Durch Bewegung zur Ruhe kommen Die Verbindung von Karate und Tai Chi als ergänzende Therapieform für Kinder mit ADHS – ein Fallbeispiel Erstellt von: Katrin Rose & Antje Salomo Datum: 20.08.2016 Abschlussarbeit im Rahmen der Tai Chi Ausbildung des Instituts für Bewegungspädagogik Kassel VORWORT Bereits seit einigen Jahren sind wir nicht nur selbst begeisterte Karateka, sondern auch motivierte Trainer für Kinder im Bushido Ilmenau. Früh haben wir gemerkt, dass Karate und Tai Chi nicht nur auf den Körper, sondern auch auf den Geist positive Auswirkungen haben, sowohl bei Erwachsenen, als auch bei Kindern. Gerade bei Kindern, die unter Aufmerksamkeitsdefiziten und/oder Hyperaktivität leiden, haben sich in unseren Augen die zwei Sportarten bewährt. Unser Anliegen mit dieser Arbeit ist es, den Kindern unsere Erfahrungen aus Karate und Tai Chi Chuan näher zu bringen, sowie die Kampfkünste miteinander zu verknüpfen. Somit sollen nicht nur Körper- und Selbstbewusstsein, sondern auch Gleichgewicht, Stabilität und eine natürliche Entspannungsfähigkeit trainiert werden. Nicht zuletzt steht durch das gemeinsame Training auch die Förderung sozialer Kompetenz im Vordergrund. Wir hoffen mit dieser Arbeit einen kleinen Einblick in die Vielfältigkeit und Besonderheit der zwei Sportarten geben und vielleicht auch eine Brücke zu einer etwas anderen Therapieform schaffen zu können. Katrin Rose geb. 19.04.1966 Antje Salomo geb. 28.11.1970 Ingenieurin für Glastechnik / Karatetrainerin seit 2007 Erzieherin / Karatetrainerin seit 2008 Tai Chi Chuan – Übende seit 2012 Tai Chi Chuan – Übende seit 2012 2 INHALTSVERZEICHNIS 1. Einleitung - Die Bedeutung von Entspannung im Vorschul-/Schulalter .......................... 4 2. Grundlagen ............................................................................................................................................... 6 2.1 Tai Chi Chuan ........................................................................................................................................ 6 2.1.1 Ursprünge und Philosophie .................................................................................................... 6 2.1.2 Die Tai Chi Chuan Form und ihre Stile................................................................................ 7 2.1.3 Effekte für die Gesundheit ....................................................................................................... 8 2.2 Karate ...................................................................................................................................................... 9 2.2.1 Ursprünge und Philosophie .................................................................................................... 9 2.2.2 Einteilungen und Fähigkeitsgrade ..................................................................................... 10 2.2.3 Selbstverteidigung .................................................................................................................... 11 2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede ........................................................................................ 11 3. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ................................................................. 13 3.1 Allgemeine Definition und Diagnose ......................................................................................... 13 3.2 Symptome bei Kindern ................................................................................................................... 14 3.3 Ursachen............................................................................................................................................... 15 3.4 Bisherige Behandlungsmöglichkeiten ...................................................................................... 16 3.4.1 Nicht-medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten .................................................... 17 3.4.2 Medikamentöse Behandlung ................................................................................................ 18 4. Fallbeispiel – Finnegan D. ................................................................................................................. 19 4.1 Alternativmethode Tai Chi Chuan – Karate als mögliche Ergänzung zur herkömmlichen medikamentösen Behandlungen. ..................................................................... 19 4.2 Persönliche Daten und Vorgeschichte von Finnegan D. .................................................... 19 4.3 Protokolle ............................................................................................................................................ 19 5. Auswertung .............................................................................................................................................. 24 5.1 Beurteilung durch die Trainer / Autoren ................................................................................ 24 5.2 Beurteilung von Finnegan und seiner Mutter ....................................................................... 26 6. Abschließende Worte ............................................................................................................................. 27 3 1. EINLEITUNG - DIE BEDEUTUNG VON ENTSPANNUNG IM VORSCHUL-/SCHULALTER “Entspannung ist eine hohe Kunst, die geduldiger Übung bedarf.“ (Barbara Wanderer) Sowohl aus dem Kindergarten-Alltag, als auch aus dem Trainingsbereich Karate mit Kindern, haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Zahl von Kindern, die als motorisch unruhig oder aggressiv auffallen, stark wächst. Betrachtet man den teilweise prall gefüllten Alltag eines Vorschul- bzw. Schulkindes, so fragen wir uns: Wo bleibt für das Kind genügend Zeit für Ruhe und Entspannung? Ein breit gefächerter Medienkonsum, Bewegungsmangel und zu wenige Freiräume für kreatives, freies Spielen, Forschen und Entdecken in der Natur erschweren den natürlichen Entspannungsprozess. Stattdessen ist ihr Körper permanentem Stress ausgesetzt, was nicht selten physische und psychische Probleme nach sich zieht. Beobachtet man Vorschulkinder, so sieht man noch ganz genau, was die „Natur“ des Menschen sein muss. In der Regel stehen, sitzen, bücken und bewegen sich Kleinkinder richtig – ohne Anspannung oder Blockaden. Dies ändert sich jedoch spätestens mit der Schulpflicht. Hier kommen sie mit anderen Kindern zusammen, mit denen sie sich arrangieren müssen, auch mit denen, die sie vielleicht nicht mögen, was ihr soziales Verhalten prägt. Sie müssen länger sitzen und schwerer tragen, woraus Haltungsschäden entstehen können. Sie müssen erzieherische Maßnahmen durch eine „neue“ Bezugsperson, den oder die Lehrer/-in auf sich nehmen und z.B. neue Regeln einhalten. Viele Kinder leiden häufig an Überforderung und geringem Selbstwertgefühl. Sie haben Angst davor, sich ausgeschlossen, nicht wahrgenommen und nicht geliebt zu fühlen. Während die Einen sich innerlich zurücknehmen, in die sogenannte Opferhaltung gehen, gehen die Anderen in Konfrontation und schlagen im Streit einfach drauf los. Unser Ziel ist es, dieses innere emotionale Ungleichgewicht im Karate und Tai Chi Training so zu regulieren, dass auch diese Kinder in der Lage sind, ihre Gefühle in Stress- und Konfliktsituationen so lenken zu können, dass sie - Anderen und sich selbst nicht schaden - ihr körperliches und geistiges Gleichgewicht in Einklang bringen. - sich selbst besser wahrnehmen lernen und 4 Durch achtsame Sinnes- und Körperwahrnehmungsübungen, ruhige Atemübungen und Übungen zur Verbesserung der Körperhaltung stärken