A ngst Christian Jost Bedenkt man das menschliche Dasein, so ist es viel erklärungsbedürftiger, dass der Mensch meist keine Angst hat, als dass er manchmal Angst hat. Kurt Schneider Angst. 5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst für gemischten Chor, Chorsolisten und Instrumentalensemble Christian Jost Texte von Friedrich Hölderlin und Christian Jost in deutscher Sprache Premiere A am 21. April 2016, 19.30 Uhr Premiere B am 23. April 2016, 19.30 Uhr Staatstheater Darmstadt, Großes Haus Uraufführung: 28. Januar 2006 in den Sophiensælen Berlin Angst spüren heißt Mensch sein. Egon Fabian Die Inszenierung ist eine Weiterentwicklung der 2010 für das Deutsche Nationaltheater Weimar entstandenen Produktion. Siula Grande, Peru Im Juni 1985 bestiegen Joe Simpson und Simon Yates den 6344 m hohen Siula Grande in den peruanischen Anden über die Westwand. Beim Abstieg stürzte Simpson und zog sich einen komplizierten Beinbruch zu – in dieser Höhe eigentlich ein Todesurteil. Yates entschied sich zu einer riskanten Rettungsaktion und seilte den schwer verletzten und unter unerträglichen Schmerzen leidenden Kameraden in Etappen ab. Dabei rutschte Simpson bei schlechter Sicht jenseits der Hörweite über eine überhängende Eiskante. Frei in der Luft hängend konnte er das Seil nicht mehr entlasten und zog Yates, dessen Schneesitz allmählich unter ihm wegbrach, mit seinem Gewicht unaufhaltsam in die Tiefe. Im Unklaren über die jeweilige Situation des Anderen harrten beide so über eine Stunde im Schneesturm aus und erwarteten jede Sekunde den gemeinsamen Absturz. Dann erinnerte sich Yates an ein Taschenmesser in seinem Rucksack und durchtrennte, ohne lange zu überlegen, das Seil. Simpson stürzte in eine Gletscherspalte, es gelang ihm jedoch trotz des gebrochenen Beins in einer tagelangen Odyssee ohne Nahrung und Wasser zum Basislager zurückzukriechen. Auch Yates überlebte. Simpson verarbeitete seine Erlebnisse später zu dem Bestseller Touching the Void (Sturz ins Leere), auf dessen Grundlage auch unter seiner Mitwirkung der gleichnamige Dokumentarfilm entstand. Diese wahre Begebenheit bildet den Ausgangspunkt für die Choroper Angst, insbesondere der Pforten I und V. In I evoziert der Chor die äußere Situation und inneren Stimmen des Bergsteigers, der abgeseilt wird, bis zum Sturz über die Eiskante ins Leere. V kehrt nach drei Exkursen zu künstlerischer Verarbeitung (II), psychologischer Grundlage (III) und naturwissenschaftlicher Erklärung (IV) der menschlichen Grundemotion Angst zu dieser Geschichte zurück: Hier reflektiert der Chor den Impuls des oberen Bergsteigers das Seil zu durchtrennen. Z ur G ru n dsi t ua t i o n 3 5 Mark Schachtsiek Zu Christian Josts Choroper Angst Oder: Wie aus einem Erlebnis jenseits aller Beschreibbarkeit Kunst wird Hinzufügen kann ich nur: So schlimm sich der Leser unsere Erlebnisse auch vorstellen mag, für mich vermittelt das Buch trotz allem nicht, wie entsetzlich diese einsamen Tage tatsächlich waren. Ich habe keine Worte gefunden, die diese Erfahrung grenzenloser Verlassenheit vermitteln könnten. Joe Simpson Den Ausgangspunkt von Christian Josts Choroper Angst bildet ein reales, kaum nachvollziehbares Erlebnis: Joe Simpsons Sturz ins Leere und die qualvollen Tage, die auf ihn folgten – Tage äußerster Einsamkeit, ohne Wasser, ohne Nahrung mit einem gebrochenen Bein irgendwo mitten in den Anden. Bei aller Faszination für die schonungslose Offenheit, mit der Simpson in seinem Buch seine Todesangst, die allmähliche Selbstaufgabe und den Beginn des Sterbens nachzeichnet, bleibt seine persönliche Erfahrung in ihrer existenziellen Bedeutung für den Leser doch unerreichbar. Erfahrung und Erzählung treten schon für ihn selbst auseinander: „Ich habe die Geschichte so oft erzählt, dass sie unwirklich geworden ist.