Entstehen eines Universums die Naturkonstanten aus einem breiten Bereich von
Werten zufällig ausgewählt werden. Diese Annahme ist auf nichts gegründet. Wir wissen
weder, durch welche Mechanismen beim Entstehen eines Universums die Werte der
Naturkonstanten entstehen, noch haben wir die für eine statistische Auswertung nötigen
vielen Universen, aus denen wir die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Werte der
Naturkonstanten ermitteln können. Also hat die Behauptung, dass es extrem unwahrscheinlich
gewesen sei, dass unser Universum genau die richtigen Werte der Naturkonstanten hat, keine
wissenschaftliche Grundlage.
Mein zweites Beispiel sind kreationistische Argumente gegen Evolution. Bei diesen
Argumenten werden oft Wahrscheinlichkeiten dafür bestimmt, dass eine gewisse Struktur
(z.B. die Geißel der Kolibakterien) „allein durch Evolution“ entstanden ist. Es stellt sich dann
immer heraus, dass diese Wahrscheinlichkeit so klein ist, dass die Struktur nicht so entstanden
sein kann. Es wird gefolgert, dass Gott sie gemacht hat. Wer solche
Wahrscheinlichkeitsargumente macht, beginnt immer mit einer Annahme über den (angeblich
von Wissenschaftlern geglaubten) Entstehungsprozess der Struktur. Oft ist es das
gleichzeitige zufällige Zusammenkommen der für diese Struktur nötigen Bestandteile. Dann
mag zwar die Schlussfolgerung stimmen, dass die Struktur auf die postulierte Weise nicht
entstanden sein kann. Doch ein derartiges Entstehungsszenario wird von den Wissenschaftlern
überhaupt nicht postuliert. Man weiß zwar für viele Prozesse die Details noch nicht gut
genug, dass man fundierte Wahrscheinlichkeitsberechnungen für sie anstellen könnte. Aber
man ist dabei, immer bessere Vorstellungen von realistischen Szenarien zu entwickeln. Diese
sind keineswegs so horrend unwahrscheinlich wie die naiven Szenarien, die in den erwähnten
Argumenten konstruiert werden.
2.2.
Hintergründe des Zufalls
Wenn man ein Ereignis nicht im Voraus berechnen kann, kann dies zwei Gründe haben:
entweder man hat nicht genügend Wissen über die Situation, oder das Ereignis liegt
tatsächlich nicht im Voraus fest. Das Erstere trifft zu bei deterministischen Abläufen.
Deterministisch bedeutet, dass die Ausgangssituation in Verbindung mit den Naturgesetzen
die zukünftigen Abläufe eindeutig festlegt, so wie man es von den Planetenbewegungen
kennt, die den Gesetzen der Newtonschen Mechanik gehorchen. Würde man also exakt
dieselbe Ausgangssituation noch einmal präparieren, würde sich auch exakt derselbe
Zeitverlauf noch einmal ergeben. Im Zuge der Erfolge der klassischen Physik, die auf
deterministischen Gesetzen beruht, machte sich bei vielen Wissenschaftlern die Überzeugung
breit, dass diese Eigenschaft physikalischer Gesetze etwas über das Wesen des Universums an
sich aussage, das daher ebenfalls deterministisch sei. Wenn wir ein Ereignis nicht im Voraus
berechnen können, dann läge das also nur an unserer Unkenntnis der genauen
Ausgangssituation oder unserer Unfähigkeit, die in vielen Fällen komplizierte Berechnung des
Zeitverlaufs praktisch durchzuführen. Gegen diese deterministische Weltsicht lässt sich aus
wissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht viel einwenden. Ich beschränke
mich hier auf die wissenschaftlichen Argumente. Von wissenschaftlicher Seite ist der
Determinismus vor allem durch die Quantenmechanik und die Chaostheorie erschüttert
worden. Nach allem, was wir wissen, gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen einem
radioaktiven Atom, das zu einem Zeitpunkt zerfällt und einem gleichen Atom, das zu einem
anderen Zeitpunkt zerfällt. Die Quantenmechanik liefert uns nur die Wahrscheinlichkeiten
dafür, dass ein Atom früher oder später zerfällt. Diese Wahrscheinlichkeiten lassen sich aus
den Eigenschaften der Atombausteine ausrechnen. Hier hat also der Zufall explizit Einzug in
physikalische Theorien erhalten.