wir ihre Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung. Wir wollen Stressgefühle abbauen, was sich auf das vegetative Nervensystem beruhigend und wohltuend auswirkt. Durch das Erlernen bestimmter Techniken und Methoden aus dem Tai Chi und Karate erlangen die Kinder mehr und mehr Empathie. Sie werden befähigt, Gedanken und Emotionen anderer Personen zu erkennen und zu verstehen sowie auf ihre Gefühle zu reagieren – so z.B. mit Mitleid, Trauer oder einem Hilfsimpuls. In aufmerksamen, langsamen und ruhigen Bewegungsabläufen sollen die Kinder lernen, auf bestimmte Körpersignale, wie eine aufrechte Haltung, Entspannung der Muskeln und ein Gleichgewicht in der Bewegung zu achten. Während bestimmter Partnerübungen sollen sich diese Aufmerksamkeiten dann verfestigen. Die Kinder sollen so lernen, sich gegenseitig zu helfen und auch helfen zu lassen. Sie sollen Fähigkeiten entwickeln, die wichtige Voraussetzungen für den konstruktiven Umgang mit negativen Erfahrungen in allen Lebensbereichen sind, wie - Selbstbeobachtung - Selbstkontrolle und - Selbstberuhigung Selbstbewusste friedfertige Haltung. In ruhiger und entspannter Atmosphäre wollen wir ein bewusstes Körpererleben, ganz ohne Leistungsdruck, entwickeln und fördern. 5 2. GRUNDLAGEN 2.1 TAI CHI CHUAN 2.1.1 URSPRÜNGE UND PHILOSOPHIE Die Wurzeln des heutigen Tai Chi Chuan liegen Jahrtausende zurück. Bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. entstand zur Zeit des legendären Gelben Kaisers (Huang-Ti, Figur des Urkaisers) eine Art Präventivmedizin, die u. a. Ernährung und Bewegung umfasste. Einige Jahrhunderte später (2200 v. Chr.) soll der Kaiser Yü, für die Bevölkerung einen Satz Bewegungsübungen zur Gesunderhaltung angeordnet haben. Seit ca. 1500 v. Chr. entwickelten sich in China verschiedene Kampfkünste, besonders in den taoistischen Klöstern. Die erste prinzipiengeleitete Ausübung des Tai Chi Chuan, wird einem Mönch namens Chang San-Feng (12. Jahrhundert n. Chr.) zugeschrieben. Der Legende nach beobachtete er den Kampf zwischen einem Kranich und einer Schlange. Er erkannte hierbei, dass das Weiche das Harte besiegte, so entwickelte er einen weichen Kampfstil. Tai Chi Chuan ist eine alte chinesische innere Kampfkunst. Es kann mit „das erhabene Letzte“ übersetzt werden und ist ein traditioneller Begriff aus der taoistischen Philosophie. „Chuan“ bezieht sich auf die Faust („mit leerer Faust kämpfen“) und verweist auf den Ursprung des Tai Chi Chuan als Selbstverteidigungspraktik. So will die Kombination der Silben „Tai Chi“ und „Chuan“ auf eine tiefergehende, philosophisch begründete Bewegungstradition verweisen, die zur Selbstverteidigung des Menschen im engeren, aber auch im erweiterten Sinne (Gesundheit, Selbsterkenntnis ...) angewandt werden kann. „Der Mensch strebt von seiner Natur aus nach oben, wie das Wasser bergab fließt.“ (Laotse) Wohl jeder sehnt sich nach einem innerlich erfüllten Leben, ohne Stress, ohne Sorgen und Angst. Das war schon immer so. Bereits vor Jahrtausenden suchten Menschen nach ganz praktischen Wegen, diesen Wunschtraum Wirklichkeit werden zu lassen. So erkannten die taoistischen Weisen in China allgemeingültige Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur. Sie blieben nicht bei theoretisch-philosophischen Überlegungen, sondern entwickelten Übungen, die Jeden aus eigener Erfahrung an der ursprünglichen Harmonie zwischen Mensch und Natur teilhaben lassen. Einfach ausgedrückt: Sei natürlich, folge dem Vorbild der Natur, und du bist innerlich gefestigt, geistig klar und körperlich gesund. Das klingt wunderbar und einfach! Aber wie kann man dies erreichen? Tai Chi Chuan ist ein wertvoller Begleiter, um dieses Ziel zu erreichen. 6 „Das Härteste in der Welt wird vom Weichsten und Geschmeidigsten bezwungen.“ (Laotse) Tai Chi ist ein praktischer, innerer Übungsweg, der Weichheit und Nachgeben statt Starrheit und Härte lehrt, der eine Harmonisierung von Körper und Geist und der polaren Kräfte Yin und Yang anstrebt. Voraussetzung für die Stärkung und Kultivierung der inneren, vitalen Energie „Chi“. „Der Mensch lebt inmitten von Qi, und Qi erfüllt den Menschen. Angefangen bei Himmel und Erde bis zu den zehntausend Wesen braucht alles Qi, um zu leben.“ (Huang Di Nei Jing – Der Klassiker des Gelben Kaisers) In Jahrhunderten intensiver Auseinandersetzung entwickelt und immer weiter verfeinert, hat Tai Chi Chuan Einflüsse aus drei Strömungen der Kulturgeschichte Chinas in sich aufgenommen: Der taoistischen Philosophie und Meditationspraxis, der Tradition der Heilkünste und Medizin, sowie aus den vielfältigen Kampfkunstsystemen. Das äußere Erscheinungsbild sind: Langsame, gleichmäßig fließende Bewegungen, die wie ein Tanz anmuten. Leicht, geschmeidig, entspannt und im Gleichgewicht, scheinen die Übenden dabei in der Luft zu schwimmen und doch mit der Erde verbunden zu sein. Dieser Bewegungsablauf – „die Tai Chi Chuan-Form“ genannt – ist festgelegt und strukturiert, dadurch jederzeit und an jedem Ort wiederholbar – allein oder mit anderen Menschen zusammen. Eine wirkungsvolle Meditation in Bewegung, mit der man die Alltagsroutine unterbrechen kann – innehalten, um sich zu entspannen, Hektik und Nervosität abzubauen und in nutzbare Energie umzuwandeln. Tai Chi Chuan ist für alle geeignet, die eine meditative Praxis suchen, die den Körper mit einbezieht. Da Überanstrengung vermieden wird, Loslassen und Zulassen eine große Rolle spielen, ist es auch für ältere Menschen zu empfehlen. Zum Üben von Tai Chi Chuan braucht man wenig Platz und keine besondere Ausrüstung. Es kann nahezu von Jedem praktiziert werden, ob im Park, am Strand oder zu Hause. Einmal erlernt kann es ein Leben lang geübt werden und ist ein effektives Mittel zur Gesunderhaltung von Körper und Geist. 2.1.2 DIE TAI CHI CHUAN FORM UND IHRE STILE Die Bewegungen oder Stellungen, die in einer festgelegten Choreographie nach den Tai Chi Chuan Prinzipien ausgeführt werden, bezeichnet man als Tai Chi Chuan Form, vergleichbar z.B. mit der Kata des Karate. Meist werden Kurzformen gelehrt. Es gibt aber auch Lang-, Partner-und Waffenformen. Es gibt viele verschiedene Stile im Tai Chi Chuan. Die bekanntesten sind der Yang-, Chen- und Wu-Stil. Traditionell wurden die Stile nach den Familien benannt, die sie entwickelt haben (z. B. 7 Yang-Familie, Yang-Stil). Mittlerweile wurden unzählige Stile entwickelt und es entstehen weiterhin neue Stilrichtungen. Wir erlernen den Yang-Stil nach Yang Luchan und Yang Chengfu (1883-1936). Auf dem Yang-Stil basiert auch die bekannte Peking-Form mit 24 Bildern, die 1956 in der Volksrepublik China offiziell zur Gesundheitsvorsorge eingeführt wurde. 2.1.3 EFFEKTE FÜR DIE GESUNDHEIT Tai Chi wird in China schon seit vielen Jahren zur Prävention und zur Unterstützung des Heilungsprozesses verschiedener Krankheiten eingesetzt. Es ist ein wesentlicher Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), wie z.B. die Akupunktur. Neben den klassischen Beschwerden wie Rückenschmerzen, Stress, Schulter- und Nackenverspannungen, soll Tai Chi Chuan positiv bei Beschwerden wie Arthritis, Asthma, Bluthochdruck, Kopfschmerzen, Migräne, Herz-Kreislauferkrankungen, Gelenkschmerzen, Rheuma, Tinnitus, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und Osteoporose wirken. Des Weiteren soll das Gleichgewichtsgefühl und die Verdauung verbessert, sowie das Nerven- und Immunsystem positiv beeinflusst werden. Durch die Art und Weise der Bewegung, die in der Regel langsam, gleichmäßig und fließend ausgeführt werden, wird sich der Übende nach und nach entspannen. Die Atmung wird langsamer, ruhiger und tiefer. Nach längerem Üben werden Körper und Geist beweglicher. Die Gelenkstellungen werden optimiert und die Körperhaltung verbessert sich zunehmend. Traditionell spricht man auch vom „Ölen der Gelenke“. Tai Chi Chuan stärkt Knochen, Muskeln, Sehnen und Bänder. Der meditative Aspekt des Übens hingegen dient der Klärung des Geistes. Die „Entschleunigung“ der Bewegungen kombiniert mit tiefer, natürlicher Atmung (Zwerchfell- oder Bauchatmung) und die damit einhergehende Tiefenentspannung wirken sich äußerst positiv auf das Nervensystem aus und verbessern u. a. durch den erhöhten Sauerstoffgehalt in Blut und Gewebe den Stoffwechsel. Der Übende fühlt sich entspannter. Tai Chi Chuan hat eine ausgleichende Wirkung auf den Übenden und führt zu mehr Gesundheit, Vitalität, Fitness und Lebensfreude. Diese Effekte können sich schon nach kurzer Zeit des regelmäßigen Übens einstellen und intensivieren sich zunehmend. 