Demokratischer Aufbruch. Von der Bürgerbewegung zur Parteiendemokratie in der DDR 23. April 2010, 17 Uhr Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Kronenstr. 5, 10117 Berlin Etliche Parteien und Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 gaben sich Namen, die ihre Programmatik auf wenige Worte eingedampft widerspiegelten. Zu ihnen gehörte der Demokratische Aufbruch (DA), der aus einer im Sommer 1989 gegründeten kirchlichen Initiativgruppe hervorging. In Erinnerung an den demokratischen Aufbruch von 1989/90 in der DDR – den Prozess der Friedlichen Revolution, aber auch an die Partei gleichen Namens – hatte die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nun zu einem Abend geladen, der Züge eines Klassentreffens trug, einer Veranstaltung also, die Anlass zum eher heiter gestimmten Erinnern und zum Bilanzieren bietet. Alte Bekannte, politische Weggefährten und zuweilen auch Kontrahenten saßen auf dem Podium und unter den nahezu 200 Gästen im Saal. Zu ihnen zählte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Rainer Eppelmann, im Herbst 1989 Mitbegründer des DA, ab März 1990 dessen Vorsitzender und heute Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Aufarbeitung, begrüßte die Gäste und „Freunde aus dem demokratischen Aufbruch – kleingeschrieben“. Eppelmann erinnerte an den überwältigenden Zulauf, den die Bürgerbewegungen und Parteien im Herbst 1989 erlebten. Menschen, die jahrelang in Passivität verharrt hatten, engagierten sich plötzlich mit großer politischer Leidenschaft. Das Parteienspektrum war bunt und vielfältig, und auch die Parteien suchten noch nach einer klaren Programmatik. Anfangs, so Eppelmann, sei der DA ein „bunter Haufen“ aus Linken, Liberalen und Konservativen gewesen, die ein Ziel vereinte: das Ende der SED-Herrschaft. Als dieses Ziel erreicht war, traten politische Meinungsverschiedenheiten zutage; mancher suchte sich eine neue politische Heimat. Die Bürgerbewegungen, die 1989 die demokratische Initialzündung gaben, gerieten zusehends ins politische Abseits. Sie wurden zu „Opfern ihres eigenen Erfolgs“, wie Rainer Eppelmann ausführte. Dabei dürfe eins nicht vergessen werden: „Die Ausgestaltung der Deutschen Einheit haben Parteien und Gruppierungen wie der Demokratische Aufbruch in der Volkskammer und der Regierung de Maizière ganz wesentlich mitgeprägt. Darüber hinaus ist unser Antrieb aus der Friedlichen Revolution, der Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, als unser Vermächtnis in das vereinigte Deutschland eingegangen.“ Die Bürgerbewegungen hätten sich sowohl um das Ende der SED-Diktatur als auch um deren juristische und moralische Aufarbeitung verdient gemacht. Diese Arbeit setze heute die Bundesstiftung Aufarbeitung fort. Zu den DDR-Bürgern, die sich ab 1989 im Demokratischen Aufbruch engagierten, gehörte auch eine junge Frau, deren Namen in der politisierten Szene noch unbekannt war: Es war die promovierte Physikerin Angela Merkel. Als ehemaliges Mitglied des DA war die Bundeskanzlerin an diesem Abend in die Bundesstiftung Aufarbeitung gekommen, um in einer An- 1 sprache den Beitrag des Demokratischen Aufbruch zum Gelingen von Revolution und Einheit zu würdigen und dabei en passant auf den Anfang ihrer politischen Karriere zurückzuschauen. Die Bundeskanzlerin berichtete, wie sie Ende 1989 zum DA stieß – in einer Zeit, als die Spannung zwischen den verschiedenen Strömungen in der Partei nicht mehr zu übersehen war. „Bei manchem denkt man es gar nicht, dass man mal in einer Partei war“. Sie habe sich für eine Mitarbeit im DA entschieden, weil dessen Slogan „sozial + ökologisch“ sie ebenso überzeugte wie das klare Eintreten für eine schnelle Einheit. Bis zur Wahl vom 18. März übernahm sie das Amt der Pressesprecherin, das