Einführung Responsible Gaming Glücksspiel mit Verantwortung Prof. Dr. Tilman Becker Forschungsstelle Glückspiel Universität Hohenheim © Tilman Becker 1 von 92 Forschungsstelle Glücksspiel • Universität Hohenheim: Naturwissenschaftliche, Agrarwissenschaftliche und Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät • Glücksspielforschung in Deutschland: Juristen, Ökonomen, Psychologen, Mathematiker…… • Forschungsstelle Glücksspiel: Mitglieder sind 20 Professoren und Wissenschaftler von deutschen Universitäten -> Forschungsstelle Glücksspiel: Interdisziplinäre deutsche Forschungseinrichtung mit dem Schwerpunkt Glücksspiel (kein privates Institut) © Tilman Becker 2 von 92 Was ist Glücksspiel? Ein Glücksspiel liegt vor, wenn im Rahmen eines Spiels für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt. Die Entscheidung über den Gewinn hängt in jedem Fall vom Zufall ab, wenn dafür der ungewisse Eintritt oder Ausgang zukünftiger Ereignisse maßgeblich ist. Auch Wetten gegen Entgelt auf den Eintritt oder Ausgang eines zukünftigen Ereignisses sind Glücksspiele. © Tilman Becker 3 von 92 Formen des Glücksspiels © Tilman Becker 4 von 92 Traditionelle Formen des Glücksspiels • Lotterien (einschl. Rubellotterien) • Automatenspiel (Geld- und Glücksspielgeräte) • Sportwetten (einschl. Pferdewetten) • Kartenspiel (Casinospiele und Poker) • Andere Wetten © Tilman Becker 5 von 92 Traditionelle Orte des Glücksspiels • Lotterieannahmestellen (einschl. Vertriebsstellen für Rubellotterien) • Verkaufsstellen Klassenlotterien • Spielhallen (Automatensalons: WINWIN, VLTs) und Gaststätten • Sportwettgeschäfte • Spielbanken • Gewerbliche Pokersalons © Tilman Becker 6 von 92 Internet: Politikwetten Wer wird Italiens Ministerpräsident? Bersani 1:1,05 Wahrscheinlichkeit: 83 % Monti 1:10 Wahrscheinlichkeit: 8 % Berlusconi 1:13 Wahrscheinlichkeit: 6 % 7.3.2013 © Tilman Becker 7 von 92 Inernet: Wetten auf Finanzmärkten © Tilman Becker 8 von 92 Binäre Optionen © Tilman Becker 9 von 92 Glücksspiele auf Facebook Online Casino: 888 Zynga Plus Online Poker: Zynga Plus © Tilman Becker 10 von 92 Glücksspiele mit Freunden auf sozialen Netzwerken © Tilman Becker 11 von 92 Wert von Zynga • Börsengang 16.12.2011 • Der Wert des Unternehmens bei Börsengang knapp 9 Milliarden Dollar • Gemessen am Umsatz des vergangenen Jahres von gut 800 Millionen Dollar (Gewinn: 30 Millionen) ein fast schon astronomischer Wert © Tilman Becker 12 von 92 Angebotspalette Full-Liner z. B. Bwin, 888, William Hill Sportwetten Poker Casino: Tischspiele und Slots Games: Backgammon, Online Bingo © Tilman Becker 13 von 92 Angebotspalette Full-Liner mit Lotterien z. B. win2day, Jaxx Lotterien Sportwetten Poker Casino: Tischspiele und Slots Games: Backgammon, Online Bingo © Tilman Becker 14 von 92 Angebotspalette Spezialisten Lotterien z. B. Lottoland, Lotto24/Tip24 Staatliche Lotterien Euromillions Eurojackpot Rubellose Keno © Tilman Becker 15 von 92 Angebotspalette Spezialisten Poker z. B. Pokerstars Poker © Tilman Becker 16 von 92 Angebotspalette Spezialisten Casino z. B. EuroGrand Casino, City Club Casinos Casinospiele © Tilman Becker 17 von 92 Internet Wettplattformen: Eigene Wetten Betfair Es gibt nichts, worauf man nicht wetten kann. © Tilman Becker 18 von 92 Internet: Smartphones und Tablets Das Konzept der Zukunft © Tilman Becker 19 von 92 Zur Ökonomie des Glücksspiels © Tilman Becker 20 von 92 Vergleich Österreich mit