8 Die 10 Grundregeln: Die folgenden „zehn Grundprinzipien“ von Yang Chengfu fassen die angestrebte Körper- und Geisteshaltung eines Übenden zusammen. In den verschiedenen Stilen gibt es darüber hinaus eine Vielzahl von weiteren Prinzipien. 1. Halte den Kopf aufrecht, um deinen Geist zu entfalten 2. Lockere die Ellenbogen, damit die Schultern sinken 3. Brust und Rücken sollen entspannt sein 4. Lockere deine Taille 5. Verteile das Gewicht richtig (Fülle / Leere) 6. Bringe Ober- und Unterkörper in Einklang 7. Deine Bewegungen sollen fließen 8. Verbinde den Geist mit dem Körper 9. Gebrauche Yi (Intention, Absicht), nicht rohe Kraft (Muskelkraft) 10. Suche die Ruhe in der Bewegung und die Bewegung in der Ruhe 2.2 KARATE 2.2.1 URSPRÜNGE UND PHILOSOPHIE Auch Karate ist eine sehr alte Kampfkunst. Die genaue Bezeichnung „Karate Do“ bedeutet wörtlich übersetzt „leere Hand“ (Karate) und „Weg“ (Do). Japanisch – „Weg der leeren Hand“ wurde früher meist nur als Karate bezeichnet und ist unter dieser Bezeichnung noch heute am häufigsten bekannt. Der Zusatz „Do“ wird verwendet, um den philosophischen Hintergrund der Kunst und ihre Bedeutung als Lebensweg zu unterstreichen. Im wörtlichen Sinn heißt das: Der Karateka (Karatekämpfer) ist waffenlos, seine Hand ist leer. Das „Kara“ (leer) ist aber auch ein ethischer Anspruch. Danach soll der Karateka sein Inneres von negativen Gedanken und Gefühlen befreien, um bei allem, was ihm begegnet, angemessen handeln zu können. Im Training und im Wettkampf wird dieser hohe ethische Anspruch konkret: Nicht Sieg oder Niederlage sind das eigentliche Ziel, sondern die Entwicklung und Erfahrung der eigenen Persönlichkeit durch Selbstbeherrschung und äußerste Konzentration. Die Achtung des Gegners steht an oberster Stelle. „Unter den größten Dingen dieser Welt ist die Leerheit bei weitem das Größte.“ (Leonardo da Vinci) Karate ist eine Kampfkunst, dessen Ursprünge bis etwa 500 Jahre n. Chr. zurückreichen. Die Anfänge des heute auf der ganzen Welt beliebten Karate lassen sich bis nach China zurückverfolgen. Als Entstehungsort der alten chinesischen Kampfkunst ist das buddhistische Kloster der „Shaolin“ bekannt. Chinesische Mönche, die keine Waffen tragen durften, 9 entwickelten aus gymnastischen Übungen im Laufe der Zeit eine spezielle Kampfkunst zur Selbstverteidigung. Von dort begann seine Verbreitung in alle Kontinente. „Karate ist wie heißes Wasser, das abkühlt, wenn du es nicht ständig warm hältst.“ (Gichin, Funakoschi) Als Sport ist Karate relativ jung. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in Japan aus der traditionellen Kampfkunst ein Kampfsport mit eigenem Regelwerk. Seinen Ursprung hat das heutige Karate in Okinawa, einer Insel zwischen Japan und China, die als wichtiger Handelspunkt mal unter japanischen und mal unter chinesischen Einflüssen stand, aber bis zum Jahr 1875 ein unabhängiges Königreich war. Gichin Funakoshi (1868 – 1957) ist Begründer des modernen Karate-Do. Es gibt viele Legenden und Erzählungen über die Geschichte dieser Selbstverteidigungskunst. So wird erzählt, dass einige Meister des Okinawa-te China bereisten, um Erfahrungen für ihre Fertigkeiten zu sammeln. Dann kehrten sie zurück und gaben ihr Wissen an ihre Familien weiter. Einer jedoch brach diese Tradition am Anfang des 20. Jahrhunderts und reiste statt nach China nach Japan. Gichin Funakoshi war sehr friedliebend und den Menschen sehr zugetan. So entwickelte er Techniken, die jeder erlernen konnte, nicht nur ein bestimmter Teil der Bevölkerung. Schließlich wurde Okinawa-te für die Erziehung anerkannt und an den japanischen Schulen als Sport gelehrt. Erst 1957 wurde Karate in Deutschland eingeführt und verbreitete sich auch hier sehr schnell. Gichin Funakoshi entwickelte den Shotokanstil, der auch in unserem Dojo (Übungsstätte) vermittelt wird. Heute unterteilt man vier große japanische Stilrichtungen, Goju-Ryu, Shotokan, Shito-Ryu und Wado-Ryu, die ihrerseits auf zwei ebenfalls recht verbreitete okinawanische Stileen, dem Shorei-Ryu und Shorin-Ryu, zurückgehen. „Wird Karate Do mit guten Absichten angewandt, dann ist diese Kunst von großem Wert. Wird diese Kunst jedoch missbraucht, dann gibt es keine schlimmere oder schädlichere Kunst als Karate.“ (Gichin Funakoschi) 2.2.2 EINTEILUNGEN UND FÄHIGKEITSGRADE Karate wird oftmals gleichgesetzt mit Bretterzerschlagen. Dieses Vorurteil entstammt öffentlichen Schauvorführungen, die auf Publikumswirksamkeit abzielen und Karate zur zirkusreifen Artistik erklären. In Wirklichkeit ist Karate jedoch alles andere als ein Sport für Selbstdarsteller. Im Training und Wettkampf werden Fuß- und Fauststöße vor dem Auftreffen abgestoppt. Voraussetzungen dafür ist Selbstdisziplin, Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Partner und natürlich eine gute Körperbeherrschung, die im Kihon (Grundschule) systematisch aufgebaut wird. Aufgrund seiner vielseitigen Anforderungen an Körper und Geist ist Karate ideal als Ausgleich zu den Anforderungen des Alltags. Der Karateka trainiert Kraft, 10 Ausdauer, Schnelligkeit und Beweglichkeit. Das macht fit! Mit Entspannungstechniken, Atemübungen und Meditation steigert er seine Konzentrationsfähigkeit und schult die eigene Körperwahrnehmung. Das Training setzt sich aus drei Bereichen zusammen: Kihon – Die Grundschule: Die Anfänger lernen Grundtechniken, bestehend aus zahlreichen Abwehr- und Angriffstechniken. Wichtig sind: Ein korrekter Stand, Gleichgewicht, Koordination, richtige Atmung und Zielgenauigkeit. Kata – Die stilisierte Form des Kampfes: Hiermit wird ein festgelegter Ablauf von Techniken aus dem Bereich der Grundschule Kihon bezeichnet. Insgesamt gibt es 27 verschiedene Katas. Diese bestehen jeweils aus einer genau festgelegten Reihenfolge von Grundtechniken (Angriffsund Abwehrtechniken), wobei es hier viele interessante Drehungen und Richtungswechsel gibt, weshalb die Kata ein wichtiger Bestandteil des Karates ist. Kumite – Die Partnerübung: Im Kumite lernen wir die Anwendung der Techniken, die in der Grundschule erlernt wurden, jetzt zusammen mit einem Partner. Dabei treffen wir jedoch unseren Partner nicht, das heißt, wir müssen in der Lage sein, unsere Karatetechnik kurz vor dem Ziel zu stoppen. Dies erfordert ein hohes Maß an Körperbeherrschung. Besonders wichtig sind auch Achtung, Respekt und Rücksichtnahme. Der freie Kampf ist die höchste Form des Kumite. Der jeweilige Übungsstand wird dann in einzelnen Gürtelprüfungen (Graduierungen) abgelegt. Die Gürtelfarbe zeigt dabei die jeweilige Leistungsstufe an: Anfänger besitzen den weißen Gürtel und können dann zu gelb, orange, grün, blau, braun und schließlich schwarz – dem „Dan“ (Meister) – aufsteigen. „Fürchte dich nicht vor dem langsam Gehen, aber hüte dich davor, stehen zu bleiben.