Durch die Chaostheorie haben wir gelernt, dass eine noch so gute Kenntnis der
Ausgangssituation nichts daran ändern kann, dass wir den Zeitverlauf eines chaotischen
Systems nur über kurze Zeit vorhersagen können. Dies liegt daran, dass eine winzig kleine
Änderung der Anfangssituation sich nach kurzer Zeit spürbar auf den Zeitverlauf auswirkt. Da
sowohl praktisch als auch theoretisch der Kenntnis der Ausgangssituation immer Grenzen
gesetzt sind, spricht also neben der Quantenmechanik auch die Chaostheorie gegen eine
deterministische Weltsicht. Es gibt also Zufall im Sinn von echter Unbestimmtheit. Die
Zukunft ist durch die Gegenwart, kombiniert mit den Naturgesetzen, nicht vollständig
festgelegt.
2.3.
Interpretationen des Zufalls
In der Alltagssprache und auch in der populärwissenschaftlichen Literatur wird der Zufall auf
viele verschiedene Weisen interpretiert: von den einen er wird als blind, ziellos, sinnlos,
willkürlich oder ursachenlos bezeichnet. Doch daraus, dass eine naturwissenschaftliche
Beschreibung keinen Sinn und kein Ziel kennt, folgt nicht zwangsläufig, dass ein zufälliges
Ereignis nicht von Gott gewollt, gewusst, oder verursacht sein kann. Es folgt nur, dass im
Rahmen einer innerweltlichen, auf Naturgesetzen basierenden Beschreibung das Ereignis
nicht im Voraus festliegt. Die Interpretation des Zufalls als göttliche Fügung oder des
Indeterminismus als Fenster für Gottes Wirken ist genauso mit der naturwissenschaftlichen
Beschreibung vereinbar wie die obige nihilistische Interpretation. Weltanschaulich weniger
befrachtete Interpretationen des Zufalls betonen, dass er die Vorraussetzung für einen Freien
Willen, für Kreativität und für das Entstehen von Neuem sei, also auch für einen
Evolutionsprozess.
3. Evolution und Zufall
3.1.
Zufall und Mutationen
Mutationen sind zufällige Ereignisse, da der Zeitpunkt und Ort einer Mutation nicht
vorhergesagt werden kann. Es gibt verschiedene Arten von Mutationen. Punktmutationen sind
die Ersetzung eines Nukleotids der DNA durch ein anderes. Dies passiert als Folge von
Schädigung durch chemische oder physikalische Prozesse, oder als Kopierfehler beim
Duplizieren der DNA. Auf dieselbe Weise geschehen auch Löschungen und Einfügungen von
Nukleotiden. Punktmutationen, die beim Duplizieren der DNA entstehen, werden durch
ausgeklügelte Korrekturmechanismen so gut korrigiert, dass pro Generation nur eine
Punktmutation in 50 Millionen Basenpaaren entsteht. Dies bedeutet allerdings immer noch,
dass ein menschliches Kind gegenüber seinen Eltern mehr als 100 Punktmutationen hat.