Deutschland Österreich: Bevölkerung etwa 8 Millionen Bürger Umsatz der legalen Anbieter etwa 8 Mrd. Euro Deutschland Bevölkerung etwa 80 Millionen Bürger Umsatz der legalen Anbieter etwa 30 Mrd. Euro © Tilman Becker 21 von 92 Zur Glücksspielsucht © Tilman Becker 22 von 92 Ansätze zur Erklärung der Glücksspielsucht • • • • Die Glücksspielsucht ist genetisch bedingt Die Glücksspielsucht ist erziehungsbedingt Die Glücksspielsucht ist umweltbedingt Die Glücksspielsucht ist bedingt durch eine biologische Fehlfunktion • Die Glücksspielsucht ist eine erlernte Reaktion © Tilman Becker 23 von 92 Ätiologie der Glücksspielsucht Bei der Ätiologie geht es um die kausale Ursachenbestimmung Glücksspielsucht als Symptom oder als Ursache Ansatz eines klinische Therapeuten (z.B. Hand): Grundlegende psychische Probleme äußern sich in einem pathologischen Spielverhalten (Psychische Probleme als Objekt der Bearbeitung) Ansatz eines Sozialarbeiters: Pathologisches Spielverhalten als Sucht (Grundlegende psychische Probleme können in der Sozialarbeit nicht bearbeitet werden. Verhalten als Objekt der Bearbeitung) © Tilman Becker 24 von 92 Glücksspielsucht Deutschland: Einordnung (DSM IV Kriterien) Tabak Alkohol Glücksspiel Häufigkeit in Bevölkerung 7%-11% 2,4% 0,18%-0,56% Anzahl Betroffener 3,7 Mill. bis 1,3 Mill. 5,8 Mill. © Tilman Becker 0,1 Mill. bis 0,3 Mill. 25 von 92 Definition der Glücksspielsucht (pathologisches Spielverhalten wenn 5 Merkmale erfüllt, problematisches Spielverhalten wenn 2-4 Merkmale erfüllt) 1. ist stark eingenommen vom Glücksspiel 2. muss mit immer höheren Einsätzen spielen, um die gewünschte Erregung zu erreichen 3. hat wiederholt erfolglose Versuche unternommen, das Spiel zu kontrollieren, einzuschränken oder aufzugeben 4. ist unruhig und gereizt beim Versuch, das Spielen einzuschränken oder aufzugeben 5. spielt, um Problemen zu entkommen oder um dysphorische Stimmung (z.B. Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld, Angst, Depression) zu erleichtern © Tilman Becker 26 von 92 Definition der Glücksspielsucht (pathologisches Spielverhalten wenn 5 Merkmale erfüllt, problematisches Spielverhalten wenn 2-4 Merkmale erfüllt) 6. kehrt, nachdem er/sie beim Glücksspiel Geld verloren hat, oft am nächsten Tag zurück, um den Verlust auszugleichen (dem Verlust „hinterher jagen“) 7. belügt Familienmitglieder, den Therapeuten oder andere, um das Ausmaß der Verstrickung in das Spielen zu vertuschen 8. hat illegale Handlungen wie Fälschung, Betrug, Diebstahl oder Unterschlagung begangen, um das Spielen zu finanzieren 9. hat eine wichtige Beziehung, seinen Arbeitsplatz, Ausbildungsoder Aufstiegschancen wegen des Spielens gefährdet oder verloren 10. verlässt sich darauf, dass andere Geld bereitstellen, um die durch das Spielen verursachte hoffnungslose finanzielle Situation zu überwinden © Tilman Becker 27 von 92 DSM-V Von der Störung der Impulskontrolle (ICD 10 und DSM IV) zu einer Abhängigkeitserkrankung Gründe: Ergebnisse von • bildgebenden Verfahren (Neurobiologie) • Klinische Ergebnisse (Parkinson: Dopamin-Agonist erhöht Prävalenz) • Genetische Untersuchungen © Tilman Becker 28 von 92 Gefährdungspotential: Generell Suchtgefährdungspotential eines Glücksspiels Spiel Spieler © Tilman Becker Umwelt 29 von 92 Exkurs zur Genetik Genotyp: Genetische Veranlagung Phänotyp: Erscheinungsform, Persönlichkeit Der Phänotyp wird von dem Genotyp und der Umwelt bestimmt Heritabilität: Anteil der genetischen Varianz an der Varianz des Phänotyp Varianz: Maß für Streuung d.h. Verteilung um einen Mittelwert Homozygote Zwillinge: Eineiige Zwillinge mit einem identischen Genotyp d.h. einer genetischen Veranlagung, die zu 100 Prozent identisch ist Heterozygote Zwillinge: Zweieiige Zwillingen mit einem Genotyp, der zu 50 Prozent identisch ist © Tilman Becker 30 von 92 Genetische Veranlagung Vietnam-Zwillings-Register (Vietnam Era Twin Registry) mit 3359 Zwillingspaare besteht aus männlichmännlich homozygten (eineiigen) und heterozygoten (zweieiigen) Zwillingen mit 1,4 % pathologischen Spielern nach DSM-IV Genetische Veranlagung trägt zu 46 % zu einem pathologischen Spielverhalten bei Gemeinsame Umwelt zu 16 % zu einem pathologischen Spielverhalten bei Umwelt, die nicht von den Zwillingen geteilt wird, trägt zu 38 % zu einem pathologischen Spielverhalten bei © Tilman Becker 31 von 92 Genetische Veranlagung Nationale Längsschnittstudie zur Gesundheit Heranwachsender (National Longitudional Study of Adolscent Health) mit 342 monozygotischen und 267 heterozygotischen gleichgeschlechtlichen Zwillinge Männer: 85% der Varianz in dem Glücksspielverhalten kann genetisch erklärt werden und 15% durch Umwelt Frauen: 0% der Varianz in dem Glücksspielverhalten kann genetisch erklärt werden und 45 % der Varianz kann durch gemeinsame Umwelteinflüsse und 55 % der Varianz durch individuelle Umwelteinflüsse erklärt werden © Tilman Becker 32 von 92 Literatur zur genetischen Veranlagung • • • Vgl. Eisen, S., N. Lin, M. Lyons, J. Scherrer, K. Griffith, W. True, J. Goldberg und M. Tsuang (1998): Familial influences on gambling behavior: an analysis of 3359 twin pairs. In: Addiction, Vol. 93, No. 9, S. 1375-1384). [1] Vgl. Potenza, M., H. Xian, K. Shah, J. Scherrer and S. Eisen (2005): Shared Genetic Contributions to Pathological Gambling and Major Depression in Men. In: Archives of General Psychiatry, Vol. 62, S. 1015-1021). [1] Vgl. Xian, H., J. Scherrer, W. Slutske, K. Shah, R. Volberg und S. Eisen (2007): Genetic and Environmental Contributions to Pathological Gambling Symptoms in a 10-Year Follow-Up. In: Twin Research and Human Genetics, Vol. 10, No. 1, S. 174179. © Tilman Becker 33 von 92 Literatur zur genetischen Veranlagung • Beaver, K. et al. (2010): Gender differences in genetic and environmental influences on gambling: results from a sample of twins from the National Longitudinal Study of Adolescent Health. In: Addiction Vol. 105, S. 536-542. © Tilman Becker 34 von 92 Das Problem Glücksspielsucht in Deutschland • Etwa 9000 Patienten mit der Hauptdiagnose pathologisches Glücksspiel • Jahresprävalenz: Zwischen 87 000 und 297 000 pathologische Glücksspieler in der erwachsenen Bevölkerung (67 Mio.) • Lebenszeitprävalenz: Etwa 500 000 pathologische Spieler in der erwachsenen Bevölkerung © Tilman Becker 35 von 92 Das Problem Glücksspielsucht in Deutschland Problem verursachende Glücksspielform Becker (2008) Meyer Hayer 2004) Geldspielautomaten in Spielhallen/Gaststätten 69,0% 63,5% Glücksspielautomaten in Spielbanken 11,4% 13,5% Sportwetten (Wettbüros, Internet) 6,8% 1,7% Roulette 5,8% 6,2% Poker (Karten- und Würfelspiele) 3,6% 1,7% ODDSET Kombi-/TOP-Wette 1,6% 2,8% Pferdewetten 0,6% 1,7% Zahlenlotto 6 aus 49 0,5% 0,9% Rubbellose 0,4% 0,0% Toto-/Auswahl-/13er-Wette 0,2% 0,0% Klassenlotterie (SKL/NKL) 0,1% 0,2% Quelle: Becker, 2008 © Tilman Becker und (2002- 36 von 92 Anteil