“ (Chinesische Wahrheit) 2.2.3 SELBSTVERTEIDIGUNG Viele Karateka üben ihren Sport aus, um sich im Notfall selbst verteidigen zu können. Tatsächlich ist Karate dafür recht wirksam und praktikabel. Kraft und körperliche Statur spielen in der Karate-Selbstverteidigung nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger sind Schnelligkeit, Geschicklichkeit und Gelassenheit. Nur wer bei einem Angriff nicht in Panik gerät, kann sich sinnvoll verteidigen. Daher vermitteln spezielle Lehrgänge neben technischen Fertigkeiten auch die psychologischen Komponenten der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung, was diese Aspekte der Karate-Selbstverteidigung für Frauen und Mädchen sehr interessant macht. Karate eröffnet dabei für jede Altersgruppe und Interessenlage ein breites sportliches Betätigungsfeld, 11 ob Ausgleichssport, allgemeine Fitness oder Selbstverteidigung. Durch die Vielseitigkeit fördert Karate Gesundheit und Wohlbefinden und ist für Alt und Jung gleichermaßen spannend. 2.3 GEMEINSAMKEITEN UND UNTERSCHIEDE Wie bereits beschrieben wurde, gehören beide Sportarten zu den sogenannten Kampfkünsten und lassen sich bis ins alte China zurückverfolgen. Sie wirken stärkend auf Körper und Geist und dienen der Suche nach dem Weg der Selbstverteidigung, Selbstfindung und Selbsterfahrung. Sowohl Karate als auch Tai Chi schulen die Körperwahrnehmung und die Koordination. Außerdem werden bei regelmäßigem Training Muskeln aufgebaut, die Fehlhaltungen vorbeugen und die körperliche Verfassung insgesamt festigen und verbessern. Weder beim Karate noch beim Tai Chi muss man besondere körperliche Voraussetzungen erfüllen, Geschlecht, Alter und kulturelle Herkunft spielen keine Rolle. Selbst einzelne Übungsabfolgen und Techniken ähneln sich (z.B. Grundschritt: Karate „Zenkutsu Dachi“, Tai Chi Chuan „Bogenschritt“) und nicht zuletzt kommen bei beiden Kampfkünsten die Bewegungen aus der Mitte des Körpers (z.B. Chi – Energie: Karate „Hara“, Tai Chi Chuan „Dan Tien“). Ein wesentlicher Unterschied beider Sportarten bezieht sich auf das bewusste trainieren der Gesundheit, das beim Tai Chi Chuan im Fokus steht. Aus diesem Grund sind sowohl die Bewegungen als auch die Atmung hier eher langsam und fließend. Die komplexen, langsamen Bewegungen lenken die Konzentration auf den eigenen Körper und es entsteht äußere Bewegung und innere Ruhe. Währenddessen steht in der heutigen Zeit im Karate der sportliche Aspekt im Vordergrund (bezugnehmend auf das Training mit Kindern), weshalb der gesundheitliche Aspekt eher eine unbewusste „Nebenwirkung“ darstellt. Die Ausführung der Techniken ist sehr kraftvoll und schnell, sowie konzentriert auf den Punkt gebracht, und auch die Atmung erfolgt stoßartig („Kime“). Nicht zuletzt liegt beim Karate ein wesentlicher Fokus auf der Förderung der Selbstverteidigung, sowie Selbstbehauptung, um gefährliche Situationen frühzeitig einschätzen zu können. Eine Kombination beider Sportarten stellt also eine gute Basis für die Balance zwischen Körper und Geist her, indem die speziellen Vorteile beider Kampfkünste miteinander verbunden werden. So können neben dem Training von Selbstbewusstsein und Fitness durch Karate auch innere Ausgeglichenheit und Achtsamkeit für den eigenen Körper durch Tai Chi gefördert werden. 12 3. AUFMERKSAMKEITSDEFIZIT-/HYPERAKTIVITÄTSSTÖRUNG 3.1 ALLGEMEINE DEFINITION UND DIAGNOSE ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und bezeichnet eine Verhaltens- und emotionale Störung. Nach dem DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), dem amerikanischen Klassifikationssystem der Psychiatrie, ist ADHS durch folgende diagnostische Kernsymptome gekennzeichnet: Unaufmerksamkeit: ADHS-Betroffene haben große Schwierigkeiten, Ihre Aufmerksamkeit für längere Zeit aufrechtzuerhalten. Sie vermeiden Aufgaben, die von Ihnen geistige Anstrengungen abfordern oder erledigen diese nur mit Widerwillen. Dabei lassen sie Details oftmals außer Acht, machen Flüchtigkeitsfehler oder lassen sich durch andere sehr leicht ablenken. Motorische Überaktivität: ADHS-Betroffene laufen ziellos umher, zappeln mit Händen oder Füßen oder rutschen beim Sitzen auf ihrem Stuhl hin und her. Sowohl im Spiel als auch während anderer Freizeitaktivitäten legen sie eine gewisse Unruhe an den Tag. Sie sind immer in Bewegung und handeln oftmals unbedacht. Auffällig ist auch, dass die Betroffenen in der Regel übermäßig viel reden. Impulsivität: Unbesonnen platzen sie mit Antworten heraus, noch bevor die Frage zu Ende gestellt wird. Häufig stören sie Spiele anderer, und es fällt ihnen schwer abzuwarten, bis sie an der Reihe sind. Da es sich hierbei um eine psychiatrische Entwicklungsstörung handelt, müssen die diagnostischen Kriterien seit dem Kindesalter bestehen und für das entsprechende Alter oder den Entwicklungsstand übermäßig stark ausgeprägt sein. Neben den diagnostischen Kernsymptomen entwickeln ADHS Betroffene oft noch weitere Störungen, die den ADHS-Verlauf beeinflussen können und daher dringend mit behandelt werden sollten. Hierunter zählen z.Bsp. Entwicklungsstörungen im motorischen, sprachlichen, sozialen (Aggressivität), schulischen und/oder Wahrnehmungsbereich. Aber auch depressive Störungen oder Tic-Störungen (einschließlich dem Tourette-Syndrom) können eine Folge sein. Abzugrenzen von der Diagnose ADHS, das heißt auszuschließen, sind hingegen unter anderem folgende Störungen: - Chronische Depressive Störungen - Borderline-Persönlichkeitsstörung - - Bleivergiftung - Krankheiten der Leber - dauerhafte und beeinträchtigende Stimmungsschwankungen - Überfunktion der Schilddrüse - Epilepsie 13 - Hörverlust Schlafapnoe-Syndrom Arzneimittelwechselwirkungen Schädel-Hirn-Traumata ADHS gilt als die am häufigsten vorkommende psychiatrische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Ihre Prävalenz ist abhängig von den zugrunde liegenden Diagnosekriterien, dem angewandten Erhebungsverfahren, sowie der untersuchten Bevölkerungsgruppe. Schätzungen zu folge liegt die ADHS Störung bei etwa 3-5% der Schulkinder. Die höchste Prävalenz liegt bei Kindern im Alter unter 8 Jahren. Mit zunehmendem Alter wird die Störung seltener. In der altersspezifischen Prävalenz sind am häufigsten Jungen im Alter zwischen 10 und 12 Jahren betroffen (etwa 6-9-mal häufiger als bei Mädchen). Meist ist es eine Begleiterkrankung zu anderen diagnostizierten Störungen. Zurückbleibende Symptome, Aufmerksamkeitsdefizit, können bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. wie das 3.2 SYMPTOME BEI KINDERN Kinder mit diagnostizierter ADHS haben auf Grund dieser Störung viele soziale Probleme. In Ihren Trotz- und Wutanfällen können sie – gegenüber anderen Kindern – extrem und unerbittlich sein. Folglich meiden Eltern Situationen, in denen sie einen harten Kampf mit ihren Kindern befürchten müssen. Während andere Kinder lernen, gemeinsam zu spielen und zu teilen, wirken Kinder mit ADHS in ihrem Verhalten eher dominierend und egoistisch. Als „chronische Störer“ mischen sie Gemeinschaften auf und sorgen für viel Lärm, Streit und Chaos innerhalb der Gruppe. Dies macht sie zu Außenseitern, die nicht akzeptiert werden. In ihrem impulsiven bis aggressiven Verhalten beschädigen sie oft eigene, aber auch fremde Sachen. Nichts ist sicher, was ihnen in die Quere kommt. Selbst vor anderen Kindern wird kein Halt gemacht, sie beißen, treten, schlagen und kratzen, wenn sie ihrem Gefühlschaos freien Lauf lassen. Ihre Unaufmerksamkeit und leichte Ablenkbarkeit können alltägliche Sachen zu einer echten Herausforderung werden lassen. So kann das morgendliche Ankleiden zu einer Stundenangelegenheit werden, weil gerade etwas Anderes viel reizvoller erscheint, wie den Fernseher einschalten, ein geliebtes Spielzeug, Süßigkeiten naschen, ein Geschwisterkind necken oder Ähnliches. In Kindertageseinrichtungen werden Erzieher/-innen auf die Belastungsprobe gestellt, weil sie unaufhörlich reden, Anweisungen nicht befolgen, Ruhezeiten nicht einhalten, mit Widerworten reagieren, sich prügeln, rumblödeln, sich verstecken oder einfach wegrennen. Sie geben entweder alles an Power, oder sitzen in sich zurückgezogen in einer Ecke. Dabei mangelt es Kindern mit ADHS Störung nicht zwingend an Intelligenz und Fähigkeiten. Sie sind nur nicht in der Lage, sich ihrer gegebenen Werkzeuge zu bedienen. Ihr inneres Gleichgewicht ist gestört und sie befinden sich somit nicht eindeutig in ihrer Mitte. Somit sind sie in ihrem Verhalten gesellschaftlich nicht oder nur sehr schwer integrierbar. 