2015-03-ADHS-Erwachsene

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HYPERAKTIVITÄT
Wenn ADHS plötzlich einen Erwachsenen trifft
ADHS ist keine Kinderkrankheit - auch Erwachsene kann die Diagnose ZappelphilippSyndrom treffen. Mancher Betroffene profitiert sogar davon, sagt ein Forscher.
Von Sandra Trauner
Professor Andreas Reif zeigt ein Medikament, mit dem ADHS bei Erwachsenen behandelt werden kann.
Foto: Frank Rumpenhorst, dpa
ADHS ist die häufigste psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen. Bislang gibt es
keine eindeutige Erklärung dafür. Die Hauptursache wird in der Veränderungen der
Funktionsweise des Gehirns vermutet. Wissenschaftler gehen davon aus, dass neben
genetischen Faktoren zum Beispiel auch Umwelteinflüsse eine Rolle beim sogenannten
Zappelphilipp-Syndrom spielen.
Auch immer mehr junge Erwachsene bekommen Medikamente gegen ADHS. Bei der
Techniker Krankenkasse (TK) etwa stieg die Zahl der Patienten zwischen 17 und 20 Jahren, die
ein Medikament zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
verordnet bekamen, von 2011 bis 2012 um zwölf Prozent. Die Menge der verordneten
Medikamenten-Packungen erhöhte sich demnach für diese Altersgruppe im gleichen Zeitraum um
rund 20 Prozent.
Doch auch noch ältere Menschen kann es treffen. Als Bernadette Frisch die Diagnose
ADHS bekam, war sie 28 Jahre alt. «Ich war total geschockt», berichtet die heute 30-Jährige. Als
Kind war ihr Verhalten nie mit der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung in Verbindung
gebracht worden - es schien eher wie das Gegenteil des Zappelphilipp-Syndroms. Langsam sei
sie gewesen, verträumt, unsicher, tollpatschig.
Im Studium wuchsen ihre Probleme: Sie bekam Angstzustände, wurde depressiv, war
wegen eines Professors einem Nervenzusammenbruch nahe. «Ich kann mich unglaublich
schlecht organisieren», erzählt sie. Ihre Wohnung sei chaotisch, ihr Leben eine ewige Baustelle.
Heute ist die Fränkin 30 Jahre alt und noch immer auf der Suche nach ihrem Weg.
«Ich stehe immer unter einem unglaublichen inneren Druck», sagt sie. Das merkt man
Bernadette Frisch an, sie spricht schnell und viel. Motorisch ist sie ruhiger als früher und auch ihr
extrovertiertes Auftreten und ihr flippiges Aussehen sind nicht mehr so ausgeprägt. Sie arbeitet in
einem künstlerischen Beruf, da passte ihre Art «ins Bild», sagt sie. «Mit dem Verrückter-KünstlerMythos kann man sich das ja auch selbst schönreden.»
Vor zwei Jahre schlug eine Psychiaterin vor, einen ADHS-Fragebogen zu machen: Sie war
ein typischer Fall. Bei Erwachsenen sieht ADHS anders aus als bei Kindern, erklärt Prof. Andreas
Reif, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Frankfurter Uniklinik. In Würzburg hatte er
den klinischen Schwerpunkt für ADHS im Erwachsenenalter geleitet. Als er im Sommer 2014
nach Frankfurt wechselte, zog seine ganze Arbeitsgruppe mit ihm um.
ADHS-Symptome bei Erwachsenen: Innere Unruhe, Impulsivität und StimmungsProbleme
Drei Hauptsymptome nennt Reif: innere Unruhe, Impulsivität und Schwierigkeiten,
Aufmerksamkeit und Stimmung zu regulieren. Dabei kann das Pendel auf beide Seiten
ausschlagen: Patienten sind einerseits extrem leicht ablenkbar - oder sie «überfokussieren» ein
Detail. In manchen Bereichen kann das sogar hilfreich, zum Beispiel im Sport, wie beim
Schwimmer Michael Phelps, der ADHS-Patient ist.
«Viele suchen das Extreme, den Kick. Wer in der Lage ist, das positiv zu nutzen, ist zu
Höchstleistungen fähig», erklärt Reif. «Man kann sagen: Diese Patienten bringen unsere
Gesellschaft schon auch weiter.» Aber auch bei Strafgefangenen finde man überdurchschnittlich
viele Menschen mit ADHS. «Den einen bringt die Krankheit ins Gefängnis, den anderen aufs
Podest - je nachdem, was an Lebensgeschichte und Biologie noch hinzukommt», formuliert der
Psychiater provokant.
Bei etwa der Hälfte der ADHS-Kinder verschwindet die Krankheit beim Heranwachsen. Der
Großteil der anderen Hälfte behält einzelne Symptome, ohne dadurch krank zu sein. «Nur bei 15
Prozent haben die Symptome Krankheitswert. Das entspricht etwa einem Prozent der
Bevölkerung», rechnet Reif vor.
Bei Erwachsenen verstecke sich ADHS oft hinter Begleiterkrankungen, erklärt Oberärztin
Sarah Kittel-Schneider. Viele erwachsene ADHS-Patienten hätten Depressionen, Angststörungen
oder Suchterkrankungen und suchten deswegen Hilfe. Der Zusammenhang: «Sie verbrauchen
viel mehr Kraft, um ein normales Leben zu führen, und haben ein höheres Risiko, noch an
weiteren psychischen Störungen zu erkranken.»
Menschen mit ADHS haben eine geringere Lebenserwartung und verdoppeltes Risiko,
vorzeitig zu sterben, zeigt eine dänische Studie, die gerade im Magazin «The Lancet»
veröffentlicht wurde. Søren Dalsgaard von der Universität Aarhus verglich in der Untersuchung die
Lebensläufe von knapp zwei Millionen Dänen mit denen von 32 000 ADHS-Patienten. Resultat:
Überdurchschnittlich viele von diesen starben, etwa nach Unfällen.
Bernadette Frisch bekommt heute eine Mischung aus Medikamenten und Psychotherapie
gegen ASHS. Allein zu wissen, dass eine Stoffwechselstörung die Ursache ihrer persönlichen
Probleme war, hat ihr enorm geholfen. «Ich hab immer gedacht, ich bin faul, ich kann nix, ich bin
der Depp», sagt sie. Sie nimmt ein Medikament mit dem Ritalin-Wirkstoff Methylphenidat, das
ihren Appetit hemmte, sie aber ruhiger machte und ihr hilft, ihre Aufmerksamkeit besser zu
regulieren. dpa
http://www.augsburger-allgemeine.de/wissenschaft/Wenn-ADHS-ploetzlich-einen-Erwachsenen-trifftid33223977.html
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