am Gesamtumsatz 100% 94% 90% 87% 80% 70% 70% 63% 60% Normale Spieler (0-2) 50% Problematische Spieler (3-4) 46% Pathologische Spieler (5-10) 44% 40% 30% 26% 20% 20% 10% 11% 10% 10% 6% 3% 7% 3% 0% Lotto Sportwetten Spielautomaten Casinospiele Gesamt Quelle: Stöver 2007 © Tilman Becker 37 von 92 Anteil von Problemspielern Österreich (Repräsentativbefragung) Lotterien: 2% Sportwetten: 13% Klassische Kasinospiele: 7% Automaten in Kasinos: 14% Automaten außerhalb Kasinos: 33% Quelle: Kalke et al. © Tilman Becker 38 von 92 Glücksspiel und Straftaten • Fast die Hälfte der behandelten Spieler hat Straftaten ausschließlich nach Beginn des regelmäßigen Spielens begangen und diese standen in der Regel ausschließlich im Zusammenhang mit dem Glücksspiel © Tilman Becker 39 von 92 Straftaten Raub, räuberische Erpressung und Angriff Sachbeschädigung Urkundenfälschung Veruntreuung Gelegenheits- und Häufigspieler Behandelte Spieler Erschleichung von Leistungen Betrug (ohne Erschleichung von Leistungen) Diebstahl unter erschwerenden Umständen Diebstahl ohne erschwerende Umstände -500% 0% 500% 1000% 1500% 2000% 2500% © Tilman Becker 3000% 3500% Quelle: Meyer 1989 40 von 92 Häufigkeit, mit der das letzte Geld verspielt wurde Nie 0,2 Sehr selten 1,4 Selten 1,6 Gelegentlich 5,1 17,5 Oft 51,7 Sehr oft 22,5 Immer 0 10 20 30 40 50 60 Prozent Quelle: Meyer 1989 © Tilman Becker 41 von 92 Spielschulden Patienten, die sich in Therapie begeben, haben im Durchschnitt Schulden in der Höhe von 30 000 bis 40 000 Euro. © Tilman Becker 42 von 92 Spielschulden Österreich Spielsuchthilfe Wien 2009 keine bis zu 7.000 Euro bis zu 35.000 Euro bis zu 70.000 Euro über 70.000 Euro keine Angabe Anzahl (N) b.a.s. Steiermark 2006 Sonderkrankenhaus de La Tour 2010 16 % 3% 13 % 17 % 33 % 18 % 34 % 27% 29 % 18 % 10 % 19 % 14 % 18 % 21 % k.A. 9% 0,3 % 595 184 294 Quelle: Kalke et al. (2011): Glücksspiel und Spielerschutz in Österreich, S. 110 © Tilman Becker 43 von 92 Spielschulden Deutschland > 50 000 in Euro 25 000 - 50 000 Denzer et al. (1995) 5 000 - 25 000 Schw arz und Lindner (1990) Meyer (1989) < 5 000 keine Schulden 0 10 20 30 Prozent 40 © Tilman Becker 50 44 von 92 Verschuldung pathologischer Spieler in dem Bundesmodellprojekt Quelle: Koeppe, A. (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.) Hamm: Glücksspieler in der Schuldenfalle. Vortrag auf der Jahrestagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung e.V. (BAG-SB) am 06. Mai 2009 in Bonn. © Tilman Becker 45 von 92 Gründe für Kontaktaufnahme ambulante Suchthilfe finanzielle Probleme/Schulden 74,7 % Schuldgefühle/Depressionen 72,1 % Sozialer Rückzug/Einsamkeit 56,7 % Trennung vom (Ehe-) Partner 25,7 % Verlust der Arbeitsstelle 10,8 % Suizidversuche 10,3 % Hauptgründe der Klienten für die Kontaktaufnahme zu den ambulanten Beratungsstellen (n=245) in dem Bundesmodellprojekt © Tilman Becker 46 von 92 Glücksspiel und Selbstmord • Vor dem Eintritt in die Therapie hat etwa ein Drittel aller pathologischen Glücksspieler bereits einen oder mehrere Selbstmordversuche hinter sich • Ein weiteres Drittel gibt sehr konkrete Suizidgedanken und -planungen im Zusammenhang mit ihrer krankhaften Spielneigung an © Tilman Becker 47 von 92 Komorbidität • Substanzbezogene Störungen (etwa 40% Alkohol, etwa 60% Nikotin) • Affektive Störungen (20% bis 70%) • Angst- und Zwangsstörungen (7% bis 50%) © Tilman Becker 48 von 92 Komorbidität Österreich Spielsuchthilfe