14 3.3 URSACHEN Während man früher die Ursachen für ADHS ausschließlich im psychosozialen und pädagogischen Bereich suchte (Erziehungsfehler, Elternproblematik, Vernachlässigung und frühkindliche Traumata), geht man heute davon aus, dass die Ursachen sowohl im genetischen (neurobiologisch), als auch im psychosozialen (Umwelteinflüsse) Bereich liegen. Dabei werden folgende Ursachen diskutiert: Stoffwechsel- und Funktionsstörungen im Gehirn schränken die Betroffenen in ihrer Aufmerksamkeit ein, sodass sie sich nur schwer auf eine Sache konzentrieren können. Außerdem ist ihre Selbstregulation gestört. Das nicht zugreifen können auf vorhandene Fähigkeiten und Informationen erschwert ihnen eine vorausschauende Handlungsplanung. Bezugnehmend auf erbliche Vorbelastungen schätzt man das Risiko, als Kind von ADHS betroffen zu sein, auf 70-80%. Erbliche Faktoren spielen daher eine bedeutende Rolle für die Entwicklung von ADHS. Grundlage dafür sind überzeugende Belege aus Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien. Dabei sind mehrere Abweichungen im genetischen Bereich nötig, da kein Gen allein, auf Grund seiner speziellen Einflüsse, derart vielfältige Verhaltensabweichungen bewirken kann, wie bei der ADHS Störung. Aktuell geht man von mindestens 14-15 Genen aus, die – in Kombination mit anderen Einflussfaktoren (Schwangerschafts-, Geburtskomplikation oder auch mit Umwelteinflüssen) zusammen – für die Entwicklung der Symptomatik verantwortlich sind. Auch Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen zählen zu den Risikofaktoren. Unter anderem gehört hierzu der Konsum von Nikotin, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft, Sauerstoffmangel während der Geburt, ein erniedrigtes Geburtsgewicht, Infektionen, verschiedene Schadstoffe (Blei, Polychlorierte Biphenyle = krebsauslösende organische Chlorverbindungen) oder Erkrankungen bzw. Verletzungen des zentralen Nervensystems. All diese Faktoren können das Risiko des Kindes erhöhen, später an ADHS zu erkranken. Darüber hinaus können psychosoziale Einflüsse – wie familiäre Bedingungen; Bedingungen im Kindergarten und in der Schule – die Auslösung oder den Schweregrad von ADHS in erheblichem Maße mitbestimmen. Mögliche Risikofaktoren für eine ausgeprägte ADHS Störung sind u. a.: - das Aufwachsen mit einem alleinerziehenden Elternteil, in einer staatlichen Einrichtung - die psychische Erkrankung eines Elternteils - schlechte Wohnverhältnisse durch niedriges Familieneinkommen - (Kinderheim) oder in einer Pflegefamilie ständiger Streit zwischen den Eltern, vor allem vor dem Kind 15 - ein inkonsequenter Erziehungsstil mit fehlenden Regeln häufige Kritik und Bestrafung Andersherum kann aber auch eine ausgeprägte ADHS Störung negative Familienverhältnisse herbeiführen oder verschärfen. Eine gezielte multimodale Behandlung sollte das individuelle Potenzial ausschöpfen, soziale Fähigkeiten ausbauen und eventuelle Begleitstörungen mindern. 3.4 BISHERIGE BEHANDLUNGSMÖGLICHKEITEN Für die multimodale Behandlung kommen, abhängig vom Erscheinungsbild, dem Schweregrad, Art der Begleitstörungen und dem Ausmaß der Beeinträchtigung, unterschiedliche Therapieansätze zum Tragen. In einem sogenannten Gesamtbehandlungskonzept sollten sich psychosoziale, pädagogische, psychotherapeutische und medikamentöse Maßnahmen ergänzen. Unter Einbeziehung der Familie und des näheren Umfeldes (Erzieher/Lehrer, Verwandte und Freunde) wird die Behandlung individuell so angepasst, dass langfristig gesehen eine Verbesserung der Lebensqualität des Betroffenen erzielt werden kann. Hierbei ist es wichtig, umfangreiche Aufklärungsarbeit zu leisten (Entstehung, Krankheitsanzeichen, vermutlicher Verlauf, Behandlungsmöglichkeiten). Bei regelmäßigen Kontrollen schätzt der Arzt anhand verschiedener Gesichtspunkte den Behandlungserfolg ab und passt die Therapiemaßnahmen entsprechend neu an. Hierunter zählen zum Beispiel die Entwicklung des Kindes hinsichtlich der ADHS-Kriterien (Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität, Hyperaktivität), des Verhaltens und der schulischen Leistung. Aber auch die emotionale und soziale Entwicklung (Beziehung zu Eltern und Gleichaltrigen), sowie die Freizeitgestaltung und Kontrolle der Medikation werden berücksichtigt. Entsprechend dem Alter des Kindes, den aktuellen Verhaltensauffälligkeiten und seinem Auftreten in verschiedenen Lebensbereichen kommen nichtmedikamentöse und medikamentöse Maßnahmen in Betracht. 3.4.1 NICHT-MEDIKAMENTÖSE BEHANDLUNGSMÖGLICHKEITEN Das Elterntraining / Interventionen in der Familie: Voraussetzung für ein erfolgreiches Elterntraining ist vor allem die Kooperationsbereitschaft der Bezugspersonen. Während dieses Trainings werden problembelastete Verhaltensmuster in konkreten Situationen analysiert. Mit speziellen verhaltenstherapeutischen Techniken sollen die Eltern lernen, erwünschte Verhaltensmuster ihres Kindes zu loben und zu stärken und im Gegensatz dazu unerwünschte Verhaltensmuster mit negativen Konsequenzen anzuzeigen. Darüber hinaus sollen sie dazu befähigt werden, sich selbst zu beobachten und einzuschätzen, um ihre negativen Reaktionen auf ihr Kind kontrollieren zu können. 16 Interventionen im Kindergarten/in der Schule: Auch hier steht die Kooperationsbereitschaft an erster Stelle. Schule, Schulbehörden und Eltern versuchen einen Platz für das Kind zu finden, der seinen grundlegenden schulischen Leistungen entspricht. Auch hier, wie beim Elterntraining, erlernen Erzieher/-innen und Lehrer/-innen verhaltenstherapeutische Anwendung von positiver Stärkung und negativen Konsequenzen. Techniken zur Verhaltenstherapie des Kindes: In verhaltenstherapeutischen Gruppen sollen Konzentration und soziale Kompetenz gefördert werden. Die Kinder lernen in speziellen Behandlungsprogrammen ihre Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität besser steuern zu können. Diese Behandlungsmöglichkeiten sind sowohl vor als auch während einer medikamentösen Behandlung sinnvoll. Therapie ADHS-begleitender Störungen: Zu den Maßnahmen für die Behandlung von ADHS begleitender Störungen zählen u. a. ein soziales Kompetenztraining, das aggressive Verhaltensmuster mindern und gleichzeitig das zwischenmenschliche Zusammenleben verbessern soll, Psychotherapiesitzungen zur Stärkung des Selbstwertgefühls und Übungen zur Minderung von Rechenschwäche). Entwicklungsstörungen (zum Beispiel Lese-/Rechtschreibschwäche, 3.4.2 MEDIKAMENTÖSE BEHANDLUNG Zusätzlich zur nicht-medikamentösen Behandlung ist die medikamentöse Behandlung eine unter Umständen wichtige Ergänzung. Diese wird insbesondere dann empfohlen, wenn 1. eine stark ausgeprägte ADHS-Symptomatik vorliegt, bei der die schulische Leistungsfähigkeit, die Freizeitaktivität des Kindes oder das Zusammenleben in Schule, Familie oder