ihr der damalige Parteichef Wolfgang Schnur ganz unbürokratisch, das heißt ohne demokratische Legitimation, übertrug. „Nicht alles war demokratisch, aber alles war für die Demokratie und damit gut“, so Merkel. Angela Merkel nutzte die Gelegenheit, um die historische Rückschau in einen Vergleich mit der politischen Gegenwart münden zu lassen und nebenbei ein durchaus persönliches Resümee zu ziehen. Ein gewisser Wehmut sprach aus den Worten der Kanzlerin, als sie sich an 1989/90 als eine Phase des revolutionären Elans und unkonventionellen Politikmachens erinnerte. Es sei eine „unendlich intensive Zeit“ gewesen, „in der ich viel weniger müde war als heute“, sagte Merkel, die ab April 1990 Sprecherin der ersten freigewählten DDR-Regierung unter dem – ebenfalls im Saal anwesenden – Lothar de Maizière war. Der Einigungsprozess und der Übergang ins politische Tagesgeschäft habe notwendigerweise ein Stück dieses Elans verebben lassen. „Wenn Spontaneität auf Erfahrung trifft, bleibt nicht nur die Spontaneität übrig…“ Als „Mut zur eigenen Farbe, zum eigenen Denken“ seien die Ideen des politischen Aufbruchs von 1989/90 jedoch auch heute unverzichtbar. Zuweilen, so die Bundeskanzlerin, vermisse sie diesen Mut. Zu vieles laufe in eingefahrenen Bahnen. „Ich ermuntere alle, den Mut des Anfangs zu haben, den Mut, die wichtigen Fragen zu stellen.“ Dies gelte auch für die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur. Gerade die Arbeit der Bundesstiftung Aufarbeitung sei in diesem Zusammenhang unverzichtbar, „denn sie steht für eine lebendige und vielfältige Auseinandersetzung mit der Diktatur und ihren Folgen für das vereinigte Deutschland.“ In der anschließenden Diskussion erinnerten Politiker an die Anfänge der ostdeutschen Demokratie und den Weg in die Einheit, die sich vor 20 Jahren im demokratischen Aufbruch – wiederum als Partei ebenso wie als politisches Programm verstanden – engagierten. Professor Dr. Eckhard Jesse ergänzte die persönlichen Erinnerungen durch eine politikwissenschaftliche Einordnung. Die Moderation übernahm Alfred Eichhorn. Kontroversen gab es vor allem bei der Gewichtung der einzelnen Phasen der Revolution und der Bewertung ihres Ergebnisses. Einhellige Anerkennung fanden die Verdienste der Demokratiebewegung bei der Abschaffung der SED-Herrschaft. Ob der Schwenk zur Einheit die ebenso anerkennenswerte Fortsetzung der Demokratiebewegung mit anderen Zielen war oder deren Abbruch und Scheitern, blieb jedoch umstritten. Margot Friedrich war eine der Mitbegründerinnen des DA in Thüringen. Sie erinnerte an die Ausgangslage vor dem Herbst 1989 in ihrer Heimatstadt Eisenach, die ihr von einer „schäbigen und staubigen Traurigkeit“ erfüllt schien. Es sei eine Stadt gewesen, in der man im Som2 mer 1989 kaum noch atmen konnte. Margot Friedrich war eines der Parteimitglieder, die den DA sehr schnell wieder verließen, da sie sich mit dessen deutschlandpolitischer Neuausrichtung ab Ende 1989 nicht identifizierten. Der Elan der Menschen, so ihre Beobachtung, habe sich im Herbst 1989 auf eine Erneuerung der DDR bezogen. Das „Wunderbare“ des Herbstes 1989, die Hinwendung der DDR-Bürger zur Politik, sei jedoch allzu schnell wieder verloren gegangen. Werner E. Ablass, ab April 1989 Staatssekretär im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, gründete den DA im Kreis Hagenow (Mecklenburg). Er selbst kam erst Ende 1989 zur Politik – „Ich gehörte nicht zu den Helden der ersten Stunde.