8 8.1 Mehrstufige Zufallsexperimente Beispiel In einer Urne befinden sich drei Würfel“, ein Würfel mit den Zahlen von eins bis sechs (W ), ein Würfel ” mit den geraden Zahlen von 2 bis 12 (G) sowie ein Dodekaeder (Zwölfflach) mit den Zahlen von 1 bis 12 (D). Es wird zufällig einer dieser Körper gezogen und anschließend geworfen. Man bestimme einen geeigneten Wahrscheinlichkeitsraum. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, eine 6 (10,11,12) zu erzielen? Offensichtlich ist die Ergebnismenge Ω = {1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12}. Eine Laplace-Annahme für diese Ergebnismenge erscheint jedoch nicht sinnvoll. Man kann dieses Experiment als Folge zweier Experimente deuten: Im ersten Experiment wird einer von drei Körpern ausgewählt (hierfür ist eine Laplace-Annahme angebracht), im zweiten Experiment wird dieser Körper geworfen und auch hierbei ist für die drei naheliegenden Wahrscheinlichkeitsräume jeweils eine Laplace-Annahme sinnvoll, im Falle der Würfel ist dann die Ergebniswahrscheinlichkeit 1 1 6 , im Falle des Dodekaeders ist sie 12 . Da die Wahrscheinlichkeit, eine 6 zu erzielen (A6 = {6}), nach der Ziehung eines Würfels höher ist als nach der Ziehung des Dodekaeders, hängt die Wahrscheinlichkeit des zweiten Experiments vom ersten ab. Wir haben es daher mit einer bedingten Wahrscheinlichkeit zu 1 tun. Es gilt mit den obigen Bezeichnungen: P (A6 |W ) = P (A6 |G) = 16 sowie P (A6 |D) = 12 . Die totale Wahrscheinlichkeit ergibt sich also nach Satz 2 aus dem letzten Kapitel als Summe P (A6 ) = P (W ) · P (A6 |W ) + P (G) · P (A6 |G) + P (D) · P (A6 |D) = 1 1 1 1 1 1 5 · + · + · = . 3 6 3 6 3 12 36 Ähnlich bestimmt man nun die totalen Wahrscheinlichkeiten P (A10 ), P (A11 ) und P (A12 ). Es lassen sich auch Fragestellungen angeben, die umgekehrte bedingte Wahrscheinlichkeiten benötigen: Angenommen, es ist bekannt, dass eine 6 (10, 11, 12) erzielt wurde. Mit welcher Wahrscheinlichkeit wurde in der ersten Stufe das Dodekaeder gezogen? Mit den beiden Würfeln lassen sich Sechsen leichter“ erzielen als mit dem Dodekaeder, also sollte das ” Ergebnis weniger als 13 sein. Dies ist auch nach der Theorie des letzten Kapitels der Fall. Für die gesuchte Wahrscheinlichkeit P (D|A6 ) gilt nämlich nach dem Multiplikationssatz (zwei Mal verwendet): P (D|A6 ) = P (D) · P (A6 |D) P (D ∩ A6 ) = = P (A6 ) P (A6 ) 1 3 · 1 12 5 36 = 1 . 5 Analog lassen sich P (D|A10 ), P (D|A11 ) und P (D|A12 ) ermitteln. 8.2 Baumdiagramme Eine übersichtliche Form, derartige mehrstufigen Zufallsexperimente darzustellen, ist das Baumdiagramm. Jede Verzweigung hierin heißt Ast des Baumes. An den Ästen vermerkt man die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten. Hierbei ist auf den höheren Stufen des Experimentes stets die bedingte Wahrscheinlichkeit einzutragen, also diejenige, bei der das Ereignis, das zum Verzweigungspunkt führt, gegeben ist. Alle Äste, die zu einem bestimmten Endpunkt des Baumes führen, bilden einen Pfad. Durchläuft man einen bestimmten Pfad, so erhält man das Ereignis, das aus der Schnittmenge aller durch die Äste gebildeten Ereignisse besteht. Als Anwendung des Multiplikationssatzes ergibt sich Satz 1 (1. Pfadregel) Die Wahrscheinlichkeit für das durch einen Pfad bestimmte Ereignis im Baumdiagramm ist das Produkt der Einzelwahrscheinlichkeiten längs des Pfades. Als Probe für einen Baum eignet sich die Tatsache, dass auch die Wahrscheinlichkeiten für