Wien • Substanzbezogene Störungen (35%) • Affektive Störungen (25%) • Angst- und Zwangsstörungen (7%) © Tilman Becker 49 von 92 Komorbidität • Immer erst Impulskontrollstörung dann pathologisches Spielverhalten • Oft erst Angststörung dann pathologisches Spielverhalten • Meistens erst affektive Störung dann pathologisches Spielverhalten aber oft auch umgekehrt • Substanzmissbrauch und pathologisches Spielverhalten gehen Hand in Hand © Tilman Becker 50 von 92 Fragestellung Unterscheiden sich pathologische Spieler von normalen Spielern und von Nichtspielern in Bezug auf: • Diskontierungs- und Risikoverhalten • kognitiven Irrtümern • Rolle des Geldes? © Tilman Becker 51 von 92 Hohenheimer Studie • Schriftliche Befragung ehemaliger GlückspielerInnen, die sich zum Befragungszeitraum in ambulanter Behandlung in Baden-Württemberg befanden • Erhebungszeitraum: Oktober bis Dezember 2010 • Rücklauf: 112 Personen (103 Männer, 7 Frauen, 2 ohne Angabe des Geschlechts) • Förderung durch das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren BadenWürttemberg © Tilman Becker 52 von 92 Diskontierungsverhalten Diskontierungsverhalten gibt an, wie der Nutzen und die Kosten, die irgendwann in der Zukunft anfallen, heute bewertet werden. Nutzen und Kosten sind dabei generelle Konzepte, werden aber in der Ökonomie oft (nur) in Geldeinheiten gemessen. Menschen sind „Nutzenmaximierer“, haben jedoch unterschiedliche Diskontierungsfaktoren. © Tilman Becker 53 von 92 Formen der Diskontierung • Lineare Diskontierung • Exponentielle Diskontierung • Hyperbolische Diskontierung Diskontfaktor gibt die Zeitpräferenz an Je höher der Diskontfaktor, umso ausgeprägter die „Gegenwartspräferenz“ bzw. umso weniger kann gewartet werden © Tilman Becker 54 von 92 Lineare Diskontierung Beispiel: Person A erhält in 5 Jahren 100 Euro (Zukunftswert) Diskontierungsfaktor 0,05 pro Jahr Lineare Diskontierung: 5 x 0,05 = 0,25 Gegenwartswert: 75 Euro „Ohne Zinseszins“ © Tilman Becker 55 von 92 Lineare Diskontierung Wert Hoher Diskontierungsfaktor Niedriger Diskontierungsfaktor Zeit © Tilman Becker 56 von 92 Exponentielle Diskontierung Beispiel: Person A erhält in 5 Jahren 100 Euro (Zukunftswert) Diskontierungsfaktor 0,05 pro Jahr Exponentielle Diskontierung: 100/(1,05)5 Gegenwartswert: 78 Euro „Mit Zinseszins“ © Tilman Becker 57 von 92 Exponentielle Diskontierung Wert Hoher Diskontierungsfaktor Niedriger Diskontierungsfaktor Zeit Mit Zinseszins © Tilman Becker 58 von 92 Diskontierungsverhalten pathologischer Spieler z. B. Petry, N. M. (2001) • Pathologische Spieler diskontieren später ausgezahlte Beträge stärker als Kontrollgruppe • Effekt verstärkt sich bei zusätzlichen substanzbezogenen Süchten Zusammenhang Impulskontrolle und Diskontierungsfaktor liegt nahe © Tilman Becker 59 von 92 Hyperbolische Diskontierung Lineare und exponentielle Diskontierung können nicht erklären, warum eine Person z.B. 100 Euro in sieben Tagen den 110 Euro in acht Tagen vorzieht, aber andererseits 110 Euro in einem Monat und einem Tag den 100 Euro in einem Monat vorzieht. Diskontfaktor ändert sich im Zeitablauf © Tilman Becker 60 von 92 Hyperbolische Diskontierung These: Pathologische Spieler zeichnen sich nicht nur durch eine hohe Gegenwartspräferenz (hoher Diskontfaktor) aus: Nutzen des Spielens heute wird in Vergleich zu den Kosten, die in Zukunft dadurch entstehen, hoch gewichtet bzw. Kosten der Abstinenz heute werden im