“ Im Gegensatz zum Süden der DDR habe der DA im Norden keine große Kraft entfalten können. Im Kreis Hagenow mit seinen 56.000 Einwohnern habe der DA nie mehr als acht Mitglieder gehabt. Die Enttarnung Wolfgang Schnurs als Stasi-IM habe der Reputation der Partei geschadet und seine eigene Kandidatur für die Volkskammer erschwert. Als kleinste Partei der „Allianz für Deutschland“ komme dem DA jedoch der Verdienst zu, als erste den Beitritt nach Artikel 23 gefordert zu haben. Zudem hätten die zahlreichen Minister und Staatssekretäre des DA in der Regierung de Maizière zum schnellen und friedlichen Vollzug der Einheit beigetragen, erklärte Ablaß. Werner Schulz war neben Eckhard Jesse der einzige Podiumsgast, der nicht auf eine politische Laufbahn im DA zurückblicken konnte. Schulz engagierte sich im Neuen Forum, der zunächst einflussreichsten Bürgerbewegung des Herbstes 1989. Ihm sei es vor allem um eine demokratische Umgestaltung, ja um die „Suche nach der Wahrheit“ gegangen. „Damals hatten wir eine Situation, in der die Wahrheit aus allen Poren quoll“, so Schulz, der in diesem Punkt offenbar Angela Merkels Erinnerung an den revolutionären Elan von 1989 teilte. Doch ehe die Suche nach einer Erneuerung der DDR zu einem Ende gebracht werden konnte, habe die Revolution bereits eine neue Richtung eingeschlagen. Schulzes Beobachtung nach habe es während des Herbstes 1989 in der DDR eine Bürgergesellschaft gegeben, wie sie heute vielfach vermisst werde. Die Tragik von 1989 sei, dass Helmut Kohl sich den demokratischen Aufbruch „einverleibt“ und zum Erliegen gebracht habe. Eckhard Jesse erinnerte daran, dass der DA ursprünglich eine ausgesprochen sozialistische Programmatik vertreten habe, bevor er sich vom Gedanken des „Dritten Weges“ emanzipierte. Scharf kritisierte Jesse das Festhalten vieler Bürgerrechtler an der Idee eines „Dritten Weges“, mit der sie hinter den Forderungen der Mehrzahl ihrer Landsleute zurückgeblieben seien. 1989/90 sei „keine verpasste Chance, sondern eine verhinderte Katastrophe“ gewesen. Der Politikwissenschaftler wies – ähnlich wie die Bundeskanzlerin und Werner Schulz – darauf hin, dass die Zivilcourage, die viele DDR-Bürger im Herbst 1989 zeigten, heute vielfach unterentwickelt sei. Die Bundesrepublik der Gegenwart könne von der politischen Kultur der DDR-Bürgerbewegung lernen. Dr. Ehrhart Neubert entgegnete auf Jesses Kritik an der Bürgerbewegung, dass die Forderung nach systemimmanenten Reformen vor 1989 politisch klug gewesen sei, da weitergehende politische Ziele, etwa die Deutsche Einheit, eine harte Reaktion der Staatsmacht provoziert hätten. Da verschiedene Versionen der Geschichte kursieren, klärte Neubert nebenbei darüber 3 auf, wie es 1989 zur Gründung des DA kam. Zwar seien die etwa 80 Menschen, die einem aus Furcht vor dem Zugriff der Staatsmacht konspirativ verbreiteten Gründungsaufruf folgten, an mehreren Orten in Berlin zusammengetroffen – „aber nur bei uns in der Wohnung wurde gegründet.“ Auch Wolfgang Schur, der kurz vor der Volkskammerwahl als IM enttarnt wurde, sei bei Neubert erschienen, um die Anwesenden davon zu überzeugen, auf eine Gründung zu verzichten. Im Einklang mit einigen seiner Vorredner bemerkte Markus Meckel in seinem Schlusswort, dass man das Revolutionsjahr 1989/90 nicht auf einen simplen, quasi unvermeidbaren Dreischritt Massendemonstrationen – Mauerfall – Wiedervereinigung reduzieren könne. Wer das tue, vergesse, dass die Ostdeutschen am Runden Tisch und in der Regierung de Maizière die Deutsche Einheit bewusst und aktiv mitgestaltet hätten, so Meckel, der 1989 zu den Mitbegründern der Sozialdemokratischen Partei gehörte und heute das Amt des Ratsvorsitzenden der Bundesstiftung Aufarbeitung bekleidet. Das bürgerschaftliche Engagement nicht nur in Deutschland, sondern auch in autoritären Systemen weltweit zu fördern, sei eine aus dem ideellen Erbe des demokratischen Aufbruchs von 1989/90 erwachsenen Verpflichtungen des vereinten Deutschlands, erklärte Meckel an die Adresse der Bundeskanzlerin gerichtet. Andreas Stirn 4