mit Freunden erheblich beeinträchtigt ist und/oder 2. sich die ADHS-Symptomatik mittels einer Verhaltenstherapie nicht ausreichend verbessern lässt und beeinträchtigende Symptome weiter bestehen. Methylphenidat: Für die medikamentöse Behandlung empfehlen deutsche Leitlinien Psychostimulanzien, wie Methylphenidat, besser bekannt unter seinem Handelsnamen Ritalin. Durch die stimulierende Wirkung wird das Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn reguliert, weshalb der Stoffwechsel verbessert wird. Infolgedessen werden Kinder ausgeglichener, sie verarbeiten Umwelteinflüsse leichter und können ihren Alltag besser meistern. Es ist kein Beruhigungsmittel, wie oft befürchtet, sondern eher anregend-stimulierend. Bei bis zu 80% der behandelten Kinder mindern sich die Aufmerksamkeitsstörung und die Hyperaktivität während es gleichzeitig zu einer Steigerung der Konzentrationsfähigkeit kommt. Methylphenidat ist in zwei Varianten erhältlich. Beim Medikament mit kurzer Wirkdauer tritt die Wirkung nach ca. 3017 45 Minuten ein und hält ca. 4 Stunden an. Die Dosierung wird in Abhängigkeit vom Gewicht auf das Kind abgestimmt. Bei der 2. Variante handelt es sich alternativ um ein Medikament zur täglichen Einmalgabe. Hier wird der Wirkstoff in den Tabletten oder Kapseln im Körper verzögert freigesetzt und ist daher für Betroffene geeignet, die eine ganztägige Symptomkontrolle benötigen. Somit entfällt für diese Patienten eine meist lästige regelmäßige Einnahme des Medikaments während der Schul- und Freizeit. Atomoxetin: Neben Methylphenidat ist Atomoxetin ein weiterer in Deutschland zugelassener Wirkstoff zur Behandlung von ADHS. Im Gegensatz zu Methylphenidat tritt bei Atomoxetin die Wirkung erst nach ca. 6 Wochen nach Beginn der ersten Dosis ein. Der Wirkstoff wird im Körper meist über den ganzen Tag freigesetzt. Die Wirksamkeit dieses Medikaments ist gut belegt, aber etwas geringer als bei Methylphenidat. Der große Vorteil von Atomexitin besteht jedoch darin, dass es kein Abhängigkeitspotential hat, weshalb es nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt. Bei beiden Medikamenten ist jedoch eine Dauertherapie mit regelmäßigen Auslassversuchen, wie zum Beispiel an den Wochenenden oder in den Ferien, notwendig. Außerdem sollte man, auch wenn die medikamentöse Behandlung als sehr wirksam, sicher und ungefährlich gilt, die Nebenwirkungen nicht außer Acht lassen. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen Appetitminderung, Übelkeit, Schlafprobleme, Puls- und Blutdrucksteigerungen sowie eine vorübergehende Wachstumsverlangsamung. Eine genaue Beobachtung des Kindes ist also während der Behandlung von erheblicher Bedeutung. Auftretende Auffälligkeiten sollten mit einem Facharzt beraten werden. Unabhängig von auftretenden Nebenwirkungen ist eine regelmäßige ärztliche Kontrolle der Medikation, vor allem der Dosierung (insbesondere bei Größen- und Gewichtsänderung) erforderlich, da die Entwicklung des Gewichtes und der Körpergröße beeinträchtigt werden können. Eine Notwendigkeit der medikamentösen Behandlung und ihre Weiterführung sollte nach 6-12 Monaten überprüft werden. 18 4. FALLBEISPIEL – FINNEGAN D. 4.1 ALTERNATIVMETHODE TAI CHI CHUAN – KARATE ALS MÖGLICHE ERGÄNZUNG ZUR HERKÖMMLICHEN MEDIKAMENTÖSEN BEHANDLUNG Finnegan D. ist uns bekannt durch das Training im Karate. Während des Trainings wurde schnell ersichtlich, dass Finnegan Schwierigkeiten hatte, die Aufmerksamkeit bei einzelnen Techniken und Formen längere Zeit aufrechtzuerhalten. Er ließ sich oft durch äußere Reize ablenken, zappelte mit Händen und Füßen und war häufig „in Bewegung“, oder handelte wie getrieben. Dadurch kam es oft zu Störungen im Trainingsablauf, z. B. durch Verlassen des Raumes, Zwischenrufe oder Rangeleien mit Trainingspartnern. Für all diese typischen ADHS-Symptome erschienen uns sowohl Karate als auch Tai Chi als gute Möglichkeiten, Kindern wie Finnegan einen gesunden Ausgleich bieten zu können. Beide Kampfkünste verlangen eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper. Durch die gezielte Lenkung des Fokus auf sich selbst wird die allgemeine Konzentration geschult und man lernt, sich aus schwierigen Situationen herauszunehmen und zur Ruhe zu kommen. Sowohl die generelle Achtsamkeit für den eigenen Körper, als auch für den Geist werden positiv beeinflusst. Durch die Kombination der intensiven Bewegung im Karate und das beruhigende, konzentrierte Arbeiten beim Tai Chi wollten wir versuchen, die Balance zwischen Körper, Geist und Seele, die bei Finnegan im Ungleichgewicht war, wiederherzustellen. Durch das Erlernen von Spannung und Entspannung, durch Bewegung und Atmung sollte Finnegan lernen, sich aus schwierigen Situationen früher herauszunehmen, weniger impulsiv zu reagieren und sich besser zu konzentrieren. Aus diesen Überlegungen heraus suchten wir das Gespräch mit der Mutter. 4.2 PERSÖNLICHE DATEN UND VORGESCHICHTE AUS SICHT DER MUTTER Finnegan D. sei 2006 geboren. Seine Eltern seien getrennt. Er würde bei seiner Mutter aufwachsen, die ihn 2013 beim Karate anmeldete. Erste Anzeichen seiner Hyperaktivität hätten sich bereits im Alter von 2 - 3 Jahren („Krabbelgruppe“) gezeigt. Finnegan wäre häufig „in Bewegung“, wie getrieben, leicht reizbar bis aggressiv und zeige ein verringertes Schmerzempfinden. Diese Anzeichen würden sich auch in der Schule fortsetzen. Er habe häufig Schwierigkeiten beim Organisieren von Aufgaben und Aktivitäten, wäre sehr ungeduldig, unkonzentriert und der Schulalltag fiele ihm schwer. Die Diagnose ADHS durch einen Facharzt sei 2012 festgestellt worden, woraufhin eine medikamentöse Behandlung mit Medikinet retard 20mg erfolge, welches den Wirkstoff Methylphenidat enthält und somit zu den Stimulanzien 19 zählt. Das Medikament würde jedoch nur im Schulalltag und nicht am Wochenende oder in den Ferien verabreicht werden. 4.3 PROTOKOLLE Aus unseren Beobachtungen und dem Gespräch mit der Mutter von Finnegan heraus beschlossen wir im Januar 2015 mit ihm ein Einzeltraining im Tai Chi Chuan durchzuführen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits selbst in der Ausbildung zum Tai Chi Seminarkursleiter und waren uns daher sehr bewusst über die Vorteile, die eine Verbindung von Karate und Tai Chi für verhaltensauffällige Kinder, wie Finnegan, bringen kann. Nach einem gemeinsamen Gespräch mit Finnegan und seiner Mutter, in dem wir erklärten, was wir versuchen wollten, waren beide damit einverstanden, dass wir mit Finnegan Einzelstunden im Tai Chi zusätzlich zu den Karatestunden durchführen. Daher führten wir – auch im Rahmen dieser Arbeit – von Ende Januar 2015 bis März 2016 Protokoll über den Trainingsablauf beim Tai Chi, beobachteten und dokumentierten seine Verhaltensweisen sowie Trainingsmuster und erkundeten in Gesprächsrunden sowohl mit ihm, als auch mit seiner Mutter den aktuellen Gemütszustand und auch anstehende Probleme. Zu Beginn unseres individuellen Trainings war Finnegan 8 Jahre alt. 20 Datum TRAININGSPROTOKOLLE FINNEGAN 27.01.2015 Tagesform 2 Übungsstunde / Ablauf Ritual Gespräch Übung 0 0 1, 2 10.02.2015 2 x 0 1, 2, 3 17.02.2015 2 x 0 1, 2, 3, 4 24.02.2015 5 x x 1, 2, 4, 5, 6 03.03.2015 3 x x 17.03.2015 4 x x 1, 3, 4, 6, 7, 8 2, 4, 8, 9 24.03.2015 1 x x 31.03.2015 2 x x 07.04.2015 1 x x 14.04.2015 4 x x 21.04.2015 2 x x 05.05.2015 1 x x 19.05.2015 2 x x 26.05.2015 2 x x 02.06.2015 1 x x 16.06.2015 3 x x 1, 4, 6, 7, 9 1, 2, 4, 5, 9 1, 3, 4, 9 2, 3, 4, 5, 7 1, 2, 4, 8, 9 1, 2, 3, 4, 9 5, 7, 8, 9 2, 4, 5, 8, 9 2, 3, 5, 8, 9 5, 7, 8, 10 21 Verarbeitung / Probleme / Ergänzungen Erste Übungsstunde, Gespräch mit Finnegan und seiner Mutter über seine Situation