“ Dieser Befund entspricht den Erkenntnissen der Hirnforschung: Angstbesetzte Situationen werden im Gehirn auf andere Weise verarbeitet als normale Erinnerungen. Es kommt zur Trennung zwischen expliziten Erinnerungen und den traumatischen Erfahrungen, die unmittelbar in der Amygdala, jenem Teil des Gehirns, der u.a. für Flucht- und Verteidigungsbereitschaft zuständig ist, verarbeitet und gespeichert werden, oft als Bild, Geruch, Klang oder körperliche Empfindung. Ein aktiver Zugriff auf diese Informationen ist nicht möglich, trotzdem können sie traumatisierte Menschen während so genannter Flashbacks unvermittelt heimsuchen. Auch für Simpson wurde die zurückliegende Angsterfahrung plötzlich wieder Realität und Gegenwart, als er für den Dokumentarfilm Touching the Void (Sturz ins Leere) an den Ort des Geschehens zurückkehrte. Erst dadurch erkannte er, dass er sie in ihrer konkreten Beschaffenheit längst vergessen hatte. Wenn aber schon derjenige, der die Angst erlebt, in dessen Körper sie sich eingeschrieben hat, keinen Zugriff auf sie hat, sie nicht verarbeiten, geschweige denn verbalisieren oder einen anderen Ausdruck für sie finden kann, wie soll sie dann zum Zentrum einer Oper eines anderen werden können? Christian Jost wählt den Weg der Recherche, nicht der Präsentation der Emotion selbst und macht sich dabei statt des Erlebnisses unser kollektives kulturelles, psychologisches und neurobiologisches Wissen um die Angst künstlerisch zu Eigen. Er reduziert die Geschichte auf eine prägnante Situation, die er aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, und verzichtet vollständig auf Protagonisten, die mit den Bergsteigern assoziiert werden könnten. Stattdessen vertraut er das Evozieren und Diskutieren ihrer Emotionen dem Kollektiv des Chores an. Seine Metapher für diesen Weg ist die „Reise“, eine allmähliche Annäherung in fünf einzelnen, deutlich voneinander geschiedenen Zugängen, die er „Pforten“ nennt. So umkreist der Chor das Thema Angst, ohne dass diese jemals existenzielle Bedeutung für ihn selbst gewinnt. Ihr eigentlicher Kern bleibt unerreichbar und verborgen. Die erste Pforte „Fallen“ hat die Funktion einer Exposition. Aus der Stille heraus wird allmählich die Situation der beiden Bergsteiger entwickelt, die auf Simpsons Beinbruch beim Abstieg vom Siula Grande folgte: den (in Zur Grundsituation bereits beschriebenen) Rettungsversuch durch Simon Yates. Zunächst wird der Prozess des etappenweisen Abseilens nachvollzogen und von Simpsons Schmerzen berichtet, wenn die Steigeisen am Stiefel seines verletzten Beines im Schnee hängen bleiben. Schließlich folgen auf die Erkenntnis, dass der Hang steiler wird und sich das Tempo zunehmend erhöht, der scheiternde Versuch mithilfe der Eispickel zum Halten zu kommen, der Sturz über die Kante, der Fall ins Seil und schließlich der Beginn des hilflosen Wartens auf den endgültigen Absturz oder einen langsamen Tod durch Erfrieren. Die Stimmen des Chores nehmen dabei wechselnde Haltungen zum Geschehen ein, mal scheinen sie Simpson direkt zuzurufen, mal beschreiben E s s ay 4 sie die Situation von außen, mal berichten sie aus seiner Perspektive. Satzfetzen im Präsens stehen neben Satzfetzen in Vergangenheitsformen. So changiert Pforte I zwischen einer Livereportage und dem Botenbericht eines antiken Tragödienchores, der ein nicht darstellbares grausames Geschehen der Vergangenheit für die Gemeinschaft zurück in die Gegenwart holt. Zugleich fungiert der vielstimmige Satz als dramatisches Mittel die Gedankenvielfalt einer typischen Stresssituation erfahrbar zu machen. Es waren widerstreitende Stimmen in seinem Kopf, befehlende und tröstende, die Simpson überleben ließen. Diese Erfahrung zeichnet Jost nach. Dann folgt ein vollständiger Bruch mit der bisherigen dramatischen Situation: Wie aus einer anderen Welt herüberklingend setzt betörend schöner Gesang von sechs Frauenstimmen a capella ein. Dies ist die zweite Pforte „Hölderlin“, der die berühmte Ode An die Parzen von Friedrich Hölderlin zugrunde liegt: Ein Dichter versucht selbstbewusst