Durch Punktmutationen kann zum Beispiel ein Protein feinabgestimmt werden. Für größere
evolutionäre Veränderungen macht man allerdings nicht Punktmutationen verantwortlich,
sondern Genduplikationen und Transpositionen. Es gibt Mechanismen, durch die Gene oder
größere Teile der DNA verdoppelt oder gar vervielfacht werden. Als Folge können die
zusätzlichen Gene sich anders spezialisieren als die ursprünglichen Gene. Für Änderungen der
Genregulation macht man u.a. Transpositionen verantwortlich. Dabei werden Abschnitte der
DNA, sogenannte Transposonen, an eine andere Stelle versetzt oder kopiert. 50 Prozent
unseres Erbguts bestehen aus solchen Transposonen, wobei viele von ihnen freilich schon alt
sind und nicht mehr mobilisiert werden können. Transposonen gehen ursprünglich wohl auf
Retroviren zurück, die sich in die DNA eingefügt haben. Die Aktivität von Transposonen
wird durch die Zelle reguliert und normalerweise unterdrückt. Aber in Zeiten von Stress,
wenn Anpassung an neue Umweltbedingungen erforderlich ist, werden die Transposonen
freigegeben. Da sich zumindest einige Arten von Transposonen bevorzugt in die
Promoterregion einfügen, also den Bereich, der die Genexpression reguliert, wird durch
Transpositionen die Art und Weise modifiziert, in der Gene reguliert werden6.
Auch wenn eine einzelne Mutation oder Transposition nicht vorhergesagt werden kann,
folgen derartige genetische Veränderungen durchaus gewissen Gesetzen. Transposition
geschehen unter verschiedenen Umweltbedingungen verschieden häufig, und Transposonen
fügen sich an verschiedenen Stellen der DNA mit verschiedener Wahrscheinlichkeit ein. Dies
ist so, als ob jemand zu verschiedenen Zeiten verschieden oft würfeln würde, und je nach
Situation auch noch einen andersartigen Würfel nehmen würde. Der Mikrobiologe James
Shapiro von der Universität Chicago interpretiert diese Beobachtungen so, dass die Zelle eine
Reihe von Werkzeugen hat, mit deren Hilfe sie ihre eigene DNA als Antwort auf
Herausforderungen verändern kann. Genetische Veränderungen sind seiner Aussage nach fast
immer durch von der Zelle regulierte Prozesse verursacht7. Ein deutscher Text, in dem
ähnliche Aussagen zu finden sind, ist das (leider mit einem polemischen Unterton
geschriebene) Buch „Das kooperative Gen“ von Joachim Bauer8.
Wir sehen also, dass Mutationen, auch wenn bei ihnen der Zufall beteiligt ist, mit Gesetzen
einhergehen, die bestimmen, wann und wo Mutationen welcher Sorte wie häufig auftreten.
Doch nicht nur die Entstehung einer Mutation ist von Gesetzmäßigkeiten umgeben, sondern
auch die Auswirkung von Mutationen unterliegt Gesetzen. Wie sich die veränderte DNA auf
die Prozesse in der Zelle und auf die Embryonalentwicklung auswirkt, wird durch ein
komplexes Netzwerk von Regelkreisen und Wechselwirkungen in der Zelle bestimmt. Diese
Überlegungen veranlassen uns dazu, im nächsten Abschnitt einige grundsätzliche Gedanken
über das Zusammenspiel von Zufall und Gesetzen anzustellen.
3.2.
Das Zusammenspiel von Zufall mit Gesetzen
Wir können uns das Zusammenspiel von Zufall und Gesetzen am besten anhand von
Würfelbrettspielen wie Mensch-ärgere-dich-nicht veranschaulichen. Durch den Würfel hat der
Zufall für das Spiel eine wichtige Bedeutung. Das Gesetz liegt in Form von Spielregeln vor,
die bestimmen, wer wann würfeln darf und was als Folge des Würfelergebnisses zu tun ist.