Vergleich zu dem Nutzen, der dadurch in Zukunft entsteht, hoch gewichtet sondern auch dadurch, dass sich die „Gegenwartspräferenz“ im Zeitablauf verändert. © Tilman Becker 61 von 92 Hyperbolische Diskontierung A B A B t0 Die Kosten des Spielens, die zum Zeitpunkt B anfallen, werden heute höher eingeschätzt, als der Nutzen des Spielens zum Zeitpunkt A (Konsequenz: kein Spielen), morgen hingegen (d.h. bei t0 ) dreht sich diese Betrachtung um (bedeutet Rückfall). © Tilman Becker 62 von 92 Hyperbolische Diskontierung Zeitpunkt 1: Nicht-Spielen zum Zeitpunkt 3 wird Spielen zum Zeitpunkt 3 vorgezogen Zeitpunkt 2: Spielen zum Zeitpunkt 3 wird Nicht-Spielen zum Zeitpunkt 3 vorgezogen Zeitpunkt 3: -> Spielen © Tilman Becker 63 von 92 Ausweg: Selbstbindung Der Gesang der Sirenen ist unwiderstehlich Wer diesen Gesang hört, stürzt sich ins Meer Odyseus stopft seine Mitfahrer Wachs in die Ohren: sie hören den Gesang nicht (und auch nicht Odyseus Betteln) Odyseus selbst lässt sich an den Mast binden -> Selbstbindung als Möglichkeit mit Versuchungen umzugehen, von denen man weiß, dass man ihnen nicht widerstehen kann (z. B. freiwillige Selbstsperre) © Tilman Becker 64 von 92 Hohenheimer Studie: Diskontierungsverhalten „Was ist Ihnen in folgenden Situationen lieber? Heute 100 € zu bekommen oder stattdessen in einem Monat 110 / 120 / 130 / 140 €?“ „Was ist Ihnen in folgenden Situationen lieber? In 12 Monaten 100 € zu bekommen oder stattdessen in 13 Monaten 110 / 120 / 130 / 140 €?“ © Tilman Becker 65 von 92 Hohenheimer Studie: Diskontierungsverhalten Präferenzen der Probanden sind „zeitinstabil“: Während sich die Mehrheit der Befragten im ersten Szenario (Auszahlung sofort vs. höherer Betrag in einem Monat) stets und eindeutig für die sofortige Auszahlung des geringeren Betrags entschied, schwenkte sie im zweiten Szenario (Auszahlung in 12 vs. in 13 Monaten) ab einem Betrag von 120 Euro auf die Alternative mit dem späteren Auszahlungstermin und der höheren Auszahlungssumme um. © Tilman Becker 66 von 92 Hohenheimer Studie: Diskontierungsverhalten © Tilman Becker 67 von 92 Hohenheimer Studie: Diskontierungsverhalten © Tilman Becker 68 von 92 Selbstbindung als Mittel um EgoDepletion vorzubeugen Ego-Depletion: Erschöpfung der Willensstärke Beispiel: Süßigkeiten essen In Stresssituationen fällt es schwieriger, auf Süßigkeiten zu verzichten Wenn Süßigkeiten auf dem Tisch stehen, fällt es zunehmend schwieriger, darauf zu verzichten: die Gedanken beginnen um die Süßigkeiten zu kreisen © Tilman Becker 69 von 92 Risikoverhalten • Verhalten bei bekannten Eintrittswahrscheinlichkeiten: Risikoverhalten Risikoneutral: Geldwert eines Zufallsereignisses mit bekannten Wahrscheinlichkeiten entspricht dem Erwartungswert Risikofreudig: Geldwert eines Zufallsereignisses mit bekannten Wahrscheinlichkeiten ist höher als der Erwartungswert Risikoavers: Geldwert eines Zufallsereignisses ist geringer als Erwartungswert des Nutzens • Verhalten bei unbekannten Eintrittswahrscheinlichkeiten: Ambiguitätsverhalten © Tilman Becker 70 von 92 Erwartungswert Was ist Ihnen lieber: 10 Euro sicher zu erhalten oder x Euro mit der Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent Bei welchem x sind sie indifferent? © Tilman Becker 71 von 92 Hohenheimer Studie: Risikoverhalten „Sie bekommen einen bestimmten Barbetrag angeboten oder Sie nehmen stattdessen ein Lotterielos, das Ihnen mit 50%iger Wahrscheinlichkeit 200 € einbringt. Wir würden Sie sich in folgenden Situationen entscheiden?