Westfälische Nachrichten vom 27.05.2015 Ressort: Ausgabe: /Mantel/Nachrichten Reichweite: Westfälische Nachrichten - Zeitung für Münster, Hauptausgabe 0,15 (in Mio.) Ziel: Leistungsfähig trotz MS Uni-Professor Heinz Wiendl erwartet, dass die Krankheit in zehn Jahren "sehr, sehr gut" kontrollierbar ist Münster - Der 27. Mai ist der WeltMS-Tag. Professor Heinz Wiendl ist einer der deutschlandweit führenden Wissenschaftler in der Multiple-Sklerose-Forschung und -Behandlung. Er ist Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Münster und Vorstand der Stiftung Neuromedizin. Er ist überzeugt, dass man in zehn Jahren die Krankheit bei 90 Prozent der Patienten sehr, sehr gut kontrollieren können wird, sodass ihre Leistungsfähigkeit voll erhalten bleibt", sagte er im Interview mit unserem Redaktionsmitglied Stefan Werding. In meinem Bekannten- und Familienkreis haben mittlerweile vier Personen MS. Passiert diese Krankheit häufiger oder wird sie uns nur bewusster? Wiendl: Beides ist richtig. Die Krankheit ist häufiger geworden. Wir haben jetzt in Deutschland ungefähr 200 000 Patienten, vor 20 Jahren waren es noch 130 000. Zudem ist die Krankheit durch neue Behandlungsmöglichkeiten und große Therapieerfolge ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Patienten verkriechen sich nicht mehr im stillen Kämmerchen. Sie müssen auch nicht mehr damit rechnen, im Rollstuhl zu enden. Wir können viel früher die Diagnose fassen und aktiver vorangehen. Was hilft Ihnen eine präzise Diagnose, wenn Sie nichts machen können? Genau das hat sich nun geändert: Die Erkrankung ist, weil es so große Therapieerfolge gibt, viel mehr in der Diskussion. Und sie hat sich gewandelt: Von einer unheilbaren und schwer zu verdauenden Erkrankung hin zu einer - immer noch schweren - Erkrankung mit einer hohen Behandlungsmöglichkeit. Die einem aber erst mal viel Angst macht. Wiendl: Richtig. Die MS betrifft das integralste Organ - nämlich das zentrale Nervensystem. Die Krankheit erwischt einen immer noch aus dem Nichts. Sie ist ein Schicksalsschlag. Dazu kommt der Pulverfasscharakter. Die Patienten wissen nicht, wann die Erkrankung wieder zuschlägt. Sie kommt immer wieder in Schüben. Für die Psyche der Patienten ist es eine große Schwierigkeit, nicht zu wissen, was da passiert. Was denken Sie: Wie werden sich die Chancen für Patienten ändern, die in zehn Jahren die Diagnose MS bekommen? Wiendl: MS war bis vor zehn oder 15 Jahren überhaupt nicht beeinflussbar. Die letzten 15 Jahre haben extreme Therapiefortschritte mit sich gebracht. Das Ziel, die Erkrankung zu kontrollieren, ist inzwischen bei vielen Patienten ganz realistisch. An der Tatsache, dass einige Menschen eine höhere erbliche Empfänglichkeit für die Krankheit haben, wird sich nichts ändern. Was man jedoch bei inzwischen vielen Patienten erreichen kann, ist, die Erkrankung von Beginn an zu kon-trollieren. Ich glaube relativ fest daran, dass man in zehn Jahren 90 Prozent der Patienten sehr, sehr gut kon-trollieren kann, sodass ihre Leistungsfähigkeit voll erhalten bleibt. Mit welchen Problemen haben die Ärzte denn zu kämpfen? Wiendl: Im Moment verfügen wir über ein Arsenal von unterschiedlichen Medikamenten, die aber unterschiedlich wirksam sind. Immer wenn Ärzte mit Medikamenten ins Immunsystem eingreifen, riskieren sie gleichzeitig dessen Schwächung. Das kann eine Empfänglichkeit für bestimmte Infekte oder eine Neigung zum Tumorwachstum zur Folge haben. Wenn sie die beiden Sachen nicht richtig im Griff haben, können die Medikamente gefährlich werden. Je wirksamer das Medikament, desto größer die Gefahr dieser Nebenwirkungen. Das ist im Moment die Balance, mit der wir kämpfen. Was wird sich in den nächsten zehn Jahren ändern, dass diese unerwünschten Effekte eine nicht mehr so große Rolle spielen? 9 / 71 Wiendl: Zwei Dinge. Erstens: Wir werden immer näher an eine maßgeschneiderte Therapie kommen. MS ist eher heterogen. Es gibt Varianten, die haben einen sehr milden Verlauf. Da müssen Ärzte nicht die schwersten Geschütze auffahren. Ein Patient mit einem mittelschweren Verlauf bekommt ein mittelwirksames Medikament, bei dem aber die Nebenwirkungen überschaubar sind. Oder wir sagen einem anderen Patienten: "Sie sind ein Hochrisikopatient. Sie brauchen jetzt wirklich ein stark wirksames Medikament."" Wir hoffen, dass wir die Heterogenität der MS soweit verstehen und vorhersagen können, dass wir für jeden Patienten das richtige Medikament anwenden können. Das zweite Ziel: Bei den bestehenden Therapeutika das Risiko schwerer Nebenwirkungen zu minimieren. Bei welchen Hinweisen sollte man sich auf eine MS untersuchen lassen? Wiendl: Wenn ein neurologisches Problem wie Lähmungen, Taubheit, Sehoder Gleichgewichtsstörungen über mehr als 24 Stunden anhält, sollte das immer ein Anlass sein, einen Neurologen aufzusuchen. Gegen Herzinfarkt kann ich mehr Sport treiben, gegen Schlaganfall weniger rauchen. Was soll ich machen, wenn ich besonders viel Angst vor MS habe? Wiendl: Es gibt keine spezielle Maßnahme, MS zu verhindern. Gesunde Lebensführung trägt sicher dazu bei, nicht autoimmun zu erkranken: salzarme Kost, schauen, dass der VitaminD-Spiegel in Ordnung ist, nicht rauchen, mehr in die Sonne gehen. So senkt man das Risiko aber nur in einem sehr, sehr geringen Maße. Die Auswirkungen sind viel geringer als zum Beispiel die des Abnehmens oder Nichtrauchens, um das Risiko eines Schlaganfalls zu verringern. Professor Heinz Wiendl., Foto: © PMG Presse-Monitor GmbH 10 / 71