und ob er Lust auf Tai Chi habe Abreagieren am Boxsack findet er schnell super, die Übungen versucht er schnell abzuhandeln, will schnell fertig werden. Wir versuchen stets ruhig auf ihn einzuwirken. Lernt sehr gut, zeigt einige Übungen schon selbst, wir beziehen die Mutter in den Lernprozess mit ein, es macht ihr ebenfalls Spaß. Bemerkung von Finnegan: „Langsamkeit ist wichtig“ Ist sehr nervös, unaufmerksam, hoher Puls, Bedürfnis sich mitzuteilen, großer Bewegungsdrang, Übungen klappen nicht so gut, familiäre Situation beschäftigt ihn Ist ruhiger, ausgeglichener, führt Übungen konzentriert aus, die Stunde macht ihm Spaß Sehr nervös, hat keine Lust die Übungen mitzumachen, Probleme in der Schule mit seinen Mitschülern Ist gut drauf, bringt eigene Gedanken in die Übung mit ein Sehr konzentriert, führt einige Übungen allein aus, Übungsstunde verläuft sehr angenehm Führt Übungen sehr gut allein aus, hat viel Freude daran, wir ebenfalls Nervös, unausgeglichen, wieder starker Bewegungsdrang, kleinere Probleme in der Schule Ruhig, angenehmes Verhalten, gut mitgearbeitet Ist gut drauf, Tagesablauf der Krähe macht ihm Spaß, er macht sehr gut mit Möchte heute erst mal laufen und rennen, tut ihm gut, wir machen anschließend die Übungen, wir üben heute allein mit ihm Stabiles, angenehmes Verhalten, hat in der Schule gute Erfolge Fühlt sich wohl, macht gut mit, freuen uns sehr über den Erfolg Leicht nervös, Mitschülerprobleme, beschäftigen ihn oft sehr, kann sich schwer 23.06.2015 4 x 30.06.2015 2 x 25.08.2015 2 x 08.09.2015 2 x 15.09.2015 1 x 22.09.2015 3 x 29.09.2015 4 x 03.11.2015 2 0 17.11.2015 2 0 24.11.2015 1 0 08.12.2015 2 0 15.12.2015 1 0 12.01.2016 3 x 19.01.2016 3 0 26.01.2016 2 x 16.02.2016 2 x zurück nehmen, Übungen klappen daher weniger gut x 2, 3, 4, stark mit sich beschäftigt, nervös, 5, 11 unausgeglichen, keine Konzentration, wir versuchen ihn mit Worten zu beruhigen x 5, 7, 8, Befinden ist gut, fühlt sich wohl, Ferien stehen 10 vor der Tür, freut sich Längere Sommerpause X 1, 2, 3, Macht gut mit, hat Übungen über Ferien nicht 4, 6, 7 vergessen, prima x 1, 2, 4, Gut drauf, eine Karateschülerin (Iman) beteiligt 7, 8, 10 sich am Unterricht, Finnegan zeigt ihr bereitwillig alle Übungen und fühlt sich somit sehr bestätigt, was ihm sichtlich sehr gut tut x 1, 2, 3, Macht sehr gut mit, Iman tut ihm gut, 4, 8, 9 Stundenverlauf sehr ausgeglichen x 1, 2, 3, Leicht nervös, Schulalltag wieder aktuell, 4, 9 trotzdem macht er gut mit, zwischendurch lassen wir ihn einfach mal rennen, damit er sich abreagieren kann x 2, 5, 8, Sehr nervös, Finnegan’s Mutter teilt uns mit, er 11 muss sich einer Augenoperation unterziehen, wir versuchen sehr ruhig und ausgeglichen auf ihn einzuwirken und machen ihm Mut Längere Augen-OP-Pause x 4, 7, 8 OP sehr gut überstanden, fühlt sich wohl, üben vorsichtig und schonend x 1, 3, 7, Ist gut drauf, Übungen machen ihm Spaß, sehr 8 ausgeglichen 0 1, 2, 3, Gute Verfassung, braucht heute keine Rituale, 4, 8, 10 möchte gleich mit den Übungen starten x 1, 2, 3, Gute Verfassung, gute Übungsstunde 8, 9 x 1, 2, 3, Freuen uns über seine gute Verfassung 10 Ferien / Jahreswechsel x 1, 2, 3, Leicht nervös, unkonzentriert, möchte schnell 4, 8 fertig werden, in der Schule gibt es wieder kleinere Probleme x 1, 2, 4, Nervosität weiter vorhanden, Konflikte mit 8, 11 Mitschülern noch nicht gelöst, kann sich auf neue Situationen schwer einstellen x 1, 2, 4, Verfassung wieder ruhiger, aufmerksam, 8, 9 konzentrierter, macht sich gut Winterferien x 1, 2, 12 Arbeitet konzentriert und ruhig, führen neue Übung („Fünf Räder“) ein, die ihm gefällt 22 23.02.2016 3 0 x 1, 2, 12 02.03.2016 4 0 x 2, 4, 8 08.03.2016 4 0 x 1, 2, 8, 10, 12 15.03.2016 3 0 x 22.03.2016 2 0 x 1, 2, 3, 4, 7, 8, 12 1, 2, 4, 12 Leichte Nervosität, üben weiter an den „Fünf Rädern“ Nervosität steigert sich wieder, vermuten Schulstress Starke Nervosität hält an, das Interesse anderer Kinder am Tai Chi wächst, die Gruppe erweitert sich, wir merken, dass Finnegan damit ein Problem hat, wir versuchen das Problem durch einfühlsame Gespräche zu lösen Nervosität nimmt ab, er ist bemüht, neue Tai Chi Kinder zu akzeptieren Gruppe hat sich erweitert, was wir sehr schön finden, Finnegan profitiert mittlerweile davon Tabellenlegende: Tagesform: wird in Schulnoten angegeben (1 = sehr gut, 6 = ungenügend) Gespräch: Besprechung aller Probleme und persönlicher Anliegen des Kindes (x = Ritual: Übung: Boxsack (x = durchgeführt, 0 = nicht durchgeführt) durchgeführt, 0 = nicht durchgeführt) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 = Tai Chi Chuan Stand (schulterbreiter Stand, Knie leicht gebeugt, Becken nach vorn, Wirbelsäule gerade, Kopf aufrecht, Schulter locker) = Lockerungsübungen (Arme ausschütteln, alle Last von sich werfen) = Gleichgewichtsübungen (auf einem Bein stehen, Fuß kreisen, Ballhaltung vor und neben dem Körper) = Atemübung / Chi wecken = Austoben, rennen, bewegen durch den Raum = Fallübungen (Vertrauen aufbauen) = Bogenschritt = Tai Chi Chuan Gehen = Tagesablauf der Krähe = Kranich = Entspannung mit dem Igelball = Fünf Räder 23 5. AUSWERTUNG 5.1 BEURTEILUNG DURCH DIE TRAINER/AUTOREN Seit 2013 trainiert Finnegan Karate und steht nun demnächst vor seiner ersten großen Prüfung. Von Anfang an begleiten wir ihn dabei und konnten insgesamt eine durchaus positive Veränderung sowohl in seiner generellen Körperhaltung als auch in seinem sozialen Verhalten feststellen. Während er zu Beginn noch sehr zappelig und leicht ablenkbar war, seine Bewegungen unkoordiniert waren und er schnell sehr impulsiv reagierte, ist er nun in seinem ganzen Verhalten ruhiger geworden, zieht sich aus provokanten Situationen heraus und zeigt deutliche Verbesserungen in seiner gesamten Körperhaltung (koordinierter, ruhiger, gefestigter). Auch in seinen sozialen Beziehungen beobachteten wir positive Veränderungen. Finnegan ist nun gut in der Lage mit anderen Teilnehmern umzugehen, kann auch Kritik und Verbesserungen gut von anderen annehmen und umsetzen und integriert sich in die Gruppe. Auch wenn es immer mal wieder noch zu kleineren Streitereien kommt, fallen diese insgesamt weniger schwerwiegend aus als noch zu Beginn des Trainings. Finnegan zieht sich nicht mehr so oft zurück und ist im Trainingskontext kein Einzelgänger mehr, sondern gleichwertiges Gruppenmitglied. Obwohl die Verbesserungen schon deutlich zu erkennen sind, wäre aus unserer Sicht eine regelmäßigere Teilnahme als bisher noch vorteilhafter. Gerade in letzter Zeit hat sich die Teilnahme am Karate-Training sehr verringert, weshalb die genannten positiven Veränderungen, sowohl in seinen physischen Konstitutionen als auch in seinem Sozialverhalten, auch schnell wieder verloren gehen könnten. Eine kontinuierliche Teilnahme am Training könnte dies vermeiden. Seit Januar 2015 trainieren wir mit Finnegan nun auch Tai Chi Chuan meist regelmäßig ein Mal pro Woche. Während der einzelnen Trainingsphasen konnten wir verschiedene Stimmungsschwankungen beobachten (siehe Protokoll: Tagesform). Besonders stark waren die Schwankungen nach größeren Pausen des Trainings, wie z.B. nach der Augenoperation oder den Sommerferien. Sein Bewegungsdrang war dann wieder stark ausgeprägt, er reagierte wie getrieben und war leicht abzulenken. Dies pegelte sich nach einer gewissen Zeit wieder ein, nachdem er wieder regelmäßig am Training teilgenommen hatte. Abhängig von der Tagesform (Alltag, Schulstress, Familienkonflikte) bauten wir die einzelnen Trainingseinheiten gemeinsam mit ihm auf. Klare Strukturen und kleine Rituale, wie Auspowern am Boxsack, kleine Gesprächsrunden oder Übungen zum Los- und Fallenlassen, waren gerade