mit den römischen Schicksalsgöttinnen über die ihm für seine künstlerische Vollendung verbleibende Lebenszeit zu verhandeln. Natürlich gibt es hier eine motivische Verknüpfung über das Seil, an dem Simpson hängt: Die Parzen spinnen, messen und durchtrennen den Schicksalsfaden und bestimmen damit die Lebensdauer eines jeden Menschen. Wichtiger ist jedoch, dass in diesem Exkurs eine erste Möglichkeit sichtbar wird, die Urerfahrung des Menschen Angst zu bewältigen: Ihr eine Form und einen Adressaten zu geben, sie in Kunst zu verwandeln und damit das menschliche Dasein erträglich zu machen. Der Ode liegt auf inhaltlicher wie formaler Ebene die Vorstellung einer Erlösung durch Kunst als einzig gültigem Lebenszweck zugrunde; die kunstvolle musikalische Gestaltung, die an Madrigale des 15. Jahrhunderts erinnert, korrespondiert eng mit dem Hölderlinschen Pathos und bedient sich zur detaillierten Textausdeutung musikalischer Floskeln der Renaissance. Ein mehr an Formbewusstsein ist kaum denkbar. Zusätzlich entrückt Jost die Emotion, indem er die Todesangst des lyrischen Ichs stellvertretend oder wie ein Echo durch die Parzen selbst ausdrücken lässt. Eine Identifikation mit der beschriebenen traumatischen Situation erlaubt zum ersten Mal Pforte III „Kalt“: Der instrumentale Beginn im 3/4-Takt erinnert an ein auf dem Klavier gespieltes deformiertes Wiegenlied, dann 7 wird textlich das Motiv eines allein gelassenen Kindes, das sich vor der Dunkelheit des Kellers fürchtet, mit Anspielungen auf die traumatische Erfahrung geboren zu werden und einzelnen Satzfetzen verknüpft, die auf die Situation Simpsons in der Gletscherspalte – zugleich eine Metapher für den weiblichen Schoß – bezogen werden können. So scheinen albtraumartig montiert Grundannahmen der Psychoanalyse auf, die seit Sigmund Freud und Otto Rank alle menschliche Angst auf das Geburtstrauma und die schmerzvolle Erkenntnis des Säuglings, dass er und die Mutter getrennte Wesen sind, zurückführt. Auch Simpson trieb ein Gefühl der Verlassenheit dazu, immer weiter in Richtung Basislager zu kriechen: „Ich kroch nicht, weil ich daran glaubte zu überleben. Ich glaube, ich wollte einfach jemanden bei mir haben, während ich starb.“ Diese Idee überführt Jost in einen Bereich, der jedem Zuhörer Teilhabe ermöglicht, und lässt die Pforte in die vielstimmige Beschwörung „Lass mich nie mehr allein!“ münden, eine gebetsmühlenartige Wiederholung im Pianissimo, die er selbst als „Verinnerlichung“ beschreibt. Jede einzelne Stimme im Chor, die diesen Satz flüstert, scheint sich mit ihm zu identifizieren. Im Rahmen der individuellen Annäherung wird die Angst allerdings zugleich auf ein erträgliches Maß reduziert. Ein ambivalenter Vorgang: Wie die Kunst erscheint die Psychologie zugleich als ein Mittel, uns die existenzielle Angst in uns ein Stück weit vom Leibe zu halten. Von einer Bewältigungsstrategie könnte man auch in Bezug auf Pforte IV „Amok“ sprechen, deren Text aus einem neurobiologischen Lehrbuch zu stammen scheint. Zugleich thematisiert Jost hier explizit das zentrale Problem eines Zugriffs auf die Erfahrung Angst und dringt damit zum Kern seiner Recherche vor: Am Beispiel eines Folteropfers, das unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, werden sachlich und unpersönlich die chemischen Abläufe in dessen Gehirn beschrieben, die Trennung von Erinnerung und in der Amygdala gespeicherter Erfahrung dem Werk unmittelbar eingeschrieben. Im Zentrum der Pforte steht das plötzliche, anfallartige Wiedererleben früherer Gefühlszustände, wenn sich der Betroffene durch einen Schlüsselreiz, der mit dem traumatischen Erlebnis in Zusammenhang steht – einen Geruch, eine Geste, ein Geräusch, einen E s s ay 6 Ort – plötzlich für einige Sekunden oder Minuten in die damalige Situation zurückversetzt fühlt und sie erneut erlebt. Da bei solchen Flashbacks im Gehirn die gleichen chemischen Prozesse ablaufen, wie in der tatsächlichen