“ Situation 1: O Ich nehme lieber 20 € bar O Ich nehme lieber das Los mit der Chance auf 200 € … Situation 8: O Ich nehme lieber 160 € bar O Ich nehme lieber das Los mit der Chance auf 200 € © Tilman Becker 72 von 92 Hohenheimer Studie: Risikoverhalten • Bei risikoneutralem Verhalten Barbetrag von 100 Euro und Lotterielos mit 50%iger Gewinnchance von 200 Euro gleichwertig • „Wendepunkt” (indifference point) in Befragung bereits bei Betrag zwischen 60 und 80 Euro erreicht Probanden in Hohenheimer Studie eher risikoavers Ergebnisse der Vergleichsgruppe stehen noch aus © Tilman Becker 73 von 92 Risikoverhalten pathologischer Spieler Brañas-Garza, P., Georgantzís, N. und P. Guillen (2007): •Pathologische Spieler in Therapie sind risikoaverser als normale Kontrollgruppe •Unterschied verringert sich mit Dauer der Therapie © Tilman Becker 74 von 92 Selbsteinschätzung Risikobereitschaft „Wie schätzen Sie sich persönlich ein: Sind Sie im Allgemeinen ein risikobereiter Mensch oder versuchen Sie, Risiken zu vermeiden?” 0 (gar nicht risikobereit) 10 (sehr risikobereit) •Studie 1: Bevölkerungsrepräsentative Daten des Soziooekonomischen Panels (SOEP 2004), n=22.000 Die SOEP-Studie führt den Nachweis, dass die Selbsteinschätzung der Probanden verlässlich ist •Studie 2: Hohenheimer Studie, Befragung pathologischer Spieler in Behandlung, n=91 © Tilman Becker 75 von 92 Selbsteinschätzung Risikobereitschaft: Vergleich zweier Studien 2010 ) © Tilman Becker 76 von 92 Risikoverhalten Abhängig von • Alter: Jüngere Menschen sind risikobereiter als ältere • Geschlecht: Männer sind risikobereiter als Frauen • Körpergröße: Größere Menschen sind risikobereiter als kleine usw. Aber auch von aktueller Verfassung, bspw. • Mangel an Nahrung erhöht Risikobereitschaft • Mangel an Schlaf ebenso • Risikobereitschaft ist stimmungsabhängig © Tilman Becker 77 von 92 Kognitive Verzerrung Definition: „Kognitive Verzerrung ist ein Sammelbegriff für systematische (nicht zufällige) Fehler bei der Wahrnehmung, Erinnerung, beim Denken und Urteilen. Diese Fehler sind den betreffenden Personen meist nicht bewusst.” © Tilman Becker 78 von 92 Arten kognitiver Verzerrungen • Falsche Vorstellung von Wahrscheinlichkeiten bzw. Zufallsvariablen • Availability Bias oder Verfügbarkeitsbias • Verwechslung von bedingten und unbedingten Wahrscheinlichkeiten (gamblers‘ fallacy) • Gefangensein (entrapment) und hot hand • Magische Vorstellungen (superstitious beliefs) • Flexible Zuschreibung von Gründen des Gewinns und Verlusts • Kontrollillusion © Tilman Becker 79 von 92 Kognitive Verzerrungen bei pathologischen Spielern Miller, N. V.; Currie, S. R. (2008) • Zusammenhang zwischen der Anzahl kognitiver Verzerrungen, risikobereitem Verhalten und Höhe der Spieleinsätze (in Relation zum Gesamteinkommen) Meyer de Stadelhofen et al. (2009) • Pathologische Spieler nehmen häufiger als Vergleichsgruppe an, dass ihr Leben von glück- oder schicksalshaften Zufällen gesteuert wird • Der Glaube ist umso stärker, je ausgeprägter das pathologische Spielverhalten ist © Tilman Becker 80 von 92 Kognitive Verzerrungen bei pathologischen Spielern (2) Myrseth, H. et al. (2010) • Pathologische Spieler glauben stärker an persönliches Glück als nicht-pathologische Spieler Unterschiede zur Vergleichsgruppe signifikant bei Nutzern von Glücksspielen, nicht bei Nutzern von Geschicklichkeitsspielen • Kontrollillusionen sind bei pathologischen Spielern häufiger als bei nicht-pathologischen Spielern Trifft vor allem auf Geschicklichkeitsspieler zu © Tilman Becker 81 von 92 Hohenheimer Studie: Falsche Vorstellung v. Zufälligkeitsmerkmalen „Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer Spielbank und nehmen am Roulette teil. Überraschenderweise ist in den letzten Runden siebenmal hintereinander ‚Rot‘ gefallen. Was schätzen Sie: Welche Farbe wird in der nächsten Ausspielung wahrscheinlich fallen und warum?“ • Da es sich offenbar um eine stabile Serie handelt, wird vermutlich wieder „Rot“ fallen. • Da „Rot“ nun schon so häufig gefallen ist, ist „Schwarz“ überfällig. Also setze ich lieber auf „Schwarz“ • Keine Ahnung. Man kann nämlich nicht aus den bisherigen Ergebnissen schließen, welche Zahl oder Farbe kommt. © Tilman Becker 82 von 92 Hohenheimer Studie: Falsche Vorstellung v. Zufälligkeitsmerkmalen Antworten: •„Stabile Serie“: 8,4 % •„Schwarz überfällig“: 30,8 % • Keine Aussage möglich: 60,7 % © Tilman Becker 83 von 92 Ansätze für die Therapie I Kognitive Irrtümer als solche erkennen und korrigieren Dysfunktionales Verhalten als solches erkennen Neue Formen des Verhaltens erlernen und einüben Lernen, mit „Verhaltensschwächen“ umzugehen z.B. durch Maßnahmen der Selbstbindung, Verstärkung etc. © Tilman Becker 84 von 92 Ansätze für die Therapie II Ein pathologisches Glücksspielverhalten erfüllt eine Funktion: Welche Funktion ist dies? Ein pathologisches Glücksspielverhalten ist erlernt (Suchtgedächtnis): Wie kann ein anderes Verhalten gelernt werden? Abstinenz ist oft einfacher als ein kontrolliertes Verhalten wegen Ego-Depletion © Tilman Becker 85 von 92 Bedeutung von Geld Unrath, S. (2007), Die Bedeutung von Geld bei der Entstehung und Behandlung von Glücksspielsucht •„Gewinnphase”: Geld steht für Freundschaft und soziale Kontakte •„Verlustphase”: nicht nur finanzieller Verlust, auch Verlust an „Wichtigkeit, Prestige, Annahme, Anerkennung, Freundschaft und Macht” •„Freikaufs-/Verzweiflungsphase”: Familie und / oder andere Angehörige begleichen Schulden; Schuldgefühle bringen Spieler dazu, ihr Verhalten noch zu bestärken Therapie sollte auch auf „Veränderung der Einstellungen bzgl. dem Umgang mit Geld und der Definition des Selbstwerts über das Geld“ hinwirken © Tilman Becker 86 von 92 Szenario: Lebensjahr gegen Geld „Wären Sie bereit, ein Lebensjahr gegen eine Million Euro einzutauschen?” •Studie 1: TNS Emnid (2010), n=1.000 JA: 20 % NEIN: 78 % K. A.: 2 % •Studie 2: Hohenheimer Studie, Befragung pathologischer Spieler in Behandlung JA: 67 % NEIN: 33 % Einschränkungen: hoher Anteil männlicher Befragter in Hohenheimer Studie, niedrigeres Durchschnittsalter, Einwohner Baden-W.s auch in TNS-Emnid-Studie überdurchschnittlich hohe Tauschbereitschaft. © Tilman Becker 87 von 92 Hohenheimer Studie: Bedeutung von Geld (1) „Was bedeutet Geld für Sie?” Nach der positiven Bewertung von Geld als Garant für Sicherheit betonten die Befragten vor allem die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit des Umgangs mit Geld © Tilman Becker 88 von 92 Hohenheimer Studie: Bedeutung von Geld (2) © Tilman Becker 89 von 92 Literaturhinweise Kalke, J., S. Buth, M. Rosenkranz, C. Schütze, H. Oechsler, W. Vertheim: Glücksspiel und Spielerschutz in Österreich.Freiburg: Lanbertus Verlag 2011. © Tilman Becker 90 von 92 © Tilman Becker 91 von 92 © Tilman Becker 92 von 92