am Anfang für ihn sehr wichtig. Eine positive Veränderung war hier vor allem bei dem Ritual „Auspowern am Boxsack“ zu sehen, das zu Beginn des Trainings nicht wegzudenken war, jedoch im weiteren Verlauf nicht mehr gebraucht wurde, wie Finnegan auch selbst sagte (siehe 24 Protokoll). Seine Aggressionen und sein Bewegungsdrang haben sich so weit verringert, dass er nicht mehr den Wunsch verspüre, sich am Anfang erst mal auspowern zu müssen. Ebenso positiv verlief die Übung des „sich fallen lassen“, eine klassische Vertrauensübung, die Finnegan anfangs noch große Schwierigkeiten machte, die ihm jedoch bald sogar großen Spaß bereitete. Im späteren Trainingsverlauf haben wir hier schließlich auch die Mutter von Finnegan mit einbezogen, was sich zu Beginn ebenfalls als schwierig erwies, jedoch beiden bald große Freude bereitete und das Training immer eine positive Komponente bekam. Über die kleinen Gesprächsrunden gab er uns Einblicke in seinen jeweiligen momentanen Gefühlszustand. Auch hier wurde wieder auffällig, dass prägende Familiensituationen oder bevorstehende, schwierige Angelegenheiten Auswirkungen auf sein Verhalten hatten. In diesen Fällen fiel Finnegan im Training oft in seine alten Verhaltensmuster zurück, war unruhiger und unkonzentrierter. Dies war hingegen nicht der Fall, wenn über eine lange Zeit stabil trainiert werden konnte und im privaten Bereich keine größeren Probleme oder Veränderungen bevorstanden. So legten wir am Anfang unseren Fokus darauf, ihn mit einfachen Atemübungen zu beruhigen, bevor wir mit kleinen Tai Chi Chuan Formen fortsetzten, wie dem Bogenschritt, dem Bogenschritt in Verbindung mit der Ballhaltung (Vorstufe: Mähne des Wildpferdes teilen) oder dem „Kranich“. Durch diese regelmäßigen Atemübungen hat Finnegan mittlerweile gelernt, sich aus schwierigen Situationen mehr und mehr herauszunehmen, statt explosiv zu reagieren. Im weiteren Trainingsverlauf erarbeiteten wir mit Finnegan gemeinsam den „Tageslauf der Krähe“ als kompakte Übungsform, die er im Rahmen seiner altersgerechten Möglichkeiten sehr gut umsetzte. Auch weitere kompakte Formen, wie z.B. die „Fünf Räder“ und „die Harmonie“, lernte Finnegan im Laufe der Zeit sehr gut (siehe Protokoll). Dabei konnten wir zunehmend eine Verbesserung seiner gesamten Körperhaltung und Bewegung beobachten (vergleiche Bilder Einzeltraining und Bilder Gruppentraining). Mittlerweile beteiligen sich andere neugierige Karatekinder an dem Tai Chi Training, sodass die Gruppe zur Zeit aus 3 – 4 Kindern besteht. Diese Veränderung war für Finnegan am Anfang sehr schwierig. Aus dem Einzeltraining, bei dem die volle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet werden konnte, wurde nun ein kleines Gruppentraining, bei dem Finnegan wieder lernen musste, sich in die Gruppe zu integrieren. Schnell konnten hier jedoch Fortschritte beobachtet werden, da Finnegan motiviert war, den anderen Kindern zeigen zu können, wie bestimmte Übungen gehen. Zunehmend konnte er selbst Verbesserungen von anderen Kindern annehmen, die Gruppe wurde ausgeglichener und harmonischer. 25 5.2 BEURTEILUNG VON FINNEGAN UND SEINER MUTTER Finnegans Mutter beschreibt den Zustand ihres Sohnes seit Beginn des Tai Chi Chuan- Unterrichts als ruhiger und entspannter. Durch die Atemübungen habe Finnegan gelernt, seine innere Mitte besser zu finden. Die erlernten Atemübungen versuche er bei Stress und Angst (z. B. vor Impfungen, Tests in der Schule und Provokationen seiner Mitschüler im Schulalltag) anzuwenden, was ihm mittlerweile schon sehr gut gelinge. Er versuche sich damit zurück zu nehmen und atme demzufolge gleichmäßiger und ruhiger. Finnegan selbst berichtete, dass er viel Spaß am Tai Chi Training habe und äußerte den Wunsch, dass Training nach den Ferien weiter fortzusetzen. 26 6. ABSCHLIEßENDE WORTE Insgesamt zeigen sowohl unsere Beobachtungen als auch die Meinung von Finnegan und seiner Mutter selbst, dass sich Finnegans Verhaltensweisen sehr zum Positiven verändert haben. Es gab nicht nur eine Verbesserung seiner Körperhaltung, der Konzentrationsfähigkeit und seiner Ausdauer, sondern auch in seinem sozialen Verhalten. Kleine Probleme gibt es weiterhin wenn Veränderungen (sowohl privat, wie auch im Training, z.B. bei Verfeinerungen der Techniken) erfolgen sollen oder für Finnegan schwierige Situationen (z.B. Augen-OP) anstehen. Situationsbedingt sollte er versuchen, diese auftretenden Veränderungen, ob im Schulalltag, Training oder familiär, positiv anzunehmen anstatt zu blockieren. Durch eine weitere, regelmäßige Teilnahme am Karate und Tai Chi Training könnten diese positiven Veränderungen weiter ausgebaut und stabilisiert werden, sodass Finnegan auch im Alltag in der Lage ist, problematische Situationen aus eigener Kraft heraus sicher zu meistern. Unsere anfängliche Idee, die Verbindung von Tai Chi und Karate könnte für verhaltensauffällige Kinder hilfreich sein, hat sich auch durch die Aussagen anderer Kinder und Eltern bestätigt. Was mit einem kleinen Einzeltraining begann, hat sich bereits ausgeweitet zu einem kleinen Gruppentraining, an dem immer mehr Kinder Freude finden. Das Interesse an beiden Kampfkünsten wächst sowohl bei Eltern als auch bei Kindern. Es bereitet uns immer wieder Freude, Finnegan und die mittlerweile neu dazu gewonnenen Tai Chi Chuan Kinder in ruhiger und entspannter Atmosphäre, ohne Leistungsdruck und Stress, auf ihrem Weg ein Stück zu begleiten und zu fördern. An dieser Stelle möchten wir es nicht versäumen, besonders Finnegan und seiner Mutter für Ihre Offenheit und Ihr Vertrauen, das sie während der Trainingszeit in uns gesetzt haben, zu danken. Wir hoffen mit dieser Arbeit einen kleinen Anstoß geben zu können, für eine Therapie der etwas anderen Art und freuen uns auf viele weitere schöne Trainingsstunden! „Die Schule soll stets danach trachten, dass der junge Mensch sie als harmonische Persönlichkeit verlasse, nicht als Spezialist.“ (Albert Einstein) 27 ANHANG 1. BILDER AUS DEM TRAINING – FINNEGAN „TAGESABLAUF DER KRÄHE“ a) Die Krähe sitzt in ihrem Nest und schläft. b) Sie erwacht. 1. Sequenz: Sie räkelt sich und streckt sich. 28 2. Sequenz: Sie sträubt ihr Gefieder. 3. Sequenz: Die Krähe fliegt in den Morgen. 29 4. Sequenz: Die Krähe fliegt in die Mittagssonne. 5. Frequenz: Die Krähe fliegt in die Ferne. 30 6. Sequenz: Die Krähe fliegt in den Nachmittag. 7. Sequenz: Die Krähe fliegt in den Abend. 8. Frequenz: Die Krähe fliegt in ihr Nest und schläft. 31 2. BILDER AUS DEM TRAINING- GRÖßERE KINDERGRUPPE „FÜNF RÄDER“ 32 33 34 3. EINVERSTÄNDNISERKLÄRUNG DER MUTTER 35 4. HANDGESCHRIEBENER STECKBRIEF FINNEGAN 36 QUELLENVERZEICHNIS Literatur: Butcher, Mineka, Hooley. Klinische Psychologie, 13. Auflage, Pearson Studium, 2009, Reik, Barbara. Tai Chi für Kinder – Mit Tiger und Bär zu mehr Körperbewusstein, Schönig, Andrea u. Moegling, Barbara & Klaus – Tai Chi Chuan „Der sanfte Weg zur Hirsch, Klaus – Karate „kinderleicht erklärt“, Gloor Verlag 2006 München Bewegung und Ruhe. R. Mankau Verlag, 1. Auflage, 2007, Murnau a. Staffelsee Entspannung“, Meyer & Meyer Verlag, 2. Auflage 1998 Internet: https://de.wikipedia.org/wiki/Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivit%C3%A4tsst%C3 http://www.naturheilpraxis-kolbe.de/adhs.htm, Datum: 28.09.2015 http://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugend %B6rung, Datum: 24.02.2016 psychiatrie/erkrankungen/aufmerksamkeitsdefizit-hyperaktivitaets-stoerungadhs/krankheits-stoerungsbild/, Datum: 23.02.2016 https://www.sein .de, tai-chi-chuan, Datum: 12.052016 https://de.wikipedia.org, Taijiquan, Datum: 12.05.2016 https://de.wikipedia.org/wiki/Karate, Datum: 12.05.2016 37