Gefahrensituation, sind die unvermittelt auftretenden Ängste oder Schmerzen für den Betroffenen so real wie während des Ereignisses selbst. Eine kurze Ahnung davon erhalten wir während des Altsolos, das mitten aus der sachlichen Darstellung heraus diese Erfahrung plötzlich personalisiert und von der Angst berichtet, „die m i c h treibt und […] Amok in die Leere“ stürzt. Ist dies ein Moment der Einfühlung in Simpson? Bevor man sich diese Frage stellen kann, übernimmt das Instrumentalensemble und evoziert erstmals im Abend rhythmisch die somatischen Aspekte des Phänomens Angst, während der Chor schweigt. Mit Pforte V, „Ab“, kehrt die Suchbewegung schließlich zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Sie beginnt mit jenem Prozess des Abseilens, mit dem auch die erste Pforte begonnen hatte, und deren ersten Worten: „Lass dich fallen!“. Im Fokus ist nun jedoch die Situation des oberen Bergsteigers Simon Yates; beschrieben wird sein Ausharren und Warten im Schneesitz, während das Gewicht des Kameraden ihn unaufhaltsam in die Tiefe zieht. Dabei wird erneut mittels eines vielstimmigen Satzes die Gedankenvielfalt einer Stresssituation evoziert und bis ins 32stimmige gesteigert, bis zu einem Punkt, an dem die Einzelstimmen beim Hören nicht mehr unterschieden werden können und sich zu einem diffusen Klangbild steigern. Das Denken beginnt, sich im Schneesturm aufzulösen. Zugleich löst sich Jost von der realen Geschichte. Zwei Männer und ein Seil in der Einsamkeit der Berge, das ist spätestens seit der Popularisierung des Bergsteigens im frühen 20. Jahrhundert ein Topos. Doch während der obere Bergsteiger sich im klassischen Bergfilm nach einer stürmischen Nacht des Haltens und Bangens in einer paradoxen heroischen Geste der Selbstaufgabe mit dem Kameraden in den Tod stürzt, statt sein eigenes Leben zu retten – so in Arnold Fancks Der heilige Berg (1926), gefolgt vom finalen Stummfilmtitel „Über allem stand ewige Treue“ –, beschreibt Yates die reale Situation ganz anders: „Ich hatte den Punkt erreicht, wo ich mich um mich selbst kümmern musste, [und entschied] […] intuitiv von einer 9 Sekunde zur anderen.“ – und zwar dafür, das Seil durchzuschneiden. Joe Simpson macht sehr deutlich, dass diese Handlung die einzig denkbare und richtige war – trotz allem, was für ihn persönlich auf sie folgte. Andere waren anderer Ansicht: Die Anfeindungen, denen Yates, schnell bekannt als „the man who cut the rope“, nach seiner Rückkehr aus Peru ausgesetzt war, entstanden aus der Spannung zwischen den mythischen Filmbildern von bedingungsloser Hingabe an eine Männerfreundschaft über den Tod hinaus und diesem realen Überlebenswillen. Jost verlegt diese Spannung in einen als Altsolo gestalteten fiktiven inneren Monolog des oberen Bergsteigers, der Fragen der Schuld und Verantwortung reflektiert. Die Sekunde der intuitiven Entscheidung wird so musikalisch ausgedehnt, nur die äußere Handlung entspricht noch den realen Ereignissen: Zuletzt durchschneidet das Messer das Seil. Im Gespräch mit Boris Kehrmann erläuterte Jost, das ihn Angst bei der Genese der Oper auch als inspirierender Motor interessiert habe, als die menschliche Kraft, die es erlaube „die Energie zu schöpfen, den entscheidenden Schritt weiter zu gehen.“ Dieser Schritt steht am Ende der Oper, danach bricht die Erzählung ab. So rückt die Dramaturgie des Abends selbst dort, wo sie nahe am Erlebten bleibt, die mythische Szene von zwei Männern am Seil, nicht die existenzielle Not, die auf sie folgte, in den Mittelpunkt. Dazwischen bilden Kunst, Psychologie und Wissenschaft der Angst das Zentrum. Virtuos und eindrücklich erzählt Jost davon, dass wir uns nur über diese Bewältigungsstrategien dem, was den Menschen in seinem Kern ausmacht, nähern können. Das Naturwissenschaftliche [Pforte 4] löst wie der mythologische Exkurs zu Hölderlin (Pforte 2) und der psychologische in die Welt der Kinderträume (Pforte 3) das Werk von einem subjektiven künstlerischen Ansatz, der mir zu egoman erschien. Angst ist ein emotional zu individuell belegter Begriff, als dass man ihn wertfrei benutzen könnte. […] Darum war es mir von Anfang an wichtig, die subjektive Komponente so weit zu reduzieren, dass die Oper zwar eine starke expressive und emotionale Mitteilbarkeit besitzt, aber nicht erschlagend wirkt. Christian Jost E s s ay 8 I Fallen 13 Angst und Gruppe stehen zueinander in einem Abhängigkeitsverhältnis. […] Das menschliche Individuum sucht die Gruppengemeinschaft, um sich in der Weite der Welt eine von Angst freie Geborgenheit zu schaffen. In und von diesem Hort aus kann es wirken und sich entfalten. […] Die Gruppe entspricht einem Versuch, die Angst zu überwinden. Raymond Battegay Windböen ergriffen mich und ließen mich heftig am Seil herumschwingen, und mit jedem Windstoß kühlte ich stärker aus. Aus diesem entsetzlichen Hängen im Seil würde es keinen Ausweg mehr geben. Weder konnte ich hinaufgelangen, noch würde es Simon je schaffen, mich von hier aus weiter hinunterzubekommen. Ich versuchte nachzurechnen, wie lang es wohl her war, seit ich über die Eiskante gestürzt war, und kam zu dem Schluss, das nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen sein konnte. In zwei Stunden würde ich tot sein. Ich spürte schon, wie sich die Eiseskälte in mir ausbereitete. Schreckensbilder durchzuckten mich, aber selbst die verblassten, als die Angst sich langsam in jedem Winkel meines Geistes und Körpers einnistete. Ich beobachtete interessiert meine Empfindungen und fragte mich, wie sich das Ende wohl anfühlen würde. Zumindest würde es nicht wehtun – darüber war ich schon einmal froh. Die Schmerzen beim Abseilen, als sich die Steigeisen des gebrochenen Beins ständig im Schnee verfingen, hatten mich zermürbt, und jetzt, wo sie vorüber waren, fühlte es sich so ruhig und friedlich an. Oberhalb der Taille kroch die Kälte langsamer voran. Ich stellte sie mir wie etwas Lebendiges vor – etwas, das davon lebte, in meinen Körper einzudringen. Plötzlich sackte ich mit einem scharfen Ruck nach unten und wippte im Seil nach. Simon ließ mich also weiter ab. Ich schrie eine Warnung in die Nacht hinaus. Keine Antwort. Eine halbe Stunde verging. Ich hörte auf, zu Simon hinaufzuschreien. Ich wusste, er war in derselben Lage wie ich – auch er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Entweder würde er in seinem Sicherungssitz sterben oder vom permanenten Zug meines Körpergewichts aus ihm herausgerissen werden. Ich fragte mich, ob ich sterben würde, bevor das geschah. Das Seil ruckte wieder. Ich sank wippend ein paar Zentimeter tiefer. Dann noch einmal. Hatte er etwa den Knoten lösen können? Wieder sank ich tiefer. Hielt an. Dann wusste ich, was gerade geschah. Er stürzte ab. Ich zog ihn herunter. Ich rührte mich nicht und wartete, das es geschah. Jede Minute, jede Minute … aus: Joe Simpson Touching The Void (Sturz ins Leere) II Hölderlin 16 Friedrich Hölderlin An die Parzen. Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, Daß williger mein Herz, vom süßen Spiele gesättiget, dann mir sterbe. Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht Nicht ward, sie ruht auch unten im Orkus nicht; Doch ist mir einst das Heil’ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen, Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel Mich nicht hinab geleitet; Einmal Lebt’ ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht. Wenn der Wanderer in der Dunkelheit singt, verleugnet er seine Ängstlichkeit, aber er sieht darum um nichts heller. Sigmund Freud III Kalt 21 Die Urerfahrung des Menschen mit der Angst ist gleichzeitig die Erfahrung, mit der Angst allein gelassen zu werden. Egon Fabian Komm, beweg dich! Weiter! Steh auf! Noch einmal! Das klang ziemlich beharrlich und es waren klare Ansagen. Fast wie eine Stimme oder ein abgetrennter Teil von mir, der mir Befehle erteilte. Sehr wenig behutsam. Ohne jedes Mitgefühl. Ohne anzuerkennen, dass ich verletzt war. Es war sehr, sehr seltsam. Ein Teil von mir sagt also: Los, weiter! Bleib in Bewegung! Und der andere Teil von mir […] war überzeugt, dass ich die vor mir liegende Etappe nicht mehr schaffen würde. Ich war sicher, dass ich sterben würde. Und ich akzeptierte das auf eine sehr nüchterne Art. Es schien mir unsinnig weiter zu kriechen, wenn ich mir keinen Nutzen davon versprach. Ich glaube, es lag an der Einsamkeit, an diesem Gefühl der Verlassenheit. Das war die ganze Zeit da. Ich kroch nicht, weil ich daran glaubte zu überleben. Ich glaube, ich wollte einfach jemanden bei mir haben, während ich starb. Es war einfach ein langsamer und stetiger Verfall. Nicht nur körperlich. Der war sehr offensichtlich. Aber du, alles, dein Selbst. Nichts blieb mir mehr. Mir war alles egal. Ich hatte keine Würde mehr. Es war egal, ob man tapfer oder schwach war, oder irgendetwas anderes. Man wurde zu einer Art Nichts. Seltsam war das. Immer noch stellte ich mir diese Aufgaben. In zwanzig Minuten hierhin, dorthin. Und dann sah ich diese Fußspuren. Und ich war überzeugt, dass es Simon und Richard waren. Sie waren hoch über mir und folgten mir. Und ich kroch weiter nach unten, fest überzeugt davon, dass sie hinter mir her liefen. Und ich erinnere mich daran, dass ich dachte: Wie dumm. Sie könnten doch kommen und mir helfen. Ich glaube, ich redete mir ein, dass sie mir nur folgten, um mich nicht zu blamieren. Ich hatte mir doch in die Hose gemacht und ich weinte. Ich weiß gar nicht mehr wie lange es dauerte, vielleicht eine Stunde. Ich glaubte fest daran, und dann plötzlich, zerplatzte es wie eine Seifenblase. Ich erkannte, dass sie nicht da waren, und ich war am Boden zerstört. Joe Simpson im Dokumentarfilm Touching The Void (Sturz ins Leere) IV Amok 24 25 Ich dachte: Das ist doch bloß ein Lager. […] Und dann wandte ich mich ab, zu der Stelle, wo Simon mich im Dunkeln gefunden hatte. Ich fürchtete, gleich einen Panikanfall zu kriegen. Ich fühlte plötzlich wieder, wie Simon mich packte und die ganze Erinnerung kehrte zurück. Während ich da stand, konnte ich mich plötzlich daran erinnern. Ich fröstelte, während Simon beschrieb, wo er mich gefunden hatte und wie ich aussah. Alles was ich tun konnte, war auf dieses Geröllfeld zu starren. […] Schon der Anblick dieser Felsen genügte, um die Erinnerung an den Schmerz, den ich längst vergessen hatte, wieder aufkommen zu lassen. Unzählige Male habe ich die Geschichte erzählt, so dass sie zur Fiktion geworden ist. Ja, als ich mir die Stelle vorhin noch einmal ansah, da dachte ich, naja, ich habe die Geschichte so oft erzählt, dass sie unwirklich geworden ist. Ich hatte alles längst vergessen und jetzt ist es wieder Realität geworden. *** Ist ein seltsames Gefühl. Ich habe richtiggehend Platzangst. Es wird alles noch einmal geschehen. Ist nur ein wenig seltsam. Ein kleiner Schwächeanfall. Ja, ich habe dieses schreckliche Gefühl. Als hätte ich eine Halluzination. Das ist mir die letzten siebzehn Jahre nicht mehr passiert. Ich werde wohl aufwachen und mich mit gebrochenem Bein hier wiederfinden. Das Bewusstsein kann einem ganz schöne Streiche spielen. Extrem sogar. Im Moment treibt es mit mir Spielchen. Das verdammte Knie schmerzt. Dabei ist alles in Ordnung. *** Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir gar nicht gebraucht wurden. Denn es hat nur dazu geführt, dass Erinnerungen hochgespült wurden, für deren Verdrängung ich wieder Jahre brauchen werde. Um sie zurück an jenen sicheren Ort in meinem Kopf zu bringen, wo sie bislang waren. Ich fühle mich ausgedörrt. Empfinde überhaupt nichts mehr. Weil wir nur noch damit beschäftigt sind, diesen verdammten Film zu drehen. Joe Simpson in seinem Videotagebuch während der Dreharbeiten zu Touching The Void (Sturz ins Leere) Flashback (engl.: blitz (artig) zurück) ist der Fachbegriff für das plötzliche, anfallsartig auftretende