Während des Spiels kann das Spielbrett viele verschiedene Konstellationen annehmen. Dabei
hat das Spiel eine eindeutige Zeitrichtung: mit der Zeit erreichen immer mehr Spielsteine das
Ziel. Wird solange weitergespielt, bis auch der letzte Spieler alle Steine ins Ziel gebracht hat,
ist das Endergebnis des Spiels sogar völlig eindeutig. Das Zusammenspiel von Zufall und
Gesetz führt bei diesem Spiel also trotz vielfältiger Zwischenergebnisse immer zu demselben
Endergebnis. Natürlich kann man sich auch Spiele ausdenken, bei denen nie ein definitiver
Endzustand erreicht wird, sondern alle Steine für alle Zeiten über das Spielbrett irren.
Diese Überlegungen zeigen, dass allein die Tatsache, dass bei einem Prozess viel Zufall
beteiligt ist, noch nicht bedeutet, dass auch das Endergebnis unvorhersagbar und bei jeder
Wiederholung des Prozesses völlig anders ist. Ein Prozess, bei dem Zufall und Gesetze
zusammenspielen, kann durchaus zu eindeutigen Resultaten oder zu einer stark eingegrenzten
Menge von qualitativ gleichwertigen Resultaten führen. Es stellt sich daher die Frage, zu
welcher Kategorie von Spielen der Evolutionsprozess gehört. Stephen J. Gould aus Harvard
war der Meinung, dass der Evolutionsprozess unvorhersagbar ist und auch völlig anders hätte
6
Eine aktuelle Untersuchung darüber, wo sich Transposonen einfügen, wurde vor Kurzem an Reis durchgeführt.
Die Ergebnisse von Ken Naito und seinen Koautoren wurden im Oktober 2009 in der Zeitschrift Nature (Bd.
461, S. 1130) veröffentlicht.
7
Mehrer Artikel von J. Shapiro zu diesen Überlegungen hat der Autor auf seiner Webseite
http://shapiro.bsd.uchicago.edu/index3.html?content=genome.html gepostet.
8
Erschienen bei Hoffmann und Campe 2008.
verlaufen können9. Simon Conway Morris aus Cambridge argumentiert im Gegensatz dazu,
dass im Laufe der Evolution immer wieder ähnliche Lösungen auf ähnliche
Herausforderungen gefunden wurden. Man nennt dieses Phänomen konvergente Evolution.
3.3.
Konvergente Evolution
In seinem Buch „Jenseits des Zufalls“ 10 bringt Simon Conway Morris viele Beispiele für
konvergente Evolution. Bei den Sinnesorganen ist sie immer wieder zu finden. So haben
Wirbeltiere, Tintenfische und sogar Quallen und Schnecken unabhängig voneinander ein
Kameraauge bekommen, das immer nach denselben Prinzipien funktioniert, wenn es auch im
Detail auf anderem Weg realisiert wurde. Auf der Ebene des Körperbaus gibt es frappierende
Beispiele von konvergenter Evolution zwischen den Beuteltieren und den höheren
Säugetieren. Tiere, die jeweils dieselbe Nische besetzen, sehen sich sehr ähnlich. Es gibt bzw.
gab bei Beuteltieren und höheren Säugetieren jeweils eine Maus, einen Maulwurf, einen Wolf
und ein Gleithörnchen. In der englischen Tageszeitung „The Guardian“ formulierte Conway
Morris in einer Kolumne zu Darwins 200. Geburtstag seine Schlussfolgerungen aus diesen
Beobachtungen folgendermaßen: „Es ist inzwischen legitim geworden, über eine Logik in der
Biologie zu reden. Dieses Wort hört man nicht von vielen Neo-Darwinisten. Trotzdem folgt
Evolution offensichtlich grundlegenden Gesetzen. Diese Gesetze sind natürlich
wissenschaftlich, aber sie übersteigen den Darwinismus. Was! Der Darwinismus ist nicht die
vollständige Erklärung? Warum sollte er es sein? Er ist trotz allem nur ein Mechanismus,
aber wenn Evolution vorhergesagt werden kann und sogar eine Logik besitzt, dann folgt sie
offensichtlich tieferliegenden Prinzipien. Denk doch, so ist es bei jeder Naturwissenschaft.
Warum sollte der Darwinismus eine Ausnahme sein?“ 11
4. Schlussgedanken
Mit dem letzten Absatz des vorigen Kapitels kam ein Spitzenwissenschaftler der
Evolutionsbiologie zu Wort, der aufgrund seiner Beobachtungen der Überzeugung ist, dass
der Evolutionsprozess tieferliegenden Gesetzen folgt. Es ist wie mit einem Fluss, der nicht
überall fließen kann, sondern dem von der Landschaft mit ihren Bergen und Tälern wenige
Optionen vorgegeben werden. Die naive Vorstellung, dass im Evolutionsprozess im Prinzip
alles möglich, aber halt sehr unwahrscheinlich ist, muss der Erkenntnis weichen, dass nur
relativ wenige Dinge möglich sind, aber dass diese wiederholt passiert sind. Diese Sichtweise
passt sehr gut zusammen mit dem, was die Physiker über Prozesse wissen, bei denen Zufall
mit Gesetzen zusammenspielt. Ich habe anhand der Analogie eines Spiels argumentiert, dass
solche Prozesse zu Endergebnissen mit vorhersagbaren Eigenschaften führen können. Das
gesamte Feld der statistischen Physik, die mein Forschungsgebiet ist, befasst sich genau mit
diesem Thema. Wer freilich das Spiel nicht gut genug durchschaut, ist von den Ergebnissen
überrascht. Die Biologie hat gerade erst damit begonnen, die Details der Regeln des Spiels
„Evolution“ zu erarbeiten. Das extrem komplexe Wechselspiel von Genen, Stoffwechsel,
Embryonalentwicklung, Organismus und Umwelt, das für den Evolutionsprozess
entscheidend ist, wird auf allen Ebenen intensiv erforscht.
9
S.J.Gould, Illusion Fortschritt. Fischer (Tb.), Frankfurt; 3. Aufl.age 2004.
S. Conway Morris. Jenseits des Zufalls: Wir Menschen im einsamen Universum. Berlin University Press 2008.
Das englische Original erschien 2004 bei Cambridge University Press unter dem Titel „Life’s Solution:
Inevitable Humans in a Lonely Universe.“
11
http://www.guardian.co.uk/global/2009/feb/12/simon-conway-morris-darwin
10
Zum Schluss möchte ich zum Eingangsthema zurückkommen: wie lassen sich die Zufälligkeit
des Evolutionsprozesses und der allmächtige Schöpfer zusammen denken? Die Wissenschaft
entdeckt immer mehr, wie wunderbar komplex die Prozesse sind, die das Leben steuern und
regulieren. Der Evolutionsprozess war nicht eine Serie von Kopierfehlern, die ab und zu ein
Lebewesen besser an seine Umwelt angepasst haben. Die Mechanismen, durch die sich das
Erbgut verändert, sind durch die Zelle selbst kontrolliert, so dass Mutationen nicht immer und
überall mit derselben Wahrscheinlichkeit erfolgen. Mutationen ermöglichen dem oben
erwähnten „Fluss“ des Lebens, die verschiedenen Richtungen abzutasten und auszuloten, in
welcher Richtung der Flusslauf weitergehen kann. Die Rolle des Zufalls besteht darin, in
einem sinnvoll ausgewählten Möglichkeitsraum eine jetzt gerade gute Lösung zu suchen.
Dieses Verständnis des Evolutionsprozesses passt sehr gut zur Vorstellung von Gott als dem
Schöpfer, der sich eine wunderbar vielfältige und komplexe Welt ausgedacht hat mit all den
Mechanismen, nach denen sie funktioniert, der sie aber nicht bis in jedes Detail festlegt,
sondern ihr auch die Freiheit gibt, sich in gewissen Grenzen selbst zu entfalten.
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