die Ereignisse in den Endpunkten des Baumes ein Wahrscheinlichkeitsmaß bilden, d.h. die Summe der Wahrscheinlichkeiten aller Endpunkte muss stets 1 ergeben. Ferner müssen in jedem Teilbaum die bedingten Wahrscheinlichkeiten in der Summe ebenfalls 1 ergeben. Aus der Formel für die totale Wahrscheinlichkeit ergibt sich im Baumdiagramm Satz 2 (2. Pfadregel) Besteht ein Ereignis aus mehreren Pfaden (d.h. kann ein Endpunkt über verschiedene Verzweigungen, also unterschiedliche Zwischenergebnisse erreicht werden), so addieren sich die Wahrscheinlichkeiten dieser Pfade zur totalen Wahrscheinlichkeit. 8.3 Vorgehensweise Wenn sich ein Zufallsexperiment als mehrstufiges Experiment deuten lässt, d. h. als eine Folge einfacher (einstufiger) Experimente, empfiehlt sich folgende Vorgehensweise: 1. Zerlegung des Experimentes in geeignete einstufige Experimente 2. Anfertigen eines Baumdiagramms (mit geeigneten einfachen Abkürzungen für die möglichen Ereignisse) 3. Eintragen der (bedingten) Wahrscheinlichkeiten an den einzelnen Ästen (soweit für die Fragestellung benötigt) 4. Bestimmen der Gesamtwahrscheinlichkeit für das gegebene Ereignis (das sich möglicherweise über mehrere Pfade ergeben kann) 8.4 Ein weiteres Beispiel Beim Würfelspiel Mensch ärgere dich nicht darf man erst mit einer Sechs anfangen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, länger als zehn Würfe warten zu müssen? Dieses Experiment kann als zehnstufiges Zufallsexperiment verstanden werden. Auf jeder Stufe wird mit der Wahrscheinlichkeit 65 keine 6 erzielt. Also gilt für das Ereignis A10 ( 10 Würfe lang wird keine 6 ” 10 ≈ 0,1615. Für dieses Experiment hatten wir schon früher eine (abzählbar erzielt.“): P (A10 ) = 65 unendliche) Ergebnismenge Ω formuliert. Ω kann nämlich als disjunkte Vereinigung der Ergebnisse Bi ( Im i-ten Wurf wird die erste 6 erzielt.“), i ∈ N, verstanden werden. Offensichtlich gilt: P (Bi ) = ( 56 )i−1 · 16 . ” Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass spätestens nach n Würfen die erste Sechs gefallen ist (Cn ), ist dann gegeben durch n i=n i−1 i=n−1 i X 5 5 1 1 X 1 1 − ( 56 )n 5 P (Bi ) = P (Cn ) = · = · = · =1− . 5 6 6 6 6 6 6 1 − 6 i=1 i=1 i=0 i=n X Damit ist Cn das Gegenereignis zu An ( n Würfe lang wird keine 6 erzielt.“). Interessant ist nun, dass ” P (Cn ) tatsächlich für kein n den Wert 1 annimmt, es ist also für kein n sicher, dass bis zum n-ten Wurf eine 6 erzielt wurde. Allerdings ist z. B. P (C100 ) ≈ 0,9999999879. Es gilt: limn→∞ P (Cn ) = 1. Damit ist also auch das erste Kolmogorov-Axiom erfüllt (Summe der Wahrscheinlichkeiten aller Ergebnisse ist 1). Wie in diesem Beispiel ersichtlich, genügt es oft, das Baumdiagramm auf die beiden Fälle Ereignis“ und ” Gegenereignis“ zu beschränken. Schließlich ist es uninteressant, ob zwischendurch eine 4 auftritt oder ” nicht. 8.5 Übungen 1. Eine Urne I enthält 4 rote, 3 schwarze und 2 weiße Kugeln, eine Urne II 3 rote, 4 schwarze und 5 weiße Kugeln. Es wird eine Kugel aus einer der beiden Urnen gezogen. Bestimmen Sie die Wahrscheinlichkeiten für folgende Ereignisse: a) R, S, W : Die gezogene Kugel ist rot (schwarz, weiß).“ ” b) A: Eine gezogene rote Kugel stammt aus Urne I.“ ” c) B: Eine gezogene rote Kugel stammt aus Urne II.“ ” d) C: Eine aus Urne I gezogene Kugel ist rot.“ ” 2. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass nach zehn Würfen mit einem normalen Würfel jede Augenzahl mindestens einmal aufgetreten ist?