Wiedererleben früherer Gefühlszustände, wie sie für Menschen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, typisch sind. In der Psychotraumatologie werden sie auch Intrusionen genannt. Durch einen sogenannten Schlüsselreiz (engl. trigger), der mit dem traumatischen Erlebnis in Zusammenhang steht – einen Geruch, eine Geste, ein Geräusch, einen Ort – fühlt sich die Person plötzlich für einige Sekunden oder Minuten in die damalige Situation zurück versetzt und erlebt sie erneut. Dabei laufen im Gehirn die gleichen chemischen Prozesse ab wie in der tatsächlichen Gefahrensituation: Für den Betroffenen sind die Angst oder der Schmerz so real, wie während des Ereignisses selbst. Offenbar werden traumatische Erlebnisse im Gehirn auf andere Weise verarbeitet als normale Erinnerungen. Angstbesetzte Situationen führen zu einer gesteigerten Bildung von Stresshormonen, Noradrenalin und Cortisol. Diese steigern die Reaktionsfähigkeit bei Gefahr, beeinflussen vermutlich aber auch den Mechanismus der Signalübertragung im Zentralnervensystem und können zu strukturellen Veränderungen des Gehirns führen. Die jüngere hirnphysiologische Forschung vermutet, dass hoch emotionale Informationen, wie sie in einem Trauma erfahren werden, so eine Dissoziation zwischen expliziten Erinnerungen und traumatischen, oftmals eher bildhaften und schwer zu verbalisierenden Erfahrungen erzeugen. Dabei werden nach LeDoux „bereits vor der onto-genetischen Entwicklung höherer Hirnregionen emotionale Informationen über limbische Regionen, insbesondere die Amygdala [den sogenannten Mandelkern] verarbeitet und gespeichert“. Dieser Bereich des Gehirns reagiert beim Flashback auf den Schlüsselreiz. Die Folge: Patienten können sich an Details eines schrecklichen Ereignisses gar nicht bewusst erinnern und werden trotzdem unvermittelt von den damit verbundenen Ängsten heimgesucht. V Ab Erst als ich am Ende meiner Kräfte war, mein Schneesitz zunehmend bröckelte und ich ihn fast nicht mehr halten konnte, erinnerte ich mich daran, dass sich in der oberen Rucksacktasche ein Messer befand. Ich wusste, ich hatte alles getan, was man realistischerweise von mir erwarten konnte, um Joe zu retten, und nun schwebten wir beide in Lebensgefahr. Ich hatte den Punkt erreicht, wo ich mich um mich selbst kümmern musste. Obwohl mir klar war, dass mein Entschluss wohl zu seinem Tod führen würde, entschied ich intuitiv von einer Sekunde zur anderen. Ohne zu zögern, holte ich das Messer aus dem Rucksack und durchschnitt das Seil. Simon Yates Against The Wall „Über allem stand ewige Treue.“ Standfoto aus dem Nachlass von Dr. Arnold Fanck mit Luis Trenker und Ernst Petersen in Der heilige Berg (1926) 31 30 Der Komponist Christian Jost wurde 1963 in Trier geboren. Der Durchbruch als Komponist gelang ihm 1992 mit dem Orchesterwerk Magma, einer Auftragskomposition des Orchesters des Staatstheaters Darmstadt. Heute zählt er zu den gefragtesten Komponisten seiner Generation. Ausgangspunkt zahlreicher Kompositionen Josts sind Grenzbereiche menschlicher Erfahrung. So spürt er in seinem Violinkonzert TiefenRausch (1999) den euphorischen Zuständen von Tiefseetauchern nach und in einer ganzen Reihe von Werken steht die Begegnung mit den Weiten des Weltraums im Mittelpunkt, so in den Orchesterwerken one small step … (1999) und Astralis (2005), dem Konzert für Schlagzeug und Orchester Cosmodromion (2001) und der Phoenix Trilogie, bestehend aus Rhapsodie II – Gesang des Phoenix für Violine und Klavier, Sinfonia – Traum des Phoenix für Orchester und Phoenix resurrexit – Odyssee in vier Teilen für Sprecher, Sopran, Chor und Orchester (2001). Um das Ausloten unbekannter Welten geht es auch in der 2003 im Auftrag der Staatskapelle Weimar entstandenen CocoonSymphonie – 5 Stationen einer Reise in das Innere und natürlich der 2006 uraufgeführten Choroper Angst, einem Auftragswerk des Berliner Rundfunkchores. In allen diesen Werken gelingt es Jost dem Zuhörer Unbekanntes, Eigenwilliges sowie psychische Grenzerfahrungen auf faszinierende Weise nahe zu bringen. Kein Wunder, dass er sich auch als Opernkomponist einen Namen gemacht hat. 2005 wurde Vipern. Eine mörderische Begierde in 4 Akten an der Deutschen Oper am Rhein uraufgeführt; im gleichen Jahr erlebte am Theater Erfurt der Einakter Death Knocks nach Woody Allen von 2001 seine szenische Erstaufführung. Es folgten: Arabische Nacht (2007) am Aalto-Theater Essen, Hamlet – 2009 „Uraufführung des Jahres“ der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt – und Mikropolis (2011) an der Komischen Oper Berlin, Rumor (2011), die Kammeroper Sutra (2012) sowie jüngst am Opernhaus Zürich Rote Laterne (2015). Christian Jost 32 Christian Jost Angst. 5 Pforten einer Reise in das Innere der Angst – Darmstädter Originalbesetzung von 2016 Musikalische Leitung Thomas Eitler-de Lint Inszenierung Karsten Wiegand Szenische Einstudierung Sebastian Gühne Bühne Bärbl Hohmann Kostüme Andrea Fisser Video Bahadır Hamdemir Dramaturgie Mark Schachtsiek Choreinstudierung Thomas Eitler-de Lint, Ines Kaun Mit: Dem Opernchor des Staatstheaters Darmstadt Sprecherinnen Erika HöhneSchmidt, Gundula Schulte, Karin Skala Alt-Solo Anja Bildstein Sopran 1 Ariane Ganser/Aki Hashimoto Sopran 2 Katja Rollfink /Hildegard Schnitzer Sopran 3 Lydia Ackermann /Gundula Schulte Alt 1 Sabine Orthey-Berns Alt 2 Anja Bildstein Alt 3 Barbara Haber/Jie Zhang Bariton Werner Volker Meyer Solo-Herren Radoslav Damianov, Christoph Kessler, Jaroslaw Kwaśniewski, Werner Volker Meyer [Mehrfachbesetzungen in alphabetischer Reihenfolge] || Kind Konstantin Lohnes, Staatsorchester Darmstadt Text- und Bildnachweise „Zur Grundsituation“, das Essay und die biographische Skizze über Christian Jost schrieb Mark Schachtsiek für den Programmfalter des Deutschen Nationaltheaters Weimar 2009/10. Die Zitate von Joe Simpson und Simon Yates im Essay wurden Touching The Void, London 1988 entnommen und von Mark Schachtsiek übersetzt. Alle drei Texte wurden für den Wiederabdruck leicht überarbeitet und aktualisiert. | Der Auszug aus Touching The Void findet sich in der deutschen Ausgabe Sturz ins Leere, München 2009, auf S. 130ff. und wurde für den Abdruck gekürzt. Die Zitate von Simpson aus den im Dokumentarfilm Touching The Void geführten Interviews und im Videotagebuch, das Teil des Dokumentarfilms Return To Siula Grande ist, folgen der deutschen Synchronfassung. || Weitere Zitate: Egon Fabian Anatomie der Angst, Stuttgart 2010 (dort auch das Zitat von Kurt Schneider) | Christian Jost zitiert nach CD-Booklet Angst, Coviello Classics 2006 | Raymond Battegay Angst und Sein, Frankfurt/M. 1996 | Sigmund Freud „Hemmung, Symptom und Angst“ (1926) in: Ders. Gesammelte Werke Band XIV, Frankfurt/M. 1999, S. 111ff. | Simon Yates Against The Wall, London 1998, S. 162 (Übersetzung Mark Schachtsiek) || Alle übernommenen Texte folgen ihrer ursprünglichen Orthographie, für dieses Programmheft erstellte der aktuellen amtlichen Rechtschreibung. || Bild S. 4: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Siula_grande.jpg | Bild S. 30: Berge, Licht und Traum. hrsg. v. Jan Christoph Horak, München 1997, S. 100 | Die Portraits von Christian Jost machte Stella Dufexis. Wir danken für die Genehmigung zum Abdruck. || Probenfotos Darmstadt: Candy Welz und Thomas Müller || Sollte es uns nicht gelungen sein, die Inhaber aller Urheberrechte ausfindig zu machen, bitten wir die Urheber, sich bei uns zu melden. Impressum Spielzeit 2015|16, Programmheft Nr. 32 | Herausgeber: Staatstheater Darmstadt Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06 15 1 . 28 11-1 | www.staatstheater-darmstadt.de | Intendant: Karsten Wiegand | Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz | Redaktion: Mark Schachtsiek | Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt Ausführung: Hélène Beck | Hersteller: